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Die Drachenmutter Kriecher hat vor, Altvater Godwin zu töten, an dessen Unsterblichkeit sie nicht glaubt. Doch für Tamalone ist der Plan der Unaussprechlichen, die Welt zu retten, nur ein Albtraum. Wie aber soll sie einen besseren Plan entwickeln, wenn sie weder Zukunft noch Vergangenheit kennt? Die Zukunft liegt im Dunkel und über die Vergangenheit herrscht tiefes Schweigen. Wenn sich nichts Grundsätzliches ändert, ist die Welt – und mit ihr Tamalone – verloren. Kann Tamalone einen Weg finden, die Welt zu retten, obwohl die Drachenhaut, die mit ihrem Körper verschmolz, sie bereits jetzt umzubringen droht? Der Hintergrund: Unerwartet tauchen auf der Welt Halva Gestaltwandler auf. Dem Aussehen nach wilde Tiere, doch mit Vernunft gesegnet und der entsetzlichen Fähigkeit, biologische Grenzen zu durchbrechen und sich mit anderen Arten fortzupflanzen. Bereits ihre bloße Gegenwart bringt in den anderen vernunftbegabten Arten, den Drachen, Elfen und Menschen, die finstersten Seiten zum Vorschein. Die Elfen versuchen deshalb, die Gestaltwandler und ihre Mischlings-Nachkommen einzufangen und wegzusperren, doch der Keim des Zerfalls breitet sich unaufhaltsam aus. Unter den Elfen droht ein Bürgerkrieg, die Menschen dringen in den Siedlungsraum der Elfen ein und die Drachen scheinen unschöne Geheimnisse zu haben. Am Ende beginnt sogar Halva, sich selbst zu zerstören. In dieser Welt macht sich die Viertelelfe Tamalone auf, ihre Ziehmutter wiederzufinden und die Rätsel ihrer Herkunft zu lösen. Niemand rechnet mit dem, was ihre Suche auslösen wird – sie selbst am wenigsten.
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Seitenzahl: 263
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Der Weg in die Vergangenheit
Wolf Awert
Band 7 der Drachenblut-Reihe
©Wolf Awert 2021
Machandel Verlag Haselünne Charlotte Erpenbeck
Cover: Detlef Klewer
1. Auflage 2021
ISBN 978-3-95959-186-7
Der drohende Weltuntergang ist für Tama vorerst nur eine unbestimmte Gefahr. Sie hat dringendere Aufgaben zu erfüllen, als sich um etwas zu kümmern, was irgendwann in der Zukunft geschehen könnte.
Ihren universellen Magieverstärker hat sie gefunden. Aber ihr Körper verträgt ihn nicht und sie droht zu sterben, wenn es ihr nicht gelingt, die Drachenmagie vorübergehend zum Schweigen zu bringen.
Die Drachenmutter Kriecher hat vor, Altvater Godwin zu töten, an dessen Unsterblichkeit sie nicht glaubt. Doch für Tama ist der Plan der Unaussprechlichen, die Welt zu retten, nur ein Albtraum.
Wie aber soll sie einen besseren Plan entwickeln, wenn sie weder Zukunft noch Vergangenheit kennt? Die Zukunft liegt im Dunkel und über die Vergangenheit herrscht tiefes Schweigen. Wenn sich nichts Grundsätzliches ändert, ist die Welt – und mit ihr Tama – verloren.
Personae dramatis
GODWIN, Altvater aller Drachen
KRIECHER: Drache mit einem gelähmten Flügel
TAMALONE, genannt Tama, ein Dreiviertelmensch mit einigen rätselhaften Fähigkeiten
PANDO, ein Gestaltwandler in Tierform und Freund Tamas
DORMAN, Pando in Menschengestalt
CHAMSIANA, Pando in Elfengestalt
ZSARDYNE, Pandos schwarze Schwester
DIE UNAUSSPRECHLICHE, Eine rätselhafte Frau unklarer Rasse. In Centrell nennt sie sich Blauer Schlafmohn, sie war Tamas Pflegmutter
Waldelfen
SUMPFWASSER, Erster Berater der Waldelfen und Tamas Auftragsgeber
LUFTHAUCH: Waldläufer
BORK, Truppführerin der Waldelfen
LIND und MAITRIEB, zwei ihrer Jäger
IMMERGRÜN: Ein Diener zweier Herren
ZIMTCHEN: Offizier der Wehrhüter und angeblich Sumpfwassers Tochter
SONNENKRANZ, Sprecher des Elfenrates
Stadtelfen in NA-R
TREIBGUT, Magier der Komposits und Hersteller von Artefakten
KÖNIG NACHTNEBEL, Artefakthändler und Treibguts Partner
WILLJA, Viertelelfe, arbeitet an Artefakten
STEINDORN, ehemaliger Stadtkommandant
GEFLECKTER GELBZAHN, sein Sohn und Ratsmitglied
RÄTSELKRAUT, der eigentlich GRÜNKELCH heißt, ein Verkäufer Nachtnebels
Menschen in NA-R
MERJINA, Frau, reinrassiger Mensch, arbeitet an Artefakten
SCHLANGENAUGE, Führer der Unterwelt
Familie in NA-R
ALTWI, Tamalones leibliche Mutter
HOGGER, ihr Sohn und Tamas Halbbruder
BAERBEN, ihre ältere Tochter und Tamas Halbschwester
NEVEN, ihre jüngere Tochter und Tamas Halbschwester
