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Der Traum vom richtigen Leben und wie man ihn verwirklicht. Weisheit lässt sich nicht erlernen wie eine Fremdsprache, man kann sie nicht herbeizwingen und man bekommt sie nicht verliehen wie eine Auszeichnung. Und doch gibt es Wege, dem Schicksal gelassen, achtsam und mit Humor zu begegnen. Die Wissenschaftsjournalistin Hanne Tügel hat sich aufgemacht, die vielfältigen Vorstellungen und Lehren des hohen Ideals Weisheit zu ergründen und sie auf ihre Alltagstauglichkeit hin zu prüfen. Ob Buddhismus, Philosophie oder die Traumzeit der Aboriginies, neugierig erkundet sie die vielfältigen Konzepte, mit denen sich Menschen seit Jahrtausenden Einsicht erhoffen und sieht sich an, wie sie uns dem Traum vom richtigen Leben näher bringen. Dabei begegnet sie u.a. Neurowissenschaftlern, Caféhausphilosophen, Musikern, Dichtern und Weisheitsforschern – eine spannende Reise, die uns alle ein Stück weiser macht.
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2011
Hanne Tügel
Der Traum vom richtigen Leben
Weisheit lässt sich nicht erlernen wie eine Fremdsprache, man kann sie nicht herbeizwingen und man bekommt sie nicht verliehen wie eine Auszeichnung. Und doch gibt es Wege, dem Schicksal gelassen, achtsam und mit Humor zu begegnen. Die Wissenschaftsjournalistin Hanne Tügel hat sich aufgemacht, die vielfältigen Vorstellungen und Lehren des hohen Ideals Weisheit zu ergründen und sie auf ihre Alltagstauglichkeit hin zu prüfen. Ob Buddhismus, Philosophie oder die Traumzeit der Aboriginies, neugierig erkundet sie die vielfältigen Konzepte, mit denen sich Menschen seit Jahrtausenden Einsicht erhoffen und sieht sich an, wie sie uns dem Traum vom richtigen Leben näher bringen. Dabei begegnet sie u.a. Neurowissenschaftlern, Caféhausphilosophen, Musikern, Dichtern und Weisheitsforschern – eine spannende Reise, die uns alle ein Stück weiser macht.
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Hanne Tügel ist 1953 geboren. Nach einer Ausbildung zur Verlagskauffrau und einem Pädagogikstudium hat sie die Hamburger Journalistenschule absolviert und arbeitet seit 25 Jahren als Journalistin mit einer Vorliebe für Themen am Schnittpunkt von Wissenschaft und Gesellschaft. Seit 1995 ist sie Redakteurin bei GEO. Dort war sie verantwortlich für Titelgeschichten wie »Kreativität« und »Meditation« und die außerordentlich erfolgreiche Serie »Weisheit«.
Covergestaltung: Botzenhardt/Rumberg, MünchenCoverabbildung: Eve Arnold/Magnum/Agentur Focus © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400782-3
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Für Sophia und ihre [...]
Prolog
Und die mich suchen, finden mich …
Tiefste Gründe, gereifte Auffassung, leitende Ideen – ein Strukturversuch
Das Ideal
1 Wer weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nicht. Die Weisheit als Paradox – einfach und geheimnisvoll; leicht zu erkennen, schwer zu erringen
Der Weise auf dem Wasserbüffel und der Passwächter: 5000 Zeichen mit Langzeitwirkung
Ehrlich, nett und rätselhaft: vom Psychogramm der Weisen, dem Mangel an modernen Weg-Weisern und der Notwendigkeit von Selbstversuchen
Grundlagen der Weisheit: Geduld, Gefühl, die Würdigung des Irrationalen und der Mut zur Selbsterkenntnis
2 Von der altägyptischen Göttin Ma’at über Sokrates, Buddha und Jesus zum »Krieg der Sterne«. Warum das Weisheits-Ideal seit 4500 Jahren kulturübergreifend lebendig ist
Weisheitsgeschichte(n) zwischen Vergangenheit und Science-Fiction
Weisheit in Ägypten: eine Göttin, ein Schriftgelehrter und die Idee von Harmonie und Gerechtigkeit
Weisheit im antiken Hellas: Emanzipation von den launischen Göttern durch Wissen und Tugend
Weisheit in Indien und China: innere Einkehr als Gegenpol zu Logik und Vernunft
Weisheit in Palästina: Furcht, Zweifel und Liebe
Weisheit heute – ein Erbe, das aktuell bleibt bis in Fantasy und Science-Fiction
3 Sind Ameisen weiser als Menschen? Warum eine Stiftung drei Millionen Dollar ausgibt, um Forscher neue Antworten auf Weisheitsfragen finden zu lassen
Gesucht: Weisheit 2.0 – neue Impulse für ein schwer fassbares Ideal
Ameisen als Modelle krabbelnder Weltweisheit
Forschungsfeld Weisheit: Unwichtiges von Wesentlichem unterscheiden – wie Sherlock Holmes
Weisheit vs. Intelligenz – der Ansatz der Expertenbefragung
4 Eine Tugend für jeden Tag. Was Salomo, Frau Professor Glück und Nelson Mandela über Alltags-Weisheit zu sagen haben. Und was klugen Rat und altkluges Geschwätz unterscheidet
Alltags-Miniaturen unter dem Blickwinkel Weisheit betrachtet
Psychologische Weisheitsforschung: von weisen Momenten im Alltag und dem befriedigenden Gefühl des Gelingens
Vorsicht vor »Experten«, deren Weisheit sich in Theorie erschöpft. Was Herrn und Frau Sapiens von Herrn und Frau Nonsens unterscheidet
Nelson Mandela als Salomo im 21. Jahrhundert: Ein Häftling im Land des Rassenhasses wird Präsident und legt Fundamente für Versöhnung
Ein Jegliches hat seine Zeit – Mahnung zu Aufmerksamkeit und Geduld
Die Annäherungen
5 Der Verstand. Erkenntnislust und Erkenntnisgrenzen im Zeichen der Eule: Sokrates’ Erben und die Kluft zwischen Philosophie und Naturwissenschaft
Philosophieren im Café – Marc Sautet als Vorbild
Der »Diogenes vom Bergischen Land«: praktische Philosophie als Lebensberatung
Die Macht des Staunens und die blinden Flecken der Naturwissenschaft: Warum Abstraktion ganzheitliches Denken und Empfinden lahm legt – und Weisheit aus dem Blick verliert
Die Vernunftkrise und die Folgen: Wie der moderne Mensch Tun und Fühlen trennt und was nötig wäre, um sie wieder zusammenzuführen
6 Poesie, Eros, Kunst. Warum Ratio nicht ausreicht, Weisheit auszudrücken. Und wie die Königin von Saba, eine TV-Dichterin aus Saudi Arabien und Albert Einstein Zeugnis davon ablegen
Ein 3000 Jahre altes Weisheitslob, sinnlich und poetisch
Worte, um die Welt zu spiegeln: von einem Dichter-Wettbewerb in TV Abu Dhabi und der Frage, wo die Weisheit in den Künsten angesiedelt ist
Musik – sprachlose Feier der Verbundenheit mit dem Universum
Menschenwerk und Gottes Beitrag
Wann und warum Musik und Kunst subversive Heilmittel sind und ihre Weisheit dennoch zur Nebensache abgestempelt wird
Wohlbehagen durch Unsinn – wie Evolutions- und Hirnforscher sich die Bedeutung der Kunst erklären
Vom Denken, Sein und Nicht-Sein – Kunst ist der Weg, der Weisheit des scheinbar Irrationalen neue Anerkennung zu verleihen
7 Die Empfehlung von Daoisten, Mystikern und Faultieren an den Rest der Welt: Zu viel Tun ist ungesund. Welche Bedeutung die Versenkung und die Kunst des Wu wei für Weisheit haben
Faultiere – die heimlichen Daoisten der Wildnis
Zu unablässiger Aktivität und zu Fehlschlüssen verdammt: die Tauben des Professor Skinner und die Käse jagenden Studenten des Dr. Brugger
Wu wei ins Leben integrieren. Die Wiederentdeckung der Stille und der Mystik
Lob der Stille und der Rechten Rede. Vom Schweigenlernen und Wortewägen als Weisheitsgebot
8 Adieu, Traumzeit. Warum die Weisheitslehren von Aborigines und Völkern aus Afrika fast in Vergessenheit geraten sind. Und warum Frau Professor Sophie Oluwole aus Nigeria empfiehlt, Hexerei zu studieren
Das vergessene bittere Erbe: Nachwehen der Kolonialzeit
Die archaische Weisheit und die Ratlosigkeit derer, die sie bewundern
Ein Ausweg aus dem Dilemma der abendländischen Hybris – der »Polylog« der Kulturen
Das neue Selbstbewusstsein der Nachkommen vergessener Geisteswelten
9 Falsches Spiel mit Athene. Wie die Denker der Antike Weisheit frech zur Männerdomäne ernannten. Und wie moderne Ketzerinnen weibliche Quellen der Weisheit wieder zugänglich machen
Das Totschweigen der archaischen Göttinnen-Verehrung und die Entstehung der Athene als »Kopfgeburt des Zeus«
»Königin von Himmel und Erde« – Inanna, Isis & Co.
Die Philosophen entdecken die Welt des Geistes. Sie verkennen die Bedeutung des Leibes – und der Frauen
Biblische Geschichte(n): Warum Aschera, die Gemahlin von Jahwe, dem Gott der Juden und Christen, in der Theologie ein Schattendasein führt
Verpasste Gelegenheit: Das Christentum und die Verehrung der ewigen Jungfrau
10 Mit Leib und Seele und Sinnen. Wie Neurologen und Psychologen das »Bauchhirn« erforschen und zu einem ganzheitlichen Bild der Weisheit zurückfinden
Ich fühle, also bin ich – die revolutionären Einsichten von Antonio Damasio
Emotionen sind Grundlage des Überlebens
Das Universum des Unbewussten wird neu definiert
Was tun bei Kollisionsgefahr zwischen Geist und Gefühl?
Die neue Balance zwischen Kopf, Herz, Bauch: Das »Bauchhirn« scheint so wesentlich wie die grauen Zellen
Wie das Unbewusste arbeitet: Die geniale Erfindung der Inkubation
Der Weg
11 Ein Test mit 39 Fragen. Wie die Psychologin Monika Ardelt versucht, den persönlichen Weisheitsgrad zu messen. Und warum es so schwierig es ist, Weisheitsmerkmale zu lernen
Der Weg zu einem Weisheitsbild, das neben Kognition und Reflexion auch Affekte einschließt
Beim Hurrikan ruhig schlafen. Bei Frust zur Bowlingkugel greifen. Nicht heulen, wenn verliehenes Geld nicht zurückkommt – kleine Weisheiten mit großer Wirkung
Intelligenz allein kann mehr Unheil als Glück bringen. Lässt sich der IQ mit Weisheit aufladen?
12 Achtsamkeit statt Reflex-Handeln. Warum der »innere Dalai Lama« so schwer zu kultivieren ist. Und wie Menschen mit west-östlichen Weisheitslehren eine Revolution anzetteln
Entspannung erfahren, auf den Körper hören – die Erste-Hilfe-Kur gegen Stress
Meditation – eine Wissenschaft der Innenschau
West-östliche Weisheitssuche auf dem Meditationskissen – Klausur auf Zeit
Vorsicht! Achtsamkeit heißt auch: sich nicht zu überfordern
Trost bei Weisheitswachstumsschmerzen
13 Die Lage? Letztlich hoffnungslos, aber nicht ernst. Humor als Geheimwaffe der Schwachen und als Weisheits-Elixier bei den Sufis, Don Quijote, Loriot & Co.
»Und eine Stimme aus dem Chaos sprach zu mir …« – die menschliche Tragödie komödiantisch verpackt
Wie weise Narren die Machtverhältnisse auf den Kopf stellen
Systemübergreifend gewitzt – von den Hofnarren bis zum Sufi Mulla Nasreddin
Von gutem und schlechtem, weisem und unweisem Humor
Erheiterung als Alltagsaufgabe
14 Eigentlich bin ich ganz anders … Warum es so schwierig ist, sich selbst zu finden und wie Träumerei und ein Glas Hegel dabei helfen können
Die Tücken der Selbstverwirklichung und die Irrwege der Business Punks
Durchhalten in der Hölle: die Erfahrungen des Viktor Frankl
Sinnfindung und Weisheit bis zum Schluss: »Dienstags bei Morrie«
Vom Auswickeln des Ich und der Begegnung mit den Launen des Geistes
Weisheit mit anderen teilen – ein Rotweinabend mit dem »Ungeheuren«
15 Erfahrung zählt. Wie der Trainingskurs eines Rabbi Alten hilft, die »Meisterschaft in Lebenskunst« zu erringen und wie sich weise Greise einmischen
Die Einsicht des Reb Zalman – die Weisheit der Alten ist für die Gesellschaft ein Schatz
Aus Erfahrung klug – Studien belegen, dass Altersweisheit kein Mythos ist
Weise Greise als Ratgeber im Internet: der Elder Wisdom Circle
Alte neu umschwärmt – bei Greenpeace und als Nothelfer in Zeiten leerer Kassen
16 Grenzen der Weisheit. Warum Platon seine Idee der »Philosophenkönige« aufgab und wie Geduld, Gelassenheit und Trotz Friedensfreunde handlungsfähig bleiben lassen
Ansätze zur globalen Weisheit: das Parlament der Weltreligionen anno 1893
Die gute Idee eines Briefmarkensammlers
Platons Scheitern in Syrakus
Johan Galtungs Analyse: Warum Rücksichtslosigkeit Maxime der Moderne ist
Versöhnen mit Tee, Kaffee, Schnaps – die Erfahrungen eines modernen Schwejk
Handwerkszeug: die Goldene Regel und das Gelassenheitsgebet
Epilog. Der Weisheit vorläufiger Schluss: Bitte recht freundlich!
Die verrückte Geschichte der »paradoxen Gebote«
Auf der Web-Seite des [...]
Verwendete und weiterführende Literatur
Das Ideal
1. Wer weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nicht.
2. Von der altägyptischen Göttin Ma’at über Sokrates, Buddha und Jesus zum »Krieg der Sterne«
3. Sind Ameisen weiser als Menschen?
4. Eine Tugend für jeden Tag.
Die Annäherungen
5. Der Verstand. Erkenntnislust und Erkenntnisgrenzen im Zeichen der Eule …
6. Poesie, Eros, Kunst. Warum Ratio nicht ausreicht, Weisheit auszudrücken.
7. Die Empfehlung von Daoisten, Mystikern und Faultieren an den Rest der Welt.
8. Adieu, Traumzeit. Warum die Weisheitslehren von Aborigines und Völkern aus Afrika fast in Vergessenheit geraten sind.
9. Falsches Spiel mit Athene. Wie die Denker der Antike Weisheit frech zur Männerdomäne ernannten.
10. Mit Leib und Seele und Sinnen. Wie Neurologen und Psychologen das »Bauchgefühl« erforschen.
Der Weg
11. Ein Test mit 39 Fragen.
12. Achtsamkeit statt Reflex-Handeln
13. Die Lage? Letztlich hoffnungslos, aber nicht ernst.
14. Eigentlich bin ich ganz anders …
15. Erfahrung zählt.
16. Grenzen der Weisheit.
Dank
Register
Für Sophia und ihre Generation der 2000plus-Geborenen
»… Mit was unter dem Himmel soll man die Weisheit vergleichen? Sie ist süßer als Honig und erfreulicher als Wein. Sie ist leuchtender als die Sonne und begehrenswerter als kostbare Edelsteine. Sie macht fetter als Öl, satter als süße Leckerbissen und ruhmreicher als Mengen von Gold und Silber. Sie spendet Freuden für das Herz, schenkt den Augen Licht, beflügelt die Füße, ist ein Panzer für die Brust, ein Helm für das Haupt, eine Kette für den Hals, ein Gürtel für die Lenden. Sie verkündet den Ohren und unterweist das Herz. Sie kann die Kenntnisreichen noch etwas lehren, sie tröstet die Klugen, sie schenkt den Suchenden Ansehen …«
Königin von Saba
Es gibt eine Sehnsucht jenseits des Strebens nach Materiellem und kurzfristigem Erfolg, eine Sehnsucht nach Ausgeglichenheit und innerer Stärke. Der Begriff dafür heißt Weisheit. Ein großes Wort; es klingt auf eine feine Art altertümlich, nach Kostbarkeit und Muße. Weisheit wiederzuentdecken, heißt Atem zu holen. Ihre philosophischen Seiten spiegeln das Beste aus den Kulturen der Welt; sie kann ernst auftreten, aber auch poetisch, verspielt, humorvoll. Und im modernsten Gewand erscheint sie als Forschungsfeld, das eine neue Brücke zwischen Geistes- und Naturwissenschaft schlägt.
Beginnen wir mit einem Weisen aus der Vorzeit.
»Ich, die Weisheit, wohne bei der Klugheit und weiß guten Rat zu geben … Ich liebe, die mich lieben, und die mich suchen, finden mich …« So sprach der biblische König und Prediger Salomo; sein Zitat ist eines von unermesslich vielen Zeugnissen für den Menschheitstraum, der Weisheit näherzukommen.
Warum eigentlich, existiert dieser Traum? Warum lebt er heute fort in einer abgeklärten und zynischen Welt? Shit happens – so könnte man die Lage des Homo sapiens beschreiben, seit ihm die Evolution das Bewusstsein verlieh, über sich und die Welt nachzudenken. Ich glaube, Weisheit ist der Versuch, dieses Wissen erhobenen Hauptes zu verkraften.
Die Weisheit ist damit nicht nur ein abstraktes Ideal, sondern auch ein praktisches Werkzeug, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Sich zu wappnen gegen Schicksalslaunen. Nicht allzu hart, nicht böse, gemein oder bitter zu werden, auch wenn man guten Grund dazu hätte. Wo andere zweifeln und verzweifeln, entfalten Weise Gelassenheit und Geduld. Sie geben uneigennützig Rat und spenden Trost mit Güte und Humor. Sie behalten ihren Mut und den Blick fürs Wesentliche, in vergangenen Zeitaltern genau wie heute.
Vorbilder können Trost spenden und zum Selbstversuch anregen. Mit etwas Heraklit (»Alles fließt«) plus Sokrates (»Ich weiß, dass ich nicht weiß«) plus Jesus (»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«) plus einem Schuss karibischer Unbekümmertheit (»Don’t worry, be happy«) wäre ein Novize fürs Leben schon gut gerüstet. Doch die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist weit. Die scheinbar simplen Gebote und Lehren im alltäglichen Leben anzuwenden, ist höllisch schwierig.
Denn nur in Märchen oder heiligen Schriften wie der Bibel fällt Weisheit einem Menschen in den Schoß. Laut Altem Testament hatte sich Salomo, der Sohn und Nachfolger Davids, von Gott am Anfang seiner Herrschaft weder Macht noch ein langes Leben noch Reichtum gewünscht, sondern Weisheit. Gott gefiel diese Idee, er gab ihm »sehr große Weisheit und einen Geist so weit, wie Sand am Ufer des Meeres liegt«. Salomo nutzte sie nicht nur für Regierungszwecke und Gerichtssprüche und Gotteslob, sondern auch für Liebe, Sinnlichkeit und Poesie: »Er dichtete von den Bäumen, von der Zeder auf dem Libanon bis zum Ysop, der aus der Wand wächst. Auch dichtete er von den Tieren des Landes, von den Vögeln, vom Gewürm und von Fischen.« Salomos Zeit gilt in der Bibel als Epoche des Friedens und Wohlstands.
Drei Jahrtausende sind vergangen, seit der legendäre jüdische König regierte. Die große Frage ist geblieben: Wie kann weises Handeln in einer unvollkommenen Welt aussehen? In einer Welt, die nach wie vor Ungerechtigkeit, Leid, Neid und Kriege zu bieten hat, und darüber hinaus ein paar Milliarden mehr Menschen und eine Extraportion Tempo und Unübersichtlichkeit. Anders gefragt: Kann man in dieser Welt überhaupt noch weise sein? Was würden Salomo und seine weisen Vorgänger und Nachfolger zum Afghanistan- und Nahost-Konflikt, zu Steuer- und Gesundheitspolitik, zu Datenschutzproblemen, zu Wirtschafts- und Finanzkrise oder zum Klimawandel sagen? Unter welchen Umständen mischen sich Weise ein? Wie agieren und reagieren sie? Halten sie sich besser völlig heraus?
Eine letztgültige Antwort, der »Weisheit letzter Schluss«, ist auf den folgenden Seiten nicht zu finden. Stattdessen ein Plädoyer dafür, sich dem Thema mit Neugier, Staunen und einem unbefangenen Blick zu nähern. Weisheit nicht nur mit Erkenntnis, Vernunft und Philosophie in Verbindung zu bringen, sondern auch mit sanften und spielerischen Seiten, mit denen Platon und Aristoteles weniger anfangen konnten: mit Kunst, Gefühl, Intuition, Muße, leisem Lächeln.
Seit einigen Jahren erfährt Weisheit neue wissenschaftliche Aufmerksamkeit. In der Psychologie gibt es Ansätze, sie experimentell zu erfassen und als Phänomen zu studieren, das im normalen Alltag wirksam ist. Im internationalen Forschungsprojekt »Defining Wisdom« versuchen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen darüber hinaus an einem ganzheitlichen, gemeinsamen Verständnis. Philosophen, Theologen und Psychologen sind genauso beteiligt wie Informatiker, Ökonomen und Evolutionsbiologen.
Die Zusammenarbeit über Bereichsgrenzen hinweg öffnet zwei Tore der Weisheit: Offenheit und Selbsterkenntnis; also Neugier auf ganz andere Denkweisen und Sensibilität für die Grenzen der eigenen. Diese Eigenschaften erlauben auch eine unbelastete Annäherung an vermeintlich rückständige Kulturen: Es gab und gibt Denkmuster auf der Welt, die nicht dem dualistischen Schwarz/Weiß-, Gut/Böse-Denken folgen. Sie sind nicht minderwertig, sondern faszinierend anders.
Hat es einen tieferen Sinn zu fragen, warum Naturvölker den Raben als Weisheitsvogel verehren, warum die Aborigines die Geschenke der europäischen Entdecker als Schund betrachtet haben und auf Traumzeit-Pfaden wandelten? Ist es notwendig, darüber nachzudenken, was am afrikanischen Palaver als Konfliktlösungsmodell weise ist? Ich meine, ja – und glaube, Salomo auf meiner Seite zu haben. Die globalisierte komplizierte Moderne hat die meisten Probleme der Menschheitsgeschichte konserviert und reichlich neue geschaffen. Da kann es nicht schaden, alle Lösungen unter die Lupe zu nehmen, mit denen Menschen unterschiedlicher Zeitalter um ein »richtiges«, um ein gelingendes und weises Leben gerungen haben.
Weisheit hat viele Gesichter, auch im Internet-Zeitalter. Sie ist keine ferne exotische Qualität, allerdings eine, die wir im Alltagstrubel oft übersehen. »Die Weisheit ruft laut auf der Straße und lässt ihre Stimme hören auf den Plätzen. Sie ruft im lautesten Getümmel«, heißt es bei Salomo.
Also, bitte: Achtsam sein und Lauschen. Denn Zuwiderhandeln und Weghören wird laut Bibel mit alttestamentarischer Strenge bestraft: »Wenn ich aber rufe und ihr euch weigert, wenn ich meine Hand ausstrecke und niemand darauf achtet, wenn ihr fahren lasst all meinen Rat und meine Zurechtweisung nicht wollt: dann will ich auch lachen bei eurem Unglück …«
Man weiß nicht so genau, wann er gelebt hat. Manche sind sich sogar nicht völlig sicher, ob er überhaupt existiert hat. Sicher aber gibt es das Daodejing, ein Werk, bestehend aus 5000 Schriftzeichen, entstanden um das 5. Jahrhundert vor Christus, das ihm zugeschrieben wird. Die Legende über seinen (wahrscheinlichen) Verfasser ist zu schön, um nicht wahr zu sein. Und weil eine Prise Mystik die Begebenheit adelt, eignet sie sich ideal als Einstieg in das große Thema Weisheit.
Der Held ist ein älterer Gelehrter. Angesprochen wird er als Laozi, Alter Meister. Er hat als Archivar in der Bibliothek des Königs von Chou im Norden Chinas gearbeitet. Nun verlässt er seine Heimat, weil er den Verfall des Reichs vorausahnt und zieht hinter die Berge. Auf chinesischen Tuschezeichnungen ist ein Wasserbüffel sein Begleiter und Gepäckträger, ein kräftiges, aber auch sanftes, gemächliches und gemütliches Tier. Die beiden pilgern nach Westen. Als sie auf dem Weg einen Passwächter treffen, verwickelt der den alten Archivar in ein Gespräch über seine Einsichten. Auf Drängen des Wissbegierigen schreibt Laozi ihm auf, was er wesentlich findet, bevor er endgültig ins Gebirge entschwindet. So entsteht das Daodejing, das angeblich nach der Bibel am häufigsten übersetzte Buch der Welt.
Die Szene strahlt Einfachheit, Freundlichkeit, Ruhe aus. Im Alter die Heimat zu verlassen und ins Ungewisse zu ziehen, weil es angemessen erscheint – so handelt einer, der Mut besitzt und Seelenfrieden gefunden hat. Arroganz ist ihm fremd, er ziert sich nicht, als er um Rat gefragt wird. Aber er missioniert auch nicht. Er ist bescheiden und hätte seine Weisheit für sich behalten, hätte es nicht jemand gegeben, der begierig war, sie zu hören. Bertolt Brecht hat der Begegnung ein Denkmal gesetzt und dieses Detail in seiner Ballade betont: »Aber rühmen wir nicht nur den Weisen/dessen Name auf dem Buche prangt!/Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen./Darum sei der Zöllner auch bedankt:/Er hat sie ihm abverlangt.« Das wird nicht immer mitbedacht, wenn es um Weisheit geht. Um Wirksamkeit zu entfalten, muss sie ein offenes Ohr finden.
Worin besteht die Weisheit des Daodejing? Die 81 Kapitel der Textsammlung sind selbst für diejenigen, die das Original lesen können, alles andere als leicht verständlich. Nicht minder dunkel sind die Übertragungen. Die Hauptrolle in Laozis Buch spielt das »unnennbare« Dao. In den verschiedenen deutschen Übersetzungen wird es umschrieben als »Rechter Weg«, als »Sinn«, als »Urquell des Seins« oder als das »große Eine, in dem die Gegensätze aufgehoben sind«.
Im Groben ist das Werk eine einzige Warnung, dass die tiefgründigen Wahrheiten jenseits des Vermittelbaren liegen. Dass deshalb diejenigen schweigen, die um sie wissen: »Wer weiß, redet nicht/wer redet, weiß nicht.« Es geht hier, soviel ist schnell klar, nicht um Allerweltskenntnisse, es geht um das Wesentliche. Und natürlich lassen sich die Wissenden manchmal doch zum Reden verführen, sonst gäbe es auch das Daodejing nicht. Ihr Kunstgriff besteht darin, Einsichten in Metaphern zu kleiden. Konkret genug, um eine Ahnung zu geben von den Schätzen, die zu heben sind. Um bei Zuhörern und Lesern die Sehnsucht zu wecken, sich auf den Weg zu begeben und irgendwann selbst zu den Eingeweihten zu zählen, zu den Wissenden, die in sich ruhen – selbst dann, wenn um sie herum das Chaos tobt.
Ein Kapitel spricht von denen, die das geschafft haben, von den »alten Weisen«, die im Dao bewandert sind. In einer modernen Nachdichtung des Salzburgers Bodo Kirchner lautet die Stelle: »Ihre Haltung war/behutsam, wie beim Überqueren eines Flusses im Winter/vorsichtig, wie bei drohender Gefahr/zurückhaltend, wie willkommene Gäste/nachgebend, wie schmelzendes Eis/einfach, wie rohes Holz/offen, wie ein weites Tal/anspruchslos, wie trübes Wasser.«[1]
Wie bitte? Ein Weiser soll trübem Wasser ähneln? Das erscheint als bizarrer Vergleich. Laozis Erklärung beinhaltet eines der Paradoxa, die das Daodejing berühmt gemacht haben: »Wer wie trübes Wasser sein kann/kann in Stille zur Klarheit gelangen/Wer in Bewegung behutsam ist/kann in Ruhe zur Beständigkeit gelangen.«
Das Wasser, allgegenwärtig, unscheinbar und wunderbar, stillt Durst, nährt Pflanzen, erfrischt und reinigt. In dem alten chinesischen Text wird es an verschiedenen Stellen gerühmt. Es sei bereit, allen Wesen zu dienen. Es bleibe an Orten, die Menschen verachten. Es gleiche dem Dao, denn: »Nichts in der Welt/ist nachgiebiger und weicher als Wasser/doch nichts ist besser/um Hartes und Starkes zu überwinden.« Die Lehre daraus: Das Weiche kann das Harte besiegen, das Schwache überwindet das Starke. Und die melancholische Erkenntnis: »Obwohl jeder es weiß/handelt keiner danach.«
Was bedeutet es, einer Weisheitslehre zu folgen, die ihre Anhänger auffordert, wie trübes Wasser zu sein? Laozis Lösung ist typisch asiatisch. Er rät zur Praxis des Schweigens, der Demut, der Innenschau: »Beende das Gerede/schließe die Türen/dämpfe den Eifer/löse die Verwirrung/mindere den Glanz/finde den Grund.«
Vom Daoismus, der chinesischen philosophischen Schule, die nach diesen Prinzipien ausgerichtet ist, wird noch die Rede sein. Die Lehre unterscheidet sich in vielen Aspekten von Weisheitswegen anderer Kulturkreise. Doch einen Punkt, an dem sich alle treffen, beleuchtet das Daodejing und die Legende seiner Entstehung besonders gut: Weisheit ist keine theoretische, sondern eine angewandte Kunst. Sie erschöpft sich nicht in Gerede, kann sogar ohne Worte auskommen; sie misst sich am Tun. Dabei folgt sie Laozis Paradox: Sie ist einfach und geheimnisvoll zugleich, leicht zu erkennen, schwer zu erringen. Und sie erfordert persönlichen Einsatz, wie es der französische Philosoph Michel de Montaigne viele Jahrhunderte nach Laozi gesagt hat: »Es mag sein, dass wir durch das Wissen anderer gelehrter werden. Weiser werden wir nur durch uns selbst.«
Schön gesagt, schwer zu verwirklichen. Die Weisheit ruft laut auf der Straße, aber ihr Ruf erreicht die Ohren der Menschen nicht, hieß es bei Salomo. Ganz ähnlich klingt die Klage Laozis: Jeder kenne sie, aber aus dieser Kenntnis folge kein entsprechendes Handeln. Wieder ein Paradox. Weisheit scheint ein durchaus greifbarer Schatz zu sein, destilliert aus Lebens- und Welterfahrung, aus den bedeutendsten Erkenntnissen und Überlieferungen. Eigentlich steht der Gebrauch jedem offen, es gibt nur eine Hürde: Man muss sich gewissermaßen selbst dazu überlisten, den Schatz zu heben.
Und das ist verwirrend und verzwickt. Denn wie dabei vorzugehen ist, steht in keinem Lehrbuch. Weisheit lässt sich nicht studieren, trainieren und anschließend beherrschen wie eine Fremdsprache, ein Musikinstrument, eine Sportart oder die höhere Mathematik. Sie ist nicht durch Einheirat zu erringen wie ein Adelsprädikat oder ein Familienvermögen. Man kann sie nicht herbeizwingen, nicht einmal mit Waffengewalt. Sie fällt keinem in den Schoß wie ein Lottogewinn. Und ein »Weisheitsquotient«, der mit ein paar Standardaufgaben zu ermitteln wäre wie der IQ, lässt auch auf sich warten.
Wie also ist dem geheimnisvollen Ideal auf die Schliche zu kommen? Vielleicht über die Einzelteile, aus denen sich das größere Ganze zusammensetzt. Immerhin gibt es ein intuitives Grundverständnis darüber, was weise Menschen ausmacht. Und das scheint in erstaunlich frühem Alter geprägt zu werden. Psychologiestudentinnen der Universität Wien haben die Jüngsten zu Wort kommen lassen und Kinder ab sechs Jahren befragt, welche Eigenschaften weise Menschen ihrer Meinung nach auszeichnen. Von den Schulanfängern hatten schon fast die Hälfte eine Antwort parat, ab Klasse 4 praktisch alle.
Originelle Definitionen sind da zu hören. Ein Weiser sei »ehrlich, nett und rätselhaft«, sagt ein neunjähriger Bub. »Er hält zu dir und hilft dir, wenn es dir nicht gut geht. Man kann ihm Geheimnisse anvertrauen«, findet ein gleichaltriges Mädchen. »Weise geben schlaue Tipps und erzählen uralte Geschichten«, meint ein Zehnjähriger.
Ratgebertalent, Verlässlichkeit, Erfahrung, eine besondere Aura – dieses frühe Bild ergänzen Erwachsene um weitere positive Facetten. Sie nennen am häufigsten die Eigenschaften ruhig, lebenserfahren, wissend, belesen, über den Dingen und Menschen stehend, gelassen, gütig, milde, bescheiden, ausgeglichen, freundlich, mit persönlicher Ausstrahlung, besonnen, selbstbewusst, einfühlsam, kann zuhören, gibt gute Ratschläge/Hilfen/Urteile. Man könnte das erweitern, bis der Universalkatalog guter Eigenschaften vollständig ist: aufmerksam, beharrlich, unabhängig, unerschrocken, uneigennützig, unbestechlich. Vertrauensvoll, aber nicht vertrauensselig. Loyal, aber nicht unkritisch.
Das Übermaß an aufgezählten Ideal-Qualitäten hat eine fatale Nebenwirkung. Es lähmt. Es setzt Maßstäbe, denen in ihrer Gesamtheit kaum ein Irdischer oder eine Irdische gewachsen ist. Wenn in Umfragen nach realen Weisen gefragt wird, landen auf den hohen Rängen Religionsstifter wie Buddha und Jesus. Dazu kommen bewunderte Prominente, die für Frieden und eine bessere Welt nicht nur Worte, sondern ihr ganzes Leben in die Waagschale geworfen haben: Gandhi, Martin Luther King, Mutter Teresa, Nelson Mandela, der Dalai Lama. Diese Heilsgestalten sind Projektionsflächen einer Sehnsucht, doch dummerweise ziemlich weit vom eigenen Leben entfernt. Zu weit, um Orientierung im Detail zu geben.
Und die ist gründlich verloren gegangen in einer Gesellschaft, in der keine Einigkeit mehr über Werte besteht. Richtig und falsch sind keine gültigen Kategorien mehr. Von den zehn biblischen Geboten werden gerade noch Nummer 5 (nicht töten) und Nummer 7 (nicht stehlen) allgemein anerkannt. Ein Begriff wie Sünde hat Bedeutung verloren; die ehemaligen Todsünden haben sich in die Mitte der Gesellschaft vorgearbeitet, von den Medien fasziniert begleitet. Zu Habgier und Hochmut applaudieren die Wirtschaftsmagazine; Genusssucht, Selbstsucht und Trägheit des Herzens sind Favoriten der Regenbogenpresse; für Geiz wirbt der Anzeigenteil. Und denjenigen, die sich teurere Sünden nicht leisten können, bleibt immerhin Zorn und Neid.
Der Bedarf an weisen Vorbildern, die noch Maßstäbe liefern, ist in dieser Situation groß. Gleichzeitig sind die Bedürftigen anspruchsvoll geworden und misstrauen vermeintlichen Autoritäten. Ehemalige Sinnstiftungs-Institutionen wie die Kirche haben Überzeugungskraft verloren. Kein Trost mehr von oben. Genauso wenig von den vorangegangenen Generationen, von Eltern, Großeltern, Lehrern – das Tempo der Neuerungen im Wissenszeitalter entwertet deren Lebenserfahrung rapide. Politiker, Ärzte, Manager? Sind als Eigeninteressenvertreter in Misskredit geraten. Wissenschaftler? Sind Experten für Spezialistentum, nicht für Lebenskunst.
Geachtete Mentoren im persönlichen Umfeld, die sich Zeit nehmen, um Entwicklungshilfe zu leisten zu den großen Fragen, den Zielen des eigenen Lebens, sind Mangelware. Kein Sokrates schreitet durch unsere Städte, um Jugendliche und Erwachsene in Streitgespräche über Wesentliches zu verwickeln. Für ein langjähriges Meister-Schüler-Verhältnis, wie es in östlichen Weisheitstraditionen praktiziert wird, gibt es im Westen kaum Parallelen. Lehrerinnen oder Professoren haben häufig weder die Muße noch die Gabe, einzelne Schüler oder Studierende über Jahre hinweg zu beraten und zu begleiten. Die Berufsgruppe, die am ehesten als Weg-Weiser und Ratgeber fungiert, ist die der Therapeuten. Und die kommen meist erst ins Spiel, wenn man selbst so gar keinen Ausweg mehr weiß.
Was wie eine Sackgasse aussieht, lässt ein Schlupfloch offen. Selbsterkundung und Selbstverantwortung sind gefragt. Montaignes Wort »Weiser werden wir nur durch uns selbst« kann auch als Ermutigung verstanden werden, nicht darauf zu warten, dass ein Guru auftaucht, dem man brav folgt. Es fordert auf, eine Geisteshaltung zu kultivieren, die Weisheit aufspürt – auch dort, wo man sie nicht erwartet.
Die Passwächter-Situation in der chinesischen Legende ist da ein Sonderfall. Die Voraussetzungen sind vollkommen – hier ein Lehrer, der sein Wissen freigebig teilt, dort ein Adressat, der die Muße hat zuzuhören und es dankend annimmt. In dieser Konstellation scheint weise Ernte fast langweilig zwingend vorprogrammiert. Zu den Paradoxa der Weisheit passt besser, dass es oft kleinere Lektionen sind, die große Wirkung entfalten: Inspirationen, Anstöße, Anregungen, die das Leben ein wenig in Richtung Weisheit verrücken. Sie speisen sich aus kurzen Zufallsbegegnungen. Aus überwundenen Enttäuschungen. Aus verrauchter Wut. Stammen von fiktiven Helden aus Büchern, Film und Fernsehen. Aus Songtexten oder Comics. Irgendein richtiges Wort zur rechten Zeit fällt auf fruchtbaren Boden und beschert ein Aha-Erlebnis, das im Leben fortwirkt, vielleicht nur für einen kurzen Moment, vielleicht dauerhaft.
Ein solches Erlebnis berührt nicht nur das Gehirn. Was Weisheit so besonders und geheimnisvoll macht, ist, dass sie die reine Vernunft hinter sich lässt. Weise werten das logische Denken nicht gering, aber sie vergessen nicht, dass die menschliche Natur nur an der Oberfläche mit einer Tünche Ratio überzogen ist. Es sind nur ein paar Jahrtausende, die das moderne Bewusstsein geprägt haben; darunter schlummern Jahrmillionen eines älteren naturgeschichtlichen Erbes. Einflüsse, die sich als starke Gefühle, als Intuition, als Vorlieben oder als Vorurteile bemerkbar machen. Variablen, mit denen zu rechnen ist.
Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Gefühlswelt in der Naturwissenschaft eine beachtliche Aufwertung erfahren. Psychologen sind nicht mehr allein mit dem Hinweis, wie eng Denken und Fühlen zusammengehören. Hirnforscher und Neurologen haben begonnen, Details des Zusammenspiels zu entschlüsseln. Ihre Erkenntnisse legen eine faszinierend neue Sicht der Dinge nah: Ohne Gefühle kein rationales Denken. Die sinnliche Begegnung mit der Umwelt erzeugt Emotionen, und die bilden die Grundlage, auf der sich der Geist überhaupt entfalten kann.
Diese Einsicht kann das Geheimnis der Weisheit ein wenig lüften und erklären, warum sie über alle Orte und Zeiten hinweg ihren Reiz behalten hat. Wir verehren sie, weil wir auch im 21. Jahrhundert der Vergötterung reiner Ratio instinktiv misstrauen. Den menschlichen Geist auf Vernunft und Logik zu reduzieren, beleidigt ihn. Denn lebendig sein, heißt nicht nur Denken, sondern Sinnlichkeit, Freude und Trauer, Verbundenheit mit der Natur. Biophilie nennen Evolutionsforscher diese intuitive Vertrautheit mit anderen lebendigen Wesen.
Weisheit zollt unseren biologischen Wurzeln, unseren Gefühlen und Ahnungen zu Recht Respekt. Die irrationalen und rätselhaften Aspekte im eigenen Leben und im menschlichen Miteinander zu verstehen und zu würdigen und auszubalancieren, gehört zu ihrem Kern. Nach der dualistischen Logik, die das Abendland seit Aristoteles verehrt hat, gilt entweder a oder nicht a und nichts dazwischen. Und wenn aus a heute b folgt, dann auch morgen und für immer. In der Lebenswirklichkeit stimmt das, was heute gilt, morgen vielleicht überhaupt nicht mehr. Zu viele unvorhersagbare Randbedingungen beeinflussen das System; mathematische Modelle mit strengen Ursache-Wirkungs-Beziehungen versagen.
Das Paradox von Laozi beschreibt die Welt poetischer und genauer als die abendländische Ja-Nein-Logik. Stark, schwach, hart, weich – jede Qualität birgt ihren Gegenpol in sich. Aus dem Spannungsverhältnis der Gegensätze ergibt sich der neue Zustand. Irgendwann besiegt das weiche Wasser den Stein; das Harte unterliegt. Laozi weiß es, schreibt es auf und zieht die Konsequenzen. Als er sieht, dass sich die Dinge in seiner Lebenszeit wohl nicht wieder zum Besseren wenden werden, wählt er das Exil.
Zu diesem Schritt gehören Mut und vor allem Selbsterkenntnis. »Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selbst kennt, ist weise«, heißt es im Daodejing. Auch in diesem Punkt trifft sich Laozis Werk mit den Weisheitslehren anderer Kulturkreise. »Gnōthi seautón« lautet die griechische Entsprechung. Sie stand auf dem Apollo-Tempel in Delphi, in dem die Priesterin Pythia am siebten Tag eines jeden Monats im Sommer ihre Orakel verkündete – erkenne dich selbst. Für die Griechen war Selbsterkenntnis ein Ringen um philosophische Fragen: Wo ist der eigene Platz im Kosmos? Was bedeutet Menschsein an sich? Wie tief kann der menschliche Verstand in die Geheimnisse des Kosmos eindringen? Inwieweit lässt sich der Ursprung des Seins ergründen?
Für persönliche Weisheit ist über diese philosophische Dimension hinaus die psychologische von Belang. Selbsterkenntnis heißt, sich den eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu stellen. Warum bin ich, wie ich bin? Welche Menschen, welche Umstände haben meine Persönlichkeit geprägt? Was mag ich an mir, was hasse ich? Welche Aspekte kann ich ändern, mit welchen muss ich mich abfinden?
Merkmale, die beim Blick in den Spiegel Freude oder Seufzer hervorrufen, sind jedem als unabänderliche genetische Faktoren in die Wiege gelegt: Augen- und Haarfarbe, die Größe, die Form der Nase, die Anfälligkeit für Krankheiten. Andere Prägungen haben ihren Ursprung in zufälligen Lebensumständen, die nachträglich nicht zu ändern sind. Es hat Auswirkungen, ob man in der Stadt oder auf dem Land aufwächst, als Einzelkind oder mit drei Geschwistern, im Direktoren- oder Hartz-IV
