9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Auf die Nacht folgt der Tag. Und auf den Tod das Leben. Emmas Leben ist einfach perfekt. Und seit sie mit John zusammenwohnt, scheint das Glück vollkommen. Aber dann passiert ein schrecklicher Unfall, und plötzlich ist Emma allein. Als wäre auch sie selbst gestorben, verkriecht sie sich im Schneckenhaus ihres Schmerzes. Doch dem sehen Emmas Freunde nicht lange tatenlos zu. Und irgendwie ist auch John immer noch für sie da. Bald wird Emma klar, dass sie von den Menschen, die sie liebt, gebraucht wird. Dass sie stark sein muss, wenn sie für andere da sein will. Und sie begreift, dass das Glück ganz nah sein kann, wenn man meint, es für immer verloren zu haben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 483
Anna McPartlin
Weil du bei mir bist
Roman
Aus dem Englischen von Karolina Fell
Ihr Verlagsname
Auf die Nacht folgt der Tag. Und auf den Tod das Leben.
Emmas Leben ist einfach perfekt. Und seit sie mit John zusammenwohnt, scheint das Glück vollkommen. Aber dann passiert ein schrecklicher Unfall, und plötzlich ist Emma allein. Als wäre auch sie selbst gestorben, verkriecht sie sich im Schneckenhaus ihres Schmerzes. Doch dem sehen Emmas Freunde nicht lange tatenlos zu. Und irgendwie ist auch John immer noch für sie da. Bald wird Emma klar, dass sie von den Menschen, die sie liebt, gebraucht wird. Dass sie stark sein muss, wenn sie für andere da sein will. Und sie begreift, dass das Glück ganz nah sein kann, wenn man meint, es für immer verloren zu haben.
Anna McPartlin wurde 1972 in Dublin geboren und verbrachte dort ihre frühe Kindheit. Wegen einer Krankheit in ihrer engsten Familie zog sie als Teenager nach Kerry, wo Onkel und Tante sie als Pflegekind aufnahmen. Nach der Schule studierte Anna ziemlich unwillig Marketing. Nebenbei stand sie auch als Comedienne auf der Bühne, doch ihre wahre Liebe galt dem Schreiben, das sie bald zum Beruf machte. Bei der künstlerischen Arbeit lernte sie ihren späteren Ehemann Donal kennen. Die beiden leben heute zusammen mit ihren drei Hunden und zwei Katzen in Dublin.
Bereits ihr Debüt «Weil du bei mir bist» war international ein Bestseller. Mit dem Roman «Die letzten Tage von Rabbit Hayes», in dem Anna McPartlin viel von ihrer eigenen Vergangenheit verarbeitet hat, rührte und begeisterte sie unzählige Leserinnen und Leser und landete einen Riesenerfolg.
Für meine Mutter
die mir beigebracht hat, auch in den dunkelsten Momenten irgendwo ein kleines Licht zu entdecken.
Für Mary und Tony O’Shea
dafür, dass sie meine Eltern waren.
Für Hallie
einfach weil …
Die Sterne braucht es jetzt nicht: löscht das Licht ihnen allen;
den Mond packt ein und die Sonne laßt fallen;
gießt den Ozean aus und den Wald reißt ein:
von jetzt an kann nichts mehr von Gutem sein.
W.H. Auden, Anhalten alle Uhren
Es war Anfang März, und es regnete. Die Wolken erleichterten sich mit der Heftigkeit eines Betrunkenen, der nach vierzehn Pints in eine Ecke pinkelt. Ich sah zu dem Milchglasfenster und fragte mich, wie dieser Platzregen sich wohl auf meine weiße Wäsche auswirken würde, die da draußen im Wind an der Leine flatterte. Dann sah ich wieder auf den Boden und bemerkte den sanften Gelbton in den Kachelfugen um die Toilette herum.
Männer, dachte ich. Wie schwer ist es eigentlich, aufs Klo zu zielen? Ich sinnierte kurz darüber, was es eigentlich zu bedeuten hatte, dass mein Freund zielsicher Billardkugeln versenken oder das Auto in eine briefmarkengroße Parklücke manövrieren konnte, er aber, wenn es darum ging, mit seinem elften Finger in eine große Schüssel zu zielen, das Augenmaß eines besoffenen Teenagers hatte. Ich spürte die Kälte des Badewannenrandes durch meinen Rock.
Drei Minuten.
Drei Minuten können ganz schön lang sein. Ich fragte mich, ob sie mir wohl auch so lange vorkommen würden, wenn ich gerade dabei wäre, eine Bombe zu entschärfen. Ich fing an, die Sekunden zu zählen, aber das wurde mir schnell langweilig. Der Spiegel musste mal wieder geputzt werden. Das würde ich morgen machen. Abwesend spielte ich mit dem Stäbchen, das ich in der Hand hielt, bis mir wieder einfiel, dass ich da gerade draufgepinkelt hatte. Schnell legte ich es wieder hin. Ich wischte unsichtbare Fusseln von meinem Rock. Diese Angewohnheit hatte ich von meinem Vater, obwohl er natürlich keine Röcke trug. Das machten wir immer, wenn wir nervös waren. Manche Leute kneten ihre Hände; mein Vater und ich säuberten unsere Kleidung.
So richtig war mir diese gemeinsame Eigenschaft das erste Mal aufgefallen, als mein Bruder im Alter von siebzehn verkündete, dass er sich, statt Arzt zu werden, wie meine Eltern sich das vorgestellt hatten, für den Beruf des Pfarrers entschieden hatte. Meine Mutter, schwer gekränkt von dem Gedanken, ihren Sohn an einen abwesenden Gott zu verlieren, kreischte einen ganzen Abend herum, bevor sie zusammenbrach und sich vier Tage ins Bett legte. Mein Vater saß schweigend da und säuberte seinen Anzug. Er sagte keinen Ton, doch offenbar war auch er sehr enttäuscht. Wie ich mich erinnere, hat mich diese Sache damals nicht sonderlich interessiert. Als selbstsüchtige Teenagerin machte ich mir im Gegensatz zu meinen Eltern über Noels Werdegang herzlich wenig Gedanken, obwohl ich zugeben muss, dass mir die Vorstellung, einen Pfarrer in der Familie zu haben, ein bisschen peinlich war.
Wir hatten uns damals nicht viel zu sagen. Er war ein Streber, er las viel, hatte ein ernstes Wesen und pflegte sein politisches Bewusstsein. Er lernte ständig für die Schule, brachte den Müll raus, ohne darum gebeten worden zu sein, und war ein glühender Doctor Who-Fan. Er rauchte nicht und versuchte auch nie, als Minderjähriger an Alkohol zu kommen, wie übrigens auch nicht an Mädchen. Eine Zeit lang dachte ich, er sei schwul, aber ich gab diese Theorie wieder auf, als mir klar wurde, dass man interessant sein musste, um schwul zu sein. Aber jetzt waren wir erwachsen, und obwohl ich seine völlige Hingabe an den Allmächtigen bis jetzt nicht verstand, hatten sich die Zeiten geändert, und all die Eigenschaften, die ihn früher als langweiligen Streber hatten erscheinen lassen, machten ihn inzwischen zu einer faszinierenden Persönlichkeit. Heute gehört Pfarrer Noel zu meinen besten Freunden.
Zwei Minuten.
Ich war sechsundzwanzig Jahre alt. Mein Herz war vergeben, und ich lebte mit meiner Sandkastenliebe John zusammen. Ich hatte die Freude, miterlebt zu haben, wie mein Liebster von einem blonden, blauäugigen, träumerischen Jungen zu einem blonden, blauäugigen, selbstbewussten Mann geworden war. Wir waren seit fast zwölf Jahren zusammen, und für mich war er ganz klar der Richtige. Seit dem College lebten wir glücklich zusammen. Wir hatten eine nette Wohnung – zwei Schlafzimmer, zwei Badezimmer, eine Küche und ein hübsches Wohnzimmer – ganz in der Nähe von Stephens Green. Sie war klein und roch manchmal muffig, war aber für die Lage erstaunlich billig. Meine Arbeit gefiel mir. Lehrerin war zwar nie mein Traumjob gewesen, andererseits betrachtete ich es durchaus als Vorteil, nicht von beruflichem Ehrgeiz gequält zu werden. Unterrichten war einfach eine ganz normale Arbeit. An manchen Tagen mochte ich die Kinder, an anderen nicht, in jedem Fall war es eine sichere Anstellung. Meistens war ich um halb fünf zu Hause, und im Sommer hatte ich drei Monate frei. John war noch an der Uni und schrieb an seinem Doktor in Psychologie. Außerdem schaffte er es, nebenbei an vier Abenden die Woche als Barkeeper zu jobben. Manchmal verdiente er dabei mehr als ich, und er behauptete, dass er von den Betrunkenen mehr lerne als in den Seminaren an der Uni.
Wir waren glücklich. Wir waren ein ausgeglichenes, glückliches Paar. Wir hatten ein gutes Leben, gute Perspektiven und gute Freunde. Eine Menge Leute würden sich solch eine Geborgenheit wünschen, wie wir sie uns gegenseitig gaben.
Eine Minute.
Meine Mutter hatte schon oft laut darüber nachgedacht, wann John und ich endlich heiraten würden. Doch ich sagte jedes Mal, sie solle sich um Sachen kümmern, die sie etwas angingen. Worauf sie dann bemerkte, dass ich sie sehr wohl etwas anginge und wir uns über die Grenze zwischen Privatsphäre und Mutterliebe stritten. Mit sechsundzwanzig fühlte ich mich zu jung für die Ehe, basta, obwohl mich meine Mutter ständig daran erinnerte, dass sie selbst mit vierundzwanzig schon zwei kleine Kinder gehabt hatte.
«Das waren andere Zeiten», sagte ich immer, und das stimmte ja auch. Die meisten Freunde meiner Mutter waren mit Mitte zwanzig schon verheiratet und hatten Nachwuchs. Ich stammte aus einer völlig anderen Generation. MTV hatte das Tanzorchester abgelöst. Während sie mit Folk aufgewachsen war, hatte ich zu Madonna die Hüften kreisen lassen. Bevor sie meinen Vater kennenlernte, bestand ein toller Ausgeh-Abend für sie darin, sich im örtlichen Tanzschuppen an der Wand rumzudrücken und zu hoffen, dass einer der Kerle sie zum Walzer aufforderte. Ich dagegen gehörte zur Disco-Generation. Übrigens war von meinen Freunden keiner verheiratet.
Dreißig Sekunden.
Na gut, das stimmt nicht ganz. Anne und Richard haben sich an der Uni kennengelernt. Sie ist das mittlere Kind einer Mittelstandsfamilie aus Swords und er der Sohn eines der reichsten Grundbesitzer in Kildare. Sie standen gemeinsam Schlange, um sich während der Orientierungswoche für die Theater-AG einzuschreiben. Sie kamen ins Gespräch, schrieben sich doch nicht ein und gingen lieber Kaffee trinken. Seitdem sind sie unzertrennlich. Ein Jahr nach der Uni haben sie geheiratet. Wie auch immer, sie waren die Einzigen.
Clodagh, meine beste Freundin, seit ich vier bin, hat bis jetzt noch keine Beziehung länger als vier Monate durchgehalten. Sie war an der Uni zu einer ehrgeizigen, intelligenten und hart arbeitenden Karrierefrau geworden und schaffte es, sich in einer großen Werbeagentur innerhalb von drei Jahren zur Leiterin der Kundenbetreuung hochzuarbeiten. Bei ihr klappte einfach alles, nur ihr Liebesleben nicht, und dieses offensichtliche Versagen war ihr schmerzlich bewusst.
Dann war da noch Seán, Johns bester Freund, dunkelhaarig, melancholisch, kühl und schön. Clodagh nannte ihn den «fleischgewordenen David». Er hatte nicht nur achtzig Prozent der Studentinnen am Trinity College, sondern nebenher auch noch ein paar Dozentinnen flachgelegt. Seine bisher längste Beziehung dauerte einen Sommer, den wir alle gemeinsam in New Jersey verbrachten – mit einem amerikanischen Mädchen namens Candyapple (doch, so hieß sie wirklich, kein Spaß). Sie war der Inbegriff eines milchkaffeebraunen, dunkeläugigen, großbusigen, schmalhüftigen Albtraums. Sie hatte langes, gelocktes braunes Haar, das Anne irgendwie an Brian May, den Gitarristen von Queen, erinnerte. Seán nannte sie «köstlich»; wir anderen nannten sie «Brian». Sie blieben sechs Wochen zusammen. Nach der Uni und ein paar Fehlstarts fiel er auf die Füße und wurde Redakteur bei einem Männer-Magazin. Seine Schlagfertigkeit, seine aufrichtige Fußballvergötterung und seine enzyklopädischen Kenntnisse der weiblichen Sinnlichkeit garantierten ihm dauerhaften Erfolg. Eine Beziehung war ihm nicht wichtig, und Ehe oder Familie gehörten garantiert nicht zu seinen Prioritäten.
Zehn Sekunden.
John fühlte sich mit unserem Leben vollkommen wohl. Man kennt ja diese selbstgefälligen Paare, die man sofort hasst, wenn man sie zum erstem Mal sieht. John konnte genau diese Art Selbstgefälligkeit ausstrahlen. Es störte ihn offenbar nicht, dass Seán während des Studiums eine Frau nach der anderen rumkriegte. Es machte ihm nichts aus, dass er selber sein Leben lang nur mit einer einzigen Person Sex gehabt hatte. Er war zufrieden, wurde geliebt, war glücklich. Er war eine Ausnahme. Wir waren eine Ausnahme.
Als wir das erste Mal miteinander schliefen, waren wir sechzehn. Wir waren zelten in den Bergen von Wicklow. Es war eine warme Sommernacht, keine einzige Wolke war zu sehen. Der Vollmond strahlte rund und hell, der Himmel war mitternachtsblau und samten, die Laubkronen der Bäume ragten über uns auf und rochen nach Sonne. Kein Wind, nicht mal ein Hauch, die Welt schien stillzustehen. Wir hatten ein kleines Lagerfeuer, einen Picknickkorb, eine Packung Kondome und eine Flasche Wein, an dem wir beide kaum nippten, weil unsere unterentwickelten Geschmacksnerven die fruchtige Frische für ranzigen Mist hielten. Aus dem Knutschen wurde Fummeln, dann sehr heftiges Fummeln, dann erhitztes Rubbeln der Geschlechtsteile, und ein Hymen später lagen wir einander in den Armen, sahen zu den Nikotinflecken an dem blauen Nylonzelt hoch und fragten uns, warum um diese Sache eigentlich immer so ein Theater gemacht wurde.
Aber Clodagh hatte mich bereits vorgewarnt. Sie hatte mir schon gesagt, dass nur die Übung den Meister macht. John und ich schafften es ganze viermal, bevor wir stolz, glücklich und voller Geheimnisse nach Hause zurückkehrten.
Fünf Sekunden.
Ich war noch nicht so weit. Mir war schlecht, und ich betete, dass es am Stress lag und keine Morgen-Übelkeit war.
Verdammter Mist. Was soll ich machen? Ich will kein Kind. Ich will nicht heiraten. Ich will mich nicht fühlen, als wäre ich meine eigene Mutter, bevor ich was vom Leben gehabt habe. Ich will was unternehmen, auch wenn ich nicht genau weiß, was. Ich will neue Orte kennenlernen. Ich bin noch nicht so weit.
Ich hatte John weder gesagt, dass meine Periode seit zwei Wochen überfällig war, noch dass ich einen Schwangerschaftstest gekauft hatte. Normalerweise hatte ich keine Geheimnisse vor ihm, aber sicher war es richtig, ihn in diesem Fall nicht mit einzubeziehen.
Warum ihn unnötig beunruhigen?
Das Problem war nur, dass ich gar nicht sicher war, ob er überhaupt beunruhigt wäre. Er lächelte, wenn meine Mutter uns mit Fragen bezüglich Heirat und Kinderkriegen löcherte. Er betrachtete versonnen ein sabberndes Kind im Supermarkt, während ich mich ungeduldig zwischen den Leuten durchdrängelte und bloß so schnell wie möglich wieder mit unseren Einkäufen abziehen wollte.
Zwei Sekunden.
Er wäre begeistert, das ahnte ich. Und schlimmer noch: Er würde das Baby wollen. Es gäbe kein ratloses Stirnrunzeln, und es wären keine tränenreichen Entscheidungen zu treffen. Es gäbe nur Begeisterung und Pläne und Bücher und Babykleidung. Mir war schlecht.
Ich bin noch nicht so weit.
Meine Hände zitterten, als ich das Stäbchen umdrehte.
Bitte, sei nicht blau, bitte, bitte, sei nicht blau!
Meine Augen waren geschlossen, obwohl ich mich gar nicht erinnerte, sie geschlossen zu haben. Ich seufzte schwer, und das erinnerte mich daran, dass ich ja rauchte, also legte ich das Stäbchen weg und ging schnell ins Schlafzimmer, um die Zigaretten zu holen. Ich kam zurück und zündete mir eine an. Wild entschlossen zu genießen, atmete ich den Rauch tief ein – konnte ja schließlich meine letzte Zigarette für eine lange Zeit sein. Ich beschloss, die Zigarette ganz zu Ende zu rauchen, bevor sich meine Zukunft offenbaren würde. Diese Idee gab ich allerdings auf, als ich Johns Schlüssel in der Haustür hörte. Hastig hielt ich mit der einen Hand die Zigarette unter den Kaltwasserhahn, während ich mit der anderen wie irre herumwedelte, damit der Rauch sich auflöste, der in Schwaden in dem engen Raum hing. Ich hörte, wie er die Treppen herauf in Richtung meines Verstecks kam. Ich hatte keine Zeit mehr.
«Emma!»
«Ich bin hier drin!», rief ich, und meine Stimme klang ein bisschen zu schrill.
Er drückte die Klinke runter. Hilflos starrte ich auf die Tür und versteckte das Stäbchen im Ärmel meines Pullis. Es war abgeschlossen. Ich seufzte vor Erleichterung.
«Warum ist die Tür abgeschlossen?», fragte er misstrauisch.
«Ich schließe doch immer ab», log ich in der Hoffnung, dass er kurzfristig das Gedächtnis verloren hatte.
Hatte er aber nicht.
«Nein, das machst du nicht», sagte er und drückte immer noch die Klinke herunter.
«John», sagte ich streng, «kannst du mich nicht mal eine Sekunde in Ruhe lassen?» Ich hörte ihn ins Schlafzimmer gehen. Er murmelte irgendetwas, dass ich unausstehlich sei, wenn ich meine Tage hatte.
Schön wär’s!
Ich setzte mich wieder und drehte das Stäbchen um. Ich sah es eine ganze Weile an. Ich umschloss es mit der Hand und sah wieder hin. Ich biss mir so fest auf die Lippe, dass es wehtat. Ich öffnete die Finger und sah auf ein herrlich weißes Testfensterchen. Nicht die Spur von Blau. Ich ging zum Fenster, um besseres Licht zu haben. Nichts. Es war leer. Keine blaue Linie. Ich hatte mein Leben zurück. Ich war nicht schwanger. Ich war nicht mal ein bisschen schwanger. Ich war nur spät dran, und ich war zu einer Party eingeladen.
Danke, lieber Gott!
Als Richards Großvater mit einundneunzig Jahren starb, hinterließ er Richard einen sehr großen Anteil seines Grundbesitzes und machte ihn damit extrem reich. Aus diesem Anlass sollte eine Party gefeiert werden, eine «Erbschaftsparty». Anfänglich hielt Anne diese Idee für ziemlich geschmacklos. «Er war ein sehr alter Herr, der nach einem erfüllten Leben voller Liebe und Erfolg gestorben ist. Warum sollte es da respektlos sein, euer Glück mit einer Party zu feiern?», hatte ich sie gefragt.
«Außerdem waren wir schon so lange auf keiner Party mehr», lautete Johns Beitrag zur Debatte.
«Abgesehen davon hatte mein Großvater viel Sinn für Humor. Er hätte diese Idee großartig gefunden», sagte Richard, der seinen neuen Reichtum unbedingt in großem Stil genießen wollte.
«Die Idee ist phantastisch! Wir können sein Leben feiern und die Tatsache, dass gute Freunde von uns steinreich sind», verteidigte auch Seán den Plan.
Schließlich kapitulierte Anne, und so kam es dazu, dass der Tag, an dem ich feststellte, dass ich kein neues Leben auf die Welt bringen würde, der Tag war, der mein eigenes Leben für immer veränderte.
Ich wollte dir schon so lange schreiben. Ich hätte mir eigentlich nicht träumen lassen, dass ich jemals wirklich dazu käme, aber als es so weit war, war es plötzlich ganz leicht. Erinnerungen sind etwas Absurdes. Manche sind verschwommen, manche kristallklar, manche zu schmerzhaft, um sie sich ins Gedächtnis zu rufen, und manche so schmerzhaft, dass man sie unmöglich vergessen kann. Denkt man an glückliche Momente zurück, wird einem warm ums Herz, man ruft sie sich ins Gedächnis, wie man im Pub eine Anekdote erzählt und sie für die Zuhörer noch ein bisschen ausschmückt. Die wirklich guten Zeiten leisten einem an den Abenden Gesellschaft, an denen man sich sonst einsam fühlen würde. Und die klarsten Erinnerungen hat man an solche Gelegenheiten, bei denen man extreme Höhen oder Tiefen durchlebt. Man erinnert sich an die Gefühle, die man in diesen Situationen hatte. Und das Gefühl überwältigender Freude oder unfassbarer Verzweiflung bringt das Gehirn dazu, Details wahrzunehmen, die man normalerweise nicht bemerken würde, wie die Farbe des T-Shirts, das jemand trug, oder eine bestimmte Handbewegung oder wie warm oder kalt es war.
Man kann sich die Lachfältchen einer geliebten Person ins Gedächtnis rufen oder die Art, wie ihr die Tränen in die Augen gestiegen sind. Aber Leid ist schwer in Worte zu fassen, und Leid gibt es immer im Leben. Es ist so natürlich wie Geborenwerden und Sterben. Das Leid macht uns zu dem, was wir sind, es erzieht uns, und es zähmt uns, es kann zerstören und retten. Wir alle kennen Reue – sogar Frank Sinatra. Manche Tragödien verursachen wir selbst, und manchmal wiederum passiert etwas, auf das keine Macht der Welt Einfluss hat, und wenn so etwas passiert, bleibt man wie erstarrt zurück.
Das Glück ist ein Geschenk. Es fühlt sich warm an, und wir sehen die wahre Schönheit. Man sollte das Glück nicht für selbstverständlich halten. Ich hätte es nicht für selbstverständlich halten sollen. Diese dünne blaue Linie bedeutete Glück. Ich wusste nicht, dass sie etwas bedeutete, was für immer verloren sein würde. Aber damals war ich noch nicht so weit.
Nachdem mein kleines Drama gut ausgegangen war, stieg ich in die Badewanne, um den Mief der St.-Fintan-Grundschule loszuwerden. Trotz meines gnädigen Schicksals war ich schlechter Laune und freute mich gar nicht auf die Party, obwohl es ja auch meine Idee gewesen war. Nachdem ich die Tür aufgeschlossen hatte, kam John herein, und sein Grinsen schien zu bedeuten, dass mein Ausbruch von vorhin schon vergeben war.
«Darf ich dir den Rücken schrubben?»
Ich sagte ihm, er solle mich in Ruhe lassen.
«Willst du mir den Rücken schrubben?»
Ich zeigte ihm den Finger.
«Aha, die kleinen Monster haben dich wieder fertiggemacht», sagte er lachend.
«Nenn meine Schüler nicht kleine Monster!»
«Wieso denn nicht? Das machst du doch auch. Außerdem, wenn sie dich nerven, muss ich mit die Folgen ertragen, also habe ich wohl das Recht dazu.» Er hatte recht.
«Na gut, ich erlaube dir, mich aufzuheitern», sagte ich und lächelte.
«Du bist so gut zu mir», gab er zurück, kniete sich auf den Boden und planschte mit strahlenden Augen in meinem Badewasser.
Ich schmolz dahin. «Na gut. Komm rein, aber schubs mich nicht gegen die Wasserhähne.»
Er war schon fast ausgezogen, als ich bei dem Wort «Wasserhähne» angekommen war. Er setzte sich hinter mich, wir lagen in dem warmen Wasser, und seine Arme umschlangen meinen herrlich leeren Bauch. Die Wanne schwappte über, ich ließ ein bisschen Wasser ab, lehnte mich zurück und fragte ihn, wie sein Tag gewesen war. Er antwortete mit einem Bericht über einen phantastischen Psycho-Test, den er aus dem Netz gezogen hatte, und sofort bedauerte ich meine Frage.
«Der ist toll – ich muss ihn unbedingt mit dir machen», drohte er.
Ich drehte mich zu ihm um. «Klingt ja sehr sexy», sagte ich.
«Der ist wirklich toll – macht unheimlich Spaß. Aber du brauchst was zum Schreiben.»
«Ich sitze in der Badewanne», klärte ich ihn auf und versuchte, es mir bequem zu machen.
Er fing an, mir den Rücken zu waschen. «Der Test ist sehr aufschlussreich», sagte er geheimnistuerisch.
Ich erklärte ihm, dass ich nach sechs Jahren Beziehung den Eindruck hätte, er wisse alles, was es über mich zu wissen gebe. Er lächelte stolz.
«Man weiß nie alles. Wir kennen uns ja manchmal selber nicht. Ich zum Beispiel wusste bis gestern nicht, dass ich zwei Big Macs, eine große Portion Pommes, sechs Chicken McNuggets und einen Schokomilkshake zu mir nehmen kann, ohne dass mir schlecht wird.»
«Meine Güte», sagte ich, «das ist ja ekelhaft.»
Er nickte zustimmend. «So bin ich eben, Baby», meinte er und hob lachend die Arme.
Später kam er mit einem Blatt Papier und einem Stift ins Schlafzimmer.
«John, ich ziehe mich gerade an.»
Er legte den Stift und das Papier auf die Kommode. «Jetzt komm schon, es sind doch nur ein paar Fragen. Dauert höchstens zehn Minuten. Ich will ihn vor der Party ausprobieren.»
Ich konnte es nicht fassen. «Du hast doch nicht etwa vor, diesen Test auf der Party zu machen?», fragte ich ungläubig.
«Emma, es macht wirklich Spaß», behauptete er nicht gerade überzeugend.
Also nahm ich den Stift, weil ich wusste, dass mir ohnehin nichts anderes übrig blieb. «Aber mach schnell. Ich muss noch meine Haare föhnen.»
Er zog die Anleitung aus seiner Tasche und begann zu lesen. «Also, überleg dir eine Farbe und schreib sie auf.» Ich dachte eine Sekunde nach und notierte, was ich mir überlegt hatte.
«So, und jetzt schreib drei Dinge auf, die du mit dieser Farbe in Verbindung bringst.»
Ich dachte ein paar Sekunden nach.
«Hast du’s?»
Ich nickte.
«Welche Farbe hast du genommen?»
«Rot.»
«Gut, und wie lauten die drei Wörter?» Er grinste selbstgefällig.
Ich las meine Worte laut vor: «Hüpfbälle, Zigaretten und Lippenstift.»
«Was?», fragte er, offenbar völlig aus dem Konzept gebracht. Sein Grinsen erlosch, und er sah mich merkwürdig an.
«Hüpfbälle, Zigaretten und Lippenstift», wiederholte ich.
«Ja, ja, ich hab’s schon verstanden. Aber das ist falsch – du hast was falsch gemacht.»
Ich konnte es nicht glauben und hatte ehrlich gesagt genug von seinem blöden Spielchen. «Spinnst du, was soll das heißen, ich habe was falsch gemacht?», schrie ich über den Lärm meines Föhns. «Das ist ein psychologischer Test. Du hast gesagt, ich soll mir drei Wörter überlegen, die ich mit Rot assoziiere, und das habe ich gemacht. Was soll daran falsch sein?»
Verwirrt hob er die Hand an die Stirn, und es war klar, dass er den Reflex unterdrücken musste, sich am Kopf zu kratzen. «Wie kommst du von Rot auf Hüpfbälle, Zigaretten und Lippenstift?», rief er.
Ich kämpfte gerade mit einem neu entdeckten Dorftrampelhaarwirbel, und aus dem Spaß, den er mir versprochen hatte, war auch nichts geworden. Das hatte ich allerdings schon von vornherein geahnt. Ich antwortete ihm in der Hoffnung, dass er mich dann endlich in Ruhe lassen würde.
«Der Hüpfball, den ich als Kind hatte, war rot. Ich rauche Marlboro, das Päckchen ist rot, und ich benutze am liebsten roten Lippenstift. So einfach ist das.» Ich stellte den Föhn höher ein.
«Trotzdem, das ist falsch», murmelte er und las noch einmal die Anleitung durch.
Dann rief er irgendwas, dass die drei Worte eigentlich mein Selbstbild erkennen lassen sollten. Meine Antwort hatte ihn so irritiert, dass ich den Föhn abstellte und kurz nachdachte, wie ich seine Nerven beruhigen könnte.
«Vielleicht heißt das ja, dass ich tief im Innersten eine kettenrauchende Hüpfball-Expertin bin, die roten Lippenstift mag. Das ist unglaublich. Ich habe wirklich etwas über mich gelernt.» Ich lachte inzwischen, aber er war immer noch perplex.
«Im Hörsaal hat der Test funktioniert. Du musst geistig behindert sein, Emma. Ich schwöre dir, dass er bei allen anderen Leuten funktioniert.» Er knüllte die Seite zusammen und warf sie in den Mülleimer.
Als er hinausging, hörte ich ihn «Verdammte Hüpfbälle» brummeln.
Die Party war schon in vollem Gange, als John und ich ankamen. Die Haustür stand offen, und auf den Stufen saß ein knutschendes Pärchen. Als wir an den beiden vorbeigingen, machte John ein lautes, feuchtes Kussgeräusch. Glücklicherweise schienen sie es nicht zu hören. Wir gingen direkt in die Küche, wo Seán schon am Tisch saß und einen Joint baute. John ließ sich neben ihm auf einen Stuhl fallen, während ich mich nach Anne und Richard umsah, die ich schließlich im Wohnzimmer entdeckte. Anne trug Sorge, dass die versammelte Menge sich auch gut amüsierte, während Richard sich Alkohol in die Kehle schüttete, als wäre dort ein gähnendes Loch, das gefüllt werden musste.
Über dem Kamin hing ein selbst gemachtes Plakat, auf dem in Druckbuchstaben stand «WIR SCHWIMMEN IM GELD». Ich lächelte und sagte Anne, dass das wirklich Stil hätte. Sie jedoch, angewidert von dem Humor ihres Mannes, bat mich, sie nicht daran zu erinnern, während sie versuchte, dem Schild ständig den Rücken zuzukehren.
Die Musik war laut, die Leute standen herum und quatschten, ein paar tanzten, und alle tranken. Ich kannte kaum jemanden, es waren die Arbeitskollegen unserer Gastgeber, also ging ich wieder in die Küche, wo ich die beiden Jungs mit verschwommenem Blick antraf und John gerade fast erstickte.
Seán sah mich mit einem dämlichen Lächeln an. «Auch mal?», fragte er.
Ich zog an dem Joint und hatte sofort das Gefühl, dass mir fast der Kopf wegflog. «Ach du Scheiße! Ich brauch einen Hut.»
Die zwei lachten, und dann erzählte uns Seán von einem Freund, der eine Musterkollektion unterschiedlicher Cannabis-Sorten per Post aus Amsterdam geschickt hatte. An den kleinen Plastikbeuteln hingen Schildchen mit der jeweiligen Bezeichnung, und außerdem war noch ein Menüplan dabei. Wir schwiegen beeindruckt, als Anne mit einem leeren Tablett hereinkam. Sie musste nur einen kurzen Blick auf uns werfen, um zu wissen, was los war.
«Na wunderbar, ihr seid doch wirklich zu nichts nutze! Seit fünf Minuten seid ihr hier, und jetzt seht euch mal an!»
Ich grinste sie an. Anne gab wie gewöhnlich die Herbergsmutter. John meinte immer, dass sie schon als Erwachsene geboren worden sei. Wir verließen uns auf ihre Vernunft, und sie enttäuschte uns nie.
«Habt ihr auch Gläser?», fragte ich völlig bewegungsunfähig.
Bevor sie mit ihrem Tablett hinausging, auf dem sich neue Sandwichs stapelten, gab sie mir zwei große Pint-Gläser. Ich goss John Bier ein und mir Wein. Ich betrachtete lange mein Glas, bevor ich daran nippte, und nahm mir vor, nie mehr Wein aus einem Pint-Glas zu trinken. Danach schmeckte der Wein gut. Seán hatte begonnen, den nächsten Joint zu bauen, und ich fing nach meinem stressigen Tag endlich an, mich zu entspannen.
«Wo ist Clodagh?»
«Sie ist hier», sagte Seán, während er expertenmäßig den Tabak zerbröselte.
«Wo?»
«Oben, mit so einem Typen», antwortete er und grinste. Plötzlich war mein Interesse geweckt.
«Ich wollte meinen Mantel ins Schlafzimmer bringen», fuhr er fort. «Die Tür war abgeschlossen, und Clodaghs Stimme befahl mir, schleunigst abzuhauen.»
John fing an zu lachen. Ich wollte der Sache nachgehen, aber meine Beine machten nicht mit. Anne kam regelmäßig herein, um ihr Tablett wieder aufzufüllen, und warnte uns, es nicht zu übertreiben. Richard war inzwischen ziemlich betrunken und hielt im Wohnzimmer Hof. Wir blieben in der Küche, tranken, rauchten und lachten über jeden Quatsch.
Irgendwann kam Anne mal wieder herein.
«Richard hält gerade seinen vierten Wir-sind-stinkreich-Vortrag. Ich verstehe wirklich nicht, was in ihn gefahren ist», sagte sie, und ich musste unwillkürlich an meine Mutter denken.
Seán lachte. «Eine halbe Flasche Wodka, vier Slippery Nipples und mindestens zwei Joints», zählte er auf, als würde er einen Einkaufszettel vorlesen.
Anne ließ sich jedoch nicht beeindrucken. «Ja, sehr lustig, Seán. Du bist wirklich ein Komiker.»
Seán war so betrunken, dass er meinte, ihre Stichelei wäre ein Kompliment gewesen. «Danke!», sagte er, hob dabei sein Glas, und John und ich machten es ihm nach.
«Ihr seid wirklich eine Versagertruppe», sagte Anne, und wir krümmten uns vor Lachen, begeistert von dem Titel, den sie uns verliehen hatte. Sie lächelte und sah an die Decke wie eine amüsierte Mutter, die ihre frechen Kinder ermahnt.
Sie türmte gerade noch mehr Essen auf ein paar Tabletts, als Clodagh mit einem Typen im Schlepptau hereinkam.
«Hallo, Leute», sagte sie und nahm Seán den frischen Joint aus der Hand. Der Typ stand einfach bloß da und wusste nicht so recht, wohin mit sich. Sie ließ sich auf einen Stuhl nieder und klopfte auf den neben ihr. «Setz dich hierher», sagte sie und lächelte ihren neuen Freund an.
Aber er bemerkte sie gar nicht, so sehr faszinierte ihn unser Anblick, während wir ihn unsererseits anstarrten, wie es nur völlig zugedröhnte Leute können. Als er sich setzte, wirkte er etwas beunruhigt. Wir warteten darauf, dass er uns vorgestellt würde. Clodagh lächelte uns an, als hätte sie das Sexobjekt an ihrer Seite schon vergessen. Schließlich bat John sie, uns bekanntzumachen.
«Oh», sagte sie, «das ist Philip.»
Anne, die inzwischen damit fertig war, ihr Tablett zu beladen, hieß ihn in ihrem Haus willkommen und ging zurück ins Wohnzimmer. Wir lächelten ihn alle einfach bloß an, bis er sich mit den Worten entschuldigte, er müsse mal. In der Sekunde, in der sich die Tür hinter ihm schloss, stellte ich die Frage, die alle brennend interessierte.
«Hast du gerade oben mit ihm geschlafen?»
«Nein!», erklärte sie entschlossen, während sie mit dem Kopf nickte.
«Und wo hast du diesen armen Hund kennengelernt?», erkundigte sich Seán diskret.
«Am Taxistand.»
Wir lachten wieder.
«Es ist wirklich so eine Sache mit dem öffentlichen Nahverkehr», stellte sie fest, und Seán nickte zustimmend.
Anne kam wieder herein. Seán bat sie, sich zu uns zu setzen, aber sie war gerade auf einer Wo-ist-noch-Eis-Mission. John nannte sie Doris Day, und als sie hinausging, sah er zum zweiten Mal an diesem Tag den Finger.
Dann kam Philip zurück und setzte sich. Wieder starrten wir ihn alle an. Nach ein paar Sekunden öffnete er den Mund. «Das hier ist also eine Erbschaftsparty?»
Wir nickten wieder.
«Was ist das eigentlich genau?», fragte er unbeeindruckt. Uns schien das völlig klar, aber Seán beschloss, ihm trotzdem zu antworten. «Das ist, wenn sehr, sehr reiche Großeltern sehr, sehr alt sterben und dir sehr, sehr viel Geld vererben.»
Wir lächelten ihn alle an, begeistert von der Schlichtheit und Aufrichtigkeit seiner Antwort. Doch Philip war nicht überzeugt. «Also ist jemand gestorben?», erkundigte er sich. John sah ihn an, als wäre er ein bisschen zurückgeblieben.
Seán sagte: «Er war sehr alt.» Nach diesem Satz zog er an seinem Joint, blies langsam den Rauch weg und lächelte Philip an. Er erinnerte mich an Steve McQueen in den Glorreichen Sieben, und wieder lachten wir völlig bekifft. Aber Philip war schon erwachsen und ließ sich nicht beeindrucken. Er meinte, er gehe mal rüber ins Wohnzimmer, aber wir wussten alle, dass er vorhatte, das Haus zu verlassen. Wir warteten, bis wir die Haustür zuknallen hörten.
Seán betrachtete Clodagh und sprach das Offensichtliche aus. «Dir ist klar, dass er gegangen ist, oder?»
«Dahin, doch nicht vergessen!» Sie lachte über ihren eigenen Witz.
Ich wandte mich zu John um, packte mit bemerkenswertem Geschick sein Kinn, drehte sein Gesicht zu mir, sah ihm in die Augen und sagte mit schwerem Hinterwäldler-Akzent: «Ich hoff, ich krieg von dir heut Nacht auch noch was, das ich nicht vergesse.»
Worauf er wie aus der Pistole geschossen zurückgab: «Du und deine Schwester genauso, Baby!»
Seán, der gerade einen Schluck aus seiner Bierdose nahm, erstickte fast angesichts des Komikertalents seines Freundes, und wieder lachten alle. Schließlich kamen Anne und Richard zu uns. Clodagh reichte Anne den Joint weiter, und als sie den ersten tiefen Zug genommen hatte, war Doris Day verschwunden. Das war ein paar Minuten bevor ihr auffiel, dass Philip fehlte.
Als sie sich erkundigte, wo er sei, antwortet Clodagh knapp: «Gegangen.»
John ergänzte: «Dahin, doch nicht vergessen.»
Wir schüttelten uns alle vor Lachen, und Anne sagte: «Meine Güte!»
Der Abend ging so ziemlich in diesem albernen Stil weiter. Irgendwann tanzten John und ich – na ja, eigentlich hielten wir uns nur aneinander fest und schwankten. Anne ließ «Purple Rain» von Prince laufen. Das war unser Lied. Wir schwankten noch ein bisschen mehr und erinnerten uns an die Nacht, in der wir das Lied gehört hatten, während wir unseren nagelneuen zehn Jahre alten Ford Escort eingeweiht hatten. Bei der Erinnerung lächelten wir, und dann fiel uns wieder ein, wie erstaunt wir gewesen waren, als die Fenster tatsächlich beschlugen. Am Ende des Liedes wirbelte John mich herum, wobei er mich leider fallen ließ. Trotz dieser kleinen Panne fühlte ich mich wie Ginger Rogers – die Macht bewusstseinsverändernder Drogen. Nachdem er mir wieder auf die Füße geholfen hatte, küsste er mich, und ich fühlte mich wie sechzehn. Mit John fühlte ich mich immer wie sechzehn, und dafür liebte ich ihn.
Langsam verließen die Gäste die Party, und Clodagh verschwand, um sich unter dem Treppenabsatz zur Ruhe zu betten. Das hatte sie sich in der Collegezeit angewöhnt. Wir machten uns keine Gedanken und vergaßen auch, nach ihr zu sehen, als wir uns auf den Heimweg machten. Es war drei Uhr morgens, und Richard und John hatten sich auf eine ausufernde Debatte über ein dummes Fußballspiel eingelassen. Wir standen an der Tür, und ich fror und war müde.
Schließlich sagte Anne, es sei Zeit zu gehen, und wir machten uns auf. Draußen fiel mir auf, dass ich mein Feuerzeug vergessen hatte. Ich wollte zurück und es holen, doch John meinte, dass wir das auch am nächsten Morgen noch machen könnten. Davon wollte ich aber nichts hören. Das Feuerzeug war ein versilbertes Zippo, das Noel mir zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Es hatte eine Gravur, und ich liebte dieses Feuerzeug, nicht bloß, weil es cool war, sondern auch, weil es mir schien, als habe mein Bruder damit meine vergnügungssüchtige Lebensführung akzeptiert. Also ging ich wieder zurück, obwohl John protestierte. Er meinte, er würde dort an der Straße warten. Anne und Richard sammelten im Wohnzimmer die Bierdosen ein; Seán saß immer noch in der Küche, wo er gerade den nächsten Joint rauchte. Ich lächelte ihn an und machte irgendeine sinnlose Bemerkung, während ich nach dem Feuerzeug suchte. Er bot mir einen Zug für unterwegs an. Ich zog an dem Joint, und er lächelte.
«Du bist eine echte Schönheit», sagte er.
Ich lächelte und wartete auf die Pointe, die aber nicht kam. Die Worte hingen in der Luft.
«Danke», sagte ich einen winzigen Moment zu spät.
«Entschuldige, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen», lallte er.
«Kein Problem», sagte ich und wurde rot. Da entdeckte ich das Feuerzeug auf dem Tisch und griff danach. Wie sonst auch beugte ich mich zu ihm hinüber, um mich mit einem Kuss auf die Wange zu verabschieden. Er wandte sich um, als ich gerade sein Gesicht erreichte, und ich bekam einen Schock, als seine Lippen meine berührten. Wir fuhren auseinander, und er entschuldigte sich sofort überschwänglich. Ich wollte nicht, dass er so einen Wirbel veranstaltete, es war schließlich keine Absicht gewesen. Wir waren Freunde und so etwas nicht der Rede wert.
Ich wollte gerade zur Tür gehen, als wir quietschende Bremsen hörten, gefolgt von einem furchtbaren, dumpfen Aufprall. Ich hatte diese Geräusche noch gar nicht richtig wahrgenommen, als Seán schon aufgesprungen war und aus der Tür rannte. Ich hörte Anne und Richard etwas rufen. Sie riefen Johns Namen. Plötzlich war ich wie gelähmt, bewegungslos starrte ich immer noch auf die Stelle, wo Seán gesessen hatte.
Anne schrie jetzt: «O Gott, nein!»
Mein Herz begann wie wild zu rasen. Meine Brust begann zu schmerzen. Ich hörte, wie Richard Seán anbrüllte. «Fass ihn nicht an, beweg ihn nicht!»
Plötzlich funktionierten meine Beine wieder. Ich lief los, rannte aus dem Haus und auf die Straße. Draußen sah ich meine Freunde. Richard stürzte an mir vorbei ins Haus. Anne stand mitten auf der Straße und starrte auf Seán hinunter, der sich über jemanden beugte, der sehr stark aus einer Wunde am Kopf blutete. Ich sah mich nach John um. Ich muss seinen Namen gerufen haben, denn Seán blickte mit Panik in den Augen zu mir hoch. Ich ging auf ihn zu, und mir wurde klar, dass der blutende Kopf zu John gehörte. Ich fing an zu zittern, und es schien ewig zu dauern, bis ich dort war, wo er lag. Ich sackte auf dem Boden zusammen.
«John, John, John.» Wieder und wieder sagte ich seinen Namen, aber er reagierte nicht. Der Autofahrer saß auf dem Randstein, umklammerte seine Knie und murmelte etwas davon, dass er ihn nicht gesehen habe und dass er einfach plötzlich vor dem Auto aufgetaucht sei. Ich sah diesen Fremden an, der sich auf die Lippe biss und weinte.
Richard kam wieder heraus und sagte, der Krankenwagen würde in fünf Minuten da sein. Anne rannte zurück ins Haus. Seán redete auf John ein. Er sagte, dass alles wieder gut werden würde und dass der Krankenwagen auf dem Weg sei. Ich sagte, dass ich ihn liebte und dass er durchhalten musste. Es war sehr kalt; John sah kalt aus. Ich wollte ihn hochziehen, um ihn in meine Arme zu nehmen, aber Seán hielt mich zurück.
«Wir dürfen ihn nicht bewegen, Emma. Er kommt wieder in Ordnung. Der Krankenwagen ist auf dem Weg.»
«Bitte, wach auf!», flehte ich. Ich wollte in seine Augen sehen. «Bitte, wach auf!»
Anne kam gerade mit Handtüchern in der Hand wieder aus dem Haus, als der Krankenwagen in die Straße einbog. Die Sanitäter stiegen aus und schoben uns aus dem Weg. Seán zog mich zur Seite und schloss mich fest in die Arme, als hätte er Angst, dass ich weglaufen könnte. Richard starrte den Fahrer an, der auf dem Randstein saß und dessen Lippe inzwischen blutete. Anne stand mitten auf der Straße und hatte immer noch die Handtücher in der Hand.
Ich durfte zusammen mit John im Krankenwagen fahren; die anderen kamen in einem Taxi nach. Ich hielt seine Hand, während um mich herum gearbeitet wurde. Sie steckten Kanülen in ihn hinein und behandelten sein Herz mit Elektroschocks. Er war immer noch bewusstlos, aber ich redete trotzdem auf ihn ein. Ich sagte, dass wir in Ferien fahren würden, sobald es ihm besser ginge, und dass er sich keine Sorgen machen solle, weil alles wieder in Ordnung käme. Ich sagte ihm, wie sehr ich ihn bei allen möglichen Angelegenheiten brauchte, und redete sogar über irgendein blödes Fußballspiel, auf das er sich freute.
Als wir im Krankenhaus ankamen, ließen sie mich auf dem Gang stehen, während sie John in einen Raum rollten, zu dem nur Mitarbeiter Zutritt hatten. Eine Krankenschwester brachte mich in einen Wartebereich und fragte mich, ob ich einen Tee mit Zucker haben wollte.
«Zucker ist gut bei Schock», sagte ich.
Sie stimmte mir zu und lächelte traurig. «Ich hole Ihnen den Tee», sagte sie und verschwand.
Die anderen kamen ein paar Minuten später, und dann warteten wir. Niemand sagte etwas. Ich hatte wahnsinnige Angst. Ich wusste, dass es schlimm war.
Bitte bleib am Leben. Bitte werde gesund, dachte ich immer wieder.
Heilige Maria Mutter Gottes, bitte rette ihn. Vater unser, der du bist im Himmel, bitte rette ihn. Bitte, Gott, bitte, lieber Jesus, bitte rette ihn. Gelobet sei der Herr, bitte, betete ich, und dann wieder von vorne.
Seán fiel plötzlich Clodagh wieder ein. Sie war immer bei Anne und Richard zu Hause und schlief irgendwo, ohne etwas von diesem Albtraum hier zu ahnen. Anne ging los, um sie anzurufen.
Dann kam der Arzt in den Warteraum. Ich sah zu ihm hoch, und es schien Stunden zu dauern, bevor meine Augen seine trafen. Er fragte, ob jemand von der Familie da sei. Johns Eltern waren noch nicht angekommen. Ich stand auf. Ich sagte, dass ich zur Familie gehörte, und ging auf ihn zu.
«Es tut mir sehr leid», sagte er. «Johns Kopfverletzungen waren zu schwer. Wir haben alles getan, was wir konnten. Er hat nicht gelitten.»
Er sagte uns, dass John tot war. Mein Kopf tat weh, und meine Augen brannten. Ich wollte, dass mein Herz aufhörte zu schlagen, denn jeder Herzschlag war schmerzhafter als der vorangegangene. Die anderen starrten mich an. Anne weinte. Ich versuchte dem Arzt zuzuhören, aber das Rauschen in meinen Ohren war zu laut. Er führte mich in den Raum, den ich zuvor nicht hatte betreten dürfen. Er blieb eine Minute da und sah mich an, wie ich auf Johns Körper starrte. Dann ging er. John war im Raum, aber ich war allein.
Nein. Das alles passiert nicht. Wir sind zu Hause und schlafen. Ich habe einen Albtraum.
«Wach auf! Wach auf!», rief ich und kniff mich ganz fest. «Wach auf!»
Tief in meinem Innern wusste ich, dass ich nicht träumte, aber ich kniff mich noch fester. Dann nahm ich ihn in die Arme. Er war schwer und noch warm.
Ich flüsterte in sein Ohr: «Mach einfach die Augen auf. Mehr musst du gar nicht machen. Um den Rest kümmern sich die Ärzte.»
Doch er tat es nicht. Der Tod lag schwer in der Luft, und ich konnte kaum atmen. Er war bis zum Kinn mit einem weißen Laken zugedeckt. Inzwischen floss kein Blut mehr aus seinem Kopf, und die Flecken waren abgewaschen worden. Ich konnte seine Gesichtszüge wiedererkennen. Er wirkte jünger, wie der Teenager, der mich immer in seine Basketballmannschaft gewählt hatte, obwohl ich gar nicht spielen konnte. Wieder nahm ich seine Hand, und ich spürte, wie mein Herz brach.
Ich fragte mich kurz, ob ich gleich einen Herzschlag bekommen würde, und ich wäre froh darum gewesen. Er war tot. Vor ein paar Stunden hatte er mit mir getanzt, aber jetzt war er tot. Das Atmen wurde mir noch schwerer.
«Ich liebe dich», sagte ich mit versagender Stimme. «Ich hätte wirklich gern, dass du jetzt aufwachst.» Ich flehte ihn an, aber er konnte mich nicht hören. Das wollte ich nicht einfach hinnehmen. Ich küsste ihn auf seine blauen Lippen und rieb mein Gesicht an seiner Wange. Ich flüsterte in sein Ohr und bat: «Bitte, komm zurück!»
Dann sagte ich sehr oft «Scheiße Scheiße Scheiße», und meine Tränen brannten rote Spuren in mein Gesicht, meine Hände zitterten und wurden taub, während sie seine hielten, die immer kälter und kälter wurden.
«Bitte, verdammt, bitte komm zurück! Ich tue auch alles!» Ich wartete – nichts. Ich sah zur Decke hoch. Ich wusste, dass es dumm war, aber das war mir egal.
«Gott, wenn du ihn mir zurückgibst, tue ich alles, was du willst. Ich werde ein guter Mensch. Bitte, Gott, bitte, Gott, bitte, Gott, gib ihn mir zurück. Er ist sechsundzwanzig – er ist erst sechsundzwanzig, verdammt. Gott, bitte, Gott, gib ihn wieder her!»
Es funktionierte nicht. Ich wollte mich neben ihn legen, aber ich konnte mich nicht dazu bringen, denn zum ersten Mal schien es irgendwie falsch, neben John zu liegen. Also hielt ich einfach nur seine Hand und schob ihm das blonde, blutverschmierte Haar aus dem Gesicht, dem Gesicht, mit dem ich aufgewachsen war, dem Gesicht, auf das ich mich verlassen hatte, dem Gesicht, das mir so vertraut war wie mein eigenes, das sich jetzt aber verändert hatte. Das Licht war aus, das Funkeln verblasst, und all das, was wir waren und hatten, war vergangen, und all das, was er war und hätte sein können. Mein Kindheitsgefährte, mein Mann, mein Freund, mein Herausforderer, mein Geliebter, meine Identität lag vor mir und wurde langsam eiskalt. Tränen strömten aus dem Ozean, der einmal mein Herz gewesen war. Ich klopfte unsichtbaren Staub von dem Laken, das ihn bedeckte. Dann griff ich wieder nach seiner Hand und hielt sie ganz fest.
«Ich liebe dich.»
Die Zeit stand still, und der Schmerz überwältigte mich. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich auf den kalten Fliesen kniete und mich verzweifelt an seine Hand klammerte. Irgendwann kam Clodagh in den Raum. Sie weinte. Als ihr Blick auf den Freund unserer Kindheit fiel, schrie sie. Es war nicht absichtlich – es war eine Urreaktion, es brach einfach aus ihr heraus, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Dann stand sie da, sah auf den Körper hinab, der John gewesen war, und zog mich vom Boden hoch. Ich hörte mich selbst sagen: «Mach’s gut, Baby.» Clodagh schluchzte, während ich immer noch Johns Hand hielt. Der Schmerz lastete so schwer auf uns, dass schnelle Bewegungen unmöglich erschienen. Wir bewegten uns einfach nicht mehr, genau wie John.
Jemand hatte meine Mutter angerufen. Sie kam zusammen mit meinem Vater, um mich abzuholen. Er blieb schweigend vier Schritte hinter ihr, weil er nicht wusste, was er tun oder sagen sollte. Sie übernahm die Kontrolle, und zum ersten Mal seit meiner Kindheit war ich dankbar für ihre Stärke. Als wir rausgingen, sah ich Richard, der seine verzweifelte Frau tröstete, und Seán, allein in einer Ecke hoffnungslos vor sich hin starrend. Wir fuhren nach Hause. Ich erinnere mich daran, wie ich auf dem Rücksitz des Autos saß und im Vorbeifahren die verschwommenen Lichter der Nacht sah, das Rot und Gelb der Ampeln, das schimmernde Weiß vorbeifahrender Wagen. Mein Vater ließ seine Kassette mit Dean Martin laufen, der über die Liebe sang. Ich sah zum Himmel hinauf. Er war schwarz. Kein Stern zu sehen. Mein Gesicht brannte immer noch. Meine Mutter drehte sich andauernd nach mir um, fast als fürchtete sie, ich könnte ihr entkommen, um John im Tod Gesellschaft zu leisten, so wie ich es im Leben getan hatte.
Das Haus war kalt. Meine Mutter setzte Teewasser auf, aber ich wollte einfach nur schlafen. Sie deckte mich zu und strich mir das Haar aus der Stirn. Ich fühlte ihre Berührung nicht. Mein Vater stand im Türrahmen und betrachtete seine Frau und sein Kind. Sie schaltete das Licht aus und legte sich im Dunkeln neben mich, und ich spürte ihre Wärme und eine überwältigende Erschöpfung. Ich dachte an Clodaghs Mutter und erinnerte mich, wie seltsam es mir als Kind erschienen war, dass sie nach dem Tod ihres Mannes praktisch nur noch schlief. Jetzt verstand ich den Grund. Der Schlaf war die einzige Möglichkeit, vor dem Unfassbaren zu flüchten.
Die Beerdigung fand ein paar Tage später statt. Johns Mutter hatte darum gebeten, dass Noel den Gottesdienst abhielt. Es ist merkwürdig, dass ich mich an fast nichts erinnere, aber alle sagten, dass er es sehr gut gemacht hat. Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Es waren Mitschüler von früher, Kommilitonen aus der Uni und natürlich Arbeitskollegen gekommen, alle wollten Hände schütteln und ihre Anteilnahme zeigen. Sie sprachen ihr Mitgefühl aus; manche weinten. Ich war wie benommen. Als wir im Kreis um das offene Grab standen, hielten sich die Trauernden aneinander fest. Noels Chor sang das «Halleluja», während John in die Erde hinabgelassen wurde. Ich spürte, wie mich die Kraft meines Vaters aufrecht hielt, seine unaufdringliche und allgegenwärtige Anwesenheit. Ich spürte seinen Herzschlag im Rücken, als der Sarg ins Grab sank. Er hielt meine Hand, als ich Erde auf das glänzende Messingschild warf, in das Johns Name graviert war. Ich hörte, wie Johns Mutter weinte, und konnte ihr großes Leid spüren. Leute blieben vor dem Grab stehen und bekreuzigten sich. Ich erinnere mich an den starken Griff, mit dem meine Eltern mich wegführten, vorbei an den Totengräbern, die ungeduldig ausharrten, um die Grube zu füllen, damit sie endlich nach Hause konnten. Wie Geier, die auf einem Baum sitzen und darauf warten, dass ein Kalb seinen letzten Atemzug tut.
Ich erinnere mich daran, wie ich mit meinen Freunden im Wohnzimmer von Johns Eltern saß und seine Mutter betrachtete, die weinend Häppchen herumreichte. Meine Mutter und Doreen boten die Getränke an und flüsterten sich zu, wer schon einen Teller hatte und wer noch einen brauchte. Doreen war unsere Nachbarin – sie war Ende fünfzig, und am Tag unseres Einzugs hatte sie mit einem Biskuitkuchen bei uns vor der Tür gestanden, seitdem gehörte sie zum Inventar. John meinte immer, sie sei Bestandteil der Mietsache. Doreen war liebenswürdig, rücksichtsvoll, witzig, scharfsinnig, energisch, leidenschaftlich, und außerdem hatte sie einiges auf dem Kasten. Sie war das alte Dublin, und bei ihr gab es keine Ausnahmen. Für mich und Noel war sie wie eine zweite Mutter. Wir rannten mit jedem Problem zu ihr, aber eines wie dieses konnte nicht mal die mächtige Doreen lösen, und das wusste sie auch, also bot sie stattdessen lieber Getränke an.
Johns Vater saß allein im Garten auf einem Liegestuhl und trank Whiskey. Mein Vater ging zu ihm, und so saßen die beiden schweigend und mit feuchten Augen zusammen. Es gab nichts zu sagen. Anne klammerte sich verzweifelt an Richard fest, hatte Angst, ihn loszulassen, und ich wusste genau, was sie empfand. Seán saß einfach kettenrauchend am Fenster und betrachtete die vorbeifahrenden Autos, ohne sie wahrzunehmen. Die Einsamkeit und die Schuldgefühle in seinen Augen waren unübersehbar, und es war für mich, wie in einen Spiegel zu sehen. Er begegnete meinem Blick, und ich sah schnell woandershin.
Es ist meine Schuld.
Ich blieb nach der Beerdigung zwei Wochen bei meinen Eltern, aber dort hatte ich nicht mehr das Gefühl, zu Hause zu sein. Ich war zu Besuch. Noel blieb auch da, was nett von ihm war, aber wir waren jetzt beide erwachsen, und jeder Tag kam mir vor wie ein ausgedehntes Sonntagmittagessen. Alle versuchten, das Richtige zu sagen, aber niemand wusste, was das Richtige war, nicht mal Noel. Ich wollte nach Hause, doch sie fürchteten, dass mich dort zu viele Erinnerungen erwarteten. Niemand schien zu verstehen, dass ich den Erinnerungen ohnehin nicht entkommen konnte und dass sie mir außerdem auch wichtig waren. Ich wollte durch die Zimmer gehen und Johns Pullover einsammeln und sie aufräumen. Ich wollte sein Aftershave riechen und mich auf seine Seite des Bettes legen. Ich wollte unsere Musik hören und mein Gesicht in seine Hemden vergraben. Ich musste John so nah wie irgend möglich kommen, damit ich um Verzeihung bitten konnte.
Es ist meine Schuld.
Schließlich brachte Noel meine Eltern dazu, den Schraubstock der Fürsorglichkeit zu lockern. Er erklärte ihnen meine Gefühle, die ich selbst nicht mitteilen konnte. Er wusste einfach, dass es für mich richtig war zu gehen, damit ich anfangen konnte, mein Leben neu zusammenzusetzen. Also ging ich. Ich ging nach Hause. Meine Mutter weinte, als ich mich auf den Weg machte, während mein Vater sie festhielt und tapfer lächelte. Als sie mich umarmten, fiel es mir schwer, sie loszulassen.
Mein Vater beugte sich zu meinem Ohr herunter und flüsterte: «Er war für mich wie ein Sohn. Wir haben unseren Jungen verloren, aber wir werden überleben.»
Die Tränen, die seit Tagen versiegt waren, flossen wieder, und es war beinahe eine Erleichterung. Meine Mutter nickte, einer Meinung mit jemand Unsichtbarem. Ich setzte mich ins Auto und sah geradeaus. Als wir losfuhren, wandte ich mich um und sah, wie mein Vater meine zitternde Mutter in den Armen hielt.
Es ist meine Schuld.
Das Haus war leer und kalt. Noel schaltete die Heizung an. In der Küche herrschte noch das Chaos, das wir zurückgelassen hatten. Noel fing an aufzuräumen, aber ich sagte ihm, dass er das lassen sollte. Das neue Album von Nick Cave lag im CD-Player. John hatte es sich an jenem Tag angehört. Ich wollte allein sein, doch Noel kochte schon Tee. Ich wartete, dass er anfing über Gottes Wege zu reden und dass hinter dem allem ein Plan steckte und dass John jetzt viel besser dran sei, aber er sagte nichts, und ich war ihm dankbar dafür. Er blieb für einen Tee, und als er davon überzeugt war, dass ich jetzt allein sein musste, ging er. Ich winkte ihm zum Abschied und sagte, ich würde schon klarkommen.
Lügnerin.
Ich setzte mich im Wohnzimmer auf den Boden und hörte mir stundenlang die traurigen Lieder von Nick Cave an, dabei weinte ich, lachte, redete mit John, redete mit mir selbst, aber meistens weinte ich. Immer und immer wieder ließ ich die Ansage ablaufen, die er auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte.
«Hallo, Sie haben die Sechs, Vier, Null, Fünf, Zwei, Sechs, Eins gewählt. John und Emma sind gerade auf einer exotischen Insel, also hinterlassen Sie uns eine Nachricht, und wenn wir Sie mögen, rufen wir Sie zurück.»
Unser Zuhause war zu einem Museum und meine Gegenwart zur Vergangenheit geworden. Ich saß in der Küche und starrte seinen Lieblingskaffeebecher an, das Post-it, das er an den Kühlschrank geklebt hatte, um mich daran zu erinnern, das Bremslicht am Auto reparieren zu lassen, das Blatt mit seinem blöden Hüpfball-Test. Ich starrte alles an, was ihm gehört hatte, und weinte stundenlang, weil er tot war und weil es meine Schuld war.
Trauer macht vor nichts halt. Trauer macht einsam. Trauer ist egoistisch. Psychologen sagen, dass der Trauerprozess aus fünf Phasen besteht: Verweigerung, Wut, Verhandeln, Depression und schließlich Akzeptanz. Ich glaube, dass es noch eine weitere Phase gibt: Verweigerung, Wut, Verhandeln, Depression, Schuldgefühle und dann schließlich Akzeptanz.
Verweigerung
Ich dachte nicht an die anderen. Ich dachte gar nicht. Ich lebte in meiner Vergangenheit. Eingeschlossen in meine Gedanken, ließ ich mein bisheriges Leben wie einen Film noch einmal ablaufen. Ich hatte vier Wochen Sonderurlaub bekommen. Vier Wochen, um ein ganzes Leben zu betrauern. Meistens blieb ich in meinem Zimmer, verkroch mich unter meiner Decke und hörte der antiken Uhr meiner Großmutter dabei zu, wie sie sich durch die Zeit tickte. Ich schlief und schlief und schlief, und wenn mich meine Augen zwangen aufzuwachen, umarmte ich mein Kissen und redete mit John.
«Erinnerst du dich daran, wie wir meinen Eltern eröffnet haben, dass wir zusammenziehen? Erinnerst du dich, wie sie total ausgeflippt sind? Sogar Noel hat eins aufs Dach bekommen. Erinnerst du dich? Meine Mutter hat gotteslästerlich geflucht, und als Noel sie deswegen zurechtgewiesen hat, hätte sie ihn fast in der Luft zerrissen. Aber du hast sie wieder beruhigt. Sogar mein Vater war dagegen, und der ist eigentlich immer ziemlich locker. Du warst einfach umwerfend. Ich habe wie ein Teeny rumgekreischt, aber du hast alles geregelt. Du konntest immer so überzeugend argumentieren. Du hättest Rechtsanwalt werden können. Du hättest alles werden können.»
Draußen ging ein Hagelschauer nieder. Die Körner schlugen gegen das Fenster, aber ich sah nicht einmal auf. Das klägliche Miauen einer Katze auf dem Fenstersims brachte mich schließlich dazu, doch aufzustehen. Ich schleppte mich zum Vorhang und riss ihn grob zurück, genervt, dass die Realität meine schöne Unterhaltung störte. Der Hagel knallte auf den betonierten Hinterhof. Die Tür des Schuppens schwang wild auf und zu, die Scharniere quietschten erbärmlich. Die Blumentöpfe rollten herum und verteilten ihren Inhalt mit jeder Drehung auf dem Boden. Dann erinnerte ich mich wieder daran, warum ich überhaupt aufgestanden war. Die Katze maunzte verzweifelt über die Irre, die da über sie hinweg in den Hof starrte. Wenn Katzen sprechen könnten, hätte sie bestimmt irgendetwas gerufen wie: «Jetzt lass mich endlich rein, du blöde Kuh!» Als ich das winzig kleine Kätzchen sah, das sich mit seinen kaum entwickelten Krallen an den Fenstersims klammerte, öffnete ich erschrocken das Fenster. Ich nahm das winzige, triefnasse Wesen hoch, das aus kaum mehr bestand als einem schreckgeweiteten Augenpaar in einer Fellumrahmung, und hob es vorsichtig ins Zimmer. In der Hand spürte ich den rasenden Schlag des kleinen Herzens. Schnell ging ich ins Bad und wickelte das Tierchen in ein Handtuch. Dann setzte ich mich auf den Rand der Badewanne und tupfte es vorsichtig trocken.
«Du bist ja noch ein Baby. Sieh dir das an, John! Ein kleines Kätzchen.»
Ich sah mir das winzige Gesicht an. Man sah sofort, dass es ein Kater war. Er hatte ein Katergesicht, ovale, schwarze Augen, schwarzes Fell, das senkrecht hochstand, obwohl es klatschnass war, und eine kleine, weiße Zeichnung unter dem Kinn. Tatsächlich erinnerte er mich, je länger ich ihn ansah, an Johns Studienkollegen Leonard Foley aus dem dritten Semester. Leonard hatte auch ovale, schwarze Augen und einen schwarzen Haarschopf, der der Schwerkraft trotzte. Er hatte zwar keine weiße Zeichnung im Fell, aber sonst sahen sie sich geradezu beängstigend ähnlich. Leonard hatte ungezählte Versuche unternommen, seine Mähne zu bändigen – am Ende jedoch blieb ihm, weil er nicht als Skinhead herumlaufen wollte, nichts anderes übrig, als sich mit Gel einen Irokesenkamm zu frisieren. Er sah aus wie ein Außerirdischer, andererseits war er auch ein treuer Anhänger von Star Trek und fand es cool, wie ein Außerirdischer auszusehen, und weil er der Lead-Gitarrist der einzigen Band an der Fakultät war, fanden wir auch alle, dass es richtig cool aussah. Ich spielte mit dem Fell auf dem Kopf des Kätzchens herum und strich es zu einem Irokesenkamm hoch. Der Kater beäugte mich misstrauisch und rieb seinen Hintern an dem Handtuch. Jetzt sah er Leonard noch ähnlicher.
«Hallo, Leonard! Was macht das Musikgeschäft? Schon einen Vertrag bekommen?»
Doch mein Gequatsche interessierte ihn nicht sonderlich. Wieder trocken, ging es ihm jetzt darum, gefüttert zu werden. Ich trug ihn runter in die Küche und setzte ihn auf die Arbeitsplatte, während ich nach einer geeigneten Schüssel suchte. Sobald ich ihn losgelassen hatte, begann er herumzuschnuppern, doch am Rand der Spüle machte er wieder halt. Er sah auf den tief unter ihm liegenden Fußboden hinunter und zog sich ans Fenster zurück. Dann fiel mir etwas ein.
«Wie zum Teufel kommt ein kleiner Wicht wie du eigentlich auf einen Fenstersims im ersten Stock?»
Ich bekam keine Antwort.
«Das ist unmöglich.»
Doch Leonard war nicht bereit, seine Geheimnisse preiszugeben – er war zu sehr damit beschäftigt, im Kreis zu laufen. Ich betrachtete ihn, während ich ihn mit zwei Tage altem Thunfisch fütterte.
«Wo kommst du bloß her? John, hast du ihn mir geschickt? Hast du ihn geschickt, damit ich es endlich aus dem Bett schaffe? Dir hat es nie gefallen, wenn ich zu lange geschlafen habe. Wieder ein Tag verschwendet, hast du immer gesagt.»
Leonard war mit dem Fressen fertig. Nach seinem Martyrium wollte er jetzt nur noch schlafen. Das konnte ich ihm nicht verübeln. Schließlich musste er sich nach seiner Begegnung mit den Naturgewalten auf meinem Fenstersims so fühlen, als hätte er gerade ein Erdbeben überlebt. Ich suchte eine Schuhschachtel und legte sie mit einem frischen Handtuch aus. Als ich ihn hineinsetzte, rollte er sich sofort zusammen und schloss die Augen. Ich stellte den Karton neben mich aufs Bett. Dann kroch ich wieder unter die Decke und sah ihm zu, wie er sich von dem Schock erholte.