AUREON und ARGENTON, ihre Söhne
POLA-POLON, Merjinas Sohn
Sonstige
TORSO, Gestaltwandler und Froschmensch von gewaltiger Sprungkraft
AUFPASSER, Verwalter der Bergbausiedlung
SEELE DES AUSGLEICHS, seine Begleiterin
HORNFINGER, (hist.) vergessener Expeditionsleiter der Waldelfen
CILLIA, (hist.) Hornfingers Frau
DER WANDERER, ein Wesen aus der Welt der Toten
EIN GEIST, Wesen der Vergangenheit im Dunklen Viertel
GALMEI, Magier der Menschen und Minenbesitzer
Personen in Centrell
BLAUER DREISPORN, Bewohnerin des Hauses Blau
BLAUER SCHLAFMOHN, die Unaussprechliche und Freundin von Blauer Dreisporn
BARIONSTAB, Familienältester des Hauses Barion
Tama war verschwunden. Und der Elfenkrieger mit ihr. Lufthauch starrte auf den verwaisten Lagerplatz, das erkaltete Feuer und die niedergedrückten Pflanzen, die ihm zeigten, wo noch vor kurzer Zeit Tama gelegen und im Schlaf gestöhnt hatte. So lange bin ich doch gar nicht weggeblieben, dachte er. Jetzt steh ich hier mit genug Fleisch in den Händen, Pflanzenblättern und Blumenzwiebeln, dass ein ganzer Erkundungstrupp davon hätte satt werden können. Sie sind weg, und ich bin als einziger noch übrig. Der letzte Mann, wenn alle anderen weiterziehen. Und gleich darauf: Hoffentlich geht alles gut mit Tama.
Seltsame Gefühle balgten sich in seiner Brust, drückten sie so eng zusammen, dass er kaum Luft bekam, um ihr im nächsten Augenblick zu gestatten, sich erleichtert zu weiten und die Luft der ganzen Welt in sich aufzusaugen. Was für ein Drama hatte er nichtsahnend mit ausgelöst. Ein Band aus Drachenleder hatte sich Tama um den Unterarm gewickelt und das hatte sich sofort in ihre Haut hineingefressen, als ob es mit der Menschenhaut verschmelzen wollte. Hart, zäh und magisch war das Band, und Tamas Haut war weich und geschmeidig. Sollte ihre Haut auch magisch sein, dann beherbergte sie aber eine ganze andere Magie, eine, die vielleicht jemanden träumen ließ, die aber völlig ungeeignet war, sich gegen feindliche Angriffe zu wehren. Und so hatten sich Haut und Fleisch entzündet, der Arm schwoll ihr an und glühte im Fieber. Sie würde den Tag nicht überleben. Da war er sich sicher. Andererseits …
Die beiden waren nicht mehr da, waren in aller Eile abgereist und hatten ihn zurückgelassen. Der Elfenkrieger musste eine Möglichkeit gefunden haben, Tama zu retten. Oder zumindest eine Idee gehabt haben, was ihr helfen konnte. Es musste so sein, denn eine Welt ohne Tama konnte Lufthauch sich nicht mehr vorstellen. Das wäre nicht mehr seine Welt gewesen. Aber hatte er die nicht ohnehin bereits verloren in diesem Durcheinander? Wie konnte es geschehen, dass gerade er, der als Waldelf für das reine Blut eintrat, lauter Freunde hatte, die nur eines verband: Mischblut. Und für Sumpfwasser, den Ersten Berater des Elfenrates, sah es ähnlich aus.
Es würde mich mittlerweile nicht mehr wundern, wenn auch Sumpfwasser keine reinrassige Elfe wäre.
Und dann gab es noch etwas. Das Geheimnis, das ihn die ganze Zeit so bedrückte, dass er es nur mit äußerster Willenskraft für sich behalten konnte, war mit Tama fortgegangen. Jene Drachenschuppe war zu einem Lederriemen geworden und nun ein Teil von Tamas Haut geworden. Und wenn Tama jetzt starb …
Mochte sein Verstand auch Auswege und Entschuldigungen genug finden, sein Herz sagte ihm, dass es darum gar nicht ging. Alle Überlegungen konnten eine Tatsache nicht aus der Welt schaffen: Ein Drache in den Drachenbergen hatte Tama eine seiner Schuppen anvertraut. Und davon wussten schon zu viele. Der Drache mit dem lahmen Flügel, Pando, Tama, leider auch er und nun auch noch die Unaussprechliche. Wenn das Leder ein Teil von Tamas Haut wurde, war es verschwunden und kein Drache der Welt würde kommen und die Drachenschuppe suchen wollen. Aber was, wenn Tama dabei starb? Dann würde ihr Leib verwesen und das Lederband läge in ihrem Grab. Und er …
Lufthauch sah nur noch einen Ausweg. Er beschloss das zu tun, was er vorher als völlig unmöglich verworfen hatte. Er würde, nein, er musste Sumpfwasser davon erzählen. Ohne noch einen Gedanken an sein Frühstück zu verschwenden, eilte er zurück nach Neustadt, wo sich hoffentlich der Erste Berater des Elfenrates immer noch aufhielt.
„Ich muss mit dir über etwas reden, Vater“, sagte Lufthauch, nachdem er eine Weile herumgedruckst hatte. „Es geht um ein Geheimnis, von dem ich weiß, von dem ich aber nichts wissen sollte. Ich dürfte niemals darüber sprechen, und ich habe lange mit mir gerungen. Aber jetzt kann ich es nicht mehr für mich behalten. Dieses Geheimnis ist zu groß für mich, als dass ich es in meinem Herzen verschließen könnte.“
Und dann erzählte er von dem Drachen in den Drachenbergen, dessen Flügel lahm war, von der Drachenschuppe, von Tamalone und Pando und auch von der Unaussprechlichen und ihrem Wunsch, ihn tot zu sehen. „Aber ich möchte noch nicht sterben. Auch nicht aus einem guten Grund und von eigener Hand“, sagte er endlich.
Sumpfwasser, der Erste Berater des Elfenrates, der am liebsten zu allem und jedem Abstand hielt, um sich seinen kühlen Blick zu erhalten, nahm Lufthauch in die Arme und drückte ihn behutsam an seine Brust.
Lufthauch zögerte nur kurz, wohl eher aus Überraschung als aus Widerwillen, und verlor sich dann in der Stärke und Wärme des Mannes, der behauptet hatte, sein Vater zu sein. „Du überraschst mich“, sagte er leise. „Ich hatte gedacht, du würdest sofort darüber nachdenken, wie du dieses Wissen nutzen könntest. Verzeih mir, dass ich dich so falsch eingeschätzt habe. Bleibe immer eng an meiner Seite. Neben mir kann dir nichts geschehen. Auch die Unaussprechliche wird es nicht wagen, dir etwas vor meinen Augen zu tun. Und wenn ich erst mit ihr gesprochen habe, auch nicht hinter meinem Rücken. Du musst wissen, dass sie nur zwei Dinge in dieser Welt fürchtet. Das eine ist die Wut ihrer Großmutter und das andere ist mein kalter Zorn.“
Lufthauch hatte nicht den Eindruck, dass Sumpfwasser übertrieb. Aber was war das für eine Macht, die es dem alten Mann ermöglichte, der Unaussprechlichen eine solche Furcht einzujagen, dass sie tat und unterließ, was er ihr vorschrieb? Er selbst hatte ihre Magie gespürt. Ihr hatte keine Waldelfe etwas entgegenzusetzen. Auch ein Sumpfwasser nicht. Und trotzdem gehorchte sie ihm. Meistens jedenfalls.
Der Führer des Hauses Barion hatte für den frühen Abend eingeladen. Warum es ging, wusste Immergrün nicht. Es war ihm auch gleichgültig, er würde es früh genug erfahren. Ungelegen kam es ihm nur deshalb, weil Barionstab vor dem Treffen immer seinen Beraterstab zu sich rief. Einzeln, damit sie einander nicht begegneten und sich absprechen konnten. Genau dafür hatte er aber heute keine Zeit und schaute deshalb zu, dass er unsichtbar blieb. Er wusste, in der Nähe der Gleise würden Barionstabs Diener nicht nach ihm suchen. Zu staubig, zu laut und viel zu weit entfernt von allen Dingen, die derzeit wichtig waren. Wichtig für Barionsstab, aber nicht für ihn. Etwas abseits, am Rand der Stadt und in der Nähe der Schienen stand eine Hütte, die ein Alltagsblick höchstens streifte. Was sollte auch an einer Hütte interessant sein, die zwar aus Steinen erbaut war, aber außer vier Wänden, einem flachen Dach und einer Öffnung, durch man sie betreten konnte, nicht aufzuweisen hatte. Noch nicht einmal ein Fenster. Damit Licht in die Hütte fiel, musste die Tür offenstehen. Doch bis jetzt gab es noch nicht einmal einen Türrahmen.
Immergrün schaute über die Schulter zurück, bog schnell um eine Hausecke, blieb plötzlich stehen und lehnte sich an die Wand. Er stand da, als wäre er in Gedanken, doch in Wirklichkeit lauschte er jedem Geräusch nach, das nicht in diese Umgebung hinein passte. Es war alles, wie er es sich wünschte. Niemand war ihm gefolgt, und die halbfertige Hütte vor ihm stand leer. Mit einigen raumgreifenden Schritten betrat er sie, machte einen schnellen Schritt zur Seite, damit ihn von außen niemand sehen konnte und überprüfte dann die Wände. Stein für Stein. Er konnte nichts entdecken. Mit einer so leisen Stimme, dass er nichts aufweckte, das schlief, fragte er in die Stille hinein: „Seid Ihr hier, Herr? Bitte, antwortet mir, wenn Ihr mich hören könnt.“
„Schön, dass du gekommen bist“, hörte er die Steine um sich antworten.
Immergrün drehte hilflos den Kopf. Außer ihm war niemand im Raum. „Es würde mir helfen, Herr, wenn Ihr Euch mir zeigen würdet. Dann könnte ich Euch und Eure Absichten besser verstehen.“
„Du musst nicht verstehen, nur tun, was ich sage. Aber ich verstehe die Neugier der Elfen und werde deshalb deinem Wunsch entsprechen.“
Auf der Wand gegenüber der Türöffnung bildete sich der Umriss einer Gestalt, der sich langsam mit einem silbrig blassen Licht füllte.
Ein Bild auf der Wand?
Das Bild trat aus der Wand heraus und wurde zum Körper.
„Was für eine Magie ist das, Herr? Eine einfache Illusion? Ein Lichtspiel mit übrig gebliebenen Strahlen des Mondes der letzten Nacht? Oder ein magisches Spiel, das ich nicht kenne?“
„Es ist ein Teil meines Selbst. Die Menschen nennen es Geisterscheinung. Sie wissen es nicht besser.“
„Geist? Das Wort kenne ich nicht. Was bedeutet es?“
„Was es bedeutet? Das, was du vor dir siehst. So nennen die Menschen ihre Toten, die nicht den vorgeschriebenen Weg gehen, die Welt nicht ganz verlassen können, aber ab und an zurückkommen und sich den Lebenden zeigen. Die Elfen kennen ähnliche Erscheinungen. Waldgeister nannten sie sie. Heute wissen die Waldelfen noch nicht einmal mehr, ob es solche Wesen jemals gab. Du siehst, Wissen kann auch verloren gehen.“
„Das macht mich nicht viel klüger. Ihr seid also ein Mensch, der schon lange gestorben ist.“
„Nein, das ist Unsinn. Du hast mich nach dem Wort gefragt. Ich selbst bin noch sehr lebendig. Immerhin weißt du nun, dass ich kein Drache bin und auch kein Gestaltwandler, denn Drachen und Tiere kennen keine Geister. Ich bin also eine Elfe oder ein Mensch. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.“
Immergrün war unzufrieden. Er war es gewohnt, dass man seine Fragen beantwortete. Jetzt war er nicht schlauer als zuvor. Und dass der Geist nicht wusste, wer er selber war, konnte er jemandem erzählen, der zu dumm war, um ein Vogelei zu zerbrechen. Es gab Menschen, es gab Elfen und es gab Komposits, diese verachtenswerten Wesen unreines Blutes, denen das eigene Volk nicht gut genug war. Und jeder von ihnen wusste, wer er war. So einfach war das. Aber zu welcher Gruppe gehörte ein Geist? Immergrün kannte keinen Zauber, der so ein Bild erzeugte.
„Genug gestaunt und gewundert, Waldelfe. Wäre ich nicht allen anderen überlegen, könnte ich nicht ausführen, was ich mir vorgenommen habe. Und das allein zählt. Barionstab wird dich zu einer Sitzung bestellen, wenn er es nicht bereits getan hat. Du wolltest doch schon immer wissen, warum ich dir befohlen habe, dich in Barionstabs Dienste zu begeben. Bist du immer noch neugierig?“
„Es sind Eure Pläne. Es steht mir nicht zu, danach zu fragen.
„Ah, du hast dazugelernt. Aber ab heute sind es auch deine Pläne, denn Barionstab wird vorschlagen, den Krieg gegen die Waldelfen zu beginnen. Ich gehe davon aus, dass die Komposits ihn gewinnen werden. Nach dem Sieg der Komposits über die Waldelfen werde ich die alten Königreiche der Menschen zurückrufen. Mit all ihrer Pracht, Macht und Herrlichkeit. Genau, wie sie einmal bestanden haben. Oh ja, das Volk der Menschen wurde von den Waldelfen und Drachen immer als ein minderwertiges Volk angesehen. Dabei konnten es ihre Magier selbst mit den Drachen aufnehmen. Nur ihre eigene Unvernunft brachte sie zu Fall, zerstörte alles, was sie bis dahin aufgebaut hatten. Aber lassen wir die alten Geschichten ruhen.
Dieser Teil meines Planes wird sich leicht umsetzen lassen, weil sich die Menschen nach ihrer alten Größe sehnen. Da gilt es nur, den rechten Mann zu finden, der über sie herrschen wird. Ist nicht deine Angelegenheit. Für dich ist etwas anderes vorgesehen.
Für das Königreich der Komposits habe ich Barionstab als Herrscher vorgesehen, auch wenn er eine Elfe ist. Es hat sich das verdient, denn schließlich führt er diesen Krieg, der uns alle reich und mächtig machen wird. Allerdings bin ich mir noch nicht völlig sicher, ob er in der Lage ist, sich gegen die anderen Familien durchzusetzen. Für alle Fälle wirst du deshalb, wenn ich dich hier nicht mehr brauche, nach Centrell zurückkehren und herausfinden, was in dem Haus der vier Winde und dem kleinen Haus Blau vorgeht. Vor allem das Haus Blau. Es hat alle Höhen und Tiefen überstanden. Dafür gibt es einen Grund. Finde ihn heraus.
Am schwierigsten wird es werden, dich als die Erste Elfe in ein Herrscheramt zu setzen. Ob du dem Beispiel der anderen Völker folgen wirst und ein Königreich daraus machst oder etwas anderes, überlasse ich dir. Elfen kennen keine glorreiche Vergangenheit, an der sie sich ausrichten können. Sie bevorzugen das Jetzt. Solltest du das allerdings vorhaben, müssen wir den Elfenrat zerstören und die Institution des Ersten Beraters abschaffen. Erst dann kann ich dich krönen.“
„Sumpfwasser ist ein starker Gegner, an ihm vorbeizukommen, wird nicht einfach sein.“
Der Geist lachte leise. „Sumpfwasser ist nicht mehr als eine alte Elfe, deren letzten Tage längst gekommen sind. Mach dir über ihn keine Gedanken. Es wird ihn nicht mehr geben, wenn du an der Reihe bist zu herrschen.
Immergrün traf etwas zu spät bei Barionstab ein. Er klopfte an, trat ein, ohne das kurze Zögern des Anstandes einzuhalten, lächelte in die Runde und sagte: „Hier bin ich.“ Das Arbeitszimmer ließ sich von der Größe her durchaus als Zimmer eines Herrschers ansehen, hätten nicht alle Kleinigkeiten gefehlt, mit den man gemeinhin Pracht und Macht in Verbindung brachte. So ähnelte es eher einem Feldherrenzelt aus Stein und Holz als einem Teil eines zukünftigen Palastes.
Barionstab saß in einem gewaltigen Armsessel, hatte einen Arm über die Lehne gelegt, schaute über die Schulter aus dem Fenster und hob lediglich die freie Hand zu einem nachlässigen Gruß. Immergrün blieb in der Tür stehen und schätzte die Situation ab. Steindorn warf er einen schnellen Blick zu. So sieht ein Verlierer aus, dachte er und lächelte dabei. Und König Nachtnebel? Ein Pappkönig aus jenem getrockneten Papierbrei, in dem man leicht zerbrechliche Waren versendet. Du bist ebenfalls ein Verlierer. Und du, Barionstab? Bei dir kommt es noch darauf an, mein Lieber. Wir werden sehen.
Immergrün gönnte Barionstab das Herrschertum über die Komposits. Sie spielten in der Zukunft der drei Könige, die diese Welt einmal beherrschen würden, die kleinste Rolle und würden zwischen den Menschen und Elfen aufgerieben werden. Dafür würde er schon sorgen. Und wenn das mit den Elfen nicht so schnell ging, wie er sich das vorstellte, warum sollte er dann nicht die Komposits übernehmen. Floss durch ihre Adern nicht auch vorwiegend Waldelfenblut? Dass ihr Blut durch eine zu große Nähe zu den Menschen befleckt war, würde er ihnen verzeihen können.
Er sah dafür einen ausreichend großen Spielraum. Der Geist würde wohl kaum seinen Fuß aus dem Nacken der Menschen nehmen, da war er sich sicher, aber für die Elfen oder Komposits brauchte er Statthalter. Und Barionstab diente ihm als Kriegsherr. Gut so. Sollte der doch die Arbeit tun. Aber leider gab es außer dem Haus Barion noch andere Häuser in Centrell.
Barionstab wedelte mit der Hand. „Tretet mal alle ans Fenster und sagt mir, was ihr da seht.“
Steindorn und Nachtnebel folgten dieser Anordnung, Immergrün setzte sich langsam in Bewegung und blieb mitten im Raum stehen, ihm reichte der freie Raum zwischen den Köpfen, um genug zu sehen. Steindorn schwieg und auch Immergrün sagte nichts. Sie hatten in ihrer langen Laufbahn selbst oft genug solche scheinbar dummen Fragen gestellt, um zu wissen, wann man sprach und wann es besser war zu schweigen. Nachtnebel wusste das nicht, und so war er es auch, der antwortete:
„Einen Hügel, den man bei dieser Größe durchaus als den ersten Berg zu den Drachenbergen hinauf bezeichnen könnte. Und er ist vom Hangfuß bis zum Gipfel mit einem Wald bedeckt, durch den sich nicht hindurchsehen lässt.“
„Ausgezeichnet, Nachtnebel.“
Dafür hätten wir nicht alle aus dem Fenster blicken müssen, dachte Immergrün, setzte sich auf seinen angestammten Stuhl und wartete darauf, dass die beiden anderen es ihm gleichtaten. Das würde wieder ein langer und quälender Abend wären.
„Schön, dass auch Ihr noch kommen konntet. Immergrün, Euch habe ich heute Nachmittag vermisst. Wo hattet Ihr Euch versteckt?“
Das war keine Frage, die jemanden wie Immergrün in Verlegenheit bringen konnte. „Ich war hier – und vielleicht da und dort. Aber nie weit weg. Keine Ahnung, warum ich Eurer Aufmerksamkeit entging. Es war keine böse Absicht.“ Immergrün verzog seinen Mund zu einem spöttischen Lächeln. Ich bin ein Sieger, drückte dieses Lächeln aus, und keines Mannes Diener.
„Ihr wisst alle, dass ich Euch nicht anbinden will, aber Ihr würdet mir die Sache erleichtern, wenn Ihr mir Eure künftigen Hiers und Dorts rechtzeitig mitteilen würdet“, sagte Barionstab in einer Mischung aus sanfter Rüge und Gönnerhaftigkeit. „Um diesen Berg da draußen geht es. Doch bevor ich die neuen Aufgaben verteile und Euch von unserem nächsten Schritt unterrichte, möchte ich Euch die Gelegenheit geben, selbst noch Dinge anzuregen, die getan werden müssen.“
Nachtnebel schaute um sich, ob außer ihm noch jemand etwas zu sagen hatte. „Die Artefakte, Barionstab. Bisher stellen wir sie in Centrell her, und unsere Geschäfte laufen gut. Doch wenn Neustadt sich weiterhin so schnell entwickelt, sollten wir über einen Ausläufer nachdenken.“
„Einen Ausläufer? Unterirdisch durch die Erde und dann an anderer Stelle durchbrechen? Ihr verwendet seltsame Bilder, Nachtnebel, die …“
„Die jede Waldelfe versteht. Aber ja, das meine ich. Eine große Werkstatt für den Massenbedarf unserer Arbeiter, Soldaten und Kampfmagier. Und eine kleine Stelle darin, an der etwas Forschung und Entwicklung betrieben wird.“ Nachtnebel senkte die Stimme. Für einzelne, ganz besondere Artefakte. Artefakte, die selbstverständlich nur für uns und Leute unseres Vertrauens vorgesehen sind.“
Aufgeblasener Wichtigtuer, dachte Immergrün, aber immerhin, die Idee mit den Artefakten bietet Möglichkeiten. „Ich möchte diesen Vorschlag unterstützen“, sagte er deshalb schnell, wenn auch ohne viel Überzeugung.
„Dann werden wir das angehen. Nachtnebel, kümmert Euch darum. Sonst noch etwas?“
Barionstab genoss das Schweigen. Er wusste, sie warteten auf den Berg. Er würde ihnen den Gefallen tun. Jetzt kam seine Stunde. Er räusperte sich.
„Diesen Berg könnte man einen Erzberg nennen. Würde ich nur ein klein wenig übertreiben, könnte ich sagen, dass er mehr Erz enthält als taubes Gestein. Wir werden den Berg von oben nach unten abtragen. Keine Schächte, keine Stollen. Einfach nur abtragen, bis nichts mehr davon übrig bleibt. Doch bevor wir das tun können, muss der Wald weg.“
Barionstab machte eine kurze Pause, bis sich die Überraschung über die Gesichter der Anwesenden ausgebreitet hatte und wieder erlosch. Dann erst fuhr er fort: „Wir schlagen alle Bäume und lassen nichts stehen.“
Steindorn hustete. „Ich gebe zu bedenken“, sagte er, „dass der Hang stellenweise recht steil ist. Ohne den Schutz der Bäume wird er sich nach einem starken Regen in Bewegung setzen können.“
„Auf so etwas hoffe ich. Das erspart uns jede Menge Arbeit.“
„Und dass der Schlamm Neustadt unter sich begräbt, fürchtet Ihr nicht?“
„Nein, der wird sich eine andere Richtung suchen. Ich habe mir das Gelände gut angesehen.“
„Die Elfen werden das nicht erlauben.“
„Nein, das werden sie sicher nicht. Sie werden sich beschweren. Dann wird eine Handvoll von ihnen zu uns kommen und uns drohen. Und dann werden sie uns angreifen. Aber was können sie schon tun? Wenn sie zwanzig Krieger zusammenziehen können, sind das viel. Wir haben mehr als dreimal so viele Magier hier versammelt und zusätzliche Krieger und Kämpfer des Menschenvolkes. Was sie aber völlig hilflos macht, sind ihre Grundsätze. Den Waldelfen ist das Leben heilig. Wie wollen sie denn so einen Krieg führen?“
Barionstab lachte lauthals los. Endlich hatte das Warten ein Ende. Die Waldelfen ziehen in den Krieg und dürfen nur Gefangene machen. Dieser Unfug war durch nichts zu überbieten.
„Aber seid Ihr als Distar nicht selbst eine Waldelfe? Es könnte Eurem guten Ruf schaden“, wandte Steindorn ein.
„Unsere Magier kümmern sich um die Magie. Blankes Metall, Pfeil und Kugel sind eine Angelegenheit der Menschen. Die sind nicht so ehrpusselig und räumen ab, was wegmuss.“
„Aber Ihr seid als Oberbefehlshaber für jede tote Waldelfe persönlich verantwortlich.“
„Bah, als Oberbefehlshaber bin ich von allen Kampfhandlungen viel zu weit entfernt, als dass man mir eine Mitschuld anlasten könnte.“
„Und Euer Gewissen?“
„Mein was?“ Barionstab lachte dröhnend. „Steindorn, Ihr macht mir heute wirklich Spaß.“
„Ich habe eine ganz andere Frage.“ Immergrün furchte die Stirn. „Das ganze Unternehmen wird enorm viel Geld kosten. Ihr müsst die Arbeiter und die Krieger bezahlen. Und sie ausrüsten. Das alles zu einem Zeitpunkt, an dem jeder Gewinn noch in weiter Ferne liegt. So schwach der Gegner auch sein mag, in drei Tagen habt Ihr ihn nicht beseitigt. Das wird sich ziehen wie gekautes Baumharz. Wie wollt Ihr das leisten?“
„Kriege sind immer teuer. Früher, bei den Menschen, als noch König gegen König kämpfte und oft der gewann, der das größte Heer aufbieten konnte, haben die Könige sich verschuldet. Heute gibt es zwar nur noch einen König und der heißt Nachtnebel und sitzt hier unter uns …“ Barionstab lachte wieder auf, er hatte eine dauerhaft gute Laune – „aber die Abläufe haben sich nicht verändert. Ich verfüge über ein eigenes Vermögen, meine Verwandten verfügen über ein eigenes Vermögen und ich werde Schulden machen. Am Ende wartet eine unvorstellbar reiche Beute auf mich. Wenn alles so einfach wäre wie die Finanzierung …“
Immergrün hatte genug gehört. Hinter Barionstab stand offenbar viel Geld. Dadurch war er als Heerführer unangreifbar geworden. Doch das focht ihn nicht an. Erst kamen die Elfen an die Reihe. Der Rest würde sich finden. Und er würde dafür sorgen, dass dieser Rest gut vorbereitet würde. Immergrün war sehr zufrieden mit sich selbst und seinen Aussichten. Immerhin glaubte er den Geldgeber zu kennen. Der Geist, dessen Günstling er war. Dieser Gedanke war ihm sehr sympathisch. Geld war ein recht weltliches Konzept, für das Wesen aus Fleisch und Blut gebraucht wurden.
Barionstab blickte Immergrün an, wartete, bis er sich sicher war, dessen volle Aufmerksamkeit zu haben, und sagte dann:
„Unser Angriff beginnt morgen in aller Frühe. Wir schlagen eine Schneise durch den Wald den Hang hinauf bis zum Gipfel des Berges und beginnen dort umgehend mit dem Bau einer Mine und der dazugehörigen Erzaufbereitung. Wir werden den Berg von oben nach unten abtragen. Keine Schächte. Nur Erde und Gesteinsschutt, den wir einfach in Richtung Drachenberge den Hang hinunterwerfen. Auch dort wachsen Bäume. Die Elfen werden sich freuen.“
„Ein grandioser Plan“, sagte König Nachtnebel.
Immergrün verzog verächtlich sein Gesicht, als er den Viertelelfen Schleim verspritzen hörte. „Wenn es schnell gehen soll, müssen wir den Abtransport der Stämme organisieren und brauchen Leute, die sich um das Buschwerk kümmern. Die Schneise wird unsere Straße zu Mine, wenn ich das richtig verstanden habe.“
Barionstab nickte anerkennend. „Jetzt wisst Ihr, warum ich Euch bei mir haben wollte. Ihr seid ein guter Organisator. Ihr werdet Euch darum kümmern. Und auch um den Abtransport des Holzes. Wir können nicht alles vor Ort verbauen.“
„Die Elfen werden verrückt spielen.“ Steindorn schien nicht begeistert zu sein.
„Sollen sie doch. Ich glaube nicht, dass sich mehr als zwei oder drei Elfen in dieser Gegend aufhalten. Es wird also kaum Gegenwehr geben. Unsere Arbeiter sind schnell, die Soldaten werden sie schützen, und unsere Kampfmagier werden die Soldaten schützen. Wir werden die Schneise schnell nach oben treiben und unten ständig verbreitern. Im Wald sind die Elfen gefährlich, aber nicht in der offenen Fläche. Und Eure Männer, mein lieber Steindorn, werden sich immer vorn aufhalten. Dort, wo die Bäume geschlagen werden.“
„Gut überlegt“, sagte Steindorn, „aber es ist Euch bewusst, dass meine Leute für Spezialaufgaben wie ‚rasch handeln und noch rascher verschwinden‘ ausgebildet wurden.“
„Das ist mir bewusst, und ich will das nicht weiter diskutieren. Wer bezahlt Eure Leute, Steindorn?“
„Alle klar“, antwortete dieser.
„Und Ihr, Nachtnebel, Ihr sorgt dafür, dass die Produktion von Artefakten in Gang kommt. Wir haben unsere Kampfmagier damit auszurüsten.“
Barionstab stand auf. „Geht schlafen, ruht Euch aus, amüsiert euch. Aber denkt daran, dass wir morgen alle früh rausmüssen.“
Tama staunte. Über sich selbst, über die Welt der Dunkelheit, die sie umfangen hielt, und über die Bewohner dieser Welt. Mit welcher Leichtigkeit sie in das Gehirn des Geistes mit dem großkrempigen Hut hatte eindringen können. So offen, wie sich eine weite Ebene jedem darbot, der von einem Berg hinunterschaute. War das die Magie, auf die sie die ganze Zeit gewartet hatte? Ihre Magie? Denn eines stand jetzt unverrückbar fest. In der Welt der Toten und Geister war die Magie der Drachen machtlos. Ihr Arm, bei der Ankunft noch entzündet und zur Bewegungslosigkeit verurteilt, schwieg nun und fühlte sich wieder kühl an. Die Verschmelzung von Drachenleder und Menschenhaut schien abgeschlossen zu sein. Oder nur unterbrochen. Aber das würde sie erst merken, wenn sie wieder in die Welt der Lebenden zurückgekehrt war. Bis dahin …
Ganz leicht, spielerisch nur ließ sie ihre Fingerspitzen über ihre neue Haut gleiten. Jetzt, wo Schmerz und Entzündung verschwunden waren, konnte sie ihre neue Kraft erkunden. Die erfüllte ihr ganzes Sein und schenkte ihr ein Gefühl von Freiheit, das sie bisher erst einmal in ihrem Leben gespürt hatte. Auf dem Schwarzen Biest, das sie und ihre Träume nach NA-R gebracht hatte. Mit jedem Atemzug hatte sie das Gefühl gehabt, dass all die Luft über der Ebene ihre Lunge füllte. Jetzt atmete sie das gesamte Totenreich ein. Mit jedem Atemzug. War das die Magie? Fühlten so auch die Drachen jeden ihrer Atemzüge?
Sie fühlte sich wieder gesund und stark. Jetzt musste sie nur noch Aureon und Argenton wissen lassen, dass es ihr gut ging. Die machten sich sicher Sorgen. Ob sie ihre neue Gabe …?
Tama beschwor ein Bild ihrer Familie, suchte Aureon und Argenton, fand sie nicht und sandte deshalb aufs Geradewohl ihre Botschaft ins Dunkle: „Es geht mir gut!“, rief sie in Gedankensprache. „Macht euch keine Sorgen.“
Ihr zweiter Versuch galt Baerben, mit der sie ein besonderes Gefühl verband. Sie glaubte, ihre Gestalt zu spüren und wiederholte die Botschaft.
Dann stellte sie eine Verbindung zur Schildkröte her. Das war viel einfacher, als zu ihrer Familie zu sprechen. Wenn Neven oder Altwi mit der Schildkröte redeten, konnten sie den anderen mitteilen, dass es ihr gut ging. Hoffentlich sprach auch jemand mit der Schildkröte. Doch das zu bestimmen, lag nicht in ihrer Macht. Sie kehrte mit ihrer Aufmerksamkeit zu sich selbst und der sie umgebenden Dunkelheit zurück.
In der Welt der Toten und Geister herrschten Dunkelheit und jetzt, nachdem das Schmerzgebrüll des Armes verstummt war, auch eine heilige Stille. Nur in der Ferne hörte sie kleine Kinder weinen und Männer in der Art schreien, wie sie es tun, wenn sie gegen etwas ankämpfen, das stärker ist als sie. Es waren die Schreie von Verlierern, die nie geglaubt hatten, einmal nicht zu den Siegern zu gehören. Als wenn man gegen die Natur gewinnen könnte, wo doch alle ein Teil von ihr waren. Ob auch hier die Gesetze von Raum und Zeit galten? Wenn ja, dann hätte sie gern gewusst, wie lange es dauert, bis ein Geist kommt, der zuvor gerufen, gefunden und hergebracht werden muss. Und was ist zu tun, wenn ein solcher Geist gar nicht bereit ist zu kommen?
Er würde gewiss kommen. Das erste und leider auch das letzte Mal, an dem sie diesem Wesen begegnet war, hatte sie sich von ihm losreißen müssen, so unerschöpflich war sein Redefluss gewesen. Aber Ungeduld war ein Gefühl, das an diesem Ort unbekannt war. Das musste sie noch lernen. Als der Geist dann endlich kam, hatte Tama sich wieder gefasst und sagte ganz höflich und bescheiden:
„Es tut gut, Euch wiederzusehen. Sagt, wie soll ich Euch anreden?“
„Ich heiße …“ Ein verwirrter Ausdruck zog über das blasse Gesicht. „Ich erinnere … Habe ich Euch nicht erzählt, dass Godwin, der Drache, mich meines Namens beraubt hat? Er allein ist schuld an meiner immerwährenden Existenz in der Welt der Geister und meiner Machtlosigkeit, sie zu verlassen.“
„Verzeiht. Ja, das habt Ihr, aber wir waren in Eile damals. Ich konnte nicht auf jedes Wort achten und habe vieles bereits wieder vergessen. Doch heute ist alles anders. Heute habe ich Zeit. Nur wegen Euch bin ich wiedergekommen, wegen Euch und um die ganze Geschichte zu hören. Von Anfang an bis zu ihrem bitteren Ende, von Eurer Hoffnung bis hin zu seinem schändlichen Verrat.“
„Schändlicher Verrat. Ja, das trifft es. Ein schändlicher Verrat war es in der Tat. Und das nach allem, was ich für diesen Drachen tat. Bereits sein Erscheinen hätte mich warnen sollen. Heißt es nicht, dass in einem großen und mächtigen Körper oft nur ein kleiner Geist herrscht? Dieser Drache war kein Wesen von Ehre. Zu diesem Urteil werdet auch Ihr kommen, wenn Ihr mich angehört und erfahren habt, was ich zu erzählen weiß.“
„Dann erzählt“, sagte Tama und musste sich sehr anstrengen, dass niemand und keiner und schon gar nicht dieser Geist da vor ihr bemerkte, wie aufgeregt sie war. Jetzt würde sie endlich ein Stück jener Wahrheit erfahren, die nach Pandos Ansicht zu groß für sie war. Aus der fernen Vergangenheit, in der all das begonnen hatte, was später die Welt, in der sie lebten, dazu gebracht hatte, den eigenen Untergang zu planen. Halva, was haben sie dir angetan? Ob sie auch noch etwas darüber erfuhr, was Pandos Mutter ihr verschwieg, wusste sie nicht, hoffte es aber. Und ob eine dieser beiden Geschichten jene war, die Pandos schwarze Schwester ihr verweigerte, konnte sie auch noch nicht sagen. Aber hieß es nicht, dass jedes Haus mit einem ersten Stein gebaut wurde, dem dann ein zweiter und noch viele andere hinzugefügt wurden?
„Bitte erzählt Eure Geschichte. Ich verspreche Euch, Euch nicht zu unterbrechen.“
Und der Geist erzählte seine Geschichte: