Wasser – überall - Wolf Awert - E-Book

Wasser – überall E-Book

Wolf Awert

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Beschreibung

Hat Tamalone richtig gehandelt? Sie hat den Drachentöchtern gezeigt, dass sie den Altvater im Kampf nicht töten können, dass es nur mit Unterstützung der Magie der Menschen gelingen konnte. Und sie hat den Altvater gerettet. Wird er ihr das danken? Werden die Drachentöchter ihr verzeihen? Für die Welt hat Tamalone nichts erreicht. Sie taumelt weiterhin dem Untergang entgegen. Die Geister der Toten gieren danach, sie in die Dunkelheit zu reißen. Nur eines gibt Hoffnung. Bald betreten die Kinder der Drachentöchter die Welt. Doch kann die nächste Generation es richten? Wer sollte sie unterweisen können? Der Hintergrund: Unerwartet tauchen auf der Welt Halva Gestaltwandler auf. Dem Aussehen nach wilde Tiere, doch mit Vernunft gesegnet und der entsetzlichen Fähigkeit, biologische Grenzen zu durchbrechen und sich mit anderen Arten fortzupflanzen. Bereits ihre bloße Gegenwart bringt in den anderen vernunftbegabten Arten, den Drachen, Elfen und Menschen, die finstersten Seiten zum Vorschein. Die Elfen versuchen deshalb, die Gestaltwandler und ihre Mischlings-Nachkommen einzufangen und wegzusperren, doch der Keim des Zerfalls breitet sich unaufhaltsam aus. Unter den Elfen droht ein Bürgerkrieg, die Menschen dringen in den Siedlungsraum der Elfen ein und die Drachen scheinen unschöne Geheimnisse zu haben. Am Ende beginnt sogar Halva, sich selbst zu zerstören. In dieser Welt macht sich die Viertelelfe Tamalone auf, ihre Ziehmutter wiederzufinden und die Rätsel ihrer Herkunft zu lösen. Niemand rechnet mit dem, was ihre Suche auslösen wird – sie selbst am wenigsten.

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Wasser – überall

Wolf Awert

Band 11 der Drachenblut-Reihe

©Wolf Awert 2023

Machandel Verlag Haselünne Charlotte Erpenbeck

Cover: Detlef Klewer

1. Auflage 2023

ISBN 978-3-95959-178-2

Karte der Welt Halva

Was bisher geschah

Der Krieg zwischen den Waldelfen und den Soldaten Centrells ist beendet. Pando hat ihren Anführer Barionstab getötet und dessen Stadt zerstört. Sorge bereiten die Gerüchte, dass Geister ihre Hände mit im Spiel hatten, aber außer Tamalone kennt niemand deren Macht. Sorge bereitet auch Altvater Godwin, der gedroht hat, sich an der Drachenmutter zu rächen. Deshalb muss Godwin sterben, bevor er anderen schaden kann. Doch Tama behauptet, dass Godwin unsterblich ist. Meister Treibgut kehrt nach langer Zeit der Abwesenheit zum Haus der Vier Winde in Centrell zurück, um dort die Führung zu übernehmen. Außerdem möchte er das Haus Barion auslöschen, um endlich einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Durch einen Unfall wird die gesamte Führungsgruppe des Hauses Barion ausgelöscht, und im Haus der Vier Winde sieht sich Treibgut einem Widerstand in der eigenen Familie gegenüber. Mit Hilfe des Hauses Blau und den Drachentöchtern setzt er eine neue Stadtregierung ein und bestraft die Verräter.

Die Waldelfe Lufthauch und ihre Mutter Bork geraten in Streit mit der Führung der Waldelfen und können sich einer Verhaftung gerade noch entziehen.

Tamalone hat Angst um ihre Familie, die den Kampf mit Godwin nicht überleben kann, und sucht Hilfe bei Halva, die sie für eine Göttin hält. Ihr gelingt der Kontakt mit diesem Wesen, aber eine Verständigung erscheint unmöglich. Endlich kommt es zum Kampf der Drachentöchter gegen Godwin. Godwin wird besiegt, aber nicht getötet, weil Tama ihm hilft zu entkommen. Zsardyne wirft ihr daraufhin Verrat an der eigenen Sache vor, obwohl sie keine Beweise für ihre Anschuldigung hat.

Personae dramatis

GODWIN, Altvater aller Drachen

KRIECHER, Drache mit einem gelähmten Flügel

TAMALONE, genannt Tama, ein Dreiviertelmensch mit einigen rätselhaften Fähigkeiten

PANDO, ein Gestaltwandler in Tierform und Freund Tamalones

DORMAN, Pando in Menschengestalt

CHAMSIANA, Pando in Elfengestalt

ZSARDYNE, Pandos schwarze Schwester

DIE UNAUSSPRECHLICHE, Eine rätselhafte Frau unklarer Rasse. In Centrell nennt sie sich Blauer Schlafmohn, sie war Tamas Pflegmutter

Waldelfen

SUMPFWASSER, bis zu seinem Tod Erster Berater der Waldelfen und Tamas Auftragsgeber

STARKBAUM, Drachentochter der Gewalt und selbsternannte Beschützerin von Lufthauch

