Weltenträumer - Sergej Lukianenko - E-Book

Weltenträumer E-Book

Sergej Lukianenko

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Beschreibung

Die beste aller möglichen Welten

Kirills geordnetes Leben in Moskau gerät völlig aus der Bahn: Nicht genug damit, dass sich niemand mehr an ihn erinnern kann und offenbar seine gesamte Existenz ausgelöscht wurde, nun erfährt er auch noch, dass er ein »Funktional« ist, ein Wächter an der Schwelle zu unzähligen Parallelwelten. Aber was, wenn er gar kein Wächter sein möchte? Wer hat ihn dazu gemacht? Und warum? Doch das sind Fragen, die man nicht stellen darf, und ehe er sichs versieht, ist Kirill auf der Flucht durch die verschiedenen Welten ...

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Seitenzahl: 533

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Inhaltsverzeichnis
 
Der Autor
 
Eins
Zwei
 
Copyright
Das Buch
Merkwürdige Dinge geschehen in Moskau: Als Kirill Maximow eines Abends nach Hause kommt, trifft er in seiner Wohnung eine ihm völlig unbekannte Frau, die behauptet, sie lebe hier schon seit Jahren. Damit nicht genug: Auch seine Freunde und Verwandten haben offenbar vergessen, dass Kirill je existiert hat. Was geht hier vor? In einem geheimnisvollen Wasserturm erfährt Kirill schließlich, dass er jetzt ein »Funktional« ist: ein Zöllner, ein in seinem Turm unbesiegbarer Wächter an der Schwelle zu zahllosen Parallelwelten. Doch Kirill gibt sich nicht damit ab, lediglich eine »Funktion« zu erfüllen - er will wissen, wer dahinter steckt. Wer hat ihn zu einem Funktional gemacht? Und warum? Er macht sich auf eine gefährliche Reise durch fremde und bekannte Welten, um genau das herauszufinden. Dabei liegt die Antwort näher, als er denkt …
 
Nach seinen faszinierenden »Wächter«-Romanen legt Bestseller-Autor Sergej Lukianenko mit »Weltengänger« und »Weltenträumer« erneut ein grandioses phantastisches Abenteuer vor.
 
»Sergej Lukianenko ist der meistgelesene russische Autor der Gegenwart.«
Stern
 
»Düster und kraftvoll - der Russe Sergej Lukianenko ist der neue Star der phantastischen Literatur!«
Frankfurter Rundschau
Der Autor
Sergej Lukianenko, 1968 in Kasachstan geboren, studierte in Alma-Ata Medizin, war als Psychiater tätig und lebt nun als freier Schriftsteller in Moskau. Mit seiner »Wächter«-Serie - »Wächter der Nacht«, »Wächter des Tages«, »Wächter des Zwielichts« und »Wächter der Ewigkeit« - wurde er zum erfolgreichsten Fantasy- und Science-Fiction-Autor Russlands. Als Drehbuchautor war er außerdem an den Verfilmungen von »Wächter der Nacht« und »Wächter des Tages« beteiligt. Zuletzt sind von Sergej Lukianenko im Wilhelm Heyne Verlag die Romane »Spektrum« und »Weltengänger« erschienen.
 
Mehr zu Sergej Lukianenko unter: www.lukianenko.ru
Eins
Bahnhöfe sind Orte der Transformation. Sobald du einen Zug besteigst, hörst du auf, du selbst zu sein. Von dem Moment an verfügst du über eine andere Vergangenheit und hoffst auf eine andere Zukunft. Der zufälligen Reisebekanntschaft erzählst du alles, was du erlebt hast, desgleichen das, was dir nie passiert ist. Glaubt man den Unterhaltungen in einem Zug, gibt es auf der Welt weder langweilige Menschen noch uninteressante Biografien.
Genau deshalb liebe ich Züge.
Sogar die in Richtung Süden.
Mein Abteil stellte sich übrigens als überraschend sauber heraus, für einen ukrainischen Zug nicht gerade die Regel. Auf dem Boden lag ein Läufer, den Tisch zierten eine weiße Decke und Plastikblumen in einer Vase, in die aus unerfindlichen Gründen jemand Wasser gegeben hatte. Das etwas graue, aber dennoch saubere Bettzeug war bereits aufgezogen. Über dem Fenster hielt ein Metallhaken einen Fernseher, keinen Flachbildschirm, wie es praktisch gewesen wäre, sondern einen mit bauchiger Bildröhre, aber immerhin.
Ach ja, so ein Schlafwagen Erster Klasse hatte schon seine Vorteile. Nicht, weil es nur einen weiteren Platz im Abteil gab, sondern ganz grundsätzlich vom Komfort her.
Ich verstaute meine Tasche in der Gepäckablage, schloss die Abteiltür und trat auf den Bahnsteig hinaus. Unter meinen Schuhen schmatzte ein Brei aus Schnee und Dreck. Feuchter Wind ging, ein für Moskau absolut untypisches Wetter, das eher zum Meer im Winter passte, beispielsweise zu Jalta oder Sotschi. Irgendwie schien der Zug aus dem Süden diese feuchte, salzige Wärme mitgebracht zu haben. Ich zündete mir eine Zigarette an. Die Zugbegleiterinnen traten von einem Fuß auf den anderen und unterhielten sich lauthals in einem Dialektgemisch. Sie zogen über irgendeine Vera her, deren ungebührliches Verhalten sie in allen Einzelheiten erörterten.
Das Ticket für den Schlafwagen Erster Klasse hatte ich mir nicht aus Sucht nach Bequemlichkeit gekauft. Ich hatte einfach weder für die Schlafwagen Zweiter Klasse noch für die gewöhnlichen Waggons einen Platz gekriegt. Und die Reise aufschieben wollte ich nicht. Ich hatte das Gefühl, ich würde niemals fahren, wenn ich die Reise auch nur um einen Tag verschieben würde. Denn allmählich reichten mir meine Abenteuer.
Oder eben doch noch nicht?
Während ich rauchte, stiegen weitere Fahrgäste ein. Ob wohl einer von ihnen mein Reisegefährte war? Vielleicht diese schlanke Frau mit den großen Augen und der schmal gerahmten Brille? So hold würde mir das Glück bestimmt nicht sein. Oder der Mann in meinem Alter, mit dem streng geschnittenen Mantel und dem teuren Aluminiumkoffer? Wohl ebenfalls kaum. Mit Sicherheit würden die infamen Eisenbahngötter mir den halbblinden Tattergreis zuweisen, der die ganze Fahrt über hustete. Oder - der Horror einer jeden Reise - diese junge Frau mit ihrem liebreizenden Kleinkind auf dem Arm. Wer schon einmal einem Windelwechsel in seinem Abteil beigewohnt hat, weiß, was ich meine. Insbesondere wenn der Kleine von dem Geschüttel und dem Wechsel der Ernährung ein krankes Bäuchlein hat. Und natürlich musste die Ventilation auf Befehl dieser wunderbaren Frau schon vorher ausgeschaltet werden, damit das Kindchen sich nicht erkältet …
Voll finsterster Vorahnungen kehrte ich in mein Abteil zurück. Diesmal hatte das Schicksal es jedoch gut mit mir gemeint. Da saß zwar nicht die Frau mit Brille, aber immerhin mein Altersgenosse - der aus seinem Angeberkoffer bereits eine Flasche Bier herausgeholt hatte.
»Guten Abend. Ich bin Sascha.« Der Mann erhob sich und streckte mir ohne viel Federlesens die Hand entgegen.
»Guten Abend. Kirill.«
»Sie haben doch nichts dagegen?« Sascha deutete mit einem Blick auf die Flasche.
»Nur zu, zieren Sie sich nicht.« Sein Auftreten irritierte mich. Was war denn das für ein Yuppie? Oder nein. Kein Yuppie, sondern eher einer dieser Nichtsnutze, die sich Jungpolitiker nennen und ständig irgendwelche Meetings organisieren oder die Versammlungen der Gegenseite sprengen, vor allem aber Skandale im Internet lostreten, genau wie zänkische Weiber in der Straßenbahn.
Wenn ich recht hatte, stand mir wahrlich ein netter Abend bevor! Diese jungen Politiker können nicht eine Minute Ruhe geben, die ganze Zeit über legen sie eine erhöhte politische Aktivität an den Tag.
»Ich würde Sie gern einladen.« Sascha hielt mir eine Flasche hin. Alle Achtung. Das war gutes englisches Ale, kein Importbier aus russischer Abfüllung und auch nicht das ruhmreiche Gebräu unserer ukrainischen Brüder.
»Vielen Dank.« So ein Angebot lehnte ich doch nicht ab. Ich nahm auf meinem Bett Platz. Inzwischen packte mein Begleiter geschäftig seinen Koffer aus und beförderte fünf weitere Flaschen Bier, Basturma, Käse und Pistazien zutage. Und er verzichtete auf schlabbrige Trainingshosen und Gummilatschen, die wir Russen auf solchen Fahrten so gern tragen! Allerdings genügte ein Blick auf Sascha, um zu wissen, dass er sich in der Öffentlichkeit niemals in Pantoffeln zeigen würde. Er war perfekt rasiert. Seine Frisur wirkte, als komme er gerade vom Podium. Der dunkelblaue Anzug aus feiner Wolle sah teuer aus - und hatte vermutlich noch mehr gekostet.
Außerdem bewegte Sascha nicht auf diese fischmäßige Art den Kopf, um ja behutsam und ohne den Knoten zu zerstören die als Schlaufe gerettete Krawatte abzunehmen, wie das eben jene Männer tun, die nicht an einen Anzug gewöhnt sind. Nein, er knotete die tadellos auf die Farbe seines Hemdes abgestimmte Krawatte gekonnt auf und entnahm seinem Koffer einen speziellen Beutel, in dem er das gute Stück versenkte und den er dann an einen Haken hängte. Für sein Jackett fand sich selbstverständlich ebenfalls eine Schutzhaube, gleich mit eingearbeitetem Bügel. Vermutlich hatte er sogar für die Socken so ein Ding.
Ich rückte genau in dem Moment rüber zum Fenster, als der Bahnsteig erzitterte und langsam dahinfloss. Jetzt fuhr ich also nach Charkow. Wozu? Hatte ich in der letzten Woche etwa noch nicht genug Abenteuer erlebt? Aber was heißt in der letzten Woche? Allein in den letzten vierundzwanzig Stunden wäre ich beinah dreimal umgebracht worden!
»Moskauer?«, erkundigte sich Sascha.
»Was?« In meine Gedanken versunken, hatte ich seine Frage nicht auf Anhieb verstanden. »Äh, ja, Moskauer.«
»Ich auch«, teilte mir mein Reisegefährte in einem Ton mit, als gebe er mir ein Losungswort.
»Geschäftlich unterwegs?«, fragte ich. Im Grunde interessierten mich seine Belange überhaupt nicht. Aber irgendwie musste das Gespräch ja am Laufen gehalten werden, vor allem wenn dein Gegenüber dich auf ein Bier einlud.
»Eigentlich … nicht ganz.« Sascha schien sich die Sache erst mal durch den Kopf gehen lassen zu müssen. »Obwohl man es auch so ausdrücken könnte.«
»Also geht’s um Politik?«, vermutete ich mit düstersten Vorahnungen.
»In gewisser Weise.« Sascha lachte. »Letztendlich haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen, Kirill. Ein Mittelding zwischen Politik und Geschäften. Ich arbeite bei einer staatlichen Institution. Mache sozusagen ein bisschen Bürokratie. Mit dem politischen Unsinn beschäftige ich mich natürlich nicht. Das sollen die Politiker schön selbst erledigen. Wir sorgen dafür, dass die Staatsmaschinerie am Rollen bleibt, die Züge fahren, das Korn gedeiht, die Grenzen unter Verschluss sind! Zu Sowjetzeiten nannte man Leute wie uns Funktionäre.«
Ich trank einen Schluck Bier und stellte die Flasche ab. Ein Funktionär also …
»Und Sie, Kirill? Arbeiten Sie? Studieren Sie?«, fragte Sascha. Allmählich platzte mir der Kragen. Musste ich mir wirklich von einem Mann, der höchstens ein Jahr älter war als ich, derart gönnerhafte Fragen gefallen lassen? Arbeiten Sie? Studieren Sie?
»Ich bin vorübergehend arbeitslos«, antwortete ich.
»Sie sollten sagen: Im Moment suche ich Arbeit«, korrigierte mich Sascha. »Das klingt besser, glauben Sie mir. Und was machen Sie beruflich?«
»Ich? Ich bin ein Funktional«, blaffte ich ihn an. Was bildete der sich eigentlich ein, einen Unbekannten in diesem Ton zu belehren?! Diese Unverfrorenheit bildete sich anscheinend bei allen Beamten heraus. ›Mache ein bisschen Bürokratie.‹ Damit das Korn unter Verschluss ist, die Züge gedeihen und die Grenzen fahren …
»Und was für ein Funktional - falls die Frage gestattet ist?«, erkundigte sich Sascha, wobei ich nun in seiner Stimme echte Neugier heraushörte. »Ich habe noch nie ein Funktional getroffen, das reisen konnte!«
Wir starrten einander an. In meinen Schläfen pochte es.
»Sie wissen etwas über Funktionale?«, hauchte ich. »Selbstverständlich«, antwortete Sascha gelassen. »In ihrem Metier sind sie unübertroffene Meister, dafür aber an ihre Funktion gekettet. Sie können sich nicht weiter als zehn, fünfzehn Kilometer von ihr entfernen. Mein Friseur ist ein Funktional, sein Salon befindet sich in der Nähe der Metrostation Tschistyje Prudy.«
»Sie wissen also über Funktionale Bescheid?«, wiederholte ich wie vor den Kopf geschlagen.
Warum wunderte ich mich bloß so darüber? Immerhin hatte ich doch einige Tage als Zöllnerfunktional gearbeitet, und durch meinen Turm waren Politiker, Geschäftsleute und junge Popstars mit ihrem Gefolge von einer Welt in eine andere spaziert. Meinem Inspektionskomitee hatten ein Politiker und ein Komiker angehört. Dieses Spektrum hätte mir doch zeigen müssen, dass in Moskau einige hundert, vielleicht sogar einige tausend ganz normale Menschen über Funktionale Bescheid wussten. Wer es an die Spitze der Regierung, der Geschäftswelt oder der Populärkultur geschafft hatte, war eingeweiht. Und dieser junge Kerl gehörte nicht zum Fußvolk, das war auf den ersten Blick klar.
»Natürlich weiß ich Bescheid!« Sascha lachte. »Aber wie kann ich Ihnen das beweisen? Soll ich Ihnen die Zollstellen aufzählen, die es in Moskau gibt?«
»Nennen Sie mir lieber ein paar andere Welten, die Sie schon besucht haben.«
»Veros!«, antwortete Sascha wie aus der Pistole geschossen.
»So eine Welt gibt es nicht!«, kanzelte ich ihn voller Genugtuung ab.
»Was heißt das - die gibt es nicht? Das ist die Welt mit den Stadtstaaten. Die mit diesem komischen Feudalismus und den Dampfmaschinen …« Er schnippte mit den Fingern. »Dort, wo Nut, Kimgim und Ganzser liegen.«
Ich nickte. Ach ja, natürlich. Meine Zollstelle hatte auch über einen Zugang in den Stadtstaat Kimgim verfügt. Eine sehr beschauliche Stadt. Und daneben gab es noch Tausende von anderen Stadtstaaten …
»Ich glaube Ihnen«, versicherte ich.
»Dann gibt es noch das Reservat«, zählte Sascha weiter auf. »Ferner …«
»Wie gesagt, ich glaube Ihnen!« Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Bier. »Wirklich. Das kommt nur alles etwas überraschend.«
»Was sind Sie denn nun für ein Funktional?«, fragte Sascha mit ungebrochener Neugier noch einmal. »Verzeihen Sie mir, wenn ich so bohre, denn wenn Sie nicht darüber sprechen wollen …«
»Ich bin Zöllner«, erklärte ich. Wobei ich mir den Vorsatz »ehemaliger« sparte.
»Und Sie können reisen?«
»Ja.«
»Nicht zu fassen!« Über die Existenz der Funktionale an sich wunderte sich Sascha jedoch kein bisschen. »Das sollte uns doch ein Gläschen wert sein, oder?«
Seine Hand tauchte im Koffer ab, und er zog mit der Geste eines Zauberkünstlers eine Flasche Martell hervor.
Ich schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, besser nicht. Morgen früh steht uns der Zoll bevor.«
»Sie sind mir ein Spaßvogel!« Sascha brach in Gelächter aus. »Ein Funktional, das sich vorm Zoll fürchtet …« Dann wurde er wieder ernst. »Grenzen und Zoll … ständig ziehen wir Mauern hoch. Das schadet doch nur den einfachen Menschen, hält Verbrecher aber bestimmt nicht auf … Wer also braucht all diese Schranken?«
Es war schon komisch. Das schien seine ehrliche Meinung zu sein, und ich konnte seinen Worten nur zustimmen. Trotzdem klang es irgendwie kalkuliert, als halte er vom Podium aus eine Rede. Unwillkürlich fiel mir der Politiker Dima ein.
Ob das bei allen von ihnen so war? Dieses professionelle Getue?
»Stimmt, die braucht niemand«, pflichtete ich ihm bei.
»Nehmen wir zum Beispiel einmal Veros. Obwohl es eine Art Flickenteppich ist, verzichtet es im Grunde auf richtige Grenzen zwischen den einzelnen Ländern«, fuhr Sascha fort, während er geschickt das marinierte Fleisch zerteilte. »Eine zauberhafte, anheimelnde kleine Welt. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, ganz dorthin überzusiedeln.«
»Wie haben Sie eigentlich etwas über die Funktionale erfahren?«, wollte ich wissen. »Oder über die anderen Welten?«
»Das bringt meine Position mit sich.« Sascha grinste breit. »Als ich zum Referenten von Pjotr Petrowitsch geworden bin, hat er mich davon in Kenntnis gesetzt. Was blieb ihm auch anderes übrig? Schließlich verlangt der Beruf, dass ich ihn überallhin begleite.«
Wenn ich mich nicht irrte, kam es in seinen Ausführungen vor allem auf den »Referenten von Pjotr Petrowitsch« an. Genau das war das Stichwort, anhand dessen die Einteilung in »unsere Leute« und »alle anderen« vorgenommen wurde. Als Funktional musste mir der Name etwas sagen und ich entsprechend reagieren.
»Wie geht es ihm denn?«, fragte ich, ohne zu präzisieren, wen ich meinte. »Besser?«
Vermutlich handelte es sich bei dem mysteriösen Pjotr Petrowitsch, dem etatmäßig ein paar vertrauenswürdige Referenten zustanden, um einen mindestens fünfzigjährigen Mann. Und in dem Alter gibt es keine kerngesunden Männer, schon gar nicht unter den Beamten im Grenzbereich von Politik und Wirtschaft.
Sascha zwinkerte mir zu. »Bestens«, antwortete er. »Aber er hat ja auch ausschließlich Heilwasser getrunken, Diät gehalten …«
»In Karlsbad?«, gab ich einen weiteren Schuss ins Blaue ab.
Und traf erneut ins Schwarze.
»Wie immer.« Damit akzeptierte Sascha mich endgültig als einen von »unseren Leuten«. Meine Fähigkeit zu reisen stimmte ihn nicht länger misstrauisch, ebenso wenig die Tatsache, dass er mich nicht kannte. Als er sich ein weiteres Bier aufmachte, fragte Sascha mich: »Kennen Sie den Witz von dem Gynäkologenfunktional?«
»Welchen denn?«, fragte ich zurück.
»Den, wo das Gynäkologenfunktional ins Sprechzimmer seines Kollegen stürmt und sagt: ›Komm mal rüber zu mir! Meine Patientin, die musst du dir angucken!‹«
Das Manko all der Witze über eine bestimmte Gruppe besteht ja darin, dass sie lediglich Abwandlungen von bestimmten Grundwitzen darstellen. Selbst wenn du kein verrückter Fan der Harry-Potter-Bücher bist, von Rollenspielen oder, da sei Gott vor, von Rapmusik, verstehst du alle einschlägigen Witze. Du brauchst nämlich bloß den Bürgerkriegshelden Tschapajew gegen Potter einzutauschen oder seinen Gefährten Petka gegen Ron. Statt »Karo Trumpf« heißt es eben »Spezialfähigkeiten«. Oder du tauschst Alla Pugatschowa gegen Timati oder Dezl aus. Es funktioniert, denn im Prinzip sind alle Witze gleich aufgebaut.
Aus Höflichkeit lächelte ich trotzdem. Obendrein gab ich meinerseits einen gemäßigt schweinischen Witz zum Besten, in dem ein allzu liebestoller Georgier vor Gericht stand.
Sascha wieherte vor Lachen und fuhrwerkte begeistert mit der Bierflasche herum. Seine Reisegesellschaft stellte ihn fraglos hochzufrieden.
Mich, wenn ich ehrlich sein sollte, auch.
Wir tranken Bier, gingen ein paar Mal zum Rauchen auf den Gang, wobei ich Sascha zu den Treasures einlud, die ich in Kotjas Wagen requiriert hatte, was mir abermals einen anerkennenden Blick einbrachte. Irgendwann ging das Bier aus, und Sascha besorgte im Speisewagen neues. Natürlich gab es da kein englisches Ale, aber nach der dritten Flasche verliert sich der Unterschied zwischen den Sorten sowieso und jedes Bier schmeckt gleich.
Kurz nach eins legten wir uns schlafen, beide in bester Stimmung. Alexander schnarchte sofort los, was mich jedoch bei dem Rattern der Räder nicht sonderlich störte. Die Ventilation im Waggon lief tadellos, ein seltener Glücksfall in einem ukrainischen Zug. Ich schob eine Hand unter den Kopf, lag ausgestreckt auf dem Rücken und starrte auf die über die Decke flitzenden Lichtreflexe von Laternen. Wir mussten uns irgendeiner Kleinstadt nähern.
Schon merkwürdig: Von allen Passagieren hatte ich ausgerechnet denjenigen abgekriegt, der über Funktionale Bescheid wusste. Der mich sogar dazu gebracht hatte, über sie zu reden. War das ein Zufall? Oder eine Falle? Schließlich war ich aus den Reihen der Funktionale ausgeschert, hatte ihre Gesetze verletzt. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich hatte den Aufstand geprobt. Ich hatte den Polizisten Andrej überwältigt, die Hebamme Natalja umgebracht und war anschließend meinem Kurator entkommen, meinem ehemaligen Freund Kotja.
Wenn man vom gesunden Menschenverstand ausging, schien ein Zufall kaum wahrscheinlich, was hieß, Sascha musste auf mich angesetzt worden sein. Wenn man allerdings schon mit dem gesunden Menschenverstand argumentierte, dann musste ich sowieso seit langem im Krankenhaus liegen und mir etwas im Fieberwahn zusammenspinnen, denn wer würde an andere Welten glauben, in die geheime Türen führten, an Funktionale, die durch die Stadt flanierten, und an geheimnisvolle Experimentatoren, die das alles lenkten?
Ich hob eine Hand und starrte müde auf den Stahlring an meinem Finger. Er war alles, was mir von meiner Funktion geblieben war.
Zeit, zu schlafen. Mein Reisegefährte, mochte er nun eine Zufallsbekanntschaft oder auf mich angesetzt sein, würde wohl kaum mitten in der Nacht über mich herfallen. Ich spürte keine Gefahr, und auf meine Instinkte verließ ich mich nach wie vor. Morgen früh würde ich Charkow erreichen und Wassilissa suchen, jene seltsame Frau, der ich trotz allem über den Weg traute.
Der Zug wurde immer langsamer. In der Ferne vernahm ich bereits das rasselnde, metallene Scheppern der Bahnhofslautsprecher: »Auf Gleis zwei … hat Einfahrt der Schnellzug Nr. 19 … Moskau - Charkow …« Über die Wand glitt ein greller, rechteckiger Lichtfleck, der meine unter einem Gummizug steckende Hosen und die zusammen mit dem ausgeleierten Pullover auf das Ablagegitter geworfenen Socken erfasste. (Ja, ich geb’s zu, ich bin ein Schwein!)
Ich stemmte mich auf einen Ellbogen hoch und griff nach der locker vorgezogene Gardine. Automatisch wanderte mein Blick über den näher kommenden Bahnsteig.
Ganz am Anfang, da, wo der letzte Waggon halten würde, stand eine Gruppe junger Männer, vielleicht zehn oder zwölf Typen. Sie alle hatten kurz geschnittene Haare, trugen keine Mütze, dafür aber Trenchcoats oder hyperkurze Lederjacken. Aufmerksam musterten sie die Waggons.
Ihre Gesichter kamen mir vage bekannt vor, nicht aufgrund einzelner Merkmale, eher der Typus als solcher. Im Grunde schienen es die reinsten Durchschnittsgesichter zu sein - aber etwas Ungewöhnliches machte ich eben doch aus.
Dann war der Bahnsteig erst mal eine ganze Weile leer. Es gab halt nicht viele Menschen, die mitten in der Nacht jemanden in einer kleinen Provinzstadt vom Zug abholen wollten.
Aber dann: Dreißig Meter weiter stand ein junger Kerl, der so aussah, als hätte er sich rein zufällig von der ersten Gruppe gelöst. Nach zwanzig oder dreißig Metern langweilten sich erneut ein paar junge und durchtrainierte Gestalten. Schließlich kam noch ein Mann. In einiger Entfernung machte ich über der Bahnhofshalle das matt schimmernde Schild »Orjol« aus.
Während ich anfing, mich anzuziehen, ließ ich den Bahnhof keine Sekunde aus den Augen. In Jeans, Socken und Schuhe geschlüpft, den Pullover übergezogen. Ein Blick auf meine Tasche - nein, die würde ich nicht mitnehmen. Die enthielt eh nur ein paar Klamotten. Aber die Jacke. Ich klopfte gegen die Tasche und spürte das dicke Portemonnaie. Fertig, es wurde höchste Zeit …
»Musst du pinkeln oder willst du eine rauchen?«, fragte Sascha von seinem Bett aus, indem er sein Schnarchen kurz unterbrach.
»Rauchen«, murmelte ich. »Schlaf weiter!«
Daraufhin huschte ich in den Gang hinaus. Der Zug hatte noch nicht angehalten, sondern zuckelte bloß langsam am Bahnsteig lang. Gleich würden diese aufmerksamen jungen Männer in den ersten und den letzten Wagen springen und sich zu zweit oder zu dritt vor jeder Waggontür aufbauen.
Ob ich mit ihnen zu meiner Zeit als Funktional hätte fertig werden können, wüsste ich nicht zu sagen. Jetzt würde ich das mit Sicherheit nicht schaffen. Dafür brauchte ich nicht mal eine Wahrsagerin zu konsultieren.
Ich lief den schmalen Gang hinunter und rüttelte an den kalten Aluminiumgriffen der Fenster. Zu! Zu! Zu! Das vierte Fenster gab endlich nach und bewegte sich nach unten. Die feuchten Schienen krochen unter mir dahin, auf einem Nebengleis stand ein Güterzug, feiner Schneeregen funkelte im schwankenden Lichtkegel einer der auf einem Pfeiler sitzenden Blechlampen auf …
Irgendwann erhaschte ich den Blick eines dieser kurzrasierten Typen, der einsam am Nachbargleis stand. So langsam, als schlafe er halb, verzog er die Lippen zu einem Grinsen und winkte mir zu. Anschließend kramte er ohne zu zögern sein Funkgerät aus der Gürteltasche.
Diejenigen, die den Zug eingekesselt hatten, machten keine Fehler. Die Kette stand auf beiden Seiten.
Ich saß in der Falle.
»Wo willst du denn hin, Kirill?« Sascha tauchte gähnend aus dem Abteil auf. Er fixierte mich. Dann lugte er zum Fenster raus. Mit zusammengekniffenen Augen behielt er jemanden im Blick. Wie ein wildes Tier witterte er die Gefahr. Wobei es im tiefsten Dschungel längst nicht so gefährlich sein dürfte wie in den hellen, klimatisierten Gängen von Regierung und Wirtschaftswelt. »Sind die hinter dir her?«
Ich nickte. »Gehörst du zu ihnen?«, fragte ich.
»Weshalb solle ich mich auf ein derart schmutziges Spiel einlassen?«, japste Sascha empört. Und als könnte ich nach wie vor gleich einem Funktional eine Lüge erkennen, wusste ich: Er sagte die reine Wahrheit. Er hatte es in seinen Kreisen von Politik und Wirtschaft und als Bürokrat in einer staatlichen Institutionen genau deshalb so weit gebracht, weil er sich niemals mit irgendjemandem anlegte. An keiner einzigen Auseinandersetzung hatte er teilgenommen, sondern sich allen gegenüber freundlich gezeigt und strikt Neutralität gewahrt. Solche Leute kommen in der Regel nie bis ganz an die Spitze - fallen aber auch nie auf die Schnauze.
»Ich muss weg«, sagte ich. »Die haben’s auf mich abgesehen.«
Zitternd brachte der Zug die letzten Meter hinter sich.
»Dann geh«, erwiderte Sascha erleichtert. »Viel Glück! Ich hätte dir gern geholfen, aber …«
»Schön, wenn du das gern tun würdest«, hakte ich sofort ein. »Du wirst mir helfen.«
Ich verschwand wieder in unserem Abteil, schnappte mir meine Tasche und rannte zurück zu dem offenen Fenster. Genau in dem Moment kroch der Zug in den Schatten der kleinen Gitterbrücke, die sich über das Gleis spannte. Ich schleuderte die Tasche zum Fenster raus.
Sascha dachte anscheinend, ich würde meinen Sachen hinterherhechten. Er kam sogar auf mich zu, um mir eiligst behilflich zu sein. Ich zog jedoch die Notbremse, was den ohnehin schon langsamer werdenden Zug dazu brachte, mit zischenden Druckluftbremsen abrupt anzuhalten. Vermutlich würden sämtliche Reisenden, die ich damit aus dem Schlaf gerissen hatte, den absolut unschuldigen Lokführer verfluchen.
»Ich bin aus dem Fenster gesprungen«, erklärte ich.
»Das hast du doch gesehen?«
Einen ausgedehnten Moment lang schwieg Sascha, drückte sich gegen die Wand und kratzte sich den bei seinem Beruf allzu flachen Bauch. Wer mir auf den Fersen war, wusste er nicht, was ihn ganz wesentlich daran hinderte, zu einer Entscheidung zu gelangen. Ich schien irgendwie einer von ihnen zu sein - aber auch von den eigenen Leuten muss man sich rechtzeitig distanzieren!
Es war nicht schwer dahinterzukommen, welche Gedanken ihm durch den Kopf schossen. Was sprach dafür, mir zu helfen, was dafür, mich ans Messer zu liefern? Die Argumente hielten sich in etwa die Waage …
Sascha drehte sich von mir weg und steckte den Kopf zum offenen Fenster hinaus. »Bleib stehen, du Schwein!«, schrie er in die Nacht. »Halt!«
Jetzt durfte ich auf keinen Fall länger zögern.
Ich raste zurück in unser Abteil und linste durch den schmalen Spalt zwischen den Gardinen auf den Bahnsteig. Anscheinend beobachtete mich niemand. Daraufhin stieg ich aufs Bett.
Der Schlafwagen Erster Klasse in seiner modernen ukrainischen Variante unterscheidet sich kaum von einem einfachen. Nur die oberen Betten sind abmontiert und ein paar Schönheitsreparaturen vorgenommen worden. Das Gepäckfach über der Tür hatte man jedoch nicht angetastet.
Dahin kletterte ich nun, wobei ich mich mit der Gewandtheit eines Menschen hochzog, dessen Fersen bereits der gierige Atem eines Raubtiers umwehte.
Meine Chancen standen eher bescheiden. Nur jemand, dem keine andere Wahl bleibt, versteckt sich. Die Rettung eines Flüchtlings liegt einzig und allein in der Flucht. Sich zu verstecken - das ist pure Kinderei.
Aber selbst auf der Flucht konnte man noch taktieren …
»Dich erwisch ich!«, schrie Sascha höchst überzeugend im Gang. »Du dreckiger Dieb!«
Endlich klapperte eine Tür des Waggons und schwere Schritte trampelten durch den Gang. Etwas Gleichförmiges, Einheitliches lag in diesem Getrampel, genau wie bei marschierenden Soldaten oder bei den Schulkindern, die sich in Pink Floyds The Wall übers Fließband schleppen. Eine Uniform verbindet halt - selbst wenn von ihr nur die Schuhe geblieben sind!
Mir fiel eine Geschichte ein, die mir mal jemand erzählt hatte: Während der Olympiade in Moskau waren Milizionäre massenhaft in Zivilkleidung gesteckt und auf Streife geschickt worden. Dafür hatte man im befreundeten Ostdeutschland, das damals DDR hieß, eine entsprechende Menge anständiger Anzüge, Hemden und Krawatten gekauft. Die alle gleich aussahen. Vermutlich, damit sich niemand zurückgesetzt fühlte. Oder sollte den Beschaffungsintendanten tatsächlich nicht klar gewesen sein, dass Zivilkleidung individuelle Nuancen aufweist? Jedenfalls patrouillierten durch die Moskauer Straßen Pärchen von jungen Männern, die allesamt kurz geschnittene Haare und absolut identische Anzüge trugen. Da man außerdem versucht hatte, sämtliche Kinder in Ferienlagern außerhalb der Stadt unterzubringen - damit sie die Ausländer ja nicht um Souvenirs anbettelten -, nahmen die Besucher einen ausgesprochen befremdlichen Eindruck mit nach Hause: Moskau ist eine von verkleideten Spionen wimmelnde Stadt, düster und für ein normales Leben ungeeignet.
»Was ist passiert, Bürger?«, klang es aus dem Gang zu mir herüber.
Ein eiskalter Klumpen ballte sich in meiner Brust zusammen.
Der Typ hatte Russisch gesprochen. Absolut korrektes und ordentliches Russisch. Lediglich eine kaum wahrnehmbare Nuance, ein ganz zarter Akzent enttarnte ihn als Nicht-Russen.
Mich jagten nicht unsere eigenen Funktionale und auch nicht unser Geheimdienst. Den Zug durchkämmten die Dreckschweine aus Arkan.
Ich konnte nur hoffen, dass Sascha das nicht mitkriegte.
»Mein Abteilnachbar! Dieser Mistkerl!«, jammerte Sascha mit leicht übertriebener Dramatik. »Da sitzen wir friedlich beieinander und dann …«
Die Geräusche signalisierten mir, dass Sascha seinen Gesprächspartner förmlich in unser Abteil boxte, um ihm zu demonstrieren, dass dieses leer war. Daraufhin zog er ihn genauso rasant wieder heraus, hin zum Fenster.
»Der Hund! Wir haben noch Bier zusammen getrunken, wie zwei anständige Menschen! Und dann springt er wie von der Tarantel gestochen aus dem Fenster! Der hat doch garantiert mein Portemonnaie geklaut!« Wieder rasselte etwas, und Sascha tauchte im Abteil auf, um nach seinem Jackett zu langen. »Ach nee!«, rief er erstaunt aus. »Mein Portemonnaie ist noch da! Wohin wollen Sie denn? Ich habe mich ja geirrt, der ist gar kein Dieb!«
»Ihr Reisegefährte ist ein extrem gefährlicher Terrorist und Mörder«, antwortete ihm jemand, der schon ziemlich weit weg war. »Sie können von Glück sagen, dass Sie noch am Leben sind, Bürger.«
Ich lag ruhig wie eine Maus da und konnte immer noch nicht glauben, dass das Abteil nicht durchsucht worden war. Im Gepäckfach roch es nach Staub, Desinfektionsmittel und aus irgendeinem Grund nach Hanf. Wundern tat mich das allerdings nicht - es war ja eine Verbindung nach Süden.
Mich hatte gerettet, dass meine Häscher von Arkan, von Erde-1, stammten. Also aus einer Welt, in der alles korrekter zuging als bei uns. Wo die Bürger mehrheitlich loyal waren und ihren Polizisten die reine Wahrheit auftischten.
»He … du Mörder und Terrorist …«, rief Sascha mit leicht zweifelnder Stimme. »Sie sind weg.«
Ich schaute nach unten und sprang hinunter.
Im Waggon war es still. Die Fahrgäste schienen zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Wer aufgewacht war, blieb in seinem Abteil hocken und steckte die Nase nicht in den Gang heraus.
Sascha sah mich mit einem zweifelnden Blick an, in dem ich die Frage las: Habe ich die richtige Entscheidung getroffen?
»Tschüs«, sagte ich, während ich in geduckter Haltung zur Waggontür rannte.
Die Tür vom Personaltabteil stand offen. Die beiden Zugbegleiterinnen tuschelten auf dem Bahnsteig miteinander, den Blick fest auf etwas gerichtet. Ich linste von der Treppe aus über ihre Schultern. Sie studierten ein Plakat mit meinem Bild. Den Text unter dem Foto las ich erst gar nicht. Ich pirschte mich an die beiden Frauen an. »Ist euch euer Leben lieb?«, flüsterte ich.
Die ältere der beiden nickte und presste beide Hände vors Gesicht. Die jüngere wollte den Mund öffnen und loskreischen.
Ich presste ihr die Hand auf den Mund. »Willst du, dass deine Kinder friedlich im Hof spielen können?«, fragte ich.
Die Zugbegleiterin riss panisch die Augen auf und erstarrte.
»Dann habt ihr beide niemanden gesehen und niemanden gehört.« Mit diesen Worten zog ich meine Hand weg.
Keine der beiden Frauen brachte einen Ton heraus. Ich spähte nach links und nach rechts. Niemand zu sehen. Entweder durchkämmten die jungen Herren den Zug oder suchten mich zwischen den Abstellgleisen und Güterzügen.
So schnell ich konnte, sprintete ich rüber zu der halbdunklen Bahnhofshalle.
Zwei
Es gibt unter den Menschen eine ganz erstaunliche Spezies: verwurzelte Moskauer. Man darf sie nicht mit gebürtigen Moskauern verwechseln, die sich, vom leichten Snobismus der Hauptstädter abgesehen, durch nichts von anderen Russen unterscheiden. Ein verwurzelter Moskauer ist dagegen ein Wesen, das Moskau noch nie verlassen hat und auch gar nicht daran denkt. Innerhalb der Spezies treten verschiedene Varianten auf. In der hartnäckigsten Form kommt ein Mensch in der Grauermann-Frauenklinik zur Welt, wird auf dem Wagankow-Friedhof begraben und verbringt sein (mitunter sehr langes) Leben irgendwo zwischen diesen beiden Punkten.
Von einem solchen hartnäckigen Fall hatte mir mein Vater einmal berichtet. Eine Kollegin von ihm verließ mit Anfang fünfzig zum ersten Mal Moskau, um an einer wissenschaftlichen Konferenz in Petersburg teilzunehmen. Vor der Reise war sie extrem nervös gewesen, aber erst im Zug erfuhren die anderen, dass die Frau nie zuvor aus Moskau rausgekommen war. Als Kind nicht ins Pionierlager, im Sommer nicht auf die Datscha! Das hatte keinen besonderen Grund, sie war einfach nirgendwo hingefahren, mehr nicht. Während der Fahrt schlief sie keine Sekunde, sondern starrte die ganze Zeit in die triste Landschaft entlang der Strecke. In Piter zeigte sie sich entzückt von Newa und Newski-Prospekt, begeisterte sich für die Isaak-Kathedrale und die Admiralität, für prachtvolle Hauseingänge und Ziermauerwerk. Unversehens eröffnete sich dieser Frau eine ganz neue Welt!
Obwohl auch ich in Moskau aufgewachsen bin, stellte sich die Frage, ob es jenseits der Moskauer Ringautobahn Leben gebe, für mich nicht, denn ich war bereits fünf Mal in Piter gewesen, ferner in Rjasan und Jekaterinburg, ja sogar in Krasnojarsk. Außerdem natürlich in der Türkei und in Spanien, den heutigen Alternativen zur Krim.
Dennoch war die Stadt Orjol für mich absolute Terra incognita. Nun ja, es war die »Stadt des ersten Salutschusses«, genau wie das benachbarte Belgorod. In der Vergangenheit hatte es da irgendeine Festung gegeben. Oder war es eine Schlacht?
Damit erschöpfte sich mein Wissen allerdings auch schon.
Mir war nicht mal klar, wie die Einwohner hießen. Orjoler oder Orjolier? Orlower? Orjolten? Orjoler, Orjolerinnen und Orjolchen?
Die Antwort auf diese Frage bekam ich von einem Taxifahrer, der vorm Bahnhof gewartet hatte und dