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Na, o du fröhliche aber auch: Oma Rosa ist auf dem Weihnachtsmarkt gestürzt, und obwohl sie ein Engelskostüm trug, hat sie nun einen Oberschenkelhalsbruch. Immerhin keinen Halsbruch, finden Greta und Finn, und versprechen, Mama den Schlüssel für die "Bücherbutze" zu bringen, Omas Buchhandlung. Dass Mama gerade auf einer Fortbildung ist, verschweigen sie lieber. Omas Mitarbeiter, genannt "Monokel", wird den Laden schon schmeißen! Doch bald stellt sich heraus, dass Monokel nicht nur die Bestellungen der Kunden verschusselt, sondern ein echtes Problem hat: Er hat seine Wohnung verloren und ist erfolglos auf "Herbergssuche". Greta und Finn müssen aktiv werden! Ob es mithilfe eines wunderbaren Songs und vereinter Hilfsbereitschaft der "Bücherbutzen"-Stammkunden doch noch ein Weihnachtsfest für alle geben kann?
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Seitenzahl: 160
Weitere Geschichten von Sarah Bosseim Coppenrath Verlag:
»Ponyhof Mühlental«
Band 1: eISBN 978-3-649-63367-9
Band 2: eISBN 978-3-649-63368-6
»Flos Tierpension« Sammelband
eISBN 978-3-649-63249-8
eISBN 978-3-649-63370-9
© 2017 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
Text: Sarah Bosse
Coverillustration: Cornelia Haas
Umschlaggestaltung: Britta Paus Innenillustrationen: Marie Braner
Satz: FSM Premedia GmbH & Co. KG, Münster
www.coppenrath.de
Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-62551-3.
Sarah Bosse
Pfeffergasse
Mit Illustrationen von Marie Braner
So ’ne Oma hat nicht jeder
Die Teufelsmaschine
Das Kawumms
Grabbeigaben für eine Maus
Fang den Stern!
Das Imperium schlägt zurück!
Für Oma nur die Besten!
Schaukelnde Hamster
Das Geheimnis der roten Kladde
Willkommen daheim!
Einer von Oma Rosas Lieblingssprüchen lautete: Wenn du mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehst, kannst du maximal auf die Nase fallen! Dass ausgerechnet ihr dieses kuriose Missgeschick passieren musste, wirkte daher fast wie eine Comedysendung aus dem Fernsehen. Greta und Finn bekamen einen Riesenschreck. Und nach dem Schreck bekamen sie dann auch noch ein Riesenproblem.
Aber der Reihe nach …
Das ganze Unglück nahm seinen Lauf auf dem Adventsmarkt von Püsselbeck, wo Oma Rosa am Waffelstand des Heimatvereins Dienst schob. Und damit so richtig weihnachtliche Stimmung aufkam, hatte sie sich ein Engelskostüm aus dem Fundus der Freilichtbühne geliehen, mit echten Flügeln aus Kunststoff auf dem Rücken. Mit ihrem schlohweißen Haar und ihrem verschmitzten Lächeln hatte sie tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Weihnachtsengel.
Die Flügel waren leider ein bisschen unpraktisch. Nicht nur einmal geriet Oma Rosa damit in den Waffelteig. Und einmal sogar in eins der heißen Waffeleisen, sodass die Flügelspitze ankokelte und die Leute einen großen Bogen um den Waffelstand machten, weil sie dachten, der sonderbare Gestank käme von dem Gebäck. Dabei weiß doch eigentlich jedes Kind, dass angebrannte Waffeln nicht nach verschmortem Plastik riechen!
Aber Greta und Finn, die ihre Oma gerade am Stand besuchten, um eine Waffel zu schnorren, wussten Rat. Sie retteten den guten Ruf der Waffelbäckerinnen vom Heimatverein, indem sie sich jeder einen Teller mit klein geschnittenen Waffeln schnappten und diese den Leuten zum Probieren unter die Nase hielten.
»Greifen Sie zu!«, rief Finn und balancierte den Pappteller wie ein vornehmer Kellner auf den Spitzen seiner Finger, während die Menschen dicht an ihm vorbeiströmten. »Kosten Sie den einzigartigen Geschmack dieser herrlichen Waffeln nach Püsselbecker Geheimrezept!«
Man kennt das ja. Wenn es etwas umsonst gibt, dann sind die Leute sofort zur Stelle, deshalb ging der Plan der Kinder locker flockig auf.
Der Adventsmarkt fand wie in jedem Jahr am ersten Wochenende im Dezember statt. Holzbude an Holzbude reihte sich von der katholischen Kirche bis zur evangelischen Kirche, von der Pfeffergasse über den Salzweg bis zum Buttermarkt. An mehreren Straßenecken gab es kleine Bühnen, auf denen der Kinderchor hemmungslos Weihnachtslieder schmetterte oder kleine Jungen und Mädchen aufgeregt und ziemlich schräg Stücke auf der Blockflöte vortrugen.
Greta liebte den Duft von gebrannten Mandeln und heißen Esskastanien, der durch die Straßen zog. An den Fressbuden war immer am meisten los und auch viele Geschäftsleute hatten ihre Läden geöffnet.
Nicht jedoch Oma Rosa, die ihren Bücherladen am Ende der Pfeffergasse am Adventssonntag lieber geschlossen ließ.
»Das wäre ja noch schöner, wenn meine wertvollen Bücher am Abend mit Fettflecken und Glühweinspritzern verziert wären!«, hatte sie gesagt und den Schlüssel zur Bücherbutze umgedreht. Da verkaufte sie lieber Waffeln für den Heimatverein.
Finn schob sich das letzte Waffelherz selbst in den Mund und hob mampfend den Blick zur Kirchturmuhr, als plötzlich schrill Fanfaren durch die Straße hallten und alle anderen Geräusche niedermachten. Auch das war Tradition in Püsselbeck: Bürgermeister Riedel, der kurz zuvor den Adventsmarkt von der Rathaustreppe aus für eröffnet erklärt hatte, zog mit einem Pulk von Ratsleuten über den Markt. Er begrüßte die Aussteller und Vereine und ließ sich gern von ihnen zu Glühwein, Spekulatius und Bratwurst einladen. Begleitet wurde er dabei vom Fanfarenzug »Püsselbecker Pusteleut«.
Finn, der selbst Musik machte und ein sehr feines Gehör hatte, hielt sich entsetzt die Ohren zu. »Ich krieg ’nen Hörsturz!«, brüllte er gegen die blechernen Klänge an.
Herr Riedel und Oma Rosa kannten sich gut, und als er sie erblickte, winkte der Bürgermeister wild. Auf seinen Backen blühten zwei rote Flecken.
»Puh, ich glaub, der hat schon ein paar Glühwein intus«, flüsterte Greta Finn zu.
»Liebe Rosemarie!«, grölte der Bürgermeister über die dampfenden Waffeleisen hinweg.
Der Oma-Engel wedelte mit den Händen. »Hallo, Heribert, da seid ihr ja!«
Bürgermeister Riedel machte eine ausholende Ruderbewegung. »Komm, Rosemarie, begleite uns doch ein Stückchen.«
Oma Rosa, die für jeden Spaß zu haben war, sah die anderen Waffelbäckerinnen fragend an. Die lachten und nickten, was so viel heißen sollte wie: »Schweb nur davon, du Engel!«
Dann setzte der Bürgermeistertross seinen Weg mit dem Oma-Engel im Schlepptau fort, die Fanfarenklänge entfernten sich und Finn wollte schon erleichtert aufatmen. Doch Greta zog ihn am Ärmel.
»Los, wir gehen mit!«, brüllte sie.
Finn hörte ihre Stimme allerdings nur wie durch Watte. Kurze Zeit später legten die »Pusteleut« endlich eine Pause ein und alle waren erleichtert. Das Grüppchen hatte neben dem alten Pfarrhaus haltgemacht, wo die Kolpingsfamilie Grünkohl verkaufte und außerdem ein abenteuerliches Spektakel veranstaltete: Bierkistenklettern! In einer Ecke stand ein kleiner gelber Lastwagen mit einem ausgefahrenen Hebearm, an dem eine Seilwinde befestigt war. Das dadurch verlaufende Seil wurde am einen Ende von einem stolz strahlenden Vater gehalten, am anderen Ende steckte in einem Sicherungsgurt sein Sohnemann und kletterte flink wie ein Kapuzineräffchen den Kistenstapel hinauf, den er gleichzeitig selbst immer höher baute.
»Wow!«, staunte Greta, als dem Knirps mit einer langen Stange eine weitere feuerrote Kiste hinaufgereicht wurde.
Sie kannte den Jungen. Er war zwei Jahre jünger als sie, hieß Valentin und war der Star im Turnverein. Kein Wunder, dass er die Aufgabe hier spielend bewältigte. Dennoch geriet der Turm plötzlich heftig ins Wanken und unter dem Raunen des Publikums polterten die Bierkisten schließlich herunter wie ein Haufen Bauklötze. Valentin indes baumelte lachend in seinem Sicherungsgurt und hob beide Daumen in die Höhe.
»Bravo, Valentin!«, rief der Vorsitzende vom Kolpingverein ins Mikrofon. »Du hast es als Erster geschafft, mehr als fünfzehn Kisten zu stapeln und zu erklimmen. Damit hast du eine Fahrt zum Erlebnisbad während unserer nächsten Ferienfreizeit gewonnen!«
Valentin machte alberne Flatterbewegungen, als sein Vater ihn, begleitet vom Applaus des Publikums, langsam hinunterließ. Wie ein Adventsengel sah er nicht gerade aus!
Finn boxte seiner Schwester gegen die Schulter. »Und jetzt du! Das schaffst du locker. Ich sichere dich.«
Finn hob den Arm und zeigte Greta seine Muckis. Aber Greta zeigte ihm im Gegenzug einen Vogel.
Hinter sich hörten die Geschwister die Leute lachen und klatschen. Was war da los?
Da zupfte auch schon Valentin Greta an der Jacke. »Schaut mal, eure Oma!«
Greta und Finn drehten sich um.
»Ach, du lieber Weihnachtstroll!« Finn klappte die Kinnlade runter.
Wie hypnotisiert beobachteten Greta und er nun, wie ihre Oma sich kichernd den Sicherheitsgurt anlegen ließ und Bürgermeister Riedel das andere Ende des Seils packte. Um ihn herum standen die Ratsleute mit Plastikschälchen voll Grünkohl in den Händen.
»Ich sichere dich, Rosemarie, keine Sorge!«, rief der Bürgermeister mit tiefer Bassstimme. Und dann gab er ein Lachen zum Besten, das mehr an ein Grunzen erinnerte.
Der Oma-Engel hatte ganz offensichtlich Spaß. Nur Greta biss sich auf die Unterlippe. Wenn das mal gut ging!
»Sie sollte wenigstens dieses blöde Kostüm ausziehen!«, jammerte sie leise und beobachtete, wie die Helfer einige Mühe hatten, den Sicherheitsgurt zwischen den Engelsflügeln zu platzieren. Von den Spitzen bröselte getrockneter Waffelteig.
Oma Rosa winkte Greta und Finn zu. »Juhu, ihr zwei, jetzt zeigt euch eure Oma mal, wie das geht mit dem Bierkistenklettern!« Und schwupp, hatte sie schon die ersten drei Kisten gestapelt und die Fußspitzen in die Haltegriffe der obersten Kiste gesteckt.
Durch die dicke Steppjacke hindurch spürte Finn, wie sich die Finger seiner Schwester in seinen Arm gruben. Er versuchte, Greta zu beruhigen: »Keine Sorge, du kennst doch Oma. Die ist fit wie ein Rennschwein und beweglich wie eine Schlange.«
Doch auch er hätte sich in diesem Moment am liebsten seine Pudelmütze tiefer über die straßenköterblonden Ponyfransen gezogen. Also, ganz tief, bis über die Augen. In der Tat bewältigte Oma Rosa mehrmals in der Woche eine Joggingrunde von ein paar Kilometern und machte jeden Morgen Yoga zum Wachwerden. Sonnengruß nannte sie das. Aber die Jüngste war sie trotzdem nicht mehr! Unter den Jubelrufen der Ratsleute packte Oma Rosa eine rote Kiste nach der anderen. Fünf, sechs, sieben …
»Unser Weihnachtsengel, alle Achtung!« Finn pfiff anerkennend. »So ’ne Oma hat nicht jeder.«
Doch kaum hatte er es ausgesprochen, blieb Oma Rosa plötzlich mit dem Fuß in dem Engelsgewand hängen und machte eine hektische Bewegung, um ihn wieder zu befreien. Das war ein Fehler. Es machte: Plonk! Der rechte Flügel stieß gegen die Bierkisten, Oma verlor das Gleichgewicht, der rote Plastikturm brach zusammen. Und der Oma-Engel donnerte mit ihm in die Tiefe.
Finn hoffte, dass das knirschende Geräusch nur von den Flügeln stammte, die bei dem Sturz von Oma Rosas Rücken gefetzt wurden. »Warum zum Teufel …?« Er schaute entsetzt zum Bürgermeister, der vor Schreck nicht schnell genug reagiert hatte und gegen einen der Ratsmänner gekracht war. Der sah jetzt aus wie ein Soldat beim Manöver, denn in seinem Gesicht und auf seinem Mantel klebte überall Grünkohl.
»Oma! Oma!« Greta kickte und boxte die Bierkisten beiseite und kniete sich neben ihre Großmutter.
Der Oma-Engel hatte ganz offensichtlich gar keinen Spaß mehr. Der Oma-Engel hatte schlimme Schmerzen. Wenn man mit beiden Füßen fest auf dem Boden steht, kann man maximal auf die Nase fallen. Von einem Stapel Bierkisten fällt man deutlich tiefer. Und landet, wenn man Pech hat, im Krankenhaus.
Oma Rosa drückte Gretas Hand. »Greta, Liebes«, sagte sie mit verzerrtem Gesicht, als sie in den Rettungswagen geschoben wurde. »So ein Unglück! Eigentlich sollten Engel doch fliegen können.«
Greta durfte ausnahmsweise während der Fahrt zum Krankenhaus hinten bei Oma Rosa bleiben, während Finn neben dem Fahrer saß. Und das fand er ziemlich cool. Auch wenn ihm seine Oma echt leidtat. Der spritzte die Notärztin gerade ein starkes Schmerzmittel.
»Eins steht schon mal fest«, stöhnte Oma Rosa und verzog den Mund, als der Rettungswagen über eine Bordsteinkante rumpelte. »Auf unsern Bürgermeister verlasse ich mich nie wieder!«
Greta drückte Omas Hand. »Und noch was steht fest: Der Adventsmarkt ist für dich gelaufen.«
Finn und Greta mussten auf dem Flur warten. »Boah, riecht das ätzend hier«, maulte Finn.
Er hielt Oma Rosas Handtasche auf dem Schoß, die er noch rasch vom Waffelstand geholt hatte. Er klappte die Henkel vor und zurück und vor und zurück, bis Greta ihm schließlich auf den Handrücken schlug.
Sie seufzte. »Ja, es riecht wie in der Schule, wenn die Böden frisch gebohnert worden sind«, fand sie. »Vermischt mit Grillanzünder.«
»Und Pipi.« Finn kicherte. Doch dann wurde er ernst. »So ein Mist mit Oma. Was machen wir denn jetzt? Sollen wir nicht doch lieber Mama auf dem Handy anrufen?«
»Auf keinen Fall!« Greta schüttelte entschieden den Kopf. »Die bringt das fertig und bricht ihre Fortbildung sofort ab. Und sie hat sich so darüber gefreut, dass sie auf den letzten Drücker doch noch einen Platz gekriegt hat! Lass uns erst mal abwarten, was der Doc sagt.«
Finn nickte und fing wieder an, die Taschenhenkel vor und zurück zu klappen.
Greta knuffte ihn. »Oma sagen wir aber erst mal nicht, dass Mama nicht da ist, ja?«
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit – die Waffeln waren längst verdaut und die Mägen begannen zu knurren –, als endlich eine kleine pausbäckige Schwester auf sie zukam. »Seid ihr Finn und Greta? Na, dann kommt mal mit. Ihr könnt jetzt zu eurer Großmutter.« Auf dem Schildchen auf ihrer Brust stand Schwester Cordula.
Greta bekam einen Schrecken, als sie Oma Rosa so versunken in den Kissen liegen sah. Sie wirkte so winzig und zerbrechlich! Und das war sie ja auch: zerbrechlich. Das hatten sie leider live miterlebt.
Vor dem Bett stand ein groß gewachsener, dunkelhaariger Mann, der sich als Doktor Lundkvist vorstellte. »Unter der Telefonnummer, die eure Großmutter uns gegeben hat, haben wir niemanden erreicht. Also, eure Eltern …«
Oma Rosa wedelte mit der Hand, die plötzlich auch so zierlich aussah wie ein dünnes Ästchen, und fiel dem Arzt ins Wort: »Sie können vor meinen Enkeln ganz offen reden.«
Doktor Lundkvist legte die Fingerspitzen aufeinander und sah von Greta zu Finn. »Gut, nun, wir werden eure Großmutter morgen früh operieren und dann wird sie eine Weile hierbleiben müssen.«
»Aber was hat sie denn?«, fragte Greta ungeduldig. Da fehlte doch die wichtigste Information!
Der Arzt sah sie verwirrt an. »Äh, ja, habe ich das nicht gesagt? Sie hat einen Oberschenkelhalsbruch. Und jede Menge Prellungen.«
Finn machte ein erleichtertes Gesicht. »Mensch, Oma, da hattest du ja Glück im Unglück! Ich meine, dass du dir nicht den richtigen Hals gebrochen hast, sondern nur den vom Oberschenkel.«
Finn konnte alberner gackern als ein Mädchen, dachte Greta. Doktor Lundkvist fand diese Bemerkung allerdings nicht witzig. Ganz im Gegensatz zu Oma Rosa, die trotz ihrer Schmerzen leise mitkicherte.
Der Arzt verabschiedete sich hastig mit der Ankündigung, dass die Operation für morgen früh um neun Uhr geplant sei.
Oma Rosas größte Sorge war in diesem Moment jedoch, dass die Freilichtbühne das Engelskostüm zurückhaben musste. »Wie dumm, dass ich jetzt den Waffelteig nicht abmachen und die angeschmorte Stelle nicht flicken kann.«
Greta verschwieg ihr lieber, dass die Flügel vollkommen ruiniert waren. »Oma, nun lass doch das Kostüm. Jetzt musst du erst mal geflickt werden!«
Oma Rosa nickte ergeben. »Finn, nimm bitte mal das Schlüsselbund aus meiner Tasche, ja?« Sogar ihre Stimme klang nun dünn. Dünne Oma, dünne Oma-Hand, dünne Oma-Stimme – und alles wegen Bürgermeister Riedel! Finn hielt die Schlüssel in die Höhe. »Die müsst ihr eurer Mutter geben«, sagte Oma Rosa. »Sie wird sich jetzt leider um die Bücherbutze kümmern müssen. Zum Glück ist ja auch noch Herr Weber da. Schaut mal, der Schlüssel mit dem gelben Gummi-Nupsi ist für die Vordertür und der mit dem grünen Gummi-Nupsi ist für die Tür zum Hof.«
»Aber Mama ist doch gar nicht …«, setzte Finn zu einer Antwort an, als Greta ihm schon geistesgegenwärtig das Schlüsselbund vor der Nase weggeschnappt und ihm etwas fester als gewollt gegen das Schienbein getreten hatte.
»Machen wir!«, versicherte sie schnell.
Müde ließ Oma Rosa den Kopf in die Kissen sinken und seufzte. »Eigentlich wollte ich morgen endlich das Schaufenster weihnachtlich dekorieren, das hatte ich noch nicht geschafft. Das bleibt jetzt leider auch an eurer Mutter hängen.«
»Geht klar, Oma, mach dir bloß keine Sorgen. Wir haben alles im Griff«, wiederholte Greta. Und weil sie ihre Oma schon immer sehr lieb hatte, drückte sie ihr einen dicken Kuss auf die Stirn, die trotz der Krankenhausgerüche noch leicht nach Waffeln duftete.
Als die Geschwister in den kühlen Abend hinaustraten, stieß Greta erschöpft die Luft aus. »Puh, ich glaube, wir haben ein Problem!«
»Nur Mut, kleine Schwester, wir werden den Hamster schon schaukeln«, sagte Finn und zog sein Smartphone aus der Jackentasche. »Fünf Anrufe in Abwesenheit.«
»Papa?«, fragte Greta.
Finn nickte und schickte ihrem Vater eine Nachricht: Sind gleich zu Hause!
Die Antwort kam mit einem leisen »Pling«: Prima! Zu Abend gibt’s was mit Pilzen.
Wenig später schloss Greta die Wohnungstür auf. Die kleine rote Lampe am Telefon blinkte. Papa hatte also den Anrufbeantworter noch nicht abgehört und vermutlich bisher gar nicht mitbekommen, dass jemand vom Krankenhaus ihn hatte sprechen wollen.
»Uääh!« Finn hielt sich demonstrativ die Nase zu. Seltsame Dämpfe drangen aus der Küche. So wie das stank, hätte er sich nicht gewundert, wenn ihm grüne Rauchwolken entgegengekommen wären.
»Irgendwas mit Pilzen …«, frotzelte Greta.
»Da seid ihr ja!«, rief der Vater, den Kochlöffel schwenkend, wobei ein fettiges Stück Champignon durch die Küche flog. »Könnt euch gleich an den Tisch setzen, das Essen ist fertig.«
Trotz seiner gespielten Fröhlichkeit bemerkte Greta doch, dass der Vater müde aussah. Er arbeitete in der Verwaltung des Hotels »Up den Siegenpatt« und die Wochenenddienste waren besonders anstrengend.
»Papa, du hättest dich doch gar nicht um das Essen kümmern müssen«, sagte sie deshalb und stellte von Nasen- auf Mundatmung um, als die dampfende Pfanne an ihr vorbei Richtung Tisch schwebte. Als sie die Käseschlieren darin entdeckte, wurde ihr klar, was da so merkwürdig roch.
»Wo seid ihr denn so lange gewesen?« Der Vater schaufelte ihnen ordentlich von dem Irgendwas-mit-Pilzen auf und ignorierte Finns Hände, die dieser schützend über seinen Teller hielt. »Ich dachte, ihr wolltet nur mal zu Oma auf den Adventsmarkt.«
Die Geschwister nickten sich zu. Jetzt war es an der Zeit, den Vater einzuweihen.
»Wir waren auch bei Oma. Erst auf dem Adventsmarkt, dann im Krankenhaus«, erklärte Finn sachlich. »Du musst dir aber keine Sorgen machen«, fügte er vorsichtshalber sofort hinzu.
Erschrocken ließ der Vater die Pfanne sinken. »Was ist passiert?«
Greta seufzte. »Oma hat sich den Hals gebrochen, weil der Bürgermeister das Seil nicht richtig festgehalten hat. Deshalb ist sie halt mit runtergefallen. Also, mit den Bierkisten.«
»Bierkisten? Hals gebrochen?« Der Vater blickte von einem zum anderen. »Wollt ihr mich vergackeiern?«
»Nur den Hals vom Oberschenkel«, beruhigte Finn ihn. »Sie war Bierkistenklettern bei der Kolpingsfamilie. Du kennst doch Oma Rosa!«
»Jedenfalls wird sie morgen operiert«, erklärte Greta und schob sich todesmutig eine Gabel voll Irgendwasmit-Pilzen in den Mund, denn sie hatte nun wirklich richtig Hunger.
Der Vater wischte sich den Mund ab und knüllte die Serviette auf den Tisch. »Ich muss sofort eure Mutter anrufen.«
»Stopp!« Greta und Finn hielten ihn jeder an einem Arm zurück.
»Mama würde doch sofort zurückkommen, obwohl sie sich auf den Firlefanz da so gefreut hat«, sagte Greta. »Aber sie kann Oma Rosa jetzt eh nicht helfen. Die ist gut im Krankenhaus aufgehoben.«
Der Vater machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Ja, und es ist wohl besser, wenn Oma Rosa auch nicht weiß, dass Mama gar nicht da ist«, ergänzte Finn.
»Aber die Bücherbutze!«, wandte der Vater ein.
Finn machte eine wegwerfende Handbewegung. »Herrn Weber gibt’s ja auch noch. Der hat bestimmt alles im Griff.«
Greta zwinkerte ihm zu. Finn zwinkerte zurück. Er fühlte nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Gelber Nupsi, grüner Nupsi.
Alles klar.
Finn war zwar genau elf Monate und dreiundzwanzig Tage älter als Greta, aber sie waren dennoch gemeinsam eingeschult worden und gingen daher in dieselbe Klasse. Andere hätten das vielleicht blöd gefunden, Greta und Finn fanden das cool. Sie verstanden sich meistens bestens.
Am Tag nach Oma Rosas Sturz hatten sie schon nach der vierten Stunde frei und machten sich gemeinsam auf den Weg zu Herrn Weber in die Bücherbutze in der Pfeffergasse.
»Monokel wartet bestimmt schon auf Mama«, sagte Finn mit nachdenklicher Miene.
Die Kinder hatten den älteren Herrn wegen seiner altmodischen, kreisrunden Brille Monokel getauft. Eigentlich war er längst im Rentenalter, aber Oma Rosa schätzte nicht nur sein umfangreiches Wissen über die Welt der Literatur, sondern auch seine »charmante Gegenwart«, wie sie es nannte. Und offensichtlich half er gern in der Bücherbutze aus, obwohl er kein ausgebildeter Buchhändler war. Oma Rosa konnte sich dann in Ruhe um die lästige Büroarbeit kümmern, die nun einmal auch in einem Buchladen anfiel.