LUFTHAUCH, Waldläufer

BORK, Truppführerin der Waldelfen

LIND und MAITRIEB, zwei ihrer Jäger

IMMERGRÜN, Ein Diener vieler Herren

ZIMTCHEN, Offizier der Wehrhüter und angeblich Sumpfwassers Tochter

SONNENKRANZ, Sprecher des Elfenrates

Stadtelfen

TREIBGUT, Magier der Komposits und Hersteller von Artefakten

KÖNIG NACHTNEBEL, Artefakthändler und Treibguts Partner, arbeitet später unter Barionstab

WILLJA, Viertelelfe, arbeitet an Artefakten

STEINDORN, ehemaliger Stadtkommandant von NA-R

RÄTSELKRAUT, der eigentlich GRÜNKELCH heißt, ein Verkäufer Nachtnebels

BARIONSTAB, Familienältester des Hauses Barion und Anführer der Stadtelfen im Krieg gegen die Waldelfen

Menschen in NA-R

MERJINA, Frau, reinrassiger Mensch, arbeitet an Artefakten

SCHLANGENAUGE, Führer der Unterwelt

Familie in NA-R

ALTWI, Tamalones leibliche Mutter

HOGGER, ihr Sohn und Tamas Halbbruder

BAERBEN, ihre ältere Tochter und Tamas Halbschwester

NEVEN, ihre jüngere Tochter und Tamas Halbschwester

AUREON und ARGENTON, Tamas Halbbrüder

PALUDA, Tochter von Torso 

POLA-POLON, Merjinas Sohn

Sonstige

TORSO, Gestaltwandler und Froschmensch von gewaltiger Sprungkraft

AUFPASSER, Verwalter der Bergbausiedlung

SEELE DES AUSGLEICHS, seine Begleiterin (dritte Drachentochter der Rache)

ANIMACHRON, erste Drachentochter der Rache

HORNFINGER, (hist.) vergessener Expeditionsleiter der Waldelfen

CILLIA, (hist.) Hornfingers Frau

DER WANDERER, ein Wesen aus der Welt der Toten

ZWEI GEISTER, Wesen der Vergangenheit im Dunklen Viertel

GALMEI, Magier der Menschen und Minenbesitzer

FEUERBLÜTE, Godwins Enkelin aus Animachron

Personen in Centrell

BLAUER DREISPORN, Bewohnerin des Hauses Blau und zweite Tochter der Rache

BLAUER SCHLAFMOHN, die Unaussprechliche und Freundin von Blauer Dreisporn

Die Drachentöchter

DIE TOCHTER DER GEWALT, lebte bei Godwin, heißt nun Starkbaum

DIE DREI TÖCHTER DER RACHE, wurden von der Drachenmutter in die Welt geschickt

DIE ZWEI TÖCHTER VON LIEBE UND VERGEBUNG, Pando trägt das Weiß der Unschuld, Zsardyne das Schwarz der Fruchtbarkeit

Tamalone und die Drachentöchter

Zsardyne beendete ihre Tirade mit den Worten: „Du hast uns verraten. Du hast mich und du hast die Drachenmutter verraten. Ich hasse dich!“

Tamalone schien unter den Anschuldigungen ihrer Geliebten immer kleiner zu werden. Ihre Hände streichelten über ihren Bauch, als müsste sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihr ungeborenes Kind vor diesen Worten schützen. Sie murmelte etwas, und nur Pando, der sich direkt hinter ihr befand, konnte sie hören und flüsterte ihr Trost ins Ohr.

„Hör nicht zu, mein Liebling. Das ist nur das Getöse eines verletzten Geschöpfes, das Geschrei ihres Schmerzes, der selbst keine Worte findet. Du hast großartig mit mir zusammen gekämpft. Wir haben alles erreicht, was wir erreichen wollten. Ich bin so stolz auf dich.“

Tamalones Gestalt straffte sich unter Pandos Worten. Sie richtete sich auf und schaute ihre Geliebte aus feuchten Augen an. Ganz ruhig nun antwortete sie der dunklen Schwester der Liebe und Vergebung:

„Es tut mir weh, dass du mich so siehst. Aber ich werden deinen Hass ebenso ertragen, wie ich deine Liebe ertrug und all deine anderen Launen auch. Mir hilft das Wissen, dass du irgendwann den Schmerz deiner Geburt überwinden wirst. Du trägst das schwerste Gepäck von uns allen hier, aber du wirst am Ende auch am reichsten belohnt werden.“

Seele des Ausgleichs stellte sich neben Tama, und auch sie sah die andere Drachentocher an. „Ich denke du bist zu streng zu ihr, Zsardyne. Ihr Plan hätte gelingen können. Unser Plan hätte uns nur einen heldenhaften Tod geschenkt. Vergiss nicht, sie hat immer von Godwins Unsterblichkeit gesprochen. Dass du ihr nicht geglaubt hast, kannst du ihr nicht zum Vorwurf machen.“

Pando umarmte Tama von hinten und zog sie an seine Brust. „Hast du vergessen, dunkle Schwester, dass du versprochen hast, allen Streit zu begraben und dich unserer gemeinsamen Sache anzuschließen? Und jetzt, bei dem ersten Rückschlag, kommst du mit Wut und Hass und keiner besseren Idee als der einer Spaltung. Wie ist dein neuer Plan? Du und unsere Mutter gegen alle anderen Drachentöchter und allein gegen Godwin?“

Zsardyne blies sich zur alten Drachengröße auf und fauchte: „Von dir lasse ich mir nichts sagen. Ich fliege zu unserer Mutter zurück. Einer muss sie ja vor Godwin beschützen.“

Sie warf sich von der Klippe in den Wind, entfaltete ihre Flügel und ließ sich von der Luft forttragen, ohne einen einzigen Flügelschlag zu benötigen.

„Sie wird zurückkommen“, sagte Pando.

„Sie meint es nicht so“, sagte Seele des Ausgleichs.

„Endgültigkeit riecht anders, aber in einem Punkt hat sie recht. Wie schützen wir die Drachenmutter vor Godwin?“, fragte die Unaussprechliche.

Das Schweigen der Drachentöchter verriet, dass niemand auf diese Frage eine Antwort hatte.

„Und nun?“ Starkbaum stellte diese Frage. Die Antwort darauf würde entscheiden, wer sich als Anführer oder Sprecher der kleinen Gruppe betrachtete.

„Es gibt derzeit nicht viel für uns zu tun“, sagte die Unaussprechliche. „Seht euch Tamas prallen Bauch an. Ein Wunder, dass sie hier Seite an Seite mit uns gekämpft hat. In NA-R wartet Merjina auf ihren Mann und dürfte ihn sich sehnlichst herbeiwünschen. Pando und mir sieht man unseren Zustand nicht an, zumindest nicht in unserer Drachengestalt. Aber auch wir sollten nach einem geschützten Platz suchen. Starkbaum, du magst dorthin gehen, wo du deine Aufgabe siehst. Für Animachron sieht es ähnlich aus. Du, Blauer Dreisporn wirst wohl nach Centrell zurückkehren. Tama und ich, Hogger und Argenton fliegen nach Hause. Und du, Seele des Ausgleichs, es steht mir nicht zu, dir etwas zu befehlen. Deshalb bitte ich dich, mit mir nach NA-R zu fliegen. Drei Menschenkinder könnten etwas viel sein für meinen geschundenen Rücken.“

„NA-R war ohnehin mein Ziel“, sagte Seele des Ausgleichs.

„Meines auch“, sagte Pando. „Ich nehme Tama mit und liefere sie sicher bei ihrer Familie ab.“

„Ich habe auch in NA-R zu tun“, sagte zur allgemeinen Überraschung aller Animachron. „Wenn du willst, Tochter-Tochter, trage ich Hogger und Argenton für dich.“

„Argenton übernehme ich“, sagte Seele des Ausgleichs. „Wir sollten die Lasten gerecht verteilen.“

„Hast du gehört?“, sagte Pando. „Für Seele bist du eine Last.“

Argenton wurde rot. Die Unaussprechliche nahm ihren Sohn in den Arm. „Er meint das nicht so.“

Argentons Rosenfarbe verdunkelte sich noch ein wenig mehr.

„Hört auf“, rief Tama. „Er ist der Jüngste von uns allen. Und du, Pando, solltest dich schämen.“

Pandos vorgespielte Schwermut löste ein allgemeines Gelächter aus, das alle dunklen Gedanken für ein paar Atemzüge lang vertrieb.

Mit Ausnahme von Starkbaum, Blauer Dreisporn und Zsardyne flogen die Drachentöchter nach NeuAllerdamm-Rot und brachten Tama, Hogger und Argenton zu ihrem Familiensitz. Seele des Ausgleichs, Pando und Animachron flogen anschließend weiter zur Wunderwelt der Artefakte.

Im Haus der Unaussprechlichen erwartete die Heimkehrer ein herzliches Willkommen. Tee wurde serviert, und alle setzten sich in einen großen Kreis um die Schildkröte herum.

„Unsere Helden“, sagte Altwi, und niemand wusste zu sagen, ob in ihrer Stimme Bewunderung oder ein unterdrückter Spott erklang. „Sie sind zurück. Allein das zählt. Aber wie soll es nun weitergehen?“

„Wollen wir sie nicht erst erzählen lassen, was passiert ist und wie der Kampf ausgegangen ist?“, fragte Aureon.

Baerben antwortete für die Helden: „Sie haben überlebt. Godwin hat überlebt. Die Einigkeit der Drachentöchter dauerte nur einen Kampf lang.“

„Woher weißt du …? Ist schon gut. Altwi kennt die Zukunft und du, Baerben, warst in Gedanken dabei. Entschuldigt meine dumme Frage.“

„Sie ist nicht dumm, mein Sohn“, sagte die Unaussprechliche. „Was passiert ist, kann man nur wissen, wenn man beteiligt war, und wahrscheinlich wird jeder von uns eine etwas andere Geschichte erzählen. Wir haben unserer Tamalone zu danken, dass wir überlebt haben. Godwin war nicht zu besiegen.“

„Danke, Mutter“, sagte Tama. „Bedeutet das, dass du mir die Unsterblichkeit Godwins glaubst?“

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber meine Augen konnten den Sturz Godwins aus großer Höhe sehen und auch seinen Aufprall auf dem Felsen. Dass er das überlebte und kurz danach einfach davonflog, ist für mich nicht anders zu erklären. Ob es nun seine Unsterblichkeit oder eine andere Magie ist, spielt keine Rolle. Wir Drachentöchter werden Godwin niemals besiegen können. Mit tut die Drachenmutter leid. Ich weiß auch nicht, wie wir ihren Schutz bewerkstelligen könnten. Andererseits wehrt sich alles in mir, sie tot zu sehen.“

„Wir können nur hoffen, dass Godwin sich beruhigt“, sagte Tama. „Im ersten Zorn sagt man leicht Dinge, die man eigentlich gar nicht tun möchte. Und gerade Godwin traue ich immer eine Überraschung zu. Im Guten wie im Schlechten.“

„Hogger, wie ist es dir ergangen?“, fragte Altwi ihren Sohn. Sie wollte nicht länger über Godwin sprechen, wo sich die Gedanken nur im Kreis drehen konnten. Aber für die eigene Familie konnte man etwas tun, und Hogger tat die Frage seiner Mutter gut. Er strahlte, als er das Wort ergriff.

„Ich sah den Flug der Drachen und den Altdrachen höchstpersönlich. Er ist größer als ein Haus, und wenn er brüllt, übertönt er jeden Sturm. Ich hielt mich gut versteckt und tat nicht viel. Ich nutzte meine Zauberkraft, um seinen Sturz zu beschleunigen, auch wenn sie nichts war im Vergleich zu der von Pando. Trotzdem bin ich sehr stolz, dass ich bei diesem Kampf dabei sein durfte.“

Altwi nickte zufrieden. „Und du Argenton?“

Argenton hatte ein auffallend blasses Gesicht bekommen, und er murmelte mehr, als dass er sprach. „Es war fürchterlich. Wenn ich will, kann ich für jeden zu einer tödlichen Gefahr werden. Außer für Godwin vielleicht. Mit einem solchen Wissen zu leben, ist nicht einfach. Ich hatte nie vor, einmal ein Krieger zu werden.“

„Du warst nicht nur ein Krieger, du warst auch ein Held“, sagte Tama. „Du hast Pando beschützt.“

„Und dabei möglicherweise einen Drachen getötet. Das ist nichts, worauf ich stolz sein könnte.“ Er stand auf, wischte sich geistesabwesend mit der Hand über den Kopf, auf dem das Haar kürzer stand als das Getreide nach dem Schnitt, und sagte: „Ich muss euch jetzt verlassen, aber keine Angst, ich gehe nicht weit weg.“

Godwin

Der Himmel verdunkelte sich unter den ausgebreiteten Schwingen des Altvaters aller Drachen. Als er landete, erzitterte das Gebirge.

„Bist du endlich gekommen, um mich zu töten?“, fragte die Drachenmutter.

„Dich zu töten? Was hätte ich davon? Ich habe dir gezeigt, zu was ich fähig bin und dass du nur ein Fehler der Natur bist. Mir gefällt, dass du nun mit dieser Erkenntnis leben musst. Dich zu töten, würde mir diesen Spaß verderben. Nein, du bist sicher vor mir. Nur deine Brut werde ich vernichten, wo immer ich sie finde. Aber solange sie sich in Menschengestalt unter den Menschen versteckt und die Drachenberge meidet, ist sie vor mich sicher. Sie haben mich geärgert, diese Wesen, die nur durch ihr Aussahen noch an Drachen erinnern und Blut der Menschen oder Waldelfen mit deinem gemischt haben. Ein zweites Mal wird ihnen das nicht gelingen, aber letztlich sind sie machtlos einem Gott und seiner Unsterblichkeit gegenüber.“

„Das waren viele Worte, Godwin. Wenn es nicht dein Wunsch nach Rache ist, was treibt dich dann zu mir?“

„Es ist dieser Winzling. Deine Freundin. Das Kind der Menschen. Sie ist so schwach, dass ich aufpassen muss, wenn ich in ihrer Gegenwart ausatme, und so kurzlebig, dass ich nicht einschlafen darf, wenn ich mich mit ihr beschäftigen will. Und doch geht sie mir nicht aus dem Kopf, weil sie Gedanken denkt, die krauser sind als Kräuselkraut und fremdartiger als eine Purzelblume. Ich verstehe sie nicht, ich verstehe nicht, was sie sagt, nicht, was sie will, und schon gar nicht, warum es sie überhaupt gibt. Sie allein sucht meine Nähe, und sie hat keinerlei Angst vor mir.“

„Wegen ihr kommst du zu mir? Dann solltest du wissen, dass sie mich verraten hat und sich hüten wird, zu mir zurückzukommen. Das würde sie nicht überleben.“

„Sicher würde sie das. Mit Leichtigkeit. Sie verfügt über eine eigene Art von Magie, die dir die Gedanken vergiftet und dich zögern lässt, das zu tun, was getan werden sollte. Wenn du sie siehst, sage ihr, Godwin will sie sprechen.“

Eine Antwort wartete der Altvater nicht mehr ab. Schließlich hatte er auch noch andere Dinge zu tun.

Immergrün

Er hatte weniger erreicht, als er erhofft, aber mehr, als er gefürchtet hatte. Er war zurückgefallen in jedweder Gunst und weit entfernt von den Ansprüchen, die ihn auszeichneten. Doch das war ihm egal, solange er noch mit im Spiel war. Er würde den anderen schon zeigen, was es hieß, mit Immergrün zu tun zu bekommen. Die Leiche der toten Waldelfe aus NeuAllerdamm-Rot abzuholen, würde ein Leichtes sein. Doch bevor er sich darum kümmerte, brauchte er Frieden hinter seinem Rücken, denn da gab es noch eine unerledigte Angelegenheit. Immergrün lenkte seine Schritte nach Neustadt oder dem, was davon noch übriggeblieben war.

„Du hier?“, fragte er, als er zu seiner Überraschung auf Steindorn traf.

„Ich erbaue hier eine neue Siedlung“, sagte Steindorn.

Immergrün verdrehte die Augen ob dieser Torheit und murmelte nur etwas von „vergessen“, „schnell noch etwas nachsehen“ oder „gleich wieder da“ und beeilte sich, zu dem kleinen Steinhaus zu kommen, welches nie fertig gebaut worden war. Das gegrabene Loch war wieder zugeschüttet worden und überall zeigten sich Spuren des Brandes. Sonst hatte sich wenig verändert.

Was suchte er eigentlich hier? Konnte er ernsthaft annehmen, dass der wahre Heerführer des Krieges sich ihm noch einmal zeigte? Konnte er ihn rufen?

Dieser Gedanke hatte sich gerade erst gebildet, als die ihm gegenüberliegende Wand in ihren Konturen verschwamm und ein Kopf in der Luft schwebte, der durch nichts gestützt wurde.

„Ich habe auf dich gewartet. Alle möglichen Leute haben sich hier herumgetrieben, aber Barionstab und du, ihr habt mich warten lassen. Es war deine Aufgabe, mir zu erzählen, wie die Dinge in Centrell stehen. Du kamst nicht zurück. Es ist gefährlich, mich zu erzürnen.“

„Ich bin ja jetzt hier“, sagte Immergrün in einem Ton, der ihm geeignet erschien, den Geist zu beschwichtigen. „Barionstab wurde ermordet und müsste sich in der Welt der Toten befinden. Am besten Ihr redet selbst mit ihm, denn ich war bei seiner Ermordung nicht anwesend. Davon wollte ich Euch unterrichten, denn ich bin auf dem Weg, um für den Elfenrat eine tote Waldelfe zu bergen.“

„Vergiss den Elfenrat. Ich habe einen neuen Auftrag für dich. Du sollst für mich einen Friedhof der Menschen plündern. Bringe alles, was du dort findest – vor allem die Knochen – in das dunkle Viertel von NA-R.“

„Ich soll … Wie stellt Ihr Euch das vor, Herr?“

„Suche Hilfe bei einem Magier der Menschen, der nahe bei NA-R lebt.“ „Könnt Ihr mir etwas genauer beschreiben, wo ich den finde oder wie er aussieht?“

„Kenne ich mich in deiner Welt aus? Suche jemanden, der groß und mächtig unter den Menschen ist, sag ihm, dass ich dich geschickt habe, und tue, was ich dir befohlen habe.“

Das Bild des schwebenden Kopfes verschwand und ließe einen ratlosen Immergrün zurück. Er wartete noch einen Moment in der Hoffnung, dass der Geist zurückkam, weil er etwas Wesentliches vergessen hatte mitzuteilen, aber das war eine dumme Hoffnung. Immergrün wusste es selbst.

Er würde einen der Transporter nehmen, um nach NA-R zu gelangen. Er hatte keine Lust zu Fuß durchs Menschenland zu laufen.

Im Vorbeigehen fragte er Steindorn, ob der etwas über Magier der Menschen wüsste und wo sie in NA-R wohnten.

„Ich dachte immer, die Menschen hätten ihre Magie verloren“, war dessen wenig hilfreiche Antwort.

Das Schwarze Biest oder einer seiner Brüder kam, hielt mit kreischenden Rädern und nahm Immergrün mit. Als er den äußersten Siedlungsring um NA-R erreichte, sprang er ab.

„Ich habe zwei Fragen“, herrschte er den ersten Mann an, dem er begegnete. „Wer hält hier um NA-R die Macht in den Händen? Und was versteht man unter der Magie der Menschen?“

„Mächtig sind hier mehrere zu nennen. Sie alle befinden sich dort, wo sie es nicht weit in die Stadt hinein haben. Nur der Gutsherr meidet die Nähe der Stadt. Aber das liegt daran, dass er Ackerbau auf großen Schlägen betreibt. Dafür braucht man Platz. Und die Magie der Menschen?“ Der Mann lachte bitter. „Würde ich sie beherrschen, ginge es mir wohl besser. Als Erstes würde ich mir ein großes Brot herbeizaubern, von dem man so viele Stücke abschneiden kann, wie man möchte, ohne dass es kleiner wird.“ Bei diesen Worten hatte er das Kinn nach vorn geschoben und hielt die Fäuste geballt.

Immergrün bedankte sich höflich für die Auskunft und eilte davon. Er konnte kein Aufsehen gebrauchen.

Je näher Immergrün dem Gut kam, desto mehr Bewaffnete sah er, bis er von jemandem angehalten wurde.

„Seid gegrüßt, edle Waldelfe. Darf ich fragen, was Euch hierher getrieben hat? Ich frage nicht ohne Grund, denn der Boden, auf dem Ihr steht, ist nicht Teil der freien Natur und schon gar nicht Teil Eures heiligen Waldes. Und ich weiß nicht, ob Ihr die Erlaubnis unseres Herrn habt, ihn zu betreten.“

„Wem was gehört und wem nicht, darüber ließe sich trefflich streiten. Die Stadt dort drüben und all das Land um die Stadt herum ist im Besitz der Waldelfen. Die Komposits und die Menschen hier haben lediglich ein Nutzungsrecht an dem Land. Aber Streit ist nicht der Grund, warum ich gekommen bin. Ganz im Gegenteil. Ich brauche Hilfe, und jemand gab mir den Rat, den Gutsherrn aufzusuchen, denn er wäre der Mann, der mir am ehesten helfen könnte. Sagt Ihr mir, ob dieser Rat gut war, oder ob ich hier meine Zeit vergeude. Denn die ist kostbar.“

„Wie soll ich Eure Frage beantworten, wenn ich nicht weiß, wo es Euch zwickt. Trag mir Euer Anliegen vor, und ich schicke einen Boten.“

Immergrün schüttelte leise lächelnd den Kopf. „Euer Herr kann sich glücklich schätzen, jemanden wie Euch in seinen Diensten zu haben, aber ich bin nicht gekommen, weil ich um eine Gefälligkeit bitten möchte. Ich suche auch nicht nach jemandem, der reich ist oder mächtig ist oder vielen Menschen Arbeit gibt. Ich suche nach einem Menschen, der über ganz besondere Fähigkeiten verfügt. Zu einem solchen Menschen kommt man nicht mit kleinen Dingen, sondern mit solchen, von denen das Schicksal unserer Welt abhängt. Über die allerdings redet nur ein Narr. Und sehe ich wie ein Narr aus?“

Immergrüns letzter Satz war von Magie getränkt und weitaus mehr als eine belanglose Frage. Die Worte rochen nach saftigem Grün, trugen das Aroma von frisch aufgebrochener Erde, versprachen und schmeichelten, und so dauerte es nur einen Moment, bis der Mann vor ihm sagte:

„Ich bringe Euch persönlich zu meinem Herrn. Er wird dann entscheiden, so wie er immer entscheidet.“

Kurz danach saß Immergrün dem Gutsherrn gegenüber.

„Eine Waldelfe. Was für ein seltener Gast in meinem Haus. Zumal noch vor kurzer Zeit Krieg zwischen unseren beiden Völkern herrschte. Da sollte ich wohl besser vorsichtig sein.“

„Ihr habt von mir nichts zu befürchten. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich dort bin, wohin ich geschickt wurde. Ich suche nach jemandem, der mir Auskunft über die Magie der Menschen geben kann.“

Der Gutsherr lachte und setzte eine gutmütige Miene auf. „Da hat Euch jemand hinter das Licht des Offensichtlichen geführt. Eine Magie der Menschen gibt es nicht. Obwohl die Legenden sagen, dass es sie einmal gegeben haben soll. Aber wer weiß schon, was wahr ist und was nicht?“

Auch Immergrün lächelte freundlich. „Zumindest diese letzte Frage kann ich Euch beantworten. Wir müssten diejenigen fragen, die zur Zeit der Legenden gelebt haben.“

Die Gutmütigkeit im Gesicht des Gutsherrn war verschwunden. „Und die wären?“

„Nun, die Toten. Und die Geister. Oder auch nur einen Geist.“

„Seit wann kümmern sich Waldelfen um unsere Toten? Und sind sie nicht selbst Geister? Geister des Waldes. So dachte ich bisher immer.“

„Ich bin der, der sich um die Toten kümmert. Ich ganz allein. Und jetzt habe ich alles gesagt, was ich sagen darf. Jetzt seid Ihr daran zu sprechen.“

„Und wenn ich schweige?“

„Dann gehe ich wieder so unauffällig, wie ich gekommen bin. Und weiß, dass Ihr entweder wirklich nichts über die Magie der Menschen wisst, oder aber von einer gefährlichen Krankheit befallen wurdet, die man die Dummheit nennt. Und ich will ehrlich mit Euch sein. Ihr seid in meinen Augen alles andere als dumm.“

„Ihr seid unterhaltsam, mein Guter. Und Ihr spielt gern. Also gut. Ich schenke Euch einen Satz. Es gibt diese Magie der Menschen, aber wo sie zu finden ist, weiß niemand. Und nun?“

„Ich vergebe Euch Eure Lüge und wende mich mit einer Bitte an Euch.“

Immergrün wartete vergeblich auf eine weitere Bemerkung.

„Ich soll einen Friedhof auflösen und das, was ich in diesem Friedhof finde, an einen anderen Ort bringen, ohne dass es groß auffällt. Das ist für einen einzelnen Mann nicht zu leisten. Ich weiß nicht welcher Friedhof geeignet ist, brauche Hilfe beim Graben, einen Wagen und ein Tier, das diesen Wagen zieht. Oder habe ich etwas vergessen?“

„Dabei kann ich helfen“, sagte der Gutsherr. „Aber ich bin ein Kaufmann und kein Bestatter. Und in der Welt der Menschen gibt es nichts umsonst. Ich verlange für meine Dienste zwanzig Goldstücke mittlerer Größe. Wenn Ihr an der Größe Eurer Münzen zweifelt, nehmt die größeren, denn dieser Preis ist nicht verhandelbar.“

„Ich bin eine Waldelfe. Im heiligen Wald gibt es kein Gold.“

„Dann solltet Ihr nicht versuchen, mit einem Menschen ein Geschäft abzuschließen. Ich wünsche Euch noch einen guten Tag.“

Seele des Ausgleichs

Pando hatte, als er das Haus der Artefakte betrat, wieder die Gestalt von Dorman angenommen. Er eilte sofort zu seiner geliebten Merjina.

Seele des Ausgleichs und Animachron setzten sich mit Willja an einem Tisch zusammen, und Willja breitete Argentons abgeschnittene Haare vor sich aus.

„Um diese Haare zu einem Pulver zu machen, brauche ich die Hilfe eines Drachen. Vielleicht machst du das am besten selbst, Seele. Ist allerdings schade um diese wunderschöne Silbermähne. Ist es dir recht, wenn ich dich Seele nenne? Seele des Ausgleichs klingt zwar wunderschön, ist aber unpraktisch im täglichen Umgang miteinander. Und über das mit dem Ausgleich könnte man auch manchmal streiten.“

In diesem Augenblick erschien Argenton neben ihnen. „Ach ja,“ sagte er. „Meine Haare.“ Er strich sich gedankenverloren über seinen Schädel.

„Mach dir nichts draus.“ Willja lächelte ihm zu. „Mir gefällst du auch ohne Haare. Lässt dich männlicher wirken.“

„Lass nur. Es macht mir nichts aus, dass mir die Mädchenherzen nicht so zufliegen wie meinem Bruder Aureon.“

„Weil es Mädchen sind, mein Lieber. Frauen haben da einen ganz anderen Blick. Und hast du nicht bereits eine Dame verführt, die erheblich älter ist als wir beide zusammen? Und dass ich dir ja ohnehin bereits verfallen bin, weißt du ja.“ Willjas spöttisches Lächeln ließ Argenton zweifeln, dass sie es mit ihren Worten ernst meinte.

„Das ist jetzt kein Gespräch, was mir gefällt“, sagte Animachron, aber selbst, wenn Argenton zugehört hätte, er hätte den Halbdrachen nicht verstanden.

„Ich habe niemanden verführt“, sagte der junge Mann unwirsch. „Ich war da, und ich war nützlich. Mir wurde geholfen, und ich habe geholfen. Mit Verführung oder gar Liebe hatte das alles nichts zu tun.“

Seele des Ausgleichs zog Argenton an sich und nahm ihn in den Arm. „Wer sagt dir denn, dass ich dich nicht liebe? Vielleicht bist du einfach noch ein wenig zu jung, um das alles zu verstehen.“

„Was ist daran schwer zu verstehen?“, ereiferte er sich. „Du bist eine Drachentochter. Die Natur sagte dir, wenn es Zeit ist, Kinder zu bekommen. Und ich war gerade in der Nähe. Meinst du, ich hätte das nicht gemerkt?“

„Du dummer, dummer junger Mann“, sagte Seele des Ausgleichs mit großem Ernst und küsste ihren Liebhaber auf die Wange. „Wenn die Natur mich so einfach zwingen könnte, warum habe ich dann über die ganzen Jahre meinem Kinderwunsch nicht nachgegeben? Ich lebte mit dem Aufpasser zusammen, einem mächtigen Magier der Menschen. So hielt es auch meine Mutter mit ihrem letzten Liebhaber. Aber im Gegensatz zu ihr habe ich jedes Leben, das er in mich pflanzte, abgelehnt. Nicht, weil der Aufpasser ein Mensch war. Wie sollte ich einen Menschen als nicht würdig ansehen, der Vater meiner Kinder zu werden, wenn meine eigene Mutter einem Menschen zwei Töchter schenkte. Sie hat ihn so sehr geliebt, dass sie ihm heute noch hinterhertrauert. Ihr Geliebter war der Vater von Zsardyne und Pando. He, Pando“, rief Seele, als sie Pando zurückkommen sah. „Wir sprechen gerade über dich und deinen Vater.“

„Und über die Liebe“, warf Willja ein.

„Und dann ist da noch etwas, was du vergessen hast“, fuhr Seele des Ausgleichs fort. „Du bist über deine Mutter ein Vierteldrache. Wärest du etwas wacher in deiner Drachenmagie, würdest auch du den Ruf der Natur hören. Doch für dich als Halbmensch ist die Menschseite naturgemäß wichtiger. Sei froh darüber, dass du dich als Mensch fühlst. Wenn auch als einer mit besonderen Fähigkeiten. Du weißt wenigstens, wer du bist. Ich kann das für mich nicht sagen. Ich bin zur Hälfte eine Komposit, die ihr Viertel Menschblut nur deshalb bevorzugt, weil meine Mutter mir den Auftrag gab, die Menschen zu beobachten. Aber macht ein Auftrag meiner Mutter deshalb meine Drachenseite weniger wichtig? Als Komposit hätte ich dich auch mit dem Elfencharme an mich binden können, doch das habe ich nicht getan. Warum wohl nicht? Wir beide haben mehr gemeinsam, als du glaubst, junger Argenton, und behaupte nie wieder, ich würde dich nicht lieben. Es war dein erstes Mal, habe ich recht?“

Argenton nickte mit zusammengekniffenen Lippen.

„Für mich war es das auch“, sagte Seele des Ausgleichs. „Jedenfalls das erste Mal, dass es wichtig für mich war. Wir sind uns sehr ähnlich, wir beide. Bis auf das Alter. Hast du das verstanden?“

„Gib ihm Zeit, Seele“, sagte Pando. „Keine von uns Drachentöchtern versteht die Liebe so richtig. Ich werde bald Mutter und Vater zugleich sein. Wie soll ich das verstehen? Erzähl uns lieber, warum Willja dir unbedingt ein Artefakt bauen soll, anstatt über die Rätsel der Liebe zu debattieren.“

„Das Artefakt? Nun, ich …“

Godwin

Der Altdrache war viel zu ungeduldig, um auf diese Tamalone zu warten. Er würde sie suchen gehen, auch wenn er wusste, dass es selbst für jemanden wie ihn unmöglich war, eine einzelne Frau in diesem Menschengewimmel zu finden. Aber einen Versuch war es wert. Deshalb flog er nach Centrell. In hellstem Tageslicht, als wenn ihm die ganze Welt gehörte. Und tat sie es nicht auch? Die Welt? Wenn sie überhaupt jemandem gehörte, dann doch wohl ihm.

„Was ist das da oben?“

„Wo?“

„Da am Himmel. Ich beobachte es schon die ganze Zeit. Es wird immer größer?“

„Jetzt seh‘ ich es auch. Den schwarzen Punkt am Himmel?“

„Das ist ein Vogel, aber ein sehr großer.“

„Dafür wächst er zu schnell.“

„Von woher kommt er?“

„Aus Richtung der Drachenberge.“

„Aus den …“

Auch andere hatten den schwarzen Punkt gesehen, und die Nachricht von einem Drachen über Menschenland trieb die Leute auf die Straße. Einige rannten voller Furcht, doch die meisten trieb die Neugier. Hörnerklang, Trommeln. Die Stadtwachen sammelten sich.

„Wir bekommen Besuch“, sagte Treibgut zu Blauer Dreisporn. „Von einem Drachen.“

„Helft ihr Götter“, rief Blauer Dreisporn aus. „Das ist Godwin. Er ist gekommen, um uns zu vernichten. Ich muss ihn aufhalten.“

„Wie willst du ihn aufhalten? Wenn alle Drachentöchter zusammen es nicht geschafft haben, wie willst du es dann tun?“

„Er ist gekommen, um die Drachentöchter zu töten, eine nach der anderen. Ich bin die Einzige hier. Wenn ich ihm entgegenfliege und mich opfere, verschont er vielleicht die Stadt.“

„Das ist doch Unsinn. Lasst uns erst hören, was er will.“

„Ach, Treibgut, glaubst du denn, der redet mit uns? Der kommt und fliegt wieder weg. Und zurück bleiben Schutt und Asche. Kümmere dich um Blaublatt, beschütze ihn, verstecke ihn. Die Unaussprechliche soll nicht noch ihren zweiten Sohn verlieren.“

Blauer Dreisporn rannte in das Zimmer der Unaussprechlichen, kletterte aufs Dach und sprang. In der Luft nahm sie Drachengestalt an und warf sich Godwin entgegen. Sie trafen sich noch vor der Stadt, und die Menschen unten am Boden hatten den Eindruck, dass der halbe Himmel hinter den ausgebreiteten Schwingen des Altdrachen verschwunden war. Es wurde kühl, als die Sonne nicht mehr schien.

„Halt“, rief Blauer Dreisporn. „Nicht weiter. Wenn du mich suchst, hier bin ich. Ich bin die einzige Drachentochter in der ganzen Stadt. Ich beschütze diese Stadt gegen alles Üble. Du musst erst an mir vorbei.“

Der Donner, den die Leute zu hören meinten, war nichts anderes als das Gelächter Godwins.

„An dir vorbei? Ich würde den Zusammenprall kaum merken. Aber wenn du eine Drachentochter bist, dann weißt du auch, dass man den Altdrachen nicht ungestraft verärgert.“

„Ich bin bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen, wenn du die Stadt unter mir verschonst.“

„Du kannst keine Bedingungen stellen. Aber meine Absicht hast du erraten. Ich bin gekommen, um jedes einzelne Haus in dieser Stadt, dem Erdboden gleichzumachen, sodass man am Ende nur noch an der Farbe des Bodens erkennen kann, dass hier einmal Menschen gewohnt haben.“

„Hier wohnen kaum Menschen. Hier wohnen die Kinder von Waldelfen, die sich einmal mit Menschen eingelassen haben, ihre Kinder und deren Kindeskinder. Sie nennen sich Komposits, die Waldelfen nennen sie die Verlorenen verderbten Blutes. Die Menschen leben woanders. Übers Land verstreut.“

„Wohnt diese Tamalone auch hier?“

„Nein, warum sollte sie?“