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Die 3. Staffel der Ballettserie "Find me in Paris" - jetzt auch als Buch
Lena muss sich entscheiden: Soll sie endgültig ins Jahr 1905 zurückkehren? Oder ihren großen Traum, Primaballerina an der Pariser Oper zu werden, über alles andere stellen? Sie hofft, während des Ballett-Workshops in Südfrankreich klarer zu sehen. Doch dort trifft sie auf Nico. Der begnadete Tänzer, von dem sie sich magisch angezogen fühlt, bringt sie komplett durcheinander. Dass Nico ein Zeitreise-Agent ist und einen geheimnisvollen Plan verfolgt, ahnt sie nicht ... Mit 32 Fotos aus der Fernsehserie.
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Seitenzahl: 337
Sarah Bosse
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© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte dieser Auflage vorbehalten
Licensed by ZDF Enterprises GmbH, Mainz
© 2020 – Cottonwood Media – Opéra national de Paris – ZDF – ZDF Enterprises GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Geschrieben von Sarah Bosse
Basierend auf dem Drehbuch von Jill Girling und Lori Mather
Direction: Matt Bloom, Rob Burke, Ronan Burke
Umschlaggestaltung: Karsten Molesch (unter Verwendung eines Filmfotos)
© 2020 – »Find me in Paris« – Cottonwood Media – Opéra national de Paris – ZDF – ZDF Enterprises GmbH.
Photo David Le Borgne/Creation Rysk
Fotos Innenteil: © 2020 – Cottonwood – Opéra national de Paris –
ZDF – ZDFE. Nicolas Velter/David Le Borgne
hf · Herstellung: IH
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
Repro: Lorenz & Zeller, Inning a.A.
ISBN 978-3-641-26922-7V001
www.cbj-verlag.de
1
»Ich versteh einfach nicht, wie das passieren konnte!«, sagte Lena verzweifelt zu Ines. »Wieso sind wir im Jahr 1983 gelandet?«
Ines starrte Lena ratlos an. »Da muss was verdammt falsch gelaufen sein.«
»Oder … verdammt richtig!«, rief Jeff und zog damit die ungläubigen Blicke der anderen auf sich. Er zuckte mit den Schultern. »Kommt schon, Leute. Ihr wisst doch, dass ich so ’n Das-Glas-ist-halb-voll-Typ bin. Der Ort hier ist der Hammer. Schaut euch mal diese unglaublichen Frisuren an und die verrückten Farben. Oder diese waschechten Achtziger-Jahre-Break-Dancer da drüben!«
Isaac konnte es nicht fassen. »Bist du wahnsinnig, Mann? Hast du nicht gehört, was sie gesagt haben? Wir sind gerade durch die Zeit gereist!«
Jeff hob mahnend den Finger. »Genau! Und deshalb sollten wir das Beste aus dieser merkwürdigen Situation machen und mit den Jungs und Mädels da drüben ein bisschen Breakdance üben. Wer weiß, wie lange wir hier sind!«
Schon hatte Jeff Isaac gepackt und Ines und Lena einfach stehen gelassen. Doch als er sich unter die Tänzer mischte, um mit ihnen zu grooven, blieb Issac am Rand stehen. Ihm war das alles nun wirklich nicht geheuer.
Ines atmete aus. »Also, wie ist unser Plan?«, fragte sie Lena.
»Ich … ich kann nicht begreifen, was geschehen ist«, plapperte Lena hektisch. »Es ist, als hätte das Portal uns rausgekickt oder so. Da ist etwas richtig schiefgelaufen. Wo sind eigentlich Max und Henri?«
»Okay, jetzt hol mal tief Luft«, mahnte Ines.
Aber Lena ließ sich nicht beirren. »Ich hab uns das eingebrockt, also muss ich auch zusehen, wie wir da wieder rauskommen.«
Plötzlich tauchte Jeffs Kopf zwischen den beiden Mädchen auf.
»Wir hauen doch nicht schon wieder ab, oder? Dieser Ort ist so … erleuchtet!«
Jeff machte ein paar Moves, die er offenbar gerade erst gelernt hatte.
Doch Isaac unterbrach. »Sie hat recht, Mann. Wir müssen hier weg!«
Aber Jeff gab sich nicht so schnell geschlagen und packte ihn bei den Schultern. »Komm schon, Bruder, du solltest diese Chance beim Schopf packen! Komm mal raus aus deiner Komfortzone!«
Doch Lenas Blick blieb plötzlich an einer Gruppe von Leuten hängen, die direkt auf sie zusteuerten. Agenten der Zeitreisenbehörde! Ohne Zweifel.
»Oh, nein! Leute, lauft!«, rief sie. »Los! Lauft!«
Lena sprang die Treppe hinauf und verschwand in der Opéra Garnier. Die anderen stolperten hinter ihr her.
Lena konnte nicht wissen, dass Henri im selben Moment vor einem riesigen Bildschirm saß und jeden ihrer Schritte verfolgte. Er war in einem komplett weißen Raum in der Zeitreisenbehörde eingesperrt. Voller Verzweiflung beobachtete er, wie die Agenten die Verfolgung von Lena und ihren Freunden aufnahmen.
»Lauf, Lena!«, brüllte Henri.
Mit gespieltem Mitleid in der Stimme gackerte Agentin Lex: »Nur leider kann sie dich nicht hören. Wie schade.«
Henri fühlte sich so hilflos.
So schnell die Füße sie trugen, rannten Lena, Ines, Jeff und Isaac den Flur hinunter, um den Agenten zu entkommen. Als sie eine Sekunde anhielten, um zu verschnaufen, flippte Jeff aus. »L., diesen ganzen Zeitreisen-Mist hab ich ja anstandslos mitgemacht, aber ich lasse mich nicht von einer Horde schwarzer Mäntel und Hüte jagen. Was verheimlicht ihr uns?«
Isaac zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. »Ja, was sind das für Typen?«, keuchte er.
Lena überhörte seine Frage ganz bewusst. »Wir müssen es noch einmal über das Zeitportal versuchen.«
Ines hielt ihr selbst gebautes Gerät in die Höhe. »Ich hab das hier dabei. Also los.«
Isaac riss die Augen auf. »Ihr wollt wieder durch dieses Portal? Nein. Nope. Das kann ich nicht!«
»Geht mir genauso«, sagte Jeff. »Und überhaupt gehe ich nirgendwohin, wenn ihr uns nicht endlich die Wahrheit sagt.«
Lena seufzte. »Also gut: Es sind Agenten von der Zeitreisenbehörde.«
»Agenten der Zeitreisenbehörde?«, wiederholte Isaac.
»Und was zum Teufel heißt das jetzt wieder?«, fragte Jeff.
2
In der schnittigen Uniform der Elite-Agenten machte Käpt’n Nico Michel eine gute Figur. Außerdem hatte er etwas Geheimnisvolles an sich. Gerade nahm er sich Agentin Lex zur Brust. »Sie haben meine Mission in das reinste Chaos verwandelt. Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen, Agentin Dosne?«
»Sie waren ja auf der Jagd nach der Auserwählten«, antwortete Lex trotzig. »Hoffentlich ist sie es wert«, fügte sie kaum hörbar hinzu.
Aber Nico hatte es mitbekommen. »Was haben Sie da gesagt, Dosne?«
»Die kleine Ballerina ist durch die Zeit gerannt!«, verteidigte sich Lex. »Und ihr Freund, Henri Duquet, genauso. Aber ich hab ihn erwischt. Er ist hier, im weißen Raum.«
Nico presste die Kiefer aufeinander und drehte sich um. Wütend baute er sich vor seiner Untergebenen auf und stemmte die Fäuste in die Seiten. Seine dunkelblonden Haare fielen ihm in die Stirn. »Sie wollen mir also erzählen, dass Henri Duquet hier ist? Jetzt in diesem Augenblick?«
Lex nickte eifrig, weil sie glaubte, damit habe sie nicht nur den Tag, sondern auch sich selbst gerettet.
Doch Nico schnaubte verächtlich und stürmte zur Tür hinaus. »Sie sind entlassen. Wir sprechen uns, nachdem ich mich um diesen Schlamassel gekümmert habe.«
Im Stechschritt begab sich Nico zum Verhörraum. Als er nach der Klinke greifen wollte, erschien ein anderer Agent und hielt ihm ein Tablet entgegen. Auf dem Bildschirm spielte sich gerade die Szene von der Alexandre-Trois-Brücke ab! Die Zeitsammler waren deutlich zu erkennen.
»Die Zeitsammler haben Paris eingefroren«, sagte eine scheppernde Computerstimme. »Es ist uns gelungen, das Einfrieren aus vergangenen Zeiten aufzuheben. Aber dieses Mal ist das Paris der Gegenwart eingefroren.«
Nico drehte sich auf dem Absatz um und eilte in sein Büro. Entschlossen griff er nach seiner Tasche und hob das Armband mit dem Steuerungselement. Hastig drückte er einige Tasten, woraufhin ein Hologramm der Alexandre-Trois-Brücke erschien. Mit einem flammenden Blitz verschwand der Elite-Agent ins Hologramm.
Lena hob hilflos die Arme. »Wir werden der Zeitreisenbehörde niemals entkommen. Die haben ihre Leute überall!«
Isaac starrte ungläubig in die Runde. »Hat sie gerade gesagt niemals entkommen?«
Jeff nickte. »Ja, hat sie. Klar und deutlich.«
In dem Moment hörte Lena einen Schrei.
»Jeff, hör auf zu jammern, ja? Ich werde schon einen Weg finden, wie ich uns hier rauskriege.«
»Aber das war ich nicht!«, rief Jeff.
Ruckartig drehte Lena sich um und entdeckte eine junge Frau mit wallendem rotem Haar, die schluchzend auf den Flur trat. Lena stutzte. Diese Person erinnerte sie an jemanden …
»Alles okay?«, erkundigte sich Lena. »Was ist passiert?«
Erst betrachtete die junge Frau einen nach dem anderen, dann sprudelte es nur so aus ihr heraus. »Teil der Kompanie zu sein, ist viel krasser, als ich gedacht hätte. Damit bin ich durch. Ich hör auf.«
Jeff hob beschwichtigend eine Hand. »Hey, nicht so voreilig. Alles wird gut. Wie ist dein Name?«
Die junge Frau rang sich ein Lächeln ab, dankbar für die aufbauenden Worte. »Gabrielle.«
Jeff, Isaac, Lena und Ines klappte die Kinnlade runter. Das rote Haar, die anmutigen Bewegungen, der französische Akzent … Konnte das wirklich sein?
Gabrielle brach das Schweigen, indem sie einem nach dem anderen die Hand reichte. »Hallo, ich bin Gabrielle Carré.«
Jeff neigte den Kopf zur Seite und wisperte kaum hörbar: »Gabrielle Carré, wie Gabrielle Carré, die Direktorin unserer Schule?«
Isaac verdrehte die Augen. »Ich glaube, ich werde ohnmächtig.«
»Untersteh dich!«, zischte Lena und musste sich Luft zufächeln, um sich zu sammeln. »Madame Carré! Wow! Sie sind so … äh, jung!«
Die junge Frau sah Lena von oben herab an und warf sich in die Brust. »Ich bin zweiundzwanzig! Und damit wohl älter als jeder von euch! Warum nennst du mich Madame Carré?«
Jeff versuchte, die Situation mit einem albernen Lachen zu überspielen. »Also, die Sache ist die, wir nennen jeden aus Respekt Madame oder Monsieur, wenn wir ihn zum ersten Mal treffen, verstehst du?
Madame Jung-Carré zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nicht, aber was soll’s.«
»Was soll’s!«, rief Jeff. »Ha, du hasst es, wenn wir was soll’s sagen!« Schnell schlug er sich die Hand auf die Lippen. Er sollte den Mund halten.
Lena wechselte schnell das Thema. »Was ist so schlimm, dass du die Brocken hinschmeißen willst?«
Jeffs Vorsatz hielt nur wenige Sekunden. »Yeah! Ich weiß, dass du nicht der Typ bist, der schnell aufgibt, weil du solche Leute für Loser hältst. Also muss was Schlimmes passiert sein. Hab ich recht?«
»Jeff!« Isaac und Ines fuhren ihm über den Mund.
»Wieso, ist doch so!«, verteidigte sich Jeff, als ihm plötzlich wieder bewusst wurde, in welcher Situation sie sich befanden. Schnell machte er eine Handbewegung, als würde er sich den Mund mit einem Reißverschluss verschließen.
»Er macht nur Witze«, erklärte Ines und drehte sich zu Gabrielle um. »Also, erzähl, was ist passiert?«
Gabrielle ballte die Hände zu Fäusten. »Wir studieren in unserem Workshop ein Stück mit unserem neuen Choreografen ein, und meine Nemesis Noëlle Sparrow hat mir meine Gruppe abspenstig gemacht! Jetzt steh ich allein da! Das war gemein … Ich kann nichts tun.«
Ohne zu zögern, sprang Lena auf diese Nachricht an. »Oh, du bist nicht allein! Du hast doch uns. Wir werden mit dir tanzen!«
Die anderen starrten Lena perplex an. Jeff hob beschwichtigend die Hände. »Eine Sekunde, Lena.« Er zog sie beiseite, und die vier steckten flüsternd die Köpfe zusammen.
»Hast du nicht vor gerade ein paar Sekunden noch behauptet, wir wären in Gefahr?«, wisperte Jeff. »Ich kapiere dieses Zeitreisen-Ding eh nicht, aber vorher klang es nach Renn um dein Leben!«
Doch Lena blieb hartnäckig. »Leute, was ist, wenn Gabrielle nicht die … ihr wisst schon was wird? Also wir haben bereits mit ihr gesprochen. Schon das wird die Geschichte verändern. Wir können jetzt nicht kneifen!«
»Lena hat recht«, pflichtete Ines ihr bei. »Wenn wir sie nicht davon abhalten, die Brocken hinzuschmeißen, wird sie möglicherweise nie die Direktorin der Schule … Ich weiß, das ist schlechtes Timing, aber wir müssen ihr helfen.«
Man hörte förmlich die Gedanken in den Köpfen rattern. Schließlich nickten sie.
»Okay, wir sind dabei!«, verkündete Lena Gabrielle.
Gabrielle hob verwundert die Arme. »Aber ihr kennt mich doch gar nicht.«
»Doch, tun wir!«, rief Jeff und schlug sich wieder auf den Mund. »Ich meine, wir haben uns längst entschieden. Ich bin übrigens Jeff. Das hier sind Lena, Isaac und Ines.«
Die junge Gabrielle schaute verwirrt von einem zum anderen und errötete. »Ihr seid so unfassbar nett. Ich danke euch. Folgt mir. Ich hoffe, ihr seid gut.«
3
Nico stürmte den Gang entlang und rief: »Alle in mein Büro! Besprechung in fünf Minuten. Los, los, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Nico konnte nicht fassen, was er eben auf der Alexandre-Trois-Brücke erlebt hatte. Kaum hatte ihn das Hologramm dort ausgespuckt, hatte er Pinky, Frank und Clive sowie ein junges Mädchen gesehen. Und die Zeitmesser! Diese Zeitsammler machten ihr eigenes Ding, anstatt Befehle auszuführen! Und dieser Pinky war clever. Den musste er besonders im Blick behalten. Denn kaum hatte Pinky Nico entdeckt, hatte er Frank gepackt, ihm die beiden Zeitmesser entwunden und Frank erklärt, dass er Lenas Zeitmesser benutzen würde, um alle in verschiedene Zeitperioden zu verteilen. So würden sie sich alle leichter vor der Zeitreisenbehörde verstecken können.
»Ines hat mir gezeigt, wie’s geht. Ich muss nur das Zifferblatt richtig einstellen, und … Paff! Und dieser Typ da wird nicht rauskriegen, wo du bist, jedenfalls nicht sofort«, hatte Pinky gesagt und dabei auf ihn, Nico, gezeigt!
Damit war Frank gar nicht einverstanden gewesen. Er konnte es überhaupt nicht leiden, wenn jemand seine Autorität infrage stellte.
»Du musst mir vertrauen!«, hatte Pinky gebrüllt, mit großer Kraftanstrengung die Zeitmesser auseinandergezogen und damit Paris wieder zum Leben erweckt. Dann hatte Pinky Henris Zeitmesser weit weggeworfen. Schnell hatte er auf Lenas Zeitmesser die richtige Einstellung gefunden. Und Nico musste mit ansehen, wie sich Clive, Thea und Frank vor seinen Augen in Luft auflösten.
Voller Hohn hatte Pinky Nico zugeraunt: »Ich wette, damit hast du nicht gerechnet!«
Pinky hatte keine Sekunde gezögert und den zweiten Zeitmesser weit von sich geworfen. Der war in den zarten Händen eines zierlichen Mädchens gelandet.
Nico konnte nicht wissen, dass Bree und ihre Freundin Kennedy Theas Bewunderinnen waren. Die beiden waren immer an Theas Seite, um ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Auch sie waren gerade eben aus der Schockstarre befreit worden.
»Oh, mein Gott«, hatte Bree gepiepst. »Dieses Teil sieht genauso aus wie das Schmuckstück, das Thea um den Hals getragen hat.«
Auch Pinky hatte sich inzwischen in Luft aufgelöst. Und Nico hatte sich beeilt, den anderen Zeitmesser aufzuheben und in einer Metallbox zu verwahren. Dann war Nico auf Bree zugestürmt, hatte im Laufen ein Hologramm der Zeitreisenbehörde aufgerufen und dem Mädchen den anderen Zeitmesser aus der Hand gerissen.
»Bree, pass auf!«, hatte Kennedy noch gekreischt. Doch zu spät. Bree verlor das Gleichgewicht und purzelte hinter Nico her in das Hologramm. Kennedy war fassungslos zurückgeblieben.
Nico hatte nicht gemerkt, dass Bree mit ihm durch das Hologramm gereist war. Wutentbrannt marschierte er nun zu seiner Besprechung, zog dabei seine Jacke aus und schleuderte sie achtlos von sich. Sie landete auf Bree.
Henri hatte plötzlich bemerkt, dass die Tür des Verhörraums nur angelehnt war. Vorsichtig schlich er auf den Flur, wo er eine Reihe von Uniformjacken an den Haken hängen sah. Eine bessere Tarnung gab es nicht! Rasch schlüpfte er in eine der Jacken, schlich den Gang entlang und stieß prompt mit Bree zusammen. Henri stutzte, als er Bree erkannte, die in einer viel zu großen Uniform-Jacke steckte.
»Du, du gehst doch auch in Lenas Ballettschule. Oder … bist du etwa eine Agentin von der Zeitreisenbehörde?«
Bree zupfte am Revers ihrer Jacke, glücklich, jemanden zu treffen, den sie kannte. »Ich … ich weiß nicht …«
Henri schüttelte den Kopf. »Offensichtlich nicht.« Er nahm sie an der Hand und zog sie mit sich den Gang entlang.
»Nein! Ich gehe nirgendwohin!«, protestierte Bree. »Ich will nach Hause.«
Henri warf einen besorgten Blick den Flur hinunter, von wo sich ihnen eine Gruppe Agenten näherte. »Wenn wir uns nicht beeilen, kriegen die uns! Vertrau mir, du wirst es nicht bereuen.«
Jetzt musste es schnell gehen. Sie eilten an einer Reihe von Türen entlang, die jeweils mit einer Jahreszahl gekennzeichnet waren.
»Hier rein!«, entschied Henri. Auf der Tür stand 1983.
4
Als Lena ins Studio gerauscht kam, entdeckte sie sofort, welches Mädchen Noëlle Sparrow sein musste. Sie starrte Lena mit eiskalten Augen an.
»Wir sind gut darin, eine Last-Minute-Choreo umzusetzen«, nahm Jeff Gabrielles letzte Worte wieder auf. »Du bist schließlich eine supergute Lehrerin, Gabby. Man muss wie ein Schwan sein … so hast du das doch immer genannt, oder?«
Gabrielle blickte Jeff misstrauisch an. »Woher weißt du, was ich immer sage?«
Jeff überspielte das mit einem albernen Lachen. »Oh … aber du bist doch wie ein Schwan.«
Gabrielle überraschte ihn mit einem herzhaften Lachen. Dann hob sie den Kopf, warf sich in die Brust und schwebte davon. Sie war einfach zauberhaft. Auch Jeff versuchte sich als Schwan, breitete die Arme wie Flügel aus und flatterte durch den Raum.
»Eleganz und Anmut, nicht wahr, Madame Carré?«, kommentierte Lena dies lachend.
»Ich heiße Gabrielle!«, sagte die junge Gabrielle. »Ihr seid komische Typen, aber ich mag euch. Und bitte nenn mich nicht Gabby, Jeffrey.«
»Carré, du und deine Gruppe seid dran!«, hörten sie plötzlich die Stimme des Choreografen.
Lena hielt die Hand zum Einschlagen hin. »Macht mich stolz!«, feuerte Lena ihre Freunde im Flüsterton an.
Gabrielle schaffte es, Lena und die Crew ohne große Erklärungen durch die Choreografie zu lenken. Und das gelang ihr mit ihrer bezaubernden Art so gut, dass die Anwesenden ihnen großen Applaus zollten. Lediglich aus Noëlle Sparrows Augen schossen Blitze, als sie ihren Tanz beendet hatten. Verwundertes Getuschel war aus den Reihen der Zuschauer zu hören.
Plötzlich baute sich der Choreograf vor Lena auf und stellte sie zur Rede.
»Was macht ihr hier in meinem Workshop zwischen meinen Tänzern?«, fauchte er.
Lena schenkte ihm ein liebreizendes Lächeln. Im Um-den-Finger-Wickeln war sie spitze! »Oh, hallo. Wir sind aus London und gerade hier auf Tour. Wir haben von Gabrielle Carré gehört und wollten die Gelegenheit nutzen, mit ihr zu tanzen. Bitte bestrafen Sie sie nicht, wir haben ihr nämlich erzählt, wir hätten Ihre Erlaubnis.« Lena machte einen kleinen Knicks wie ein junges unschuldiges Mädchen. »Eine kleine Notlüge für das Privileg, mit einem zukünftigen Star tanzen zu dürfen.«
Die ganze Zeit über spürte Lena Noëlles Blick auf ihrem Rücken.
Der Choreograf schien einen Moment zu überlegen, dann lachte er von einem Ohr zum anderen. »Bravo. Ich bin wirklich beeindruckt. Besonders von dir, Carré, du hast mit unglaublicher Selbstsicherheit getanzt. Gut gemacht.«
Gabrielle strahlte glücklich in die Runde und nahm einen nach dem anderen aus ihrer Truppe in den Arm.
Jeff hielt sie einen Moment fest. »Ich weiß, Ballett ist dein Leben, aber du solltest es auch mal mit Breakdance versuchen. Das würde dich lockerer machen. Meine Meinung.«
Jetzt nahm Lena sie in den Arm. »Du bist so wundervoll. Bitte gib niemals auf. Wir brauchen dich!«
Doch während sie über Gabrielles Schulter hinwegsah, entdeckte sie ein paar Agenten, die sich zwischen den Zuschauern versteckt gehalten hatten.
»Leute, Zeit abzuhauen!«, flüsterte Lena und ließ die völlig verdatterte Gabrielle einfach stehen.
Die Crew stürzte aus dem Studio, dicht gefolgt von den Agenten der Zeitreisenbehörde. Plötzlich waren die Agenten überall. Sie kamen den Gang entlang und die Treppe herauf. Und als Lena und ihre Freunde sich umdrehten, wurden sie auch hier von den Agenten der Zeitreisenbehörde gestoppt.
Dann tauchte wie aus dem Nichts Eliteagent Nico vor Lena auf.
»Jetzt habe ich dich, Grisky, und bringe dich dahin, wo du hingehörst«, knurrte er.
»Lass uns in Ruhe!«, rief Lena angriffslustig.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass du mir entkommen kannst«, lachte Nico voller Hohn. Doch er hatte Lenas Geschmeidigkeit und Reaktionsschnelle nicht einkalkuliert. Furchtlos griff sie nach seinem Armband und drückte ein paar Knöpfe, und noch bevor Nico reagieren konnte, öffnete sich vor ihren Augen eine Hologrammtür. Ines und Lena schubsten die verblüfften Isaac und Jeff hindurch und sprangen hinterher.
»Leg dich nicht mit mir und meinen Freunden an!«, fauchte Lena.
In einem letzten Versuch griff Nico nach Lena, bekam aber nur das Armband mit dem Steuerungselement zu fassen, doch Lena und ihre Freunde waren bereits verschwunden.
5
Unmittelbar nach dem Ende der Carte-Blanche-Aufführung landeten Lena, Ines, Isaac und Jeff wieder hinter der Bühne der Opéra Garnier. Mit entschlossener Miene stemmte Lena die Fäuste in die Seiten. »Wenn sie Krieg haben wollen, können sie ihn haben! Stimmt’s?«
Jeff und Isaac waren total durch den Wind und konnten kaum begreifen, was gerade passiert war.
Ines indes war auf der Hut und hielt Ausschau nach weiteren Agenten in schwarzen Mänteln. Die Agenten konnten jederzeit überall auftauchen! Doch stattdessen kam Kennedy angeflogen und fiel Lena um den Hals.
»Lena, oh mein Gott, ich bin so froh, dich zu sehen. Es ist etwas total Verrücktes passiert …«
In diesem Moment war die Stimme des Moderators von der Bühne zu hören. »Ladies and Gentlemen, ich bitte Sie um Applaus für die Carte-Blanche-Show der zweiten Division!«
Begeisterter Applaus, Jubelschreie und Pfiffe, lautes Getrampel erfüllten die Ränge. Das Publikum war total aus dem Häuschen.
»Vorhang, Leute, wir müssen noch mal auf die Bühne!«, sagte Ines euphorisch. Damit ließen sie Kennedy einfach stehen.
»Ich bin gleich wieder da, dann kannst du mir alles erzählen!«, rief Lena ihr zu.
Berauscht vom Applaus kehrten sie nach wenigen Minuten hinter die Bühne zurück, wo Nico bereits auf sie wartete. Ehe sie reagieren konnten, hatte er sie eingefroren.
Auf dem kleinen Monitor seines Armbands startete er einen Chat mit Lex. »Ich will, dass Sie mitbekommen, wie ich Ihr Chaos wieder in Ordnung bringe. Ich kann Ihnen nicht trauen. Deshalb muss ich dieses Experiment durchführen, um herauszufinden, ob die kleine Grisky wirklich die Auserwählte ist!«
Mit der rechten Hand wischte er in einer theatralischen Geste über das Steuerungselement.
Lex riss die Augen auf. »Sie haben doch nicht etwa …?«
»Doch, ich habe«, knurrte Nico. »Ich habe all ihre Erinnerungen an andere Zeiten ausgelöscht. Sie werden sich also weder an Sie noch an 1905 oder 1983 erinnern. Sie werden nichts von Zeitreisen, Zeitsammlern oder dem Zeitgefängnis wissen und auch Henri nicht kennen. Es ist der einzige Weg, die Wahrheit herauszufinden, bevor ich sie in die Zeitreisenbehörde bringe. Das war immer der Plan, und Sie hätten beinahe Jahre harter Arbeit zerstört.«
Entsetzt konnte Lex auf dem Bildschirm beobachten, wie sich Lena, Ines, Isaac, Jeff und Kennedy wie in Wasserwellen aufzulösen schienen. Dann erweckte Nico sie wieder zum Leben und schaltete gleichzeitig den Bildschirm aus.
Bevor Lena und ihre Freunde Nico entdecken konnten, war er schon durch eine Seitentür verschwunden. Für sie hatte sich nichts verändert. Sie konnten nicht wissen, was Nico gerade mit ihnen gemacht hatte. Die Erinnerungen an ihre Reisen durch die Zeit waren ausgelöscht.
»Oh, die Show war wundervoll«, schwärmte Ines. »Du und Max, ihr habt die Choreo gesprengt!«
Lena blickte sich suchend um. »Wo steckt Max überhaupt?«
Ines schlüpfte in ihre Sweatjacke und zog den Zipper hoch. »Keine Ahnung. Vielleicht ist er zur Schule zurückgegangen. Es muss hart für ihn sein, uns tanzen zu sehen, und er kann nicht mitmachen. Auch wenn er am Ende doch noch auf die Bühne gekommen ist. Das war cool.«
»Ja, war das nicht unglaublich?«, rief Lena begeistert. »Ich kann es kaum fassen, dass er es getan hat.« Dann wurde sie nachdenklich. »Vielleicht tut ihm jetzt das Knie weh und er muss sein Bein hochlegen.«
»Hey, Leute, habt ihr Bree und Thea gesehen?« Kennedy kam angerannt.
Lena zuckte mit den Schultern. »Eigentlich wundere ich mich, dass Thea nicht überall rumläuft und jedem erzählt, dass sie die Choreo gemacht hat.«
Glücklich über die gelungene Carte-Blanche-Show fielen sich Lena, Ines, Isaac und Jeff lachend in die Arme.
Nico war noch nicht fertig mit Lex. Nun war auch noch Henri entkommen! Gerade war Nico dabei, sich per Computer Ballettwissen in sein Gedächtnis spielen zu lassen, als Lex erschien. »Sie wollten mich sprechen, Sir?«
Der Elite-Agent verengte seine Augen zu Schlitzen und schimpfte: »Anstatt einen Schritt voraus zu sein, sind Sie immer zwei Schritte hinterher, Agent Dosne. Mit Ihrer Arroganz und Dummheit haben Sie die Zeitreisenbehörde beinahe zerstört.«
»Aber ich kann nichts dafür, dass Henri Duquet verschwunden ist!«, verteidigte sich Lex. »Ich habe überall nach ihm gesucht!«
Ohne eine Miene zu verziehen, hob Nico das Handgelenk und berührte das Display mit dem Finger. »Ich haben Ihnen eine Chance gegeben. Ich habe nicht vor, Sie davon zu überzeugen, dass es einen Auserwählten gibt. Schade, dass Sie es nicht erkannt haben.«
Ohne zu zögern, drückte er eine Taste. Lex löste sich in Luft auf.
»Ich werde dich finden, Lena Grisky.«
6
Pinky war verwirrt. Er hatte Frank über den losen Backstein im Kamin auf dem Dach der Opéra Garnier eine Nachricht ins Jahr 1905 geschickt. Er wollte ihm noch einmal erklären, dass er ihn, Clive und Thea dorthin geschickt hatte, um ihn zu schützen. Doch Frank wollte nicht einsehen, dass möglicherweise er der Auserwählte war, dem die Zeitreisenbehörde auf den Fersen war.
Und nun lief Pinky auf der Straße ausgerechnet seine geliebte Ines in die Arme. »Ines, die Zeitreisenbehörde wird nicht aufgeben, bis sie wissen, ob Lena die Auserwählte ist oder nicht! Sie haben beide Zeitmesser an sich genommen. Du musst Lena sofort von hier wegbringen!«
Doch Ines stieß ihn weg. Wer war dieser Typ, der sie einfach anquatschte?
Pinky wusste nicht, dass Nico ihre Erinnerungen ausgelöscht hatte, und dachte, Ines sei sauer auf ihn.
»Oh … verzeih, ich sollte natürlich zuerst fragen, wie es dir geht. Ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist und …« Er machte einen Schritt auf sie zu, wollte sie in die Arme nehmen, doch Ines wich zurück.
»Woah … Hau ab, du! Was ist ’n das für ’ne Masche? Zeitmesser? Zeitreisenbehörde?«, blaffte sie.
Jetzt schwante Pinky, dass hier etwas nicht stimmte. »Meine Masche? Erinnerst du dich denn nicht?«
Plötzlich fasste Ines sich an die Schläfe und verengte die Augen zu Schlitzen. Für den Bruchteil einer Sekunde war da eine Erinnerung. »Pinky?«
Erleichtert packte Pinky sie bei den Schultern. »Hast du mir einen Schreck eingejagt. Fast hätte ich gedacht, dass du …«
Doch die Erinnerung war schon wieder verflogen. Schützend hob Ines die Hände. »Das hier ist mir ziemlich suspekt. Ich hau lieber ab.«
»Aber, Ines, ich bin’s doch!«, rief Pinky verzweifelt. »Was ist denn los mit dir?«
In diesem Moment wurde Pinky klar, was geschehen war. Die Agenten der Zeitreisenbehörde hatten ihre Erinnerungen gelöscht!
Vorsichtig berührte er Ines am Arm. »Ich weiß, du erkennst mich nicht, aber glaub mir, wir beide werden uns mögen.«
Ines gefiel sein charmantes Lächeln. »Wie, sagtest du noch mal, war dein Name?«
»Den habe ich dir noch gar nicht verraten«, erwiderte Pinky. Ganz vorsichtig berührte er Ines mit den Fingerspitzen an der Wange. »Besser, du kennst ihn nicht. Wir sehen uns in der Zukunft.«
Aufgeregt redend versammelten sich Lena, Ines, Jeff, Isaac und der Rest ihrer Truppe im Studio, wo Gabrielle Carré und Armando Castillo eine abschließende Bewertung ihres Carte-Blanche-Auftritts vornehmen wollten. Die Schülerinnen knicksten und Schüler verbeugten sich, als die beiden Lehrer den Raum betraten. Jetzt wurde es spannend.
»Ich gebe zu, von eurem Auftritt war ich zunächst nicht begeistert«, begann Gabrielle Carré ihre Beurteilung. »Aber am Ende habt ihr mich doch überzeugt. Sie war einzigartig. Meine Gratulation.«
Seufzer der Erleichterung erfüllten den Raum, als Gabrielle erneut die Stimme erhob. »Dennoch …« Alle hielten die Luft an. »Das war kein klassisches Ballett!« Ihre Stimme klang nun streng, unnachgiebig. »Er wird Zeit, den Blick auf die Zukunft zu richten. Heute Abend beginnen die Ballett-Prüfungen, welche in eure Endnote einfließen werden und darüber bestimmen, ob ihr im nächsten Schuljahr als Schüler der ersten Division weiterarbeiten dürft und damit die Chance auf einen Platz in der Kompanie bekommen werdet.«
Armando vermied den Blickkontakt mit Madame Carré, als er an das großartige Feedback erinnerte, das die Aufführung der jungen Leute in der Fachpresse erhalten hatte. »Vielleicht ist jetzt doch die Zeit für ein paar kleine Veränderungen?«
Madame Carré sog hörbar Luft ein und warf ihre rote Mähne mit einer energischen Kopfbewegung in den Nacken. »Wenn Sie weiterhin an dieser Schule unterrichten möchten, Armando, empfehle ich Ihnen, diese Auffassung für sich zu behalten.«
Dann wandte sie sich der Klasse zu. »Ihr könnt gehen.« Sie fixierte Lena mit strengem Blick. »Mademoiselle Grisky, was machen Sie hier in meiner Klasse?«
Lena schluckte. Sie versuchte locker zu bleiben, was ihr aber nicht so recht gelingen wollte. »Oh, Madame Carré … das hat sich so ergeben …«
»Nichts da!«, fiel Madame Carré ihr ins Wort. »Ich hatte Sie ausgeschlossen.«
Lena senkte schuldbewusst den Blick. Wie durch Watte hörte sie das aufgeregte Gemurmel und Seufzen der Mitschüler.
Gabrielle Carré verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie dem auch sei. Du hast einen Schutzengel in Person von Monsieur Castillo. Du wirst deine Prüfung heute Nachmittag absolvieren, und wenn du mir eine perfekte Darbietung ablieferst, werde ich dir eventuell erlauben zu bleiben und am Unterricht der ersten Division teilzunehmen.«
Lena fühlte sich, als rase eine Armee Ameisen über ihren Körper. Am liebsten wäre sie Gabrielle Carré um den Hals gefallen, doch es gelang ihr, sich zu beherrschen. »Danke, Madame Carré, danke Monsieur Castillo«, sagte sie und knickste demütig. Sie knickste immer wieder, bis sie beinahe das Gleichgewicht verlor.
»Heb dir deinen Enthusiasmus für die Prüfung auf, Mademoiselle Grisky. Hundert Prozent, oder du bist draußen!«, mahnte die Lehrerin. »Und versuche nicht noch einmal, mich so hinters Licht zu führen.«
Als Madame Carré den Raum verließ, hauchte Lena Armando ein »Danke« zu.
»Vermassle es nicht!«, zischte Armando zurück.
7
Frank saß mit Thea und Clive im Jahr 1905 fest. Kein Zeitmesser in Reichweite, keine Zeitreise in Sicht. Pinky hatte ihn gewarnt, er glaubte immer noch daran, Frank könnte der Auserwählte sein, hinter dem die Agenten der Zeitreisenbehörde her waren.
Wenn doch nur Pinky hier bei mir wäre, dachte Frank. Auf ihn ist immer Verlass gewesen!
Aber Pinky hatte ihm mehrere Briefe hinter den losen Backstein im Kamin gesteckt, und in einem hatte er unumwunden erklärt, dass er die Nase voll hatte von Zeitreisen. »Ich habe dadurch das einzige Mädchen verloren, das ich je geliebt habe. Sie haben ihre Erinnerungen an die Zeitreisen ausgelöscht. Ich werde nie mehr durch die Zeit springen.«
Enttäuscht hatte Frank den Brief zerknüllt. Danach war kein weiterer gekommen.
Genervt und nervös lief Frank auf und ab. Und nun ließ ihn Thea auch noch warten. Wo blieb sie bloß? Wollte sie ihn auch im Stich lassen?
Endlich kam sie in ihrer divenhaften Art angerauscht und schenkte Frank eine halbherzige Umarmung. Frank fasste sie bei den Schultern und hielt sie auf Armeslänge von sich entfernt. Ihr braunes Haar war wie immer perfekt frisiert, diese Frau war einfach toll, aber …
»Was ist los?«
»Nichts ist los.« Thea wand sich aus seinem Griff. »Es ist alles okay … Trotzdem müssen wir reden.«
Frank sackte das Herz in die Hose. »Okay, okay, Thea, lass uns reden … über unseren nächsten Coup gegen die Zeitreisenbehörde. Wir brauchen einen neuen Plan.«
Doch Thea ging es um etwas komplett anderes. Diese Zeitreisen-Sache war ihr ganz egal. Sie ergriff Franks Hand. »Nun … ich habe ein Angebot bekommen, ein ganzes Jahr auf Tournee zu gehen. Als Star. Es ist eine Welttournee.«
»Das ist doch großartig!«, rief Frank. Er fasste sie an der Taille, hob sie hoch und wirbelte sie herum. »Ich werde dich begleiten. Das wird großartig. Und wenn du gerade nicht tanzen musst, spinnen wir weiter an unseren Plänen gegen die Behörde.«
Doch Thea sah ihn nur voller Mitleid an. »Frank, die Zeit mit dir war die aufregendste meines ganzen Lebens, aber das hier … das muss ich allein machen.«
Frank hatte das Gefühl, er müsse einen Stein hinunterschlucken. »Aber … wir können das doch verbinden …« Doch an ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie bereits fest entschlossen war. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss und rannte davon. Frank verstand die Welt nicht mehr.
Ines kam in das Zimmer der Mädchen gerauscht, wo Lena gerade dabei war, sich mit Stretching auf die Prüfung vorzubereiten.
»Puh, Madame Carré hat mich zur Rede gestellt, warum ich bei der Show gefehlt habe. Sie war nachsichtig, weil sie annimmt, dass es in meiner Familie einen Notfall gab.« Ines war total aufgebracht. »Aber, Lena, ich kann mich einfach nicht daran erinnern, warum ich nicht da war!«
Lena beugte sich im Stand nach vorne und legte die Handflächen auf den Boden. »Du hast auch bei unserem Auftritt bei Dance Off gefehlt«, erinnerte sie sich. »Wir müssen nach Hinweisen suchen …«
Ines begann gleich, im Zimmer sämtliche Regale und Schränke zu durchwühlen. Eine Erklärung musste es doch geben. Außerdem war sie ja noch diesem Jungen begegnet, der seinen Namen nicht nennen wollte. Irgendwas musste passiert sein! Es machte sie rasend, nicht zu wissen, was es war.
Auch Lena begann nun, ihre Sachen systematisch zu durchsuchen. Plötzlich hielt sie einen Brief in den Händen. Mit gerunzelter Stirn nahm sie ihn aus dem Umschlag und begann, ihn laut vorzulesen.
»Meine geliebte Lena. Ich habe keine Ahnung, ob Dich dieser Brief erreichen wird, aber ich muss es versuchen. Es gibt ein Geheimnis in unserer Familie, von dem ich nichts wusste. Natürlich hätte ich Dir sonst davon erzählt. Wenigstens sind wir keine Vampire. Aber wir sind Zeitreisende! Und Du bist auch eine. In Liebe, Henri.«
Lena ließ den Brief sinken und brach in schallendes Gelächter aus. »Vampire? Zeitreisende? Witziger Typ! Wer das wohl ist? Und warum unterschreibt er mit In Liebe, Henri? Ich kenne keinen Henri. Du etwa?«
Ines schüttelte energisch den Kopf. »Das ist alles total abgefahren! Ich dreh bald durch!«
In diesem Moment schoss beiden Mädchen ein stechender Schmerz durch den Kopf. Gleichzeitig fassten sie sich an die Schläfen.
»Ich erinnere mich an Henri!«, stöhnte Lena und ließ den Brief fallen, der unter das Bett segelte.
»Und ich mich an die Zeitreisen!«, jammerte Ines.
Doch so blitzartig, wie die Erinnerung gekommen war, war sie auch schon wieder vorbei, und die Mädchen gingen weiter ihren Vorbereitungen nach.
»Es ist so seltsam ruhig, jetzt, wo Thea nicht da ist«, bemerkte Ines und streckte den Rücken durch.
»Die Gerüchteküche sagt, dass sie auf Tournee geht«, erinnerte Lena. »Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sie unterwegs ist, um sich komplett neu einzukleiden. Würde zu ihr passen.«
Sie schwiegen für einen Moment. Die Gegenwart hatte sie fest im Griff, denn Lena musste gleich hundert Prozent geben.
»Wenn ich die Ballett-Prüfung vermassele, bin ich für immer und ewig raus«, sagte sie, schnappte sich ihre Spitzenschuhe und machte sich auf den Weg zum Studio.
Als Lena eintrat, entging es ihr nicht, dass Armando und Gabriella noch immer diskutierten. Satzfetzen wie Sie haben Ballett wieder spannend gemacht und Diese Klasse ist etwas Besonderes drangen aus Armandos Mund bis zu ihr vor. Der Tanzlehrer war dabei, Orangen zu schälen, ein sicheres Zeichen dafür, dass er aufgeregt war. Armando nickte Lena zu. Jetzt war der Moment der Wahrheit gekommen.
»Wenn du so weit bist, Mademoiselle Grisky.«
Lena brachte sich in Position. »Musik, bitte!«
Ganz konzentriert tanzte Lena leichtfüßig durch ihr Stück. Jeder Schritt, jede Drehung, jede Armbewegung saß! Sie wurde immer sicherer und sah sich vor ihrem inneren Auge bereits in der ersten Division tanzen. Doch im allerletzten Takt verlor sie für einen kurzen Augenblick den Halt und knickte leicht zur Seite. Lena konnte es nicht fassen. Sie war so kurz davor gewesen!
»Danke, Lena«, sagte Gabrielle Carré. »Du kannst dich zurückziehen.«
Lena schaffte es kaum, die Tränen zurückzuhalten. Das war nun ihre Chance auf einen Platz in der ersten Division gewesen! Ihre einzige Chance, Teil der Kompanie zu werden. Ines nahm sie auf dem Gang in Empfang, um sie zu trösten.
»Ich kann es nicht glauben!«, schluchzte Lena mit tränenerstickter Stimme. »Ich bin draußen! Ich hab’s vermasselt. Und wo steckt eigentlich Max? Ich hab ihm Hunderte Nachrichten geschrieben und er meldet sich einfach nicht. Dabei bräuchte ich ihn jetzt so sehr.«
Lena wunderte sich, dass Jeff und Isaac sich etwas abseits hielten und flüsterten. Das war doch gar nicht ihre Art. Normalerweise hätte sich Jeff alle mögliche Faxen ausgedacht, um sie zu trösten.
»Was?«, blaffte Lena die beiden an. »Was wisst ihr von Max?«
Doch sie wartete die Antwort nicht ab, sondern rannte zu Max’ Zimmer. Seine Sachen waren weg! Sogar seine Poster! Kein Zweifel. Er hatte sich aus dem Staub gemacht.
Jeff tauchte neben ihr auf und machte ein verlegenes Gesicht. Zaghaft reichte er ihr einen Brief. »Max hat mich gebeten, dir den hier zu geben. Ich wollte damit warten, bis du die Prüfung hinter dir hast. Sorry, Lena.«
Sie nahm den Umschlag entgegen und brach zusammen.
8
»Möchtest du, dass wir dich alleine lassen?«, fragte Ines leise, als Lena sich mit den Tränen kämpfend auf der Bettkante niederließ. Doch Lena schüttelte den Kopf und starrte den Umschlag nur an, ohne ihn zu öffnen.
»Lena, auch wenn es nichts besser macht, aber Max hat es förmlich zerrissen, dass er fortgehen musste«, erklärte Jeff. »Er wollte sich ja von dir verabschieden, aber … er hatte Angst, dass er es nicht schafft, wenn er dir gegenüberstehen würde, und …«
Kennedy kam ins Zimmer geplatzt: »Ihr müsst kommen, Leute! Da ist was los!«
Lena blickte seufzend auf den Brief. Der musste also warten. Hoffentlich ist Kennedys »Notfall« es wert, dachte Lena und folgte den anderen zum Aufenthaltsraum der Schüler, von wo sie die Tür zu Madame Carrés Büro gut im Blick hatten.
»Heiße Diskussion da drinnen!«, erklärte Kennedy. »Ich bin mir sicher, es geht um …«
In dem Moment wurde die Tür zum Büro aufgerissen. Madame Carré ging mit energischen Schritten auf ihre Info-Tafel zu und heftete ein Blatt Papier fest. Armando Castillo hatte ebenfalls ein Blatt Papier in der Hand und pinnte es an seine Tafel. Kennedy hatte nicht zu viel versprochen. Es waren die Resultate!
Sofort stürmten die Schülerinnen und Schüler zu den Schwarzen Brettern. Alle, außer Lena. Sie wusste, sie hatte nicht hundert Prozent gegeben, und wollte ihr Ergebnis gar nicht wissen. Plötzlich hörte sie Ines kreischen. »Lena, du bist dabei!«
»Was?« Jetzt gab es für Lena kein Halten mehr. Sie rannte auf Ines zu und erdrückte sie fast vor Freude. Dann hüpfte sie wie ein Flummi auf und ab. Das war ja nicht zu fassen!
Armando, der zunächst dabeigestanden und den Schülerinnen und Schülern Zeit gelassen hatte, den Aushang zu studieren, lenkte mit einem lauten Räuspern die Aufmerksamkeit auf sich.
»Gratulation! Alle, die auf den Listen stehen, haben es in die erste Division und damit in das Abschlussjahr der Ballettschule der Opéra Paris geschafft.«
Erleichtertes Seufzen und aufgeregtes Gemurmel untermalten seine Worte.
Jeff hob sich auf die Zehenspitzen und blickte über alle anderen hinweg. »Monsieur Castillo, ich lese da etwas von Südfrankreich. Was hat es damit auf sich?«
Armando nickte und strich sich die schwarzen Haare aus der Stirn. »Zu Beginn des neuen Schuljahres werden einige von euch hier in Paris von Madame Carré unterrichtet werden. Und die anderen«, er zeigte auf die Liste an seiner Info-Tafel, »werden mich in den Süden begleiten, wo wir zusammen mit einer professionellen Kompanie proben werden. Und bis dahin: Genießt den Sommer.«
Mit einer ausholenden Geste und einem breiten Lächeln entließ er die Schüler.
Ines und Lena warfen sich vielsagende Blicke zu. Ihnen war klar, was das zu bedeuten hatte. Es war eine Art Battle zwischen Gabrielle und Armando, ein Wettkampf zwischen einer klassischen und einer moderneren Ausrichtung des Balletts.
Lena konnte es noch immer nicht fassen, dass sie weiterhin an der Schule der Opéra bleiben durfte. Es war ihr ein Bedürfnis, sich bei Madame Carré für die Großzügigkeit zu bedanken. Doch die verwies sie an ihren Fürsprecher Armando Castillo.
»Ich werde Sie nicht enttäuschen, Monsieur Castillo«, versprach Lena mit einem Knicks.
»Das solltest du wirklich nicht, Lena«, erwiderte er und hob den Blick. »Und dasselbe gilt für euch alle!«
»Das müssen wir feiern!«, kicherte Ines, als sie zu ihren Zimmern gingen. »Wir beide und Jeff und Isaac … Wir alle sind in Armandos Südfrankreich-Gruppe. Ist das nicht wundervoll?«
Lena nickte gedankenverloren und hielt den Brief in die Höhe. »Feiert ihr, ich werde erst einmal den hier lesen.«
Um Max’ Brief zu lesen, zog sie sich auf das Dach der Opéra zurück. Bevor sie sich auf den Sims neben dem losen Backstein setzte, von dessen Bedeutung sie ja nun nichts mehr wusste, ließ sie den Blick über die Dächer von Paris schweifen.
Zögernd nahm sie den Brief aus dem Umschlag und begann zu lesen …
Liebe Lena. Ich wollte es Dir persönlich sagen, aber ich bringe es nicht übers Herz. Wenn ich nicht tanzen kann, kann ich nicht hierbleiben. Dich zu verlassen, ist der schlimmste Teil an dieser Entscheidung, ich möchte, dass Du das weißt.
Lena ließ die Gedanken zu dem Moment des verhängnisvollen Unfalls schweifen, der diese Verletzung zur Folge hatte.
Eigentlich wollte ich nach London zurückgehen, aber mein Vater hat intern etwas für mich am Empire in New York arrangiert. Es wäre zu hart für mich, hier in Paris zu sein, aber nicht an der Schule. Ich reise heute Abend ab. Es tut mir so leid. Ich hoffe, Du verstehst mich und kannst mir verzeihen. Du hast alles für mich verändert, Chica. Ich wünschte wirklich, die Dinge wären anders. Es tut mir so leid. In Liebe, Max.
Lenas Tränen ließen die letzten Zeilen verschwimmen. Traurig ließ sie den Brief auf ihren Schoß sinken.
»Er hat nicht einmal Adieu gesagt«, schluchzte sie leise.