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Wo dein Herz zu Hause ist E-Book

Anna McPartlin

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Beschreibung

Wie viel Wahrheit verträgt die Liebe? Den glücklichsten Tag ihres Lebens hat Harri sich anders vorgestellt. An ihrem dreißigsten Geburtstag wollte sie mit James vor den Traualtar treten – doch stattdessen landet sie mit einer Panikattacke im Krankenhaus. Und das war schon der zweite Anlauf. Harri weiß nicht, was mit ihr los ist. Die Eltern können die Verzweiflung ihrer Tochter nicht länger mit ansehen und entschließen sich, Harri und ihrem Zwillingsbruder George endlich die Wahrheit zu sagen. Denn Harris tiefsitzende Unsicherheit kommt nicht von ungefähr. Um wieder richtig leben – und lieben – zu können, muss Harri einen schmerzhaften und schweren Weg antreten ...

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Anna McPartlin

Wo dein Herz zu Hause ist

Roman

Aus dem Englischen von Karolina Fell

Über dieses Buch

Wie viel Wahrheit verträgt die Liebe?

 

Den glücklichsten Tag ihres Lebens hat Harri sich anders vorgestellt. An ihrem dreißigsten Geburtstag wollte sie mit James vor den Traualtar treten – doch stattdessen landet sie mit einer Panikattacke im Krankenhaus. Und das war schon der zweite Anlauf. Harri weiß nicht, was mit ihr los ist. Die Eltern können die Verzweiflung ihrer Tochter nicht länger mit ansehen und entschließen sich, Harri und ihrem Zwillingsbruder George endlich die Wahrheit zu sagen. Denn Harris tiefsitzende Unsicherheit kommt nicht von ungefähr. Um wieder richtig leben – und lieben – zu können, muss Harri einen schmerzhaften und schweren Weg antreten ...

Vita

Anna McPartlin wurde 1972 in Dublin geboren und verbrachte dort ihre frühe Kindheit. Wegen einer Krankheit in ihrer engsten Familie zog sie als Teenager nach Kerry, wo Onkel und Tante sie als Pflegekind aufnahmen. Nach der Schule studierte Anna ziemlich unwillig Marketing. Nebenbei stand sie auch als Comedienne auf der Bühne, doch ihre wahre Liebe galt dem Schreiben, das sie bald zum Beruf machte. Bei der künstlerischen Arbeit lernte sie ihren späteren Ehemann Donal kennen. Die beiden leben heute zusammen mit ihren drei Hunden und zwei Katzen in Dublin.

Bereits ihr Debüt «Weil du bei mir bist» war international ein Bestseller. Mit dem Roman «Die letzten Tage von Rabbit Hayes», in dem Anna McPartlin viel von ihrer eigenen Vergangenheit verarbeitet hat, rührte und begeisterte sie unzählige Leserinnen und Leser und landete einen Riesenerfolg.

In Erinnerung an Ciara Collins

Für Caroline, Ger und Ashling Collins

1Die Hochzeit: Zweiter Versuch

Der erste Mai 2006 war Harris dreißigster Geburtstag, und zugleich sollte er ihr Hochzeitstag werden.

Sie hatte ziemlich ruhig geschlafen, und als sie aufwachte, ging ihr die Melodie von «Bring mich pünktlich zum Altar» aus My Fair Lady durch den Kopf. Ich heirate in ein paar Stunden. Oje, ich muss bestimmt heulen. Hoffentlich kann ich mich beherrschen. Aber es sah nicht danach aus, oder? Schließlich hatte sie kaum die Augen aufgeschlagen und bekam schon einen Nervositätsanfall, verdrückte ein oder zwei Tränen, putzte sich die Nase und schlug sich den Schädel am Kopfende ihres Mahagonibettes an. Ach, alles Mist! – Das galt nur dem Bett, nicht der bevorstehenden Hochzeit. Harri liebte ihren Verlobten. Sie war einfach nur unheimlich nervös. Und wenn sie nervös war, dann kam sie durcheinander, oder vielleicht war es auch umgekehrt. Aber ganz gleich, was zuerst kam, die Nervosität oder das Durcheinandersein, gewöhnlich endete es in irgendeiner Katastrophe. Jetzt mach dich nicht verrückt, Harri. Alles wird perfekt laufen. Du wirst diesen Tag nicht vermasseln. Schlaf noch ein bisschen. Sie gehorchte ihrer inneren Stimme und schaffte es, trotz leichter Kopfschmerzen wieder ins Land der Träume hinüberzugleiten, ohne dass etwas Schlimmes passiert war.

«Dein großer Tag», sagte ihr Vater später augenzwinkernd, als sie ihn auf dem Flur traf.

«Ja, der große Tag, Dad», sagte sie verlegen und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

«Lass das Auge drin, Schatz», ermahnte er sie.

«Ich versuch’s», sagte sie und küsste ihn auf die Wange.

Als sie kurz darauf aus der Dusche kam, erwartete sie ihre Mutter in ihrem Schlafzimmer. Sie hatte ein Tablett mit einem kompletten irischen Frühstück samt Toast, Tee, Kaffee, mehreren Croissants und Käse hereingeschleppt.

«Guten Morgen, mein Liebling», zwitscherte sie und stellte das Tablett auf den Tisch am Fenster, von dem aus man auf eine schön geflieste Terrasse und eine alte Eiche hinuntersah.

«Morgen, Mum», sagte Harri lächelnd und ließ das Handtuch sinken, das sie sich gegen das rechte Auge gedrückt hatte.

«Dein Auge ist ja ganz rot. Wie hast du denn das fertiggebracht?»

«Wollte mir den Schlaf aus den Augen reiben.»

«Ah», sagte ihre Mutter. «Also hast du geschlafen.» Sie nickte beifällig. «Du bist ein gutes Mädchen. Und das mit dem Auge ist kein Problem. Mona kaschiert das. Mona könnte schließlich auch einen schwarzblauen Knutschfleck am Hals kaschieren, als sei nie einer dagewesen. Gut, dass an anderen Stellen die Kleidung drüber ist.»

«Oh, Mum!»

Harris Mutter lachte. Normalerweise hatte Gloria nichts für Zweideutigkeiten und unanständige Ausdrücke übrig, und wenn sie einmal so etwas sagte, dann nur um der Komik willen. Auch Harri musste lachen. Es gefiel ihr, wenn ihre Mutter sich einen Spruch erlaubte, den sie bei jemand anderem anstößig gefunden hätte. Harri setzte sich an den Tisch und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien von einem wolkenlosen blauen Himmel herunter. «Tolles Wetter», sagte sie und zog den bequemen Frotteebademantel enger um sich. Sie hatte ihn sechs Jahre zuvor von ihrer Mutter bekommen, als sie von zu Hause ausgezogen war. Allerdings war sie nur zwanzig Minuten die Straße hinunter auf den Campus der UCD gezogen, der Universität von Dublin. «Kaufe nur gute Sachen, Liebling», hatte Gloria gesagt. «Alles andere heißt, am falschen Ende sparen.»

Gloria achtete immer auf Qualität. Sie hatte einen erlesenen Geschmack und wollte immer nur das Beste haben. Sie war als einziges Kind eines vermögenden Landbesitzers aufgewachsen. Früher einmal hatte ihren Eltern ein ganzes Stadtviertel im Süden Dublins gehört. Als Harris Großvater mit Ende vierzig gestorben war, hatten seine Frau und seine Tochter das Haus geerbt. Nana, wie die Großmutter genannt worden war, hatte an Epilepsie gelitten und deshalb war Gloria nie ausgezogen. Sie hatte Harris Vater kennengelernt, als in das Haus eingebrochen wurde und er den Fall bearbeitete. Es war Liebe auf den ersten Blick, und sie waren innerhalb eines Jahres verheiratet gewesen. Harris Vater Duncan stammte aus einem der ärmeren Viertel im Norden Dublins, und es war ihm nicht leicht gefallen, sich an das Leben im Wohlstand zu gewöhnen. Gloria hatte einmal gesagt, er sei ihr damals vorgekommen wie eine Teichente in der Wüste. Allerdings brachte seine Arbeit ihn noch ausreichend in Kontakt mit den düsteren Seiten des Lebens, von denen ihn sein neues Zuhause abschirmte, und so fand er bald sein Gleichgewicht. Außerdem liebte er Nana. Sie war wirklich eine Lady, aber auch zäh und schlagfertig und zudem ein Ass im Schach. Die beiden lieferten sich Partien, die sich über einen Monat hinziehen konnten.

Duncan war direkt nach der Schule in den Polizeidienst eingetreten. Damit setzte er eine Familientradition fort, die sein Vater und sein Großvater begründet hatten. Schon mit Anfang zwanzig war er in den Rang eines Detective aufgestiegen. Er hatte einige der schrecklichsten Kriminalfälle in der Geschichte Irlands bearbeitet. Harri hatte sich oft gefragt, wie er es fertig brachte, zu Hause all das Grausame auszublenden, dem er bei seiner Arbeit begegnete. Ihre Mutter behauptete, er putze es einfach zusammen mit dem Dreck von seinen Schuhen am Fußabstreifer ab, bevor er das Haus betrete.

Nur ein einziges Mal hatte Harri ihren Vater weinen sehen. Damals war sie ungefähr zehn Jahre alt gewesen. Er hatte an seinem Schreibtisch in der Mansarde gesessen, und Harri hatte ein Tablett mit seinem Mittagessen in den Händen gehabt und deshalb nicht angeklopft. Er betrachtete ein Foto, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Er schob das Foto in einen Aktenhefter und ging schnell ans Fenster, um sich die Tränen abzuwischen, die sie nicht sehen sollte. In Harris Elternhaus wurde nie viel über Probleme geredet. Duncans Beruf brachte es mit sich, dass er über vieles nicht sprechen durfte, und so war er auch in seinem Privatleben äußerst verschwiegen. Gloria war viel zu damenhaft und sensibel, um sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, und Nana war zwar weniger empfindsam gewesen, hatte aber ebenfalls nichts davon gehalten, sich mit lästigen Themen abzugeben. Und Gefühlsausbrüche konnten leicht lästig werden. Deshalb, so hatte sie einmal dekretiert, musste man seine Gefühle beherrschen. George und Harri wuchsen in einem Haus auf, in dem sich alles nur um die schönen und angenehmen Seiten des Lebens drehte. Man weinte nicht in diesem Haus, und deshalb tat Harri so, als hätte sie ihren Vater nicht weinen sehen. Aber noch Jahre später erinnerte sie sich manchmal, wenn sie die Augen schloss, an sein tränennasses Gesicht.

«Es ist ein traumhafter Morgen», sagte Gloria und küsste ihre Tochter auf den Scheitel.

«Das werde ich niemals essen können», sagte Harri und ließ ihren Blick über die riesige Frühstückslandschaft schweifen.

«Das weiß ich doch, Liebling.» Gloria ging zum Bett, bückte sich und zog eine kleine blaue Schachtel darunter hervor. «Für dich», sagte sie lächelnd. «Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz!»

«Danke, Mum.» Harri strahlte. Mit dreißig freute sie sich immer noch wie ein kleines Kind über Geschenke. Sie öffnete die Schachtel und betrachtete beglückt den wunderschönen Anhänger im Art-déco-Stil. Wie Gloria liebte Harri Art déco. Duncan sagte immer, darin seien sie sich einig. Harri hielt den Anhänger gegen das Licht. Die aufwendig eingefassten Steine blitzten in der Sonne auf. «Der ist einmalig», sagte sie und umarmte ihre Mutter.

George kam ins Zimmer und warf sich aufs Bett, noch bevor Harri ihrer Mutter einen Kuss gegeben hatte. «Und wo ist mein Geschenk, Mum?»

«Unter deinem Bett.»

«Ach», sagte er und seufzte enttäuscht.

«Was stimmt denn daran nicht?»

«Das ist zwei Stockwerke tiefer.»

«Sei nicht so faul, Liebling, das sind schließlich nur ein paar Treppen, und kein Abstieg vom Mount Everest.»

«Und was ist es?»

«Das verrate ich dir nicht», sagte Gloria und lächelte.

«Und wieso bekomme ich kein Frühstück in mein Zimmer serviert?», erkundigte er sich und fuhr sich durchs Haar.

«Weil du nicht heiratest. Also, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, du Nervensäge. Und jetzt benimm dich wie ein erwachsener Mensch.» Sie nannte George oft ‹Nervensäge›, doch das meinte sie nicht ernst, denn in Wirklichkeit gefiel es ihr, wenn George den kleinen Jungen spielte. So hatte sie das Gefühl, gebraucht zu werden. «Meine Zwillinge», sagte sie lächelnd. «Jetzt seid ihr schon so erwachsen, aber für mich werdet ihr immer meine beiden Babys bleiben.» Das klang fast ein bisschen unheimlich, aber so meinte sie es natürlich nicht.

George sprang auf und drückte Harri einen Kuss auf die Wange. «Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Harri!»

Sie hielt ihren Bruder fest umarmt. «Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, George!»

Harri vergötterte ihren Zwillingsbruder. Er war alles, was sie nicht war. George zog in jedem Raum die Aufmerksamkeit auf sich, während Harri sich immer nur als Zuschauerin fühlte. Er war ein Abenteurer, war schon einmal rund um die Welt gereist, hatte die Sommer im Schnee und die Winter in der Sonne verbracht. Er surfte, fuhr Ski, tauchte und war ohnehin die reinste Sportskanone. Er machte sogar Paragliding, und zur Zeit überlegte er sich, ob er lernen sollte, Hubschrauber zu fliegen. Harri dagegen besaß überhaupt keinen Forschergeist. Sie wohnte in nächster Nähe ihres Elternhauses. Wenn sie in die Sonne ging, bekam sie Hitzepickel, und ihr Ausflug in die Welt des Skisports hatte mit einem gebrochenen Handgelenk geendet. Er war sportlich, sie eine Leseratte. Er war lebhaft, sie war der ruhige Typ. Er war ein Leichtfuß, sie war eine Arbeiterin. Er war schwul, sie war hetero. Von ihrem dicken, welligen braunen Haar abgesehen, sahen sie sich nicht einmal ähnlich. Er war groß, sie war knapp über dem Durchschnitt. Er war muskulös, sie war eher zart. Er hatte ein kantiges Gesicht, ihres war oval. Sie unterschieden sich in fast jeder Hinsicht, und dennoch verstanden sie sich ohne Worte. Sie kannten sich und wussten alles über den anderen. George hätte alles für seine Schwester getan. Die Ryan-Zwillinge waren sich schon immer auf eine tiefe, kaum zu beschreibende Art und Weise nah.

«Lass mich jetzt endlich, kleine Schwester», sagte George und machte sich los.

«Ich bin älter als du!», sagte sie und lächelte.

«Aber kleiner bist du trotzdem», erwiderte er grinsend.

Und wirklich, das alles, der sonnige Morgen, das glitzernde Schmuckstück, das reichhaltige Frühstück, Glorias Einrichtungsgeschmack, ihre Liebe und Fürsorge für die nervöse Braut und George, der den verzogenen Jungen spielte – dieser Augenblick des Familienglücks war perfekt wie im Bilderbuch. Das Einzige, was Harri störte, war ihre bevorstehende Hochzeit.

Ganz ruhig, Harri. Verdirb nicht den schönen Tag.

Doch sie ahnte nicht, dass diese perfekte Familie an diesem perfekten Tag ein viel größeres Verhängnis erwartete.

 

Das Kleid war ein bisschen zu eng, und von Monas wunderbarer Hochsteckfrisur bekam sie Kopfschmerzen, doch selbst Harri musste zugeben, dass Mona tolle Arbeit geleistet hatte – trotz eines gebrochenen Fingers.

«Was ist denn passiert?»

«Desmond ist passiert.»

«Geht’s ein bisschen genauer?»

«Ich hatte mal ein süßes Kind, das sich in einen Teenager verwandelte, und dann verwandelte sich dieser Teenager in eine echte Plage, die nichts dabei findet, ein Skateboard oben an der Treppe rumstehen zu lassen.»

«Du kannst dich freuen, dass du dir nicht den Hals gebrochen hast.»

«Nein, er kann sich freuen, dass ich ihm den Hals nicht umgedreht habe! Im Ernst, Harri, achte genau auf deine Empfängnisverhütung.»

Harri mochte Mona. Sie war dafür bekannt, dass sie praktisch an allem herummaulte, tat das aber stets auf sehr unterhaltende Art. George nannte sie deswegen Maula statt Mona, aber das schien sie nicht zu stören.

«Wow, das ist so süß, wie du über Kinder sprichst», flötete er, während er den Raum betrat.

«Wolltest du mich darum bitten, dass ich mich um dein Haar kümmere?», fragte Mona, die schon lange nicht mehr auf seine Sticheleien einging.

«Was stimmt denn nicht damit?»

«Nichts, wenn du einen Fatzke aus dir machen willst.»

«Eigentlich hatte ich vor, als Hugh Grant in Vier Hochzeiten und ein Todesfall zu gehen.» Er stand hinter ihr und begutachtete sich im Spiegel.

«Na, den Look hast du ja hinbekommen, mein Lieber.»

«Maula, du bist ein Miststück, aber ich mag dich trotzdem.»

Er seufzte und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sie waren im Wohnzimmer, wo Harri frisiert wurde.

Dann hörte man Duncan auf dem Flur hüsteln, und gleich darauf kam er mit einem Fotoapparat herein. «Na ihr? Was?» Duncan sagte oft einfach so ‹Was?›, als habe ihm gerade jemand etwas ins Ohr geflüstert. Er war meistens guter Dinge, wenn er ‹Was?› sagte. «Du siehst fantastisch aus. Fantastisch.» Außerdem hatte er die Angewohnheit, sich zu wiederholen. «Meine Güte, du bist umwerfend. Ist sie nicht umwerfend?» Er drehte sich zu Mona und George um, die eifrig nickten. Das unbequeme Kleid schien immerhin ganz gut auszusehen. Duncan wirkte direkt gerührt, und seine Augen glänzten verdächtig. Um einen peinlichen Gefühlsausbruch zu verhindern, witzelte George, es sei wohl der Preis des Kleides, der Duncan die Tränen in die Augen trieb. Nachdem er den unbehaglichen Moment überwunden hatte, grinste Duncan, und George machte seinen Witz wieder wett, indem er verkündete, das Kleid passe wohl sehr gut zu seiner Fatzkenfrisur.

Dann rief Melissa an. Mona gab Harri den Hörer und ermahnte sie: «Zwei Minuten.»

«Hi Melissa.»

«Alles unter Kontrolle?»

«Ja.»

«Bestens.»

«Wo bist du?», fragte Harri, die im Hintergrund Verkehrsgeräusche hörte.

«Ich stehe auf dem Parkplatz vor der Kirche und wechsle eine Windel.»

«Du bist schon zur Kirche gefahren?»

Melissa nahm den panischen Ton in Harris Stimme wahr. «Ganz ruhig. Einatmen und ausatmen. Ich sehe nur nach dem Blumenschmuck. Du hast noch eine ganze Stunde Zeit.»

«Okay.» Harri atmete so tief ein, wie es das Kleid zuließ.

«Jacob, steig wieder ein. Jacob, steig wieder ein! Jacob …»

«Melissa?»

«Sorry. Jetzt steig in das blöde Auto!»

Ein Rauschen war zu hören, dann quengelte Jacob, dass er ein Sandwich aus dem Kofferraum wolle.

«Du hast Sandwichs im Kofferraum?»

«Sandwichs, Joghurts, Windeln, Handtücher, Käsestangen, Babynahrung, ein Sixpack Caprisonne, Knetmasse, frische Höschen. Wünsch dir was, ich hab’s dabei.»

«Jetzt hör auf zu telefonieren», sagte Mona.

«Ich muss Schluss machen.»

«Okay. Wird schon alles gutgehen.»

«Das hoffe ich.»

«Oh, da ist James.»

Harris Magen machte einen Satz. James war schon bei der Kirche. Sie legte auf.

Mona zerrte sie wieder an den Esstisch neben dem großen Fenster, von dem aus man Nanas Bank draußen sehen konnte. Hier hatte Mona das beste Licht. Sie zog einen Kajalstift aus ihrer übervollen Trickkiste.

«Alles in Ordnung?», fragte sie.

«Mir geht’s gut», sagte Harri.

Mona schob sie sanft auf einen Stuhl. «Sieh nach oben!», befahl sie, und Harri sah nach oben. «Bist du sicher, dass es dir gutgeht? Du bist auf einmal so blass.»

Harri richtete nur den Daumen nach oben, weil sie befürchtete, sich übergeben zu müssen, wenn sie etwas sagte.

Duncan war losgefahren, um Gloria vom Shoe World in Sandycove abzuholen. Als vor einer halben Stunde ein Riemchen an ihren nagelneuen Sandalen gerissen war, hatte sie darauf bestanden, dort noch schnell hinzugehen.

«Das ist doch nicht zu fassen!», hatte sie gerufen. «Diese Schuhe haben fünfhundert Euro gekostet!»

«Was?», hatte Duncan gebrüllt. «Fünfhundert Euro? Bist du wahnsinnig geworden?»

Gloria hatte nicht gewusst, dass er in Hörweite war, und auf eine Diskussion darüber, wie viel Geld sie für ihre Schuhe ausgab, hatte sie nicht die geringste Lust. «Liebling, wir wissen beide, dass du das eigentlich nicht hättest hören sollen, also tun wir einfach so, als hättest du es nicht gehört.»

Duncan brummelte noch irgendetwas von irrwitzigen fünfhundert Euro, aber er sah ein, dass Gloria recht hatte, und ließ es gut sein. Das Dörfchen Sandycove lag nicht weit entfernt, deshalb hatte er sie hingebracht, war wieder zurückgekommen und hatte gerade genügend Zeit gehabt, um die Fotos zu machen, bevor sie anrief, weil sie wieder abgeholt werden wollte. Auf dem Weg zum Auto hatte er vor sich hin gemurmelt, wie teuer heutzutage alles war und dass man sich mit einem Paar blöder neuer Zehenbrecher ruinieren konnte.

Harri wurde immer unruhiger, aber die Valiumtablette, die ihr Mona mit der Bemerkung anbot, bei der Nachbarstochter Cliona hätte das Wunder gewirkt, wollte sie auch nicht nehmen. Anscheinend hatte Cliona ziemlich oft mit ihren Nerven zu tun, aber das lag Mona zufolge daran, dass sie ein selbstsüchtiges, undankbares Luder war und ihre schwer arbeitende Mutter nicht respektierte und schon gar nicht ihren Vater, der öfter nach Frittierfett roch, weil er offenbar ein ganzes Frittierfett-Imperium aufgebaut hatte, aber ein echter Gentleman war. George lachte laut auf, als Mona so schwatzte. Harri rang sich ein Grinsen ab, doch in Wahrheit kam nichts von Monas Geplauder bei ihr an.

«Ist dir schlecht?», fragte George von der Ecke des Zimmers aus, wo er es sich auf dem antiken Lieblingsschaukelstuhl seiner Mutter bequem gemacht hatte.

«Ein bisschen», gab sie zu, denn es hatte ohnehin keinen Zweck, ihm etwas vorzumachen.

«Es wird alles bestens laufen», sagte Mona, während sie eine zweite Schicht rubinroten Lippenstift auftrug. «Und jetzt press mal die Lippen zusammen.»

«Und das Atmen nicht vergessen!», instruierte George seine Schwester, bevor er sich wieder seinem Artikel über einen neu entdeckten Baumfrosch in Sri Lanka zuwandte. «Jetzt seht euch mal diese komischen roten Augen an. Wenn Frösche töten könnten …»

 

Harris Verlobter James mochte Frösche. Er glaubte, sie seien notwendig für das Gleichgewicht des Ökosystems. Er hatte eine merkwürdige Vorliebe für Amphibien und Reptilien. Wo andere sich ekelten, geriet er in Verzückung.

«Hast du gewusst, dass Schlangen eine hundertprozentige Erfolgsquote haben, wenn sie zuschnappen?», hatte er sie bei ihrem ersten Treffen beiläufig gefragt.

«Nein, das wusste ich nicht», hatte sie geantwortet, während sie dachte, dass dieser Typ komplett irre sein musste und sie vermutlich besser auf den Nachtisch verzichtete.

Er glaubte, dass Reptilien zu Unrecht so einen schlechten Ruf hatten. «Was haben denn die Eidechsen jemals irgendwem angetan?»

Sie antwortete nicht und hoffte, er würde das Thema wechseln. Tat er aber nicht. Stattdessen erzählte er ihr von seiner Lieblingsschlange. Sie hieß Ronnie. Er hatte sie drei Jahre als Haustier gehalten, bis sie an Organversagen gestorben war. Er gab sich selbst die Schuld daran, weil er nicht bemerkt hatte, dass es Ronnie schlechter ging. «Er hat gar nicht krank ausgesehen», sagte James kopfschüttelnd. Harri überlegte kurz, wie eine kranke Schlange wohl aussehen mochte. «Ich habe diese Schlange geliebt.»

Eine niedliche kleine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Später erkannte sie, dass sich diese Falte immer zeigte, wenn er aufgeregt war. James war Architekt. Er interessierte sich leidenschaftlich für alles, was mit Gebäuden zu tun hatte. Er übernahm nicht einfach nur Aufträge – er war ein Künstler und wollte immer die perfekte Lösung. Er kümmerte sich um jedes Detail, vom Fundament bis zum Dach, und wenn ein Gebäude fertig war und er voller Stolz einen Rundgang machte, dann wirkte er fast wie ein Rockstar, der auf die Bühne des ausverkauften Wembley-Stadions trat. James war ein Baumeister aus einem anderen Zeitalter, und dennoch kämpfte er erbittert für den Naturschutz und arbeitete ausschließlich mit umweltverträglichen Materialien.

Sie hatten sich sechs Jahre zuvor bei der Arbeit kennengelernt. Er baute ein Haus, und Harri kümmerte sich zusammen mit ihrer Geschäftspartnerin Susan Shannon um die Inneneinrichtung. Damals hatte Susan gesagt, sie hoffe, James sei nicht dumm, denn wenn er einen auch nur einigermaßen akzeptablen IQ hätte, müsse Harri ihn heiraten. Harri hatte nur gelacht und die Sache vergessen. Susan spielte gern die Kupplerin. Sie behauptete, das sei ihr Ersatz für Sex. Ihrer Meinung nach stimmte zwischen Harri und James die Chemie, und sie war richtig glücklich, als sich nach ein paar Wochen herausstellte, dass sie recht gehabt hatte.

Susan war vor kurzem sechsundvierzig geworden und hatte von ihrem Mann zum Geburtstag einen Gartenschlauch bekommen. Einen teuren Gartenschlauch mitsamt einer Menge Zusatzgeräte, sodass man sowohl die Steinfliesen auf der Terrasse reinigen als auch die Pflanzen gießen konnte, aber am liebsten hätte Susan ihren Mann mit diesem Schlauch erwürgt.

«James käme nie auf die Idee, mir einen Gartenschlauch zu schenken», sagte Harri, und das stimmte, so etwas würde er nicht tun. Allerdings erwähnte sie nicht, dass er nach einem Fernsehbericht über Datenklau einen Aktenvernichter gekauft hatte.

Susan schüttelte seufzend den Kopf. «Was ist nur aus der Romantik geworden?»

«Ich glaube, die ist dem Feminismus zum Opfer gefallen.»

«Das war eine rhetorische Frage, und außerdem denkst du zu viel nach.»

Das stimmte. Harri dachte zu viel nach. Dass sie so viel grübelte, war vermutlich sogar ihr größtes Problem.

Zwei Tage jedenfalls nachdem Susan festgestellt hatte, dass James sicher ein prima Ehemann sei, fragte er Harri, ob sie Lust auf eine Verabredung mit ihm hätte.

Auch wenn ihr erstes Date etwas seltsam begonnen hatte, so wurde es doch interessanter, als er sie nach Hause brachte und sie in seinem Auto vor dem Haus standen, in dem sie sich eine Wohnung mit einer blauen Lidschatten, Gymnastikanzug und Ballonrock tragenden zeitgenössischen Tänzerin namens Tina Tingle eine Wohnung teilte.

Als das Auto anhielt, legte sie ihre Hand sofort auf den Türgriff, um ihm klarzumachen, dass sie gleich aussteigen würde.

«Tut mir leid», sagte er, «ich bin ein bisschen aus der Übung.»

«Das macht nichts.» Sie wurde rot. Seine Direktheit war ihr peinlich.

«Ich hab’s vergeigt, stimmt’s?»

«Vielleicht hättest du nicht eine halbe Stunde von Ronnies Schuppenhaut erzählen sollen.»

Er lachte. «Ich war nervös. Ich gebe nur Mist von mir, wenn ich nervös bin.»

Sie lächelte. «Mein Bruder ist genauso. Nach der Beerdigung unserer Großmutter hat er Ewigkeiten davon geredet, dass sich im Bauchnabel Flusen sammeln können.»

Einen Moment lang herrschte Schweigen, und James bemerkte, dass Harris Hand nicht mehr auf dem Türgriff lag.

«Du bist also aus der Übung», sagte Harri, kratzte sich im Nacken und sah geradeaus. Doch aus dem Augenwinkel bekam sie mit, dass sich James über die Stirn strich und grinste.

«Ist eben schon eine Weile her.»

«Aha», sagte sie. «Und was verstehst du unter einer Weile?», fügte sie möglichst lässig hinzu.

Er lachte. «Du hältst mit deinen Fragen wohl nicht lange hinter dem Berg.»

«Normalerweise schon», sagte sie. «Normalerweise halte ich mit meinen Fragen nicht nur hinter dem Berg, sondern sogar hinter dem Mount Everest in einem unerforschten Zipfel von Tibet.»

Er lachte laut auf.

«Also?», bohrte sie. Bin das wirklich ich, die hier so aufdringlich ist?

«Zwei Jahre.»

«Und warum habt ihr euch getrennt?»

«Wir waren vier Jahre zusammen, dann hatte sie mich satt.»

«Oh. Tut mir leid. Ich hätte nicht so neugierig sein sollen.»

«Nein, ist schon in Ordnung. Es hat zwar ein bisschen gedauert, aber sie hat sich von mir erholt.» Er lachte, doch es klang etwas bitter. «Sie hat beschlossen, dass sie ein anderes Leben will, also hat sie mir das Herz gebrochen und ist nach Australien gegangen. Ich habe gehört, dass sie ungefähr ein halbes Jahr später so einen Surfer-Typ geheiratet hat.»

Harri bereute, dass sie überhaupt gefragt hatte. Normalerweise steckte sie ihre Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten. «Ich hätte nicht fragen sollen. Jetzt fühle ich mich furchtbar.»

«Warum denn?»

«Einfach so.» Seufzend zuckte sie mit den Schultern.

Harri wollte abgesehen von ihren nächsten Freunden nichts vom Privatleben anderer wissen, weil ihr traurige Geschichten immer viel zu nahe gingen. Wenn sie solche Dinge hörte, kam es ihr fast so vor, als hätte sie selbst diese negativen Erfahrungen gemacht. Immerzu schien Traurigkeit sie zu verfolgen, und es musste nicht einmal ihre eigene sein.

«Und wie sieht es bei dir aus?», fragte er. Inzwischen hatte Harri nicht nur den Türgriff losgelassen, sondern James auch den Oberkörper zugewandt.

«Ich war ungefähr ein Jahr mit einem Schreiner zusammen, er hieß Simon. Wir haben uns vor sechs Monaten getrennt. Es war kein besonderes Drama, wir haben einfach nicht zusammengepasst.»

«Und vor Simon?»

«Da hatte ich einen Freund von der Uni. Ian Grace. Er hat Verfahrenstechnik studiert. Wir waren etwas über drei Jahre zusammen.»

«Am Trinity College?»

«UCD.»

«Und warum habt ihr euch getrennt?»

«Er hat einen Job in Saudi-Arabien angenommen. Und ich mag die Sonne nicht besonders.»

«Harri?»

«Ja?»

«Wenn ich verspreche, keinen Mist mehr zu erzählen, würdest du dich dann nochmal mit mir verabreden?»

«Ja.»

«Gut», sagte er und nickte. «Harri?»

«Ja?»

«Wäre es in Ordnung, wenn ich dich küsse? Es ist okay, wenn du nein sagst.»

«Nein.»

«Oh, verdammt!»

«War nur ein Scherz!» Sie lachte, und damit war die Sache klar.

Sie passten einfach gut zueinander.

Sie arbeiteten beide viel, lasen gern, hatten beide keine besondere Vorliebe für Musik oder das Fernsehen, mochten lange Unterhaltungen, gemeinsames Kochen und hatten eine Menge Spaß miteinander. James besaß viel Humor, aber nicht auf die Ha-ha-was-bin-ich-für-ein-Komiker-Art, und er brachte Harri oft zum Lachen.

Seine Witze waren eigentlich überhaupt nicht lustig, und doch konnte man einfach nur lachen. Also lachte Harri, und er klatschte vor Vergnügen in die Hände.

«Mit dir stimmt eindeutig was nicht.»

«Ach, ja? Aber du liebst meine Witze.»

Das tat sie wirklich nicht, aber ihn liebte sie.

 

Gedankenverloren sah Harri zum Fenster hinaus. Hinter Nanas Bank erstreckte sich die Straße, an der blühende Bäume den Frühling und eine neue Zeit ankündigten. Während sie so in das weiße Blütenmeer hinausträumte, überfiel sie ein schreckliches Gefühl. Es war wie eine große, alles mitreißende Welle. Panik stieg in ihr auf und drohte sie und alles, was sich in dem Raum befand, mitzureißen. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Mit einem Mal schien nichts mehr zu stimmen. Es war, als würde sie in diesem Zimmer ertrinken, das jetzt vor ihren Augen verschwamm. Jede Faser ihres Körpers schien ihr zu sagen, dass ihr etwas verlorengegangen war. Oh nein, nicht noch einmal! Sie wurde von dem irrwitzigen, aber nicht abzuschüttelnden Gedanken erfüllt, dass sie nicht hierher gehörte. An diesem Punkt war sie schon einmal gewesen. Ihre Hände wurden feucht, und ihr Herzschlag beschleunigte sich mit jeder Sekunde. Einfach atmen, Harri. Genau wie George gesagt hat. Ihre Hände begannen zu zittern, und sie fühlte sich, als stünde sie kurz vor einer inneren Kernschmelze. Beruhige dich, Harri. Mach jetzt kein Theater. Sie wusste, dass ihr jeden Augenblick schwindelig werden würde, und dann würde sie in Ohnmacht fallen. Mum bringt mich um. In genau dem Moment, in dem sie etwas rufen wollte, bekam sie keine Luft mehr. Sie hob die Hände an die Kehle und begann zu röcheln.

Mona bekam es als Erste mit. «Oh nein, es geht wieder los! George, ruf den Krankenwagen, sie läuft gleich blau an!»

1. Mai 1975 Donnerstag

Gestern Abend hat Mam wieder geweint. Ich hörte ihn ins Haus kommen. Er rief nach ihr, «Deirdre, Deirdre, Deirdre!» Irgendwann wird er ihren Namen total abgenutzt haben. Dann hörte ich, wie er an ihre Tür hämmerte. Sie musste sich eingeschlossen haben. «Deirdre, mach die Tür auf, du verdammtes Miststück!» «Das werde ich nicht tun!», rief sie. Wieso antwortet sie ihm überhaupt, wenn er sie ein verdammtes Miststück nennt? Was stimmt nicht mit ihr? Wenigstens hatte sie ihre Tür abgeschlossen. Ich habe meine auch abgeschlossen. Der Typ ist ein Irrer. Ich hasse ihn. Dann stürmte er raus, brüllte, dass er wiederkäme, und ging so laut fluchend die Straße runter, dass Madame Neugierig Crowley aus der Nummer sieben garantiert alles mitbekommen hat. Ich habe gesehen, wie sich ihr Vorhang bewegt hat, als er auf alles und jeden schimpfend an ihrem Haus vorbeikam. Das hat ihr garantiert unheimlich gefallen, da hat sie was zu tratschen, die neugierige alte Kuh.

Manchmal liege ich wach und frage mich, warum sie ihn unbedingt heiraten wollte. Hat sie ihn wirklich geliebt, oder fühlte sie sich bloß einsam, nachdem Dad nicht mehr da war? Ich hatte gedacht, wir wären glücklich. Ich weiß sogar genau, dass wir glücklich waren, jedenfalls, bis er auftauchte. Sie hat völlig überstürzt geheiratet, das hat wenigstens Madame Neugierig in der Drogerie gesagt, während ich mich hinter einem Regal versteckte und sie mit Mrs. Stephens darüber redete, wie er das letzte Mal fluchend aus dem Haus gerannt war. Sie hat Mam dumm genannt, und ehrlich gesagt, hat sie da eigentlich ganz recht. Meine Mutter ist eine dumme Frau. Ich werde nie so dumm sein, mich in so einen grässlichen Mann zu verlieben, und ich werde nie heiraten.

Die Schule ist der reinste Albtraum, ich kann es gar nicht abwarten, bis endlich Ferien sind. Ich weiß noch nicht, was ich mache, er sagt, ich muss mir einen Job suchen. Vielleicht mache ich das auch, aber nicht wegen ihm. In zwei Wochen bin ich sechzehn. Mam hat gesagt, ich bekomme eine Flasche Charlie-Parfum und eine Kassette von den Bay City Rollers. Ich hoffe, das wird auch was. Ich hoffe, er vertrinkt nicht das ganze Geld. Ich liebe den Geruch von Charlie.

In einem Jahr bin ich hier weg. Wenn es bloß schon so weit wäre. Jeder Tag kommt mir vor wie ein Jahr und manche Tage sogar wie zehn Jahre. Sheila sagt, sie macht eine Banklehre. Letzte Woche wollte sie noch Friseurin werden und vor einem Monat Lehrerin. Ich weiß nicht, was ich werden soll. Ich weiß nur, dass ich von Wicklow weg will.

Ich habe diesen Arzt wiedergesehen – er hat auf den Felsen gesessen und geangelt. Er sieht ungefähr so alt aus wie ich, vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Höchstens neunzehn. Sheila sagt, er ist mindestens Mitte zwanzig. Danach sieht er aber nicht aus. Er wirkt immer ein bisschen traurig, sogar wenn er lächelt. Und schüchtern ist er auch. Es muss ganz schön schwer für ihn sein, in einer neuen Stadt. Ich kann mir nicht vorstellen, Ärztin zu sein, Leute sind eklig. Ich wüsste zu gern, woher er kommt.

Gestern Nacht hatte ich einen Traum. Ich habe geträumt, ich wäre auf einem Boot, das immer wieder an den Strand zurückfährt. Jedes Mal, wenn es sich auf die offene See hinausbewegte, wurde es wieder an Land zurückgezogen. Das hat mir Angst gemacht. Ich bin zwanghaft. Sheila sagt, ich bin zwanghaft. Sie findet, ich sollte lockerer sein und das Leben genießen. Sie hat ja auch leicht reden – sie lebt schließlich nicht mit einem Alkoholiker zusammen –, in Wahrheit wird ihr Vater reich damit, den ganzen Alkoholikern in der Stadt ihren Stoff zu verkaufen. Sie muss sich nie in ihrem Zimmer verstecken. Sie sitzt mit ihrem Dad auf der Couch und sieht sich Morecambe & Wise auf dem Farbfernseher an, also kann sie leicht sagen, ich solle lockerer sein und das Leben genießen. Sheila fehlt mir. Ich wünschte, sie wäre nicht mit diesem Dave zusammen. Möchte mal wissen, was sie an dem so toll findet. Mit seiner idiotischen Minipli-Dauerwelle. Sheila meint, das wäre cool, aber echt, das ist es überhaupt nicht. Außerdem stinkt er nach dem Brut seines Vaters und betatscht sie die ganze Zeit. Gestern hat er ständig blöde Bemerkungen über sie gemacht. Das fand er lustig, aber das war es nicht. Ich hätte ihm am liebsten eine reingehauen. Mam sagt, dass ich manchmal einen Blick zum Fürchten habe.

Es ist jetzt nach zehn, und ich bin müde. Er ist immer noch im Pub. Wenn ich jetzt einschlafe, höre ich ihn vielleicht später nicht. Aber vorher schließe ich meine Zimmertür ab. Sheilas Dad sagt, man soll seine Schlafzimmertür nie abschließen, falls mal ein Feuer ausbricht. Aber vor Feuer fürchte ich mich nicht. Verbrennen ist nicht das Schlimmste, was einem passieren kann.

Gerade habe ich beschlossen, mich morgen nach einem Ferienjob umzusehen. Egal was, Hauptsache, ich komme aus diesem Haus raus. Es ist zum Lachen. Er sagt, ich muss mir einen Job suchen, während er selber jeden Tag mit seinem Kumpel im Pub oder unten an der Kaimauer rumhängt. Mam findet immer eine Entschuldigung für ihn. Sie sagt, Docker können nur arbeiten, wenn die Schiffe reinkommen, aber Anita Sheas Vater ist auch Docker, und er streicht Häuser oder tapeziert Wände, und Tim Healys Vater übernimmt im The Pole Schichten an der Bar, statt davor zu sitzen und das ganze Geld, das er in zwei Tagen verdient hat, in zwei Stunden zu vertrinken. Aber egal, er soll machen, was er will. Ich bin sowieso bald hier weg. Ein Jahr kann einem vorkommen wie eine Ewigkeit oder wie ein Tag. Das hat mein Dad immer gesagt. Ich glaube, ich gehe morgen ein bisschen zu ihm. Vielleicht mache ich seinen Grabstein sauber. Da kacken ständig die Vögel drauf. Das ist komisch, weil Rita Heneghan direkt neben ihm liegt, und ihr Grabstein ist immer blitzsauber, obwohl ich noch nie jemanden gesehen habe, der sie besucht. Einmal hat sogar ein Vogel auf Dads Stein gekackt, während ich daneben gesessen habe! Ich glaube, das hätte mein Dad lustig gefunden. Er hat viel gelacht. Ich vermisse sein Lachen. Ich vermisse ihn so. Ich wünschte, er wäre hier, aber das ist er nicht. Er ist tot. Ich könnte ihn glatt dafür umbringen, dass er gestorben ist.

Ach, und damit ich es nie vergesse: Heute habe ich im Wald den Frühling gehört. Ich habe ihn richtig gehört, in den Bäumen und dem leichten Wind und dem Hundegebell in der Ferne, und der Himmel war so unheimlich blau und das Gras war grüner als grün. Ich habe mich an einen Baumstamm gelehnt und die frische Luft eingeatmet. Wenn ich die Zeit hier endlich hinter mir habe, wird mir der Wald fehlen.

2Notaufnahme

Harri lag in einem Bett der Notaufnahme, als sie wieder aufwachte. Ihre Mutter und ihr Vater saßen rechts und links neben ihr. Ihr Verlobter war nirgendwo zu sehen. George kommentierte vom Fenster die Versuche einer Frau, seitlich einzuparken.

«Meine Güte, da könnte man ja sogar mit einem Laster parken!»

Harri war schon einige Zeit wieder wach, bevor sie sich dazu bringen konnte, die Augen zu öffnen. Das gibt’s doch nicht, es ist mir nochmal passiert. Ihre Eltern schwiegen. Schließlich konnte Harri nicht mehr so tun, als schliefe sie.

«Da ist sie wieder», sagte ihr Vater lächelnd, «da ist unser Mädchen.»

«Es tut mir leid, Dad.»

«Das braucht dir nicht leidzutun.»

«Es tut mir leid, Mum.»

«Schsch, Liebling, es ist alles gut.»

Im Handumdrehen hatte sich George zu ihr aufs Bett geworfen und sie in den Arm genommen. «Wenn es dich tröstet, du bist jedenfalls die schickste Patientin hier.»

Harri wurde bewusst, dass sie noch ihr Hochzeitskleid trug. Sie kämpfte mit den Tränen. «Wo ist James?»

Duncans Bruder, Father Ryan, kam mit vier Kaffee ins Zimmer. Harris Eltern nahmen ihm zwei ab, und auch George nahm einen.

«Möchtest du einen Kaffee, Liebling?»

«Nein danke, Mum.»

«Sie ist wieder wach», sagte Gloria zu ihrem Schwager.

Father Ryan beugte sich über das Bett. «Hallo», sagte er. «Du bringst noch einen von uns ins Grab, Harri Ryan.»

«Sorry, Onkel Thomas.»

Father Ryan erlaubte nur den Zwillingen, ihn Onkel Thomas zu nennen. Für alle anderen, einschließlich seines Bruders und seiner Schwägerin, war er Father Ryan.

«Tja, es heißt ja, aller guten Dinge sind drei.» Das war nämlich Harris zweite Panikattacke gewesen. Die erste hatte sie am Morgen ihres ersten missglückten Heiratsversuchs vor sechs Monaten gehabt.

«Wo ist James?», fragte Harri erneut.

Gloria legte die Hand an den Hals, wie sie es immer tat, wenn sie unruhig wurde. Duncan schwieg, und Father Ryan beschäftigte sich angelegentlich mit seinem Kaffeebecher. Dann sagte George: «Er war hier, Harri. Er hat sich davon überzeugt, dass es dir gutgeht, und dann ist er wieder gegangen.»

«Jetzt hasst er mich», sagte sie und vergrub das Gesicht im Kopfkissen.

«Er hasst dich nicht», sagte George. «Er ist nur enttäuscht.»

«Ich habe ihn zwei Mal vorm Altar stehen lassen, George.»

«Aber nicht mit Absicht.»

«Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Anscheinend bin ich verrückt.»

«Nein, sag doch nicht so etwas.» Gloria zwang sich zu einem Lächeln. «Jede Braut ist nervös.»

«Aber sie landen trotzdem nicht in der Notaufnahme, verdammt!», gab Harri wütend zurück.

«Harri, achte bitte auf deinen Ton», sagte ihr Dad.

«Tut mir leid.»

«Es ist schon gut, Schatz, wir stehen alle ein bisschen unter Spannung», gab er zurück.

«Wo ist Melissa?»

«Sie bringt die Kinder zu Gerry, und dann treffen wir uns bei mir», sagte George. Er vergoss versehentlich ein bisschen Kaffee auf sein Hemd. «Ach, das ist ja scheußlich!» Natürlich meinte er die Kaffeeflecken, aber er hätte genauso gut den ganzen Tag meinen können.

Harri lag an dem Tag, an dem sie den zweiten Anlauf zum Heiraten gemacht hatte, in der Notaufnahme, und ihre Familie war bei ihr, um sie zu unterstützen, aber sie fühlte sich trotzdem unheimlich allein. Die Panik war weg. An ihre Stelle waren Entsetzen und eine Traurigkeit getreten, die Harris Gedanken lähmte. Das wird er mir nie verzeihen. Wie konnte mir das nur noch einmal passieren? Was stimmt bloß nicht mit mir?

 

George wohnte in einem Penthouse in Temple Bar. Er liebte die Lebendigkeit der Innenstadt. Er hatte die Wohnung vier Jahre zuvor gekauft, nachdem Nana gestorben war und den Zwillingen eine «kleine Starthilfe fürs Leben» hinterlassen hatte. Das geräumige Penthouse hatte auf zwei Stockwerken drei Zimmer mit hohen Decken. An den weiß gestrichenen Wänden hingen Kunstobjekte, die George auf seinen Reisen durch Afrika und Europa gesammelt hatte. Wenn es dunkel wurde, hatte er einen spektakulären Blick auf das Lichtermeer der Stadt, doch an diesem Abend waren die Jalousien heruntergelassen, und nur eine niedrige Lampe verbreitete sanftes Licht.

«Darf die Patientin Wein trinken?», fragte Melissa, während sie George ein Glas einschenkte und er die Decke über Harris Beine breitete. Er hatte darauf bestanden, dass sie sich aufs Sofa legte.

«Ihr Arzt würde nein sagen, aber ich denke, das ist schon okay.» Grinsend tätschelte er die zusammengefallene Frisur seiner Schwester. «Die solltest du wirklich mal waschen, sonst beschließt noch irgendein Tier, sich da einzunisten.»

Melissa reichte Harri ein Glas Wein und machte es sich dann in Georges riesigem Lieblingssessel bequem.

«Muss ich wirklich unter dieser Decke liegen?», fragte Harri und zupfte daran herum.

«Ja», verkündete ihr Bruder.

«Ich bin tatsächlich ziemlich müde», gab sie zu.

Melissa stieß einen langen Seufzer aus und sagte dann: «Ich versteh’s einfach nicht. Wir wissen ja alle, wie sehr du es hasst, im Mittelpunkt zu stehen, und das lässt sich als Braut bei der Hochzeit kaum vermeiden. Aber ich versteh’s trotzdem nicht.»

«Ich auch nicht.» Harri unterdrückte ihre Tränen.

Nachdem George ihren Eltern gesagt hatte, dass sie ruhig schon gehen könnten, und Harri auf ihre Entlassung wartete, war sie zusammengebrochen. Sie weinte und jammerte und hörte erst damit auf, als der Arzt laut überlegte, ob er sie nicht doch besser auf die psychiatrische Station überweisen sollte. Sie versprach, nicht mehr zu weinen, und war entschlossen, dieses Versprechen einzuhalten.

«Ich schon», sagte George, während er seinen Wein im Glas schwenkte und mit Kennerblick die Farbe begutachtete.

«Und?», sagte Melissa, der es auf die Nerven ging, zur Zeugin dessen zu werden, was sie als blödsinnige Schmecktechniken bezeichnete, die er in einem noch blödsinnigeren Weinseminar gelernt hatte.

«Sie ist noch nicht bereit für die Ehe, ganz einfach.»

«Was soll das heißen, nicht bereit? Sie ist dreißig. Sie sind seit sechs Jahren zusammen. Sie haben eine gemeinsame Wohnung, ein runtergekommenes Cottage in Wexford und ein Riesenaquarium voll mit exotischen Fischen.»

«Was willst du damit sagen?», fragte George und schwenkte sein Weinglas so, dass ein Ministrudel entstand.

«Ich will damit sagen, dass sie sich schon vor drei Jahren gebunden hat, als sie den Kaufvertrag für die Wohnung unterschrieben hat, und vor zwei Jahren hat sie sich nochmal gebunden, als sie gegen meinen Rat diese Bruchbude in Wexford gekauft haben, und dann nochmal, als sie diese komischen Fische von seiner Großtante Edna übernommen haben, und könntest du mal aufhören, den Wein ewig im Glas kreisen zu lassen, und ihn einfach nur ganz normal trinken!»

«Das ist alles nur äußerlicher Besitz. Besitz und Bindung sind zwei ganz unterschiedliche Dinge, und das hier ist meine Wohnung, also kann ich den Wein schwenken, solange ich will.»

«Homo!»

«Hexe!»

«Könntet ihr mal mit diesem Gezicke aufhören?», fragte Harri und trank den Wein, von dem ihr der Arzt abgeraten hatte.

«Sorry», sagte George.

«Tut mir leid», fügte Melissa an.

Melissa war Harris beste Freundin, seit die beiden fünf Jahre alt waren. Mit sechzehn war Melissa das erste und einzige Mädchen gewesen, mit dem George je ‹gegangen› war. Er beendete die Beziehung nach genau zwei Wochen, in denen sie sich einmal geküsst hatten. Ein halbes Jahr später erklärte er seiner Mutter, die gerade die Wäsche aufhängte, dass er sich für Jungs interessierte. Sie tat so, als sei sie kurzfristig taub geworden, und es sollte vier Jahre dauern, bis in ihrem Elternhaus das nächste Mal über Georges Sexualität gesprochen wurde.

Eine Stunde war vergangen, und Harri wurde unheimlich schlecht. Melissa hielt ihr das Haar aus der Stirn, während sie den Rotwein und das halbe Croissant wieder von sich gab, das sie morgens gegessen hatte. Danach brachte Melissa Harri in Georges Gästezimmer ins Bett.

«Melissa, fragst du dich auch immer, warum die Dinge passieren, wie sie passieren?», fragte Harri.

«Pausenlos.»

«Glaubst du, dass George recht hat?»

«Tja, das wäre das erste Mal.» Melissa lachte.

«Ich weiß nicht, was mit mir los ist.»

«Du musst dir Zeit lassen.»

«James will nicht mit mir reden.» Sie weinte wieder.

«Am besten gibst du ihm ein bisschen Freiraum.»

«Und wie lange? Einen Tag, eine Woche, ein Jahr?»

«Harri, in der Kirche … also, er war am Boden zerstört.»

«Ich wollte ihn nicht verletzen.»

«Das weiß ich. Wir finden schon noch heraus, woran es liegt, Harri. Versprochen.»

Harri nickte, und im Hinausgehen schaltete Melissa das Licht aus.

«Zu spät», flüsterte Harri vor sich hin. «Ich habe ihn verloren.» Sie lag in der Dunkelheit, und ihre Gefühle überwältigten sie.

Melissa stand vor der Tür und hörte ihre beste Freundin schluchzen. Auch ihr liefen die Tränen übers Gesicht. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie hatte es in James’ Augen gesehen. Etwas war in ihm zerbrochen. Es würde kein Zurück mehr geben. Harri hatte recht, sie hatte ihn verloren, und das fühlte sich wie ein kleiner Tod an – so, als ob man trauern müsste.

Als Melissa wieder ins Wohnzimmer kam, hatte ihr George noch ein Glas Wein eingeschenkt. Sie setzten sich zusammen und genossen das Gefühl ihrer Vertrautheit.

«Geht’s ihr gut?», fragte er.

Melissa schüttelte den Kopf, und George wurde – untypisch für ihn – ganz still.

«Was?», fragte Melissa, nachdem sie einen Moment geschwiegen hatten.

«James glaubt, es liegt allein an ihm.»

«Na ja, das kann man auch verstehen, oder? Zwei Heiratsversuche, zwei wirklich dramatische Panikattacken.»

«Es war aber nicht das erste Mal», sagte George und rieb sich nachdenklich übers Kinn.

«Das verstehe ich nicht.»

«Als wir klein waren, ist das ziemlich oft passiert. So ungefähr, bis Harri fünf oder sechs Jahre alt war.»

«Aber sie hat gesagt …»

«Sie erinnert sich nicht daran.»

«Aber eure Eltern haben dem Arzt gesagt …»

«Sie haben gelogen.»

«Warum? Warum sollten sie das tun?» Melissa hatte sich vorgebeugt und geflüstert, als könnte ihre Freundin sie oben im Bett hören.

«Das weiß ich nicht.»

«Und warum hast du nichts gesagt?»

«Das weiß ich auch nicht.»

«Und was du vorhin gesagt hast, dass Harri nicht bereit für eine Bindung …»

«Das könnte trotzdem so sein. Ich verstehe einfach nicht, warum unsere Eltern lügen.»

«Sie muss es erfahren.»

«Finde ich auch.»

«Also?», drängte Melissa.

«Also rede ich mit ihnen. Dann werde ich ja sehen, wie sie reagieren. Harri ist schon durcheinander genug – ich will erst wissen, worum es geht, bevor ich ihr davon erzähle.»

«Und James?»

«James braucht Zeit. Das würde dir doch genauso gehen, oder?»

Melissa nickte. «Ich verstehe es trotzdem nicht.»

«Ich auch nicht», sagte George, «aber irgendetwas stimmt da nicht.»

 

Beim Abendessen pickte Gloria nur auf ihrem Teller herum. Sie hatte mit den Resten vom Abend zuvor schnell einen Nudelauflauf gemacht. Father Ryan war kurz vorm Verhungern, nachdem er morgens von Galway gekommen war, das Mittagessen ausgelassen und es gerade noch rechtzeitig in die Kirche geschafft hatte, nur um zu erfahren, dass seine Nichte nicht antrat. James hatte ihn zum Krankenhaus gefahren. Der arme Junge. Father Ryan hatte versucht, ihm ein paar tröstliche Worte zu sagen, aber James schwieg nur und war so in Gedanken, dass er wahrscheinlich überhaupt nichts mitbekam. Die Fahrt zum Krankenhaus schien eine Ewigkeit zu dauern, zumal James’ Fahrweise ziemlich beängstigend gewesen war. Father Ryan fuhr am liebsten Fahrrad. Seine Gemeinde, die etwas außerhalb der Stadt Galway lag, war sehr klein. Er benutzte das Auto nur, wenn er in einer anderen Gemeinde die Messe lesen musste, und bevorzugte ansonsten sein Fahrrad. «Es geht doch nichts über ein bisschen frische Luft», pflegte er zu sagen. Father Ryan hatte nichts gegen Kälte, er mochte sie sogar. Die Zentralheizung im Haus seines Bruders fand er grässlich, und außerdem bekam er Ausschlag davon. Aber das hätte er natürlich nie gesagt, er verstieg sich sogar dazu, Gloria dafür zu danken, dass sie so fürsorglich gewesen war, ihm eine Heizdecke ins Bett zu legen. Wir haben Mai! Was denkt sie sich nur? Er freute sich schon auf die Rückfahrt am nächsten Tag. Er würde im Zug sitzen, mittags im Speisewagen essen, draußen die Landschaft an sich vorbeiziehen lassen und versuchen, seine Ängste und seine Schuldgefühle zu vergessen. Ich habe es für dich getan, Harri. Vor allem für dich.

Duncan warf einen besorgten Blick auf seine Frau. Er befürchtete, dass das alles zu viel für sie war und sie in eine schwere Depression versinken könnte. Das war schon einmal so gewesen, und Tage wie dieser kamen Duncan wie ein Testfall vor. Er wollte sie unbedingt beschützen, doch er wusste nicht so recht wie.

«Bist du überhaupt noch bei uns, Glory?» So nannte er sie immer.

Abwesend hob Gloria den Blick.

«Mir ist kalt», sagte sie.

Zum Teufel, das gibt’s doch nicht, dachte Father Ryan.

«Willst du dich vielleicht lieber hinlegen?», fragte Duncan. «Es war ein langer Tag.»

«Nein», sagte sie. «Ich könnte ohnehin nicht schlafen.»

«Ich stelle die Heizung ein bisschen höher.» Duncan stand auf und ließ die beiden allein.

«Ist es unsere Schuld?», fragte Gloria flüsternd.

«Das darfst du nicht einmal denken», sagte Father Ryan. «Wie könnte es unsere Schuld sein?»

«Ich habe Angst», sagte sie. «Ich könnte es nicht ertragen, sie noch einmal zu verlieren.» Tränen glitzerten in ihren Augen.

«Du hast sie doch nie verloren», erinnerte er seine Schwägerin und drückte ihre Hand.

«Du weißt, was ich meine», sagte sie, und eine Träne rollte über ihre Wange. «Ich kann mein Kind nicht noch einmal verlieren.»

Als Duncan zurückkam, wischte sie sich eine zweite Träne von der Wange. «Glory?»

«Mir geht’s gut», log sie. Während er sich setzte, stand sie auf. «Vielleicht gehe ich doch schon ins Bett.»

Duncan erhob sich wieder.

«Nein», widersprach sie. «Es geht schon. Bleib bei Father Ryan. Iss erst mal zu Ende.»

«Gute Nacht, mein Herz», sagte Duncan.

«Gute Nacht, Liebling», gab sie zurück, als sie schon an der Tür stand.

Father Ryan saß schweigend am Kamin, in dem dankenswerterweise kein Feuer brannte, und sah nachdenklich in sein Glas. Duncan setzte sich zu ihm. Nach einer Weile sprach Father Ryan die Ängste der Frau seines jüngeren Bruders an.

«Harri fürchtet sich vor etwas Unbekanntem, etwas, das sie spürt, aber nicht benennen kann.»

«Das muss sie nicht.»

«Findest du nicht, dass sie die Wahrheit erfahren sollte? Meinst du nicht, dass sie es irgendwo in ihrem Inneren schon weiß?», fragte er.

«Da gibt es nichts zu wissen!», sagte Duncan und stellte ärgerlich sein Glas auf das Tischchen neben sich.

«Heute …»

«Was heute passiert ist, hat damit nichts zu tun.»

«Duncan …»

«Thomas.»

Father Ryan wusste, dass ihn sein Bruder nur Thomas nannte, wenn er etwas wirklich ernst meinte.

«Vielleicht haben ihre Panikattacken nichts damit zu tun, aber vielleicht eben doch – alles was ich weiß, ist, dass am Ende die Wahrheit ans Licht kommen wird», sagte er eindringlich. «Ganz gleich, was geschieht, am Ende kommt die Wahrheit ans Licht.»

Dann machte er sich auf den Weg in sein unangenehm warmes Bett und ließ seinen Bruder mit seinen Gedanken allein.

Duncan trank noch zwei Gläser Whiskey, bevor er in sein Arbeitszimmer in der Mansarde ging und die Schublade öffnete, in der die Kopie der Akte lag, die er vor Jahren das letzte Mal in der Hand gehabt hatte.

Er schlug die Akte auf, und ein Foto fiel heraus. Er hob es auf und hielt es in das Licht der Schreibtischlampe. Das Haar des Mädchens war lang und tiefbraun, ihre weit geöffneten Augen waren dunkelgrün, ihre Haut war blass, fast weiß, und das Rot ihrer Lippen hatte einen bläulichen Ton. Sie war siebzehn Jahre alt, und sie war tot.

10. Mai 1975 Samstag

Heute haben wir endlich den zehnten Mai. Heute ist mein sechzehnter Geburtstag! Ich kann es kaum fassen. Vor sechzehn Jahren hat mich meine Mutter auf die Welt gebracht. Es war ein warmer Frühlingsmorgen im Jahr 1959. Mam hat erzählt, dass Dad fast einen Unfall gebaut hat, als er sie ins Krankenhaus fuhr. Sie meinte, es sei ein Wunder gewesen, dass wir drei die Fahrt überlebten. Er wäre fast an einen Baum und dann an eine Mauer gerast, und anschließend hat er nur knapp einen alten Mann verfehlt. Er hatte sich das Auto seines Chefs geliehen, einen Ford Fairlane, Mam sagte, er war damals kein geübter Fahrer, und dass sie die ganze Zeit gedacht hat: Wie sollen wir jemals dieses teure Auto ersetzen, falls wir den Unfall überleben? Bei der Vorstellung, dass er durch die Stadt raste wie ein Verrückter, während Mam ihm ständig sagte, er solle langsamer fahren, muss ich lachen. Ich kann ihn direkt hören. «Halt durch, Deirdre! Wir sind fast da, meine Süße!» So nannte er sie immer. Und dann sie: «Durchhalten? Ich bin schon froh, wenn wir überhaupt lebend ankommen! Fahr langsam, du Wahnsinniger!» Sie war früher so energisch. Sie hätte sich von Dad nie etwas gefallen lassen. Was ist bloß mit ihr passiert?

Ich bin sechzehn. Das ist richtig komisch. Ich habe gedacht, dass ich bestimmt keine sechzehn würde. Als ich zehn Jahre alt war, kam mir sechzehn ewig weit weg vor, und als Dad starb, war ich davon überzeugt, dass ich auch sterben würde. Ich weiß nicht warum, aber ich habe lange geglaubt, dass ich jung sterben würde. Das tue ich sogar jetzt manchmal noch, aber jetzt bin ich sechzehn, und das ist schließlich nicht mehr so jung. Nächstes Jahr um diese Zeit bin ich siebzehn, und siebzehn ist praktisch schon alt.

Mam hat ihr Versprechen tatsächlich gehalten. Sie hat gesagt, sie schenkt mir eine Flasche Charlie und eine Kassette von den Bay City Rollers, und das hat sie auch getan. Wunder gibt es immer wieder. Wenn ich darüber nachdenke, hat sie ihre Versprechen eigentlich immer gehalten, bevor er aufgetaucht ist, und jetzt, na ja, ich weiß ja, dass es nicht ihr Fehler ist. Sie tut, was sie kann. Ich hatte einen schönen Geburtstag. Zum Tee haben wir Kuchen gegessen. Sheila war da, und wir hatten viel Spaß, obwohl sie ihren dämlichen Dave mitgebracht hat. Immerhin hat er mir einen Blumenstrauß geschenkt. Er hat sie selbst gepflückt, und sie waren ziemlich zerdrückt, aber trotzdem schön. Das hätte er nicht tun müssen. Sogar Sheila war überrascht. Jetzt komme ich mir gemein vor, weil ich ihn für einen Blödmann halte, aber ich tu’s trotzdem.

Er hat sich nicht blicken lassen, Gott sei Dank. Mam sagt, er hat jetzt schon über eine Woche nicht getrunken. Seitdem ist er ruhiger, kein Türenknallen, kein Geschrei, kein gar nichts. Er kann mir immer noch nicht ins Gesicht sehen, aber das macht mir nichts aus. Soll er doch auf den Boden starren. Soll er doch verrotten.

Heute nach der Schule wollte ich mich an den Pier setzen. Ich sehe unheimlich gern über das Wasser in die Ferne. An klaren Tagen kann man Wales sehen. Na ja, nicht so richtig, aber man kann es erahnen. Der Arzt hat wieder geangelt. Er war ein paar Tage nicht da. Ich bin gestolpert und habe mir den Knöchel angeschlagen. Er ist rübergekommen, um nach mir zu sehen, also habe ich so getan, als wäre es schlimmer, als es in Wirklichkeit war. Warum, weiß ich auch nicht, ich wollte einfach mit ihm reden. Sheila glaubt, ich bin in ihn verliebt. Das stimmt aber nicht. So etwas ist es nicht. Also, ich mag ihn schon, aber nicht so, wie sie Dave mag. Er hat mir aufgeholfen und mir gesagt, ich soll mich auf einen von den flacheren Felsen setzen. Dann meinte er, es wäre nichts Schlimmes, und ich habe ihn nach seinem Namen gefragt. Er heißt Brendan, und er kommt aus Cork. Seine Aussprache gefällt mir – es ist so eine Art Singsang. Er ist nur hier, bis es Dr. Anderson wieder besser geht. Dr. Anderson ist mindestens 107 und hat schon vier Herzinfarkte hinter sich. Ich habe Brendan gesagt, dass der alte Mann am besten zu Hause bleiben und er die Praxis übernehmen sollte. Er hat gelacht. Dann meinte er aber, er gehöre woanders hin. Das Gefühl kenne ich.

Henry von Delameres Reitstall hat angerufen, um Mam zu sagen, dass ich bei ihnen einen Job für die Sommerferien haben könnte. Ich weiß nicht recht. Stalldienst ist nicht gerade der Hit – Pferdemist von morgens bis abends. WÜRG !!! Etwas anderes scheint es aber nicht zu geben. Ich habe schon in jedem Café, jedem Restaurant und jedem Laden nachgefragt. Henry ist der Geschäftsführer, anscheinend ist er ganz nett, und der Besitzer ist praktisch nie da. Er ist Pferdetrainer und viel unterwegs. Umso besser, ich habe nämlich von Jessica Harney gehört, dass er ein ziemlicher fieser Typ ist. Ihr Bruder ist Jockey. Fünfundzwanzig und halb so groß wie ich, ein Glück für ihn, dass er reiten kann. Der Reitstall ist toll. Ich war vor dem Bewerbungsgespräch noch nie dort. Das Wohnhaus ist riesig! Ich war allerdings nicht drin. Henry hat mir die Stallungen und die Koppeln gezeigt, während wir uns unterhalten haben. Die Pferde sind einfach super. Eine braune Stute, Betsy, mochte mich richtig – also, sie hat kräftig geschnaubt, mich mit dem Kopf angestupst und mir auf die Schulter gesabbert, aber Henry hat gesagt, das ist ein gutes Zeichen. SELTSAM. Vielleicht nehme ich den Job. Wenn ich zwischendrin etwas Besseres finde, kann ich ja wieder gehen. Er hat einen Dreitagesauftrag. Morgen ist wieder Schluss. Sie löschen eine Ladung Alkohol, also lässt er vermutlich ein paar Flaschen verschwinden, um sie zu verkaufen oder selber zu trinken. Vermutlich ist er im siebten Himmel, jedenfalls so lange, bis er so betrunken ist, dass er bloß noch irgendwem wehtun will. Zuerst kommt er mit Blumen und einer Schachtel Pralinen heim und Mam trägt ihr bestes Kleid, wenn sie auch schon längst ein neues bestes Kleid brauchen könnte, und dann tanzen sie im Wohnzimmer, und er flüstert mit ihr und küsst sie auf den Hals, sogar wenn ich dabei bin. Und wenn ich rausgehe, höre ich sie lachen. Aber obwohl sie lacht, weiß ich schon, dass sie weiß, dass sie in ein paar Stunden garantiert wieder weint. Ich verstehe das einfach nicht.

Und auch wenn ich knietief durch Pferdeäpfel waten muss, ich mache das Beste aus der Arbeit bei Delamere. Bis zu den Sommerferien dauert es nicht mehr lange. Jetzt sitze ich gerade in meinem Zimmer, höre die Kassette von den Bay City Rollers und rieche unheimlich gut. Meine Blumen stehen in einer von Mams Vasen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

3Am Ende

Kurz nach zwei Uhr nachmittags schloss Harri die Tür zu der Wohnung auf, in der sie mit James lebte. Als sie sich entschieden hatten, etwas zu kaufen, hatte Harri darauf bestanden, dass sie sich nur im südlichen Teil Dublins ganz nahe am Wasser umsehen würden. Sie wollte nicht zu weit von ihren Eltern entfernt wohnen, und auch wenn James anfänglich etwas zögerte, war er es gewesen, der sich augenblicklich in das Zweizimmerapartment in Monkstown verliebte. Wie sie es erwartet hatte, war er nicht zu Hause. Im Flur hatte sich nichts verändert, ungeöffnete Post lag auf dem Boden vor dem Briefschlitz. Wie üblich war die Pflanze auf dem Sideboard gegenüber der Tür kurz vorm Vertrocknen. Der hohe goldgerahmte Spiegel zeigte Harri, dass sie nach den schrecklichen letzten drei Tagen nur noch ein Schatten ihrer selbst war. In den beiden vorangegangenen Nächten hatte sie kaum ein Auge zugetan. James hatte immer noch nicht mit ihr gesprochen. Sein Telefon war ständig ausgeschaltet. Als sie beschloss, in die Wohnung zurückzugehen, wollte George sie unbedingt begleiten.

«Nein», sagte sie nachdrücklich.

«Aber …»

«Aber gar nichts.» Harri musste nach Hause. Sie musste nach Hause, und dort musste sie warten, bis James kam. Sie wollte ihn unbedingt sehen, ihm sagen, wie es wirklich war, ihn anflehen, wenn es sein musste. «Ich muss mit ihm reden … ihm alles erklären …»

«Was willst du ihm denn erklären?»

«Ich weiß auch nicht», gab sie zu.

«Bleib noch einen Tag.»

Doch sie schüttelte den Kopf. «Danke, dass du dich um mich gekümmert hast, George, aber jetzt muss ich wieder nach Hause.»

Er machte einen Schritt von der Tür weg, damit sie hinaus konnte. «Ich bin immer für dich da.»

«Ich weiß.» Sie lächelte. Ich weiß.

Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe und ging durch den Flur in die Küche. Die Pflanzen über der Spüle sahen gesund aus. Sie öffnete das Fenster und ließ die Seeluft herein. Dann setzte sie den Wasserkessel auf und ging weiter ins Wohnzimmer. Und was sie dort sah, versetzte ihr einen Schlag in die Magengrube. Auf dem Boden standen Umzugskartons, und in den Umzugskartons waren Sachen. James’ Sachen. Als ihr klar wurde, was das bedeutete, hätten fast ihre Beine unter ihr nachgegeben. Sie ließ sich auf das Sofa fallen. Dort saß sie lange, betrachtete die Kartons und bemühte sich, die Situation zu verdauen. Er verlässt mich. Die Exotenfische in dem großen Aquarium von James’ Tante Edna drehten ungerührt ihre Kreise. Sie ließen sich von den Kartons nicht stören, genauso wenig von der weinenden Frau, die sich auf dem Sofa zusammengerollt hatte.

Es war schon sechs Uhr vorbei, als sie seinen Schlüssel in der Tür hörte. Sie hatte die ganze Zeit still dagelegen und sich kaum gerührt. Wenn sie jetzt aufstünde, würde das Blut begleitet von einem schmerzhaften Prickeln in ihre Beine zurückkehren. Also blieb sie einfach auf dem Sofa sitzen und starrte die Wohnzimmertür an. Als er hereinkam, wirkte er fast erschrocken. Offenbar hatte er ihren Mantel an der Garderobe nicht bemerkt.

«Harri», sagte er ruhig.

«James.»

«Wie geht es dir?», erkundigte er sich höflich.

«Gut. Besser. Nein, in Wahrheit geht es mir schlechter. Mit jedem Moment fühle ich mich noch schlechter.»

«Das tut mir leid», sagte James. Er stand immer noch an der Tür und ließ die Arme am Körper herabhängen.

«Was tut dir leid? Ich bin doch diejenige, die an allem schuld ist», sagte sie und sah hinüber zu den Kartons.

«Es ist nicht deine Schuld», sagte er und betrachtete die Fische, die keine Sorgen kannten.

«Bitte verzeih mir.»

Er schüttelte den Kopf. «Das hat nichts mit Verzeihen zu tun.»

«Geh nicht.»

«Ich muss.»

«Warum?»

«Ich verkrafte das nicht noch einmal.»

«Dann heiraten wir eben einfach nicht – wir lassen alles so, wie es war.»

«Ich kann nicht», flüsterte er, und seine großen grauen Augen füllten sich mit Tränen. Er schüttelte den Kopf. «Ich kann es einfach nicht.»

«Aber es liegt doch nicht an dir!» Harri weinte.

«An wem sollte es denn sonst liegen?»

Harri ließ den Kopf sinken und begann mit bebenden Schultern zu schluchzen. James kämpfte den Impuls nieder, sie in die Arme zu nehmen. Er wandte sich zum Gehen.

«James.»

«Ja.»

«Ich sollte gehen. Du solltest hier bleiben.»

«Nein. Das will ich nicht. Ich wohne bei Malcolm, bis ich etwas gefunden habe.»