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Der Traum vom richtigen Leben und wie man ihn verwirklicht. Weisheit lässt sich nicht erlernen wie eine Fremdsprache, man kann sie nicht herbeizwingen und man bekommt sie nicht verliehen wie eine Auszeichnung. Und doch gibt es Wege, dem Schicksal gelassen, achtsam und mit Humor zu begegnen. Die Wissenschaftsjournalistin Hanne Tügel hat sich aufgemacht, die vielfältigen Vorstellungen und Lehren des hohen Ideals Weisheit zu ergründen und sie auf ihre Alltagstauglichkeit hin zu prüfen. Ob Buddhismus, Philosophie oder die Traumzeit der Aboriginies, neugierig erkundet sie die vielfältigen Konzepte, mit denen sich Menschen seit Jahrtausenden Einsicht erhoffen und sieht sich an, wie sie uns dem Traum vom richtigen Leben näher bringen. Dabei begegnet sie u.a. Neurowissenschaftlern, Caféhausphilosophen, Musikern, Dichtern und Weisheitsforschern – eine spannende Reise, die uns alle ein Stück weiser macht.
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Seitenzahl: 373
Hanne Tügel
Wege zur Weisheit
Der Traum vom richtigen Leben
Fischer e-books
Für Sophia und ihre Generation der 2000plus-Geborenen
»… Mit was unter dem Himmel soll man die Weisheit vergleichen? Sie ist süßer als Honig und erfreulicher als Wein. Sie ist leuchtender als die Sonne und begehrenswerter als kostbare Edelsteine. Sie macht fetter als Öl, satter als süße Leckerbissen und ruhmreicher als Mengen von Gold und Silber. Sie spendet Freuden für das Herz, schenkt den Augen Licht, beflügelt die Füße, ist ein Panzer für die Brust, ein Helm für das Haupt, eine Kette für den Hals, ein Gürtel für die Lenden. Sie verkündet den Ohren und unterweist das Herz. Sie kann die Kenntnisreichen noch etwas lehren, sie tröstet die Klugen, sie schenkt den Suchenden Ansehen …«
Königin von Saba
Es gibt eine Sehnsucht jenseits des Strebens nach Materiellem und kurzfristigem Erfolg, eine Sehnsucht nach Ausgeglichenheit und innerer Stärke. Der Begriff dafür heißt Weisheit. Ein großes Wort; es klingt auf eine feine Art altertümlich, nach Kostbarkeit und Muße. Weisheit wiederzuentdecken, heißt Atem zu holen. Ihre philosophischen Seiten spiegeln das Beste aus den Kulturen der Welt; sie kann ernst auftreten, aber auch poetisch, verspielt, humorvoll. Und im modernsten Gewand erscheint sie als Forschungsfeld, das eine neue Brücke zwischen Geistes- und Naturwissenschaft schlägt.
Beginnen wir mit einem Weisen aus der Vorzeit.
»Ich, die Weisheit, wohne bei der Klugheit und weiß guten Rat zu geben … Ich liebe, die mich lieben, und die mich suchen, finden mich …« So sprach der biblische König und Prediger Salomo; sein Zitat ist eines von unermesslich vielen Zeugnissen für den Menschheitstraum, der Weisheit näherzukommen.
Warum eigentlich, existiert dieser Traum? Warum lebt er heute fort in einer abgeklärten und zynischen Welt? Shit happens – so könnte man die Lage des Homo sapiens beschreiben, seit ihm die Evolution das Bewusstsein verlieh, über sich und die Welt nachzudenken. Ich glaube, Weisheit ist der Versuch, dieses Wissen erhobenen Hauptes zu verkraften.
Die Weisheit ist damit nicht nur ein abstraktes Ideal, sondern auch ein praktisches Werkzeug, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Sich zu wappnen gegen Schicksalslaunen. Nicht allzu hart, nicht böse, gemein oder bitter zu werden, auch wenn man guten Grund dazu hätte. Wo andere zweifeln und verzweifeln, entfalten Weise Gelassenheit und Geduld. Sie geben uneigennützig Rat und spenden Trost mit Güte und Humor. Sie behalten ihren Mut und den Blick fürs Wesentliche, in vergangenen Zeitaltern genau wie heute.
Vorbilder können Trost spenden und zum Selbstversuch anregen. Mit etwas Heraklit (»Alles fließt«) plus Sokrates (»Ich weiß, dass ich nicht weiß«) plus Jesus (»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«) plus einem Schuss karibischer Unbekümmertheit (»Don’t worry, be happy«) wäre ein Novize fürs Leben schon gut gerüstet. Doch die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist weit. Die scheinbar simplen Gebote und Lehren im alltäglichen Leben anzuwenden, ist höllisch schwierig.
Denn nur in Märchen oder heiligen Schriften wie der Bibel fällt Weisheit einem Menschen in den Schoß. Laut Altem Testament hatte sich Salomo, der Sohn und Nachfolger Davids, von Gott am Anfang seiner Herrschaft weder Macht noch ein langes Leben noch Reichtum gewünscht, sondern Weisheit. Gott gefiel diese Idee, er gab ihm »sehr große Weisheit und einen Geist so weit, wie Sand am Ufer des Meeres liegt«. Salomo nutzte sie nicht nur für Regierungszwecke und Gerichtssprüche und Gotteslob, sondern auch für Liebe, Sinnlichkeit und Poesie: »Er dichtete von den Bäumen, von der Zeder auf dem Libanon bis zum Ysop, der aus der Wand wächst. Auch dichtete er von den Tieren des Landes, von den Vögeln, vom Gewürm und von Fischen.« Salomos Zeit gilt in der Bibel als Epoche des Friedens und Wohlstands.
Drei Jahrtausende sind vergangen, seit der legendäre jüdische König regierte. Die große Frage ist geblieben: Wie kann weises Handeln in einer unvollkommenen Welt aussehen? In einer Welt, die nach wie vor Ungerechtigkeit, Leid, Neid und Kriege zu bieten hat, und darüber hinaus ein paar Milliarden mehr Menschen und eine Extraportion Tempo und Unübersichtlichkeit. Anders gefragt: Kann man in dieser Welt überhaupt noch weise sein? Was würden Salomo und seine weisen Vorgänger und Nachfolger zum Afghanistan- und Nahost-Konflikt, zu Steuer- und Gesundheitspolitik, zu Datenschutzproblemen, zu Wirtschafts- und Finanzkrise oder zum Klimawandel sagen? Unter welchen Umständen mischen sich Weise ein? Wie agieren und reagieren sie? Halten sie sich besser völlig heraus?
Eine letztgültige Antwort, der »Weisheit letzter Schluss«, ist auf den folgenden Seiten nicht zu finden. Stattdessen ein Plädoyer dafür, sich dem Thema mit Neugier, Staunen und einem unbefangenen Blick zu nähern. Weisheit nicht nur mit Erkenntnis, Vernunft und Philosophie in Verbindung zu bringen, sondern auch mit sanften und spielerischen Seiten, mit denen Platon und Aristoteles weniger anfangen konnten: mit Kunst, Gefühl, Intuition, Muße, leisem Lächeln.
Seit einigen Jahren erfährt Weisheit neue wissenschaftliche Aufmerksamkeit. In der Psychologie gibt es Ansätze, sie experimentell zu erfassen und als Phänomen zu studieren, das im normalen Alltag wirksam ist. Im internationalen Forschungsprojekt »Defining Wisdom« versuchen sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen darüber hinaus an einem ganzheitlichen, gemeinsamen Verständnis. Philosophen, Theologen und Psychologen sind genauso beteiligt wie Informatiker, Ökonomen und Evolutionsbiologen.
Die Zusammenarbeit über Bereichsgrenzen hinweg öffnet zwei Tore der Weisheit: Offenheit und Selbsterkenntnis; also Neugier auf ganz andere Denkweisen und Sensibilität für die Grenzen der eigenen. Diese Eigenschaften erlauben auch eine unbelastete Annäherung an vermeintlich rückständige Kulturen: Es gab und gibt Denkmuster auf der Welt, die nicht dem dualistischen Schwarz/Weiß-, Gut/Böse-Denken folgen. Sie sind nicht minderwertig, sondern faszinierend anders.
Hat es einen tieferen Sinn zu fragen, warum Naturvölker den Raben als Weisheitsvogel verehren, warum die Aborigines die Geschenke der europäischen Entdecker als Schund betrachtet haben und auf Traumzeit-Pfaden wandelten? Ist es notwendig, darüber nachzudenken, was am afrikanischen Palaver als Konfliktlösungsmodell weise ist? Ich meine, ja – und glaube, Salomo auf meiner Seite zu haben. Die globalisierte komplizierte Moderne hat die meisten Probleme der Menschheitsgeschichte konserviert und reichlich neue geschaffen. Da kann es nicht schaden, alle Lösungen unter die Lupe zu nehmen, mit denen Menschen unterschiedlicher Zeitalter um ein »richtiges«, um ein gelingendes und weises Leben gerungen haben.
Weisheit hat viele Gesichter, auch im Internet-Zeitalter. Sie ist keine ferne exotische Qualität, allerdings eine, die wir im Alltagstrubel oft übersehen. »Die Weisheit ruft laut auf der Straße und lässt ihre Stimme hören auf den Plätzen. Sie ruft im lautesten Getümmel«, heißt es bei Salomo.
Also, bitte: Achtsam sein und Lauschen. Denn Zuwiderhandeln und Weghören wird laut Bibel mit alttestamentarischer Strenge bestraft: »Wenn ich aber rufe und ihr euch weigert, wenn ich meine Hand ausstrecke und niemand darauf achtet, wenn ihr fahren lasst all meinen Rat und meine Zurechtweisung nicht wollt: dann will ich auch lachen bei eurem Unglück …«
Die folgende Gliederung soll etwas Ordnung ins Thema bringen. Ein Warnhinweis vorweg. Seit gut 5000 Jahren geistert der Begriff Weisheit durch die Weltgeschichte, ohne dass die Gelehrten sich darauf einigen können, wie man ihn eingrenzen kann. Das Meyer-Lexikon von 1930, ein Erbstück meines Großvaters, hat folgende Definition zu bieten: »Umfassendes, bis zu den tiefsten Gründen reichendes Wissen, das sich in der Praxis als gereifte, tief- und weitblickende Auffassung und Behandlung der Menschen und der menschlichen Angelegenheiten nach großen, leitenden Ideen äußert.«
Tiefste Gründe, gereifte Auffassung, leitende Ideen … oh, je! Es erfordert einen gewissen Übermut, sich ins Reich solch verbaler Nebelgranaten zu begeben. Aber das Tiefgründig-Vage hat Vorzüge: Es lässt viel Spielraum. Aus dem Dunst tauchen ganz unterschiedliche Bilder und Gestalten auf, verschwinden wieder, machen neuen Platz. Bühne frei für Platons Höhle, den Orakelplatz in Delphi, die Richterbank des weisen Salomo. Applaus für die Berühmtheiten von Albert Einstein bis Albus Dumbledore. Aber wie hat sich die verschleierte Dichterin bei TV Abu Dhabi in die Szenerie geschmuggelt? Der Patient aus dem Neurologen-Labor? Der australische Honigvogel Geganggië? Lichtet sich der Nebel, erschließen sich unerwartete Zusammenhänge. »Der Weise ist auf alle Ereignisse vorbereitet«, sagt Molière.
Im ersten Teil »Das Ideal« will ich Weisheit im Weitwinkel betrachten. Kapitel 1 stellt sie als Paradox vor: Hier geht es um eine Qualität, die sich wortreich umschreiben und rühmen lässt und dennoch voller Rätsel bleibt. Wenn es Gemeinsamkeiten gibt, auf die sich Weise einigen können, sind es Bescheidenheit und Misstrauen gegenüber absoluten Wahrheiten. Ein Curriculum, nach dessen Absolvierung ein »Summa cum laude«-Weisheitsdiplom mit Erfolgsgarantie wartet, wäre ein Widerspruch in sich. Individuelle Weisheit geht aus einem Prozess kontinuierlicher Selbstprüfung hervor. Ob sie zur Geltung kommt, ist nie sicher. Eine Handlung oder Äußerung, die in einer Situation hilfreich/angemessen/weise ist, kann zu anderer Zeit, am anderen Ort, gegenüber einer anderen Person banal/peinlich/töricht sein. Weisheit braucht Resonanz: Ein noch so kluger und sinnreicher Rat, der auf taube Ohren stößt, ist nicht weise.
Statt eindeutiger Analysen sind in diesem Buch deshalb eher Anregungen, Annäherungsversuche, Anekdoten zu erwarten. Kapitel 2 versucht zu ergründen, welche Schwerpunkte verschiedene Kulturen und Weltregionen mit dem Thema verbinden. Wie kam es dazu, dass die Ägypter begannen, Weisheitslehren schriftlich zu fixieren, mehr als 2000 Jahre vor den griechischen Philosophen? Was unterscheidet die Anschauungen eines Sokrates von denen eines Buddha, Jesus und Konfuzius? Warum reicht den Hindus die Silbe »Om« aus, um umfassende Weisheit auszudrücken? Und wie ist zu erklären, dass sich das Ururalt-Ideal Weisheit heute durch Fantasy- und Science-Fiction-Helden feiern lässt, die als weise Ratgeberfiguren anscheinend auch im 21. Jahrhundert unverzichtbar sind?
Lange lag das Monopol für die großen Themen rund um die menschliche Erkenntnis- und Geisteswelt bei Philosophen und Theologen. Das hat sich geändert. Den Bezug zur Forschungslandschaft von heute stellt Kapitel 3 her. Schwerpunkt ist das internationale Projekt »Defining Wisdom«. Dessen Ziel ist es, Weisheit aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Blickwinkeln zu erfassen. Die interdisziplinäre Ausrichtung des Ansatzes birgt neue Einsichten, aber auch neue Verwirrung. Nicht jedem wird auf den ersten Blick einleuchten, dass der Berkeley-Biologe Neil Tsutsui von der »Weisheit der Ameisen« spricht. Oder dass Ankur Gupta von der Butler University die raffinierte Kompression von Computerdaten für weise hält.
Sich um Theorien und Definitionen zu streiten, erweitert den Horizont – wozu? Die wahre Kunst der Weisen ist nicht kluge Rhetorik, sondern Anwendung, Lebenspraxis, Rat und Tat. Wie das große Ideal Weisheit im Alltäglichen Wirkung entfalten kann und welche Kunstgriffe Psychologen gefunden haben, das wissenschaftlich zu untersuchen, erläutert Kapitel 4. Als »Tugend für jeden Tag« spiegelt sich Weisheit in tausend Facetten: in einer Entscheidung, die neue Spielräume eröffnet; in einem Vertrauensbeweis, der eine Freundschaft festigt; in einem Lachen, wo andere Wut erwartet hätten; in einer erstaunlichen Lösung für einen aussichtslos erscheinenden Konflikt … Nicht jeder hat die Chance (und die Bürde), als Salomo, Dalai Lama oder Nelson Mandela in die Geschichtsbücher einzugehen. Doch sich darüber klar zu werden, wie die »kleine Weisheit« mit dem Wirken solcher Idole zusammenhängt, ist reizvoll und erhellend.
Tiefste Gründe, gereifte Auffassung, leitende Ideen … Das hohe Ideal der Weisheit fächert sich auf in ein Mosaik begehrenswerter Eigenschaften: Gelassenheit, Humor, Großzügigkeit, liebevolle Nachsicht für die Unwägbarkeiten des Lebens. Der Mittelteil des Buchs, »Annäherungen« genannt, schildert, mit welchen Hilfsmitteln die Menschheit sich auf Weisheitssuche begeben hat. Manche Zugänge werden über-, andere unterschätzt. Manche sind in Vergessenheit geraten. Manche werden gerade erst entdeckt.
Die im Abendland am intensivsten erprobte Strategie setzt auf den Verstand. Die Philosophen der griechischen Antike haben die Richtung vorgezeichnet. Als Vorbilder stehen sie für eine Weisheitsfreundschaft, zu der nicht nur der Durst nach Wissen und Wahrheit gehört, sondern auch die Frage nach dem guten und richtigen Leben. Kapitel 5 begibt sich auf Spurensuche in die Philosophie, ins Reich der Eule. Und stößt auf irritierende Neben- und Nachwirkungen des reinen Verstandeszugangs. Das allzu blinde Vertrauen auf Denken, Logik und Abstraktion hat die Entfremdung zwischen gutem Leben und Wissensdurst, zwischen Philosophie und Naturwissenschaften, heraufbeschworen. Die Anhänger der »objektiven« Wissenschaft fühlen sich für Wertfragen nicht mehr zuständig. Ergebnis ist eine vom technischen Fortschritt geprägte Welt, die kühl, kaum noch beherrschbar und weisheitsfern erscheint.
Der Versuch, Gefühle und das vermeintlich Irrationale aus der Wissenschaft auszuschließen, war kein weiser Akt. Kapitel 6 stellt die Frage, welche Rolle Eros, Poesie, Malerei und Musik für die Weisheit spielen. In der vernunftbetonten Gesellschaft gelten sie als Beiprogramm, sicherlich bereichernd, aber letztlich eher nebensächlich. Eine fundamentale Fehleinschätzung – das glaubt allen voran Albert Einstein. Als Kronzeuge, der nicht der Gefühlsduselei verdächtig ist, hat er vor allem das Musizieren als Weg hervorgehoben, tiefe Einsichten zu erlangen, die denen der wissenschaftlichen Erkenntnis ebenbürtig sind.
Kunst als Weisheitszugang zu rühmen, mag noch einleuchten. Der Vorschlag in Kapitel 7 ist noch radikaler. Hier geht es um die Bedeutung von »Faultierqualitäten«. Damit ist gemeint: Das Nicht-Handeln üben! Die Kunst kultivieren, nur dann einzugreifen, wenn Wesentliches auf dem Spiel steht! Die Kraft kennenlernen, die in der Ruhe liegt! Diese daoistische Variante der Weisheits-Annäherung hat Vorzüge, die man in einer Zeit der Überforderungen und der Rastlosigkeit wieder zu begreifen beginnt. Nicht nur Burnout-Opfer, auch Max-Planck-Instituts-Professoren erkennen: Multitasking erschöpft. Es ist essentiell, sich Zeiten des »Abschaltens« zu gönnen.
Für diejenigen, die von der Zivilisation der Rastlosen und Vernunftgesteuerten überrannt worden sind, kommen solche Einsichten einige Generationen zu spät. Die Kolonialmächte haben sich keine Mühe gegeben, die faszinierend andersartigen Lebens- und Denkweisen von Naturvölkern zu verstehen. Sie haben sie als minderwertig betrachtet und fanden nichts dabei, die »Primitiven« umzubringen und ihre Lebensräume und jahrtausende alte Kulturen zu zerstören. Kapitel 8 diskutiert die Folgen. Die treffen nicht nur die Opfer und ihre Nachkommen, sondern auch die Kultur der »Sieger«. Die Überheblichkeit der westlichen Welt gegenüber Andersfarbigen, Andersgläubigen, Andersfühlenden ist inzwischen subtiler, doch sie lebt fort und verhindert unvoreingenommenes gegenseitiges Lernen. Vertreter der »interkulturellen Philosophie« versuchen vergessene Weisheitslehren wieder aufzuspüren und deren Stimmen in einem »Polylog« der Kulturen zu Gehör zu bringen.
Kapitel 10 beendet den Teil der »Annäherungen« mit einem Blick in die Welt der Neuro- und Kognitions-Forschung, die solche Irrwege und Fehlschlüsse der Vergangenheit allmählich revidiert. Wissenschaftler, die den Geist unter die Lupe nehmen, entdecken inzwischen den entscheidenden Beitrag der Gefühle und der unbewusst ablaufenden Prozesse im Körper für bewusste Entscheidungen und die Vernunft. Besonders Antonio Damasio, Neurologieprofessor an der University of Iowa, hat mit seinen Arbeiten das Verständnis für die Grundlagen geistiger Prozesse revolutioniert. Descartes’ Leitspruch »Ich denke, also bin ich« korrigiert er in »Ich fühle, also bin ich«. Diese Perspektive hebelt die Dualität zwischen Körper und Geist, Vernunft und Gefühl, Rationalität und Intuition aus. Sie eröffnet ein ganzheitliches Bild der Weisheit, das neben Logik all die in den vorherigen Kapiteln beschriebenen Zugänge umfasst: Kunst, Faulheit, Naturverbundenheit, Sinnlichkeit.
Tiefste Gründe, gereifte Auffassung, leitende Ideen … Der dritte Teil des Buches nimmt »Die Wege« unter die Lupe, die sich vor Weisheitssuchenden auftun. Die Tore stehen einladend offen, 24 Stunden am Tag, der Eintritt ist frei. Als Führer sind Selbsterkenntnis, Sensibilität und fröhlicher Mut zur Unvollkommenheit zu empfehlen. Dazu als Trostpflaster vielleicht ein jüdisches Sprichwort, falls ein verheißungsvoll erscheinender Weg sich im konkreten Fall doch als Ab-, Irr- oder Umweg erweisen sollte: »Ein Mensch bleibt weise, solange er die Weisheit sucht. Sobald er sie gefunden zu haben wähnt, wird er ein Narr.«
Kapitel 11 bietet eine Art Fundament für Selbstversuche in Sachen Weisheit an. Kann man genauer eingrenzen, was sie ausmacht? Man kann sie sogar messen, meint zumindest Monika Ardelt, Soziologin an der Universität Florida. Menschen, die man gemeinhin als Weise empfindet, zeichnen sich ihrer Hypothese nach durch positive Eigenschaften in drei eingrenzbaren Bereichen aus: Sie nennt sie die kognitive, die reflektive und die affektive Dimension. Mit 39 Fragen aus diesem Spektrum ermittelt ihr Test einen »Weisheits-Score« von Versuchspersonen. Ergebnis ist mehr als nur eine Zahlenspielerei. Aus Interviews mit Probanden hat die Forscherin Spannendes über Krisenbewältigungs-Strategien ihrer »relativ weisesten« Kandidaten abgeleitet.
Jeder weiß, dass Harmonie weiser ist als Streit, Mäßigung weiser als Sucht, dass man bei Konflikten cool bleiben/die andere Wange hinhalten/erst einmal eine Nacht darüber schlafen sollte – aber warum ist es so schwer, all das im echten Leben auch zu beachten und den »inneren Dalai Lama« zu kultivieren? In Kapitel 12 kommen Praktiker zu Wort, die östliche Weisheitsübungen mit der westlichen Verstandeskultur kombinieren. Das gelingt nicht ohne Kollisionen. Doch es gibt Wege, die Weisheitswachstums-Schmerzen zu überwinden. Der Leitgedanke: »Erkennen, nicht tadeln, ändern.«
Humor taucht im Weisheitstest nicht auf. Wahrscheinlich zu Recht – die Aussage »Andere lachen gern über mich« ist zugegebenermaßen missverständlich. Im wahren Leben gehören Humor und Ironie allerdings zu den raffiniertesten Methoden, die sich Menschen haben einfallen lassen, um in den tragischsten Momenten ihrer Existenz Atem zu schöpfen. Kapitel 13 beschäftigt sich mit angewandter Narrenweisheit aus verschiedenen Kulturen. Und mit der Frage, ob es weisen und unweisen Humor gibt.
»Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur so selten dazu …« Die Suche nach sich selbst wird umso schwieriger, je mehr Optionen und je mehr Ablenkungen bereitstehen. Doch es gibt Vorbilder, die der Fragestellung nach dem Sinn des Lebens eine neue Wendung gegeben haben. Allen voran der jüdische Psychologe und Auschwitz-Überlebende Viktor Frankl, der einen Weg gefunden hat, selbst im KZ die eigene Würde nicht zu verlieren. Kapitel 14 lädt dazu ein, die Entwicklung des Selbst als lebenslange Aufgabe zu betrachten, einen tieferen Sinn im eigenen Schicksal zu entdecken und sich schon in den guten Zeiten auf Ereignisse vorzubereiten, die alle Weisheit erfordern, die uns zur Verfügung steht.
In traditionellen Gesellschaften gehören Alter und Weisheit zusammen. Wo das Dogma »forever young« herrscht, muss der Wert von Lebenserfahrung und Altersweisheit wieder neu entdeckt werden. Doch in einer zunehmend orientierungslosen Gesellschaft haben auch und gerade diejenigen etwas zu bieten, die nach stürmischen Phasen mit sich selbst im Reinen sind – auch wenn sie körperlich schon Zeichen von Klapprigkeit zeigen. Kapitel 15 stellt Projekte vor, in denen Senioren als weise Greise reüssieren. Zum Beispiel das Programm eines amerikanischen Rabbi, mit dessen Hilfe sie sich der »Meisterschaft in Lebenskunst« nähern können. Und ein Internetforum, in dem sie Jüngeren Rat in allen Lebenslagen geben.
Kapitel 16 weitet den Blick aus von den persönlichen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Dass weises Handeln im ganz großen Stil eine fast unlösbare Aufgabe darstellt, hat schon Platon erfahren, als er in Syrakus auf Sizilien seine Idee der Philosophenkönige verwirklichen wollte – eine Regierung mit dem Ziel eines »Lebens von unsagbarer Glückseligkeit« für alle. Ist Weisheit eine Qualität, die Chancen hat, sich auch in Politik und Wirtschaft zu entfalten? Kann sie ein friedlicheres Zusammenleben ermöglichen? Geschichten sollen Antwort geben: vom israelischen Paar Uri und Rachel A., die auch mit weit über 80 Jahren nicht aufgeben, die Welt Tag für Tag ein Stückchen erträglicher zu machen, vom Politiker Hans K., der meint, dass Versöhner trinkfest sein müssen und vom deutschen Pastor Reinhold N., der die komplette Theorie zum Thema Hoffnung und Verzweiflung in drei Zeilen gefasst hat: das Gelassenheitsgebet.
Tiefste Gründe, gereifte Auffassung, leitende Ideen … Das Ende eines Buchs mit gewichtigem Thema sollte leicht sein. Kapitel 17 erzählt, was einer Autorin begegnet, die sich aufmacht, dem Abenteuer Weisheit hinterherzulaufen.
Man weiß nicht so genau, wann er gelebt hat. Manche sind sich sogar nicht völlig sicher, ob er überhaupt existiert hat. Sicher aber gibt es das Daodejing, ein Werk, bestehend aus 5000 Schriftzeichen, entstanden um das 5. Jahrhundert vor Christus, das ihm zugeschrieben wird. Die Legende über seinen (wahrscheinlichen) Verfasser ist zu schön, um nicht wahr zu sein. Und weil eine Prise Mystik die Begebenheit adelt, eignet sie sich ideal als Einstieg in das große Thema Weisheit.
Der Held ist ein älterer Gelehrter. Angesprochen wird er als Laozi, Alter Meister. Er hat als Archivar in der Bibliothek des Königs von Chou im Norden Chinas gearbeitet. Nun verlässt er seine Heimat, weil er den Verfall des Reichs vorausahnt und zieht hinter die Berge. Auf chinesischen Tuschezeichnungen ist ein Wasserbüffel sein Begleiter und Gepäckträger, ein kräftiges, aber auch sanftes, gemächliches und gemütliches Tier. Die beiden pilgern nach Westen. Als sie auf dem Weg einen Passwächter treffen, verwickelt der den alten Archivar in ein Gespräch über seine Einsichten. Auf Drängen des Wissbegierigen schreibt Laozi ihm auf, was er wesentlich findet, bevor er endgültig ins Gebirge entschwindet. So entsteht das Daodejing, das angeblich nach der Bibel am häufigsten übersetzte Buch der Welt.
Die Szene strahlt Einfachheit, Freundlichkeit, Ruhe aus. Im Alter die Heimat zu verlassen und ins Ungewisse zu ziehen, weil es angemessen erscheint – so handelt einer, der Mut besitzt und Seelenfrieden gefunden hat. Arroganz ist ihm fremd, er ziert sich nicht, als er um Rat gefragt wird. Aber er missioniert auch nicht. Er ist bescheiden und hätte seine Weisheit für sich behalten, hätte es nicht jemand gegeben, der begierig war, sie zu hören. Bertolt Brecht hat der Begegnung ein Denkmal gesetzt und dieses Detail in seiner Ballade betont: »Aber rühmen wir nicht nur den Weisen/dessen Name auf dem Buche prangt!/Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen./Darum sei der Zöllner auch bedankt:/Er hat sie ihm abverlangt.« Das wird nicht immer mitbedacht, wenn es um Weisheit geht. Um Wirksamkeit zu entfalten, muss sie ein offenes Ohr finden.
Worin besteht die Weisheit des Daodejing? Die 81 Kapitel der Textsammlung sind selbst für diejenigen, die das Original lesen können, alles andere als leicht verständlich. Nicht minder dunkel sind die Übertragungen. Die Hauptrolle in Laozis Buch spielt das »unnennbare« Dao. In den verschiedenen deutschen Übersetzungen wird es umschrieben als »Rechter Weg«, als »Sinn«, als »Urquell des Seins« oder als das »große Eine, in dem die Gegensätze aufgehoben sind«.
Im Groben ist das Werk eine einzige Warnung, dass die tiefgründigen Wahrheiten jenseits des Vermittelbaren liegen. Dass deshalb diejenigen schweigen, die um sie wissen: »Wer weiß, redet nicht/wer redet, weiß nicht.« Es geht hier, soviel ist schnell klar, nicht um Allerweltskenntnisse, es geht um das Wesentliche. Und natürlich lassen sich die Wissenden manchmal doch zum Reden verführen, sonst gäbe es auch das Daodejing nicht. Ihr Kunstgriff besteht darin, Einsichten in Metaphern zu kleiden. Konkret genug, um eine Ahnung zu geben von den Schätzen, die zu heben sind. Um bei Zuhörern und Lesern die Sehnsucht zu wecken, sich auf den Weg zu begeben und irgendwann selbst zu den Eingeweihten zu zählen, zu den Wissenden, die in sich ruhen – selbst dann, wenn um sie herum das Chaos tobt.
Ein Kapitel spricht von denen, die das geschafft haben, von den »alten Weisen«, die im Dao bewandert sind. In einer modernen Nachdichtung des Salzburgers Bodo Kirchner lautet die Stelle: »Ihre Haltung war/behutsam, wie beim Überqueren eines Flusses im Winter/vorsichtig, wie bei drohender Gefahr/zurückhaltend, wie willkommene Gäste/nachgebend, wie schmelzendes Eis/einfach, wie rohes Holz/offen, wie ein weites Tal/anspruchslos, wie trübes Wasser.«[1]
Wie bitte? Ein Weiser soll trübem Wasser ähneln? Das erscheint als bizarrer Vergleich. Laozis Erklärung beinhaltet eines der Paradoxa, die das Daodejing berühmt gemacht haben: »Wer wie trübes Wasser sein kann/kann in Stille zur Klarheit gelangen/Wer in Bewegung behutsam ist/kann in Ruhe zur Beständigkeit gelangen.«
Das Wasser, allgegenwärtig, unscheinbar und wunderbar, stillt Durst, nährt Pflanzen, erfrischt und reinigt. In dem alten chinesischen Text wird es an verschiedenen Stellen gerühmt. Es sei bereit, allen Wesen zu dienen. Es bleibe an Orten, die Menschen verachten. Es gleiche dem Dao, denn: »Nichts in der Welt/ist nachgiebiger und weicher als Wasser/doch nichts ist besser/um Hartes und Starkes zu überwinden.« Die Lehre daraus: Das Weiche kann das Harte besiegen, das Schwache überwindet das Starke. Und die melancholische Erkenntnis: »Obwohl jeder es weiß/handelt keiner danach.«
Was bedeutet es, einer Weisheitslehre zu folgen, die ihre Anhänger auffordert, wie trübes Wasser zu sein? Laozis Lösung ist typisch asiatisch. Er rät zur Praxis des Schweigens, der Demut, der Innenschau: »Beende das Gerede/schließe die Türen/dämpfe den Eifer/löse die Verwirrung/mindere den Glanz/finde den Grund.«
Vom Daoismus, der chinesischen philosophischen Schule, die nach diesen Prinzipien ausgerichtet ist, wird noch die Rede sein. Die Lehre unterscheidet sich in vielen Aspekten von Weisheitswegen anderer Kulturkreise. Doch einen Punkt, an dem sich alle treffen, beleuchtet das Daodejing und die Legende seiner Entstehung besonders gut: Weisheit ist keine theoretische, sondern eine angewandte Kunst. Sie erschöpft sich nicht in Gerede, kann sogar ohne Worte auskommen; sie misst sich am Tun. Dabei folgt sie Laozis Paradox: Sie ist einfach und geheimnisvoll zugleich, leicht zu erkennen, schwer zu erringen. Und sie erfordert persönlichen Einsatz, wie es der französische Philosoph Michel de Montaigne viele Jahrhunderte nach Laozi gesagt hat: »Es mag sein, dass wir durch das Wissen anderer gelehrter werden. Weiser werden wir nur durch uns selbst.«
Schön gesagt, schwer zu verwirklichen. Die Weisheit ruft laut auf der Straße, aber ihr Ruf erreicht die Ohren der Menschen nicht, hieß es bei Salomo. Ganz ähnlich klingt die Klage Laozis: Jeder kenne sie, aber aus dieser Kenntnis folge kein entsprechendes Handeln. Wieder ein Paradox. Weisheit scheint ein durchaus greifbarer Schatz zu sein, destilliert aus Lebens- und Welterfahrung, aus den bedeutendsten Erkenntnissen und Überlieferungen. Eigentlich steht der Gebrauch jedem offen, es gibt nur eine Hürde: Man muss sich gewissermaßen selbst dazu überlisten, den Schatz zu heben.
Und das ist verwirrend und verzwickt. Denn wie dabei vorzugehen ist, steht in keinem Lehrbuch. Weisheit lässt sich nicht studieren, trainieren und anschließend beherrschen wie eine Fremdsprache, ein Musikinstrument, eine Sportart oder die höhere Mathematik. Sie ist nicht durch Einheirat zu erringen wie ein Adelsprädikat oder ein Familienvermögen. Man kann sie nicht herbeizwingen, nicht einmal mit Waffengewalt. Sie fällt keinem in den Schoß wie ein Lottogewinn. Und ein »Weisheitsquotient«, der mit ein paar Standardaufgaben zu ermitteln wäre wie der IQ, lässt auch auf sich warten.
Wie also ist dem geheimnisvollen Ideal auf die Schliche zu kommen? Vielleicht über die Einzelteile, aus denen sich das größere Ganze zusammensetzt. Immerhin gibt es ein intuitives Grundverständnis darüber, was weise Menschen ausmacht. Und das scheint in erstaunlich frühem Alter geprägt zu werden. Psychologiestudentinnen der Universität Wien haben die Jüngsten zu Wort kommen lassen und Kinder ab sechs Jahren befragt, welche Eigenschaften weise Menschen ihrer Meinung nach auszeichnen. Von den Schulanfängern hatten schon fast die Hälfte eine Antwort parat, ab Klasse 4 praktisch alle.
Originelle Definitionen sind da zu hören. Ein Weiser sei »ehrlich, nett und rätselhaft«, sagt ein neunjähriger Bub. »Er hält zu dir und hilft dir, wenn es dir nicht gut geht. Man kann ihm Geheimnisse anvertrauen«, findet ein gleichaltriges Mädchen. »Weise geben schlaue Tipps und erzählen uralte Geschichten«, meint ein Zehnjähriger.
Ratgebertalent, Verlässlichkeit, Erfahrung, eine besondere Aura – dieses frühe Bild ergänzen Erwachsene um weitere positive Facetten. Sie nennen am häufigsten die Eigenschaften ruhig, lebenserfahren, wissend, belesen, über den Dingen und Menschen stehend, gelassen, gütig, milde, bescheiden, ausgeglichen, freundlich, mit persönlicher Ausstrahlung, besonnen, selbstbewusst, einfühlsam, kann zuhören, gibt gute Ratschläge/Hilfen/Urteile. Man könnte das erweitern, bis der Universalkatalog guter Eigenschaften vollständig ist: aufmerksam, beharrlich, unabhängig, unerschrocken, uneigennützig, unbestechlich. Vertrauensvoll, aber nicht vertrauensselig. Loyal, aber nicht unkritisch.
Das Übermaß an aufgezählten Ideal-Qualitäten hat eine fatale Nebenwirkung. Es lähmt. Es setzt Maßstäbe, denen in ihrer Gesamtheit kaum ein Irdischer oder eine Irdische gewachsen ist. Wenn in Umfragen nach realen Weisen gefragt wird, landen auf den hohen Rängen Religionsstifter wie Buddha und Jesus. Dazu kommen bewunderte Prominente, die für Frieden und eine bessere Welt nicht nur Worte, sondern ihr ganzes Leben in die Waagschale geworfen haben: Gandhi, Martin Luther King, Mutter Teresa, Nelson Mandela, der Dalai Lama. Diese Heilsgestalten sind Projektionsflächen einer Sehnsucht, doch dummerweise ziemlich weit vom eigenen Leben entfernt. Zu weit, um Orientierung im Detail zu geben.
Und die ist gründlich verloren gegangen in einer Gesellschaft, in der keine Einigkeit mehr über Werte besteht. Richtig und falsch sind keine gültigen Kategorien mehr. Von den zehn biblischen Geboten werden gerade noch Nummer 5 (nicht töten) und Nummer 7 (nicht stehlen) allgemein anerkannt. Ein Begriff wie Sünde hat Bedeutung verloren; die ehemaligen Todsünden haben sich in die Mitte der Gesellschaft vorgearbeitet, von den Medien fasziniert begleitet. Zu Habgier und Hochmut applaudieren die Wirtschaftsmagazine; Genusssucht, Selbstsucht und Trägheit des Herzens sind Favoriten der Regenbogenpresse; für Geiz wirbt der Anzeigenteil. Und denjenigen, die sich teurere Sünden nicht leisten können, bleibt immerhin Zorn und Neid.
Der Bedarf an weisen Vorbildern, die noch Maßstäbe liefern, ist in dieser Situation groß. Gleichzeitig sind die Bedürftigen anspruchsvoll geworden und misstrauen vermeintlichen Autoritäten. Ehemalige Sinnstiftungs-Institutionen wie die Kirche haben Überzeugungskraft verloren. Kein Trost mehr von oben. Genauso wenig von den vorangegangenen Generationen, von Eltern, Großeltern, Lehrern – das Tempo der Neuerungen im Wissenszeitalter entwertet deren Lebenserfahrung rapide. Politiker, Ärzte, Manager? Sind als Eigeninteressenvertreter in Misskredit geraten. Wissenschaftler? Sind Experten für Spezialistentum, nicht für Lebenskunst.
Geachtete Mentoren im persönlichen Umfeld, die sich Zeit nehmen, um Entwicklungshilfe zu leisten zu den großen Fragen, den Zielen des eigenen Lebens, sind Mangelware. Kein Sokrates schreitet durch unsere Städte, um Jugendliche und Erwachsene in Streitgespräche über Wesentliches zu verwickeln. Für ein langjähriges Meister-Schüler-Verhältnis, wie es in östlichen Weisheitstraditionen praktiziert wird, gibt es im Westen kaum Parallelen. Lehrerinnen oder Professoren haben häufig weder die Muße noch die Gabe, einzelne Schüler oder Studierende über Jahre hinweg zu beraten und zu begleiten. Die Berufsgruppe, die am ehesten als Weg-Weiser und Ratgeber fungiert, ist die der Therapeuten. Und die kommen meist erst ins Spiel, wenn man selbst so gar keinen Ausweg mehr weiß.
Was wie eine Sackgasse aussieht, lässt ein Schlupfloch offen. Selbsterkundung und Selbstverantwortung sind gefragt. Montaignes Wort »Weiser werden wir nur durch uns selbst« kann auch als Ermutigung verstanden werden, nicht darauf zu warten, dass ein Guru auftaucht, dem man brav folgt. Es fordert auf, eine Geisteshaltung zu kultivieren, die Weisheit aufspürt – auch dort, wo man sie nicht erwartet.
Die Passwächter-Situation in der chinesischen Legende ist da ein Sonderfall. Die Voraussetzungen sind vollkommen – hier ein Lehrer, der sein Wissen freigebig teilt, dort ein Adressat, der die Muße hat zuzuhören und es dankend annimmt. In dieser Konstellation scheint weise Ernte fast langweilig zwingend vorprogrammiert. Zu den Paradoxa der Weisheit passt besser, dass es oft kleinere Lektionen sind, die große Wirkung entfalten: Inspirationen, Anstöße, Anregungen, die das Leben ein wenig in Richtung Weisheit verrücken. Sie speisen sich aus kurzen Zufallsbegegnungen. Aus überwundenen Enttäuschungen. Aus verrauchter Wut. Stammen von fiktiven Helden aus Büchern, Film und Fernsehen. Aus Songtexten oder Comics. Irgendein richtiges Wort zur rechten Zeit fällt auf fruchtbaren Boden und beschert ein Aha-Erlebnis, das im Leben fortwirkt, vielleicht nur für einen kurzen Moment, vielleicht dauerhaft.
Ein solches Erlebnis berührt nicht nur das Gehirn. Was Weisheit so besonders und geheimnisvoll macht, ist, dass sie die reine Vernunft hinter sich lässt. Weise werten das logische Denken nicht gering, aber sie vergessen nicht, dass die menschliche Natur nur an der Oberfläche mit einer Tünche Ratio überzogen ist. Es sind nur ein paar Jahrtausende, die das moderne Bewusstsein geprägt haben; darunter schlummern Jahrmillionen eines älteren naturgeschichtlichen Erbes. Einflüsse, die sich als starke Gefühle, als Intuition, als Vorlieben oder als Vorurteile bemerkbar machen. Variablen, mit denen zu rechnen ist.
Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Gefühlswelt in der Naturwissenschaft eine beachtliche Aufwertung erfahren. Psychologen sind nicht mehr allein mit dem Hinweis, wie eng Denken und Fühlen zusammengehören. Hirnforscher und Neurologen haben begonnen, Details des Zusammenspiels zu entschlüsseln. Ihre Erkenntnisse legen eine faszinierend neue Sicht der Dinge nah: Ohne Gefühle kein rationales Denken. Die sinnliche Begegnung mit der Umwelt erzeugt Emotionen, und die bilden die Grundlage, auf der sich der Geist überhaupt entfalten kann.
Diese Einsicht kann das Geheimnis der Weisheit ein wenig lüften und erklären, warum sie über alle Orte und Zeiten hinweg ihren Reiz behalten hat. Wir verehren sie, weil wir auch im 21. Jahrhundert der Vergötterung reiner Ratio instinktiv misstrauen. Den menschlichen Geist auf Vernunft und Logik zu reduzieren, beleidigt ihn. Denn lebendig sein, heißt nicht nur Denken, sondern Sinnlichkeit, Freude und Trauer, Verbundenheit mit der Natur. Biophilie nennen Evolutionsforscher diese intuitive Vertrautheit mit anderen lebendigen Wesen.
Weisheit zollt unseren biologischen Wurzeln, unseren Gefühlen und Ahnungen zu Recht Respekt. Die irrationalen und rätselhaften Aspekte im eigenen Leben und im menschlichen Miteinander zu verstehen und zu würdigen und auszubalancieren, gehört zu ihrem Kern. Nach der dualistischen Logik, die das Abendland seit Aristoteles verehrt hat, gilt entweder a oder nicht a und nichts dazwischen. Und wenn aus a heute b folgt, dann auch morgen und für immer. In der Lebenswirklichkeit stimmt das, was heute gilt, morgen vielleicht überhaupt nicht mehr. Zu viele unvorhersagbare Randbedingungen beeinflussen das System; mathematische Modelle mit strengen Ursache-Wirkungs-Beziehungen versagen.
Das Paradox von Laozi beschreibt die Welt poetischer und genauer als die abendländische Ja-Nein-Logik. Stark, schwach, hart, weich – jede Qualität birgt ihren Gegenpol in sich. Aus dem Spannungsverhältnis der Gegensätze ergibt sich der neue Zustand. Irgendwann besiegt das weiche Wasser den Stein; das Harte unterliegt. Laozi weiß es, schreibt es auf und zieht die Konsequenzen. Als er sieht, dass sich die Dinge in seiner Lebenszeit wohl nicht wieder zum Besseren wenden werden, wählt er das Exil.
Zu diesem Schritt gehören Mut und vor allem Selbsterkenntnis. »Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selbst kennt, ist weise«, heißt es im Daodejing. Auch in diesem Punkt trifft sich Laozis Werk mit den Weisheitslehren anderer Kulturkreise. »Gnōthi seautón« lautet die griechische Entsprechung. Sie stand auf dem Apollo-Tempel in Delphi, in dem die Priesterin Pythia am siebten Tag eines jeden Monats im Sommer ihre Orakel verkündete – erkenne dich selbst. Für die Griechen war Selbsterkenntnis ein Ringen um philosophische Fragen: Wo ist der eigene Platz im Kosmos? Was bedeutet Menschsein an sich? Wie tief kann der menschliche Verstand in die Geheimnisse des Kosmos eindringen? Inwieweit lässt sich der Ursprung des Seins ergründen?
Für persönliche Weisheit ist über diese philosophische Dimension hinaus die psychologische von Belang. Selbsterkenntnis heißt, sich den eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu stellen. Warum bin ich, wie ich bin? Welche Menschen, welche Umstände haben meine Persönlichkeit geprägt? Was mag ich an mir, was hasse ich? Welche Aspekte kann ich ändern, mit welchen muss ich mich abfinden?
Merkmale, die beim Blick in den Spiegel Freude oder Seufzer hervorrufen, sind jedem als unabänderliche genetische Faktoren in die Wiege gelegt: Augen- und Haarfarbe, die Größe, die Form der Nase, die Anfälligkeit für Krankheiten. Andere Prägungen haben ihren Ursprung in zufälligen Lebensumständen, die nachträglich nicht zu ändern sind. Es hat Auswirkungen, ob man in der Stadt oder auf dem Land aufwächst, als Einzelkind oder mit drei Geschwistern, im Direktoren- oder Hartz-IV-Haushalt, oft getadelt, gelobt oder ignoriert, überbehütet oder früh auf sich gestellt. Längst vergessene Erfahrungen haben Einfluss genommen auf Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen, Ängste. Nebensächlich erscheinende Dinge wie zum Beispiel die Länge des Schulwegs. Frühe Freundschaften. Streitigkeiten im Kindergarten. Dazu kommen mehr oder weniger gezielt getroffene Entscheidungen für Ausbildung, Hobbys, Partner, Beruf.
Wer ist dieses Ich, welche Spielräume stehen ihm offen? Woher rühren die Stärken, Schwächen, Hoffnungen, Kränkungen und Enttäuschungen? Welche Aspekte, die nicht zum eigenen Ideal passen, sind veränderbar? Welche Erwartungen an die eigenen Ansprüche sind realistisch? Sich kennenzulernen, sich wichtig zu nehmen und sich mit den eigenen Schwächen zu versöhnen, ist ein lebenslanger bereichernder Prozess. Wer sich selbst über- oder unterschätzt, wird es schwer haben, mit sich ins Reine zu kommen.
Der holländische Gestalttherapeut Bruno-Paul de Roeck drückt es drastisch aus: »Elefanten versuchen nicht, Giraffen oder Schwalben zu werden. Radieschen versuchen nicht Rote Bete zu werden. Aber wir versuchen zu sein, was wir nicht sind. Wir ersticken in den Idealen, die unerreichbar sind oder die nur auf unsere eigenen Kosten erreicht werden können.« Das Ergebnis der Selbstzweifel sieht er in seiner therapeutischen Praxis: »Wir gehen auf den Zehenspitzen, um nur ja nirgendwo anzustoßen, und werden schließlich ärgerlich auf unsere Zehen, wenn sie uns weh tun.«[2]
Ehrlich mit sich selbst zu sein und die eigenen Grenzen zu akzeptieren, ist keine Garantie dafür, Weisheit zu entwickeln, aber ein Schritt auf dem Weg zu ihr. Wer das Abenteuer auf sich nimmt, wird sich manchmal wie trübes Wasser fühlen. Und dann wieder wie ein erhabener Pilger in einer langen Reihe von Vorgängern auf dem Pfad zum Wesentlichen.
Die Spurensuche in Sachen Weisheit führt weit in die Vergangenheit. Bis heute begangene Wege nehmen ihren Anfang in Ägypten, Griechenland, China, Indien, Palästina, laufen parallel, streben auseinander, treffen, kreuzen, trennen sich. Überdecken schwer zugängliche zugewachsene ältere Pfade. Weisheitslehren sind so facettenreich wie die Menschheitskulturen, in denen sie entstanden sind. Jede Weltregion und jede Epoche setzt eigene Schwerpunkte, ergänzt und variiert die Überlieferungen durch zeitgemäße Schöpfungen. »Die Wahrheit ist etwas Schönes und Schreckliches und sollte daher mit großer Umsicht behandelt werden« – so einen Satz könnte Aristoteles oder Albert Einstein gesagt haben, doch er stammt vom Zauberlehrer Albus Dumbledore aus Harry Potter.
Denn selbst Fantasy und Science-Fiction verdanken ihre Magie weisen, oft skurrilen Ratgeberfiguren. Die Darstellungsformen mögen sich unterscheiden; inhaltlich berühren all die poetischen und allegorischen Umschreibungen denselben Kern. In den Upanishaden, die aus dem siebten bis zweiten vorchristlichen Jahrhundert stammen, heißt es: »Das Wahre ist das eine. Die Weisen benennen es verschieden.«
Diejenigen, die danach streben, siedeln ihr Ideal Weisheit gern in einer Sphäre zwischen Himmel und Erde an. Die Mythen der Völker der Welt handeln dabei von Göttern, aber auch von geflügelten Tiergestalten, die Weisheit bewahren und weitertragen – in Ägypten ist es der Ibis, in Athen die Eule, bei den Azteken die gefiederte Schlange Quetzalcoatl, bei Völkern der Arktis der Rabe. Ihnen scheint höheres Wissen nah und zugänglich; mit ihrer Hilfe, durch ihre Anrufung, bekleidet mit ihren Masken kann vielleicht auch der Mensch zu Einsichten gelangen, die seinen eigenen Horizont übersteigen. Einblicke in die Zwischenwelt zu gewinnen, bleibt dabei Auserwählten vorbehalten, Schamanen oder Orakelpriesterinnen. In Trance geben sie Auskunft über die zeitlosen Fragen nach dem Anfang vor dem Anfang, dem Jenseits und den Geschehnissen in der Zukunft.
Lange wurden die mythischen Erzählungen von Generation zu Generation mündlich tradiert. Dann gelang es, Worte dauerhaft zu fixieren. Die Erfindung der Schrift hat doppelte Bedeutung für die Weisheitsgeschichte(n). Schrift hat es möglich gemacht, die Vielfalt von Überlieferungen über Jahrtausende zu bewahren. Und sie hat zugleich jene Kulturen an den Rand gedrängt, die ihre Lebensweisheiten weiterhin nur mündlich weitergaben. Naturkatastrophen, Epidemien, verlorene Schlachten und brutale Kolonialisierung – jede solcher Krisen gefährdete die betroffenen Naturvölker und ihre Weisheitsschätze.
Die Fähigkeit, gesprochene Sprache festzuhalten, veränderte die Situation. Schriftlich festgehaltene Überlieferungen koppeln sich von ihren Erfindern ab und führen ein Eigenleben. Selbst dann, wenn die Kenntnis der Schrift ausstirbt, wie es im Fall der Hieroglyphen fast 1500 Jahre lang der Fall war, besteht eine Chance, den Gehalt wieder zu erwecken. Worte und Gedanken in Zeichen übersetzen zu können, verlieh so den Ägyptern, den Griechen, den Chinesen, den Indern und den Juden in Palästina einen enormen Vorteil gegenüber schriftlosen Kulturen, wie sie bis zur Kolonialepoche in großen Teilen Zentralafrikas und auf dem amerikanischen und australischen Kontinent vorherrschten.
Von der Suche nach deren fast vergessenen Weisheitslehren und von den Chancen, sie als Beiträge zur globalen Weisheit wiederzuentdecken, wird in Kapitel 8 die Rede sein. Zunächst soll es um die vertrauteren Quellen gehen. Um Vorstellungen, die vor Jahrtausenden auf Papyrus gemalt, auf Palmblätter geschrieben, auf Schrifttafeln aus Ton geritzt wurden und Weltanschauungen bis heute prägen.
Man braucht Phantasie, um sich in jene Epoche im 25. Jahrhundert vor Christus hineinzuversetzen, in der die erste schriftlich überlieferte Weisheitslehre entstand. Es ist das »Alte Reich« in Ägypten, eine Zivilisation, die bis heute mustergültig erscheint. Zwar ist das Land wild. Die Bewohner im Niltal müssen Krokodile, Rhinozerosse und Löwen fürchten, Überschwemmungen bringen Jahr für Jahr Zerstörung mit sich. Doch sie sorgen auch für extreme Fruchtbarkeit und Wohlstand. Die Bauern bauen Getreide, Hülsenfrüchte, Melonen und Wein an, sie halten Rinder, Schafe, Schweine, Ziegen und Enten.
Es ist eine der Blütezeiten Ägyptens. Der riesige Staat ist geeint, wohl geordnet und reich. Händler bringen Gold, Kupfer und Edelsteine aus Zentralafrika ins Land. Kunsthandwerker meißeln Schmuck aus afghanischem Lapislazuli und äthiopischem Obsidian. In Gizeh stehen bereits die Pyramiden. Sie sind Zeugnisse für einen hoch entwickelten Totenkult, für wissenschaftliche Präzision und grandioses Organisationstalent. Zustandekommen konnten sie, weil die Ägypter von einer einzigartigen Beziehung zwischen Göttern und Menschen überzeugt sind. Sie ist von Harmonie geprägt. Die irdischen Belange lenkt der Pharao, die kosmischen Dinge der Sonnengott Re zusammen mit seiner Tochter, der Weisheitsgöttin Ma’at. Ihr Kennzeichen: eine Straußenfeder im Kopfschmuck. Auf Bilddarstellungen geht sie Re oft voraus, denn sie verkörpert das »Gelingen« des Weltprozesses: Sie sorgt dafür, dass ihr Vater den Kosmos in Gang hält und jeden Tag die Sonne aufgehen lässt. Und sie hat Bedeutung für die Menschen. Im Totenreich wird die Feder der Ma’at gegen die Herzen jedes Verstorbenen gewogen. Wessen Herz leicht und ohne Sünde ist, der kann unsterblich werden.
Harmonie und geordnete Verhältnisse stellen sich nach der Vorstellung der Ägypter nicht von allein ein, sie müssen immer wieder aufs Neue errungen werden, erklärt der Tübinger Ägyptologe Jan Assmann in seinem Buch ›Ma’at‹[3]. Das erfordert Anstrengung aufseiten der Götter wie auf der der Menschen. Ma’at ist nicht nur der Name der Weisheitsgöttin, sondern zugleich Symbol für das zentrale Prinzip des guten Zusammenlebens. »Die Ma’at tun« bedeutet, im Alltag nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Weisheit, Recht, Ordnung, Echtheit, Aufrichtigkeit zu streben. Dazu ist es wichtig, dass weise Vorbilder die Wertvorstellungen weitergeben und die Untertanen ihren Ratschlägen folgen. Sie tun es, weil die Ma’at die Schwachen vor den Starken schützt und Solidarität und Verlässlichkeit garantiert.
Dass wir all das wissen, verdanken wir unter anderem einem Mann namens Ptahhotep, der die Weisheitslehre der Ägypter zum ersten Mal aufgeschrieben hat. Er ist Wesir unter dem Pharao Asosi, der zwischen 2405 und 2367 vor Christus regiert. Der Wesir ist als höchster Staatsbeamter für die Rechtsordnung zuständig, zugleich ist er Priester und trägt das Siegel der Göttin Ma’at. Als Schreiber des Pharao genießt er höchstes Ansehen.
Das Lesen und Schreiben beherrschen zur damaligen Zeit allenfalls ein Prozent der Bevölkerung. Die Schreiber, ausschließlich Männer, lernen die Kunst der Hieroglyphen in einer speziellen Ausbildungsstätte. Jedes Amtsdokument bleibt ein Einzelstück, mit der Feder auf Papyrus geschrieben, in Lehm gekratzt oder in Stein gemeißelt. Normalerweise werden mit den Hieroglyphen Warenbestände festgehalten. Doch Ptahhotep begreift, dass sich die Symbolbuchstaben eignen, der Nachwelt auch Gedanken zu überliefern. Und so begibt er sich, als er alt wird und sein Lebensende naht, zum Pharao und schlägt vor, seinen bis dahin gewonnenen Erfahrungsschatz zu notieren, um ihn an Nachfolger weiterzugeben. Pharao Asosi stimmt zu, schließlich gebe es »keinen, der weise geboren wurde«.
So entsteht in Ägypten jene erste Weisheitslehre, 2000 Jahre, ehe anderswo ein Plato und ein Aristoteles, ein Konfuzius, ein Laozi und ein Buddha von sich reden machen werden. Ptahhotep hält 37 Maximen fest. Sie handeln von Ehrlichkeit, Geduld, Nachsicht, Höflichkeit. Gleich die erste Maxime warnt vor Arroganz: »Sei nicht hochmütig wegen deines Wissens, sondern berate dich mit dem Unwissenden wie mit dem Wissenden.« Ein unkonventioneller und unbequemer Gedanke: Wer Ohren und Augen öffnet, kann von allen lernen, selbst von den (scheinbar) Törichten.
Die Ma’at-Prinzipien aus dem alten Ägypten stellen Harmonie und Rechtsempfinden in den Vordergrund. Danach ist Weisheit zugleich Wahrheit, Recht und Ordnung. Diese Sichtweise fasziniert. Auch wenn wir heute wissen, dass keine Göttin nötig ist, um die Sonne aufgehen zu lassen, erscheint sie sehr modern. Mit der Ma’at-Lehre wird, wie Assmann schreibt, die Idee eines Menschenrechts auf Gerechtigkeit geboren. Sie verlangt nicht blinden Gehorsam gegenüber Göttern oder Herrschern. Stattdessen ist das Ideal ein Staatswesen, das zwar hierarchisch ist, aber von Weisheit in Balance gehalten wird. Denn selbst der Mann an der Spitze des Staates, der Pharao, fällt seine Urteile nicht einsam und autokratisch. Er verlässt sich auf Ratgeber wie Ptahhotep und vertraut ihrer Erfahrung und ihrer Weisheit: »Berate dich mit dem Unwissenden wie mit dem Wissenden …«
Guter Rat verhindert nicht, dass Reiche zerfallen. In Ägypten wechseln Blütezeiten mit Bürgerkriegen und Epochen der Besetzung; das kulturelle Zentrum der Alten Welt wandert nach Kleinasien und Griechenland. Hier sprechen die Mythen der Vorzeit selten von Harmonie, stattdessen oft von brutalem Kampfgetümmel. Jähzornige und launische Götter bevölkern den Olymp, das Reich der Unsterblichen, das geboren ist aus Chaos, dem dunklen ungeordneten Abgrund. Auf der Tagesordnung stehen Kindesmord, Ehebruch, Tumult, blutige Fehden über Generationen hinweg. Selbst die Göttinnen, die erhabenste Qualitäten darstellen, zeigen ohne Scheu ihre dunklen Seiten. Zeus’ Tochter Athene ist für Weisheit, Wissenschaft und Künste zuständig – und nebenbei auch für Krieg. Aphrodite, die Göttin der Schönheit und Liebe ist zugleich Meisterin der Listen und Lügen.[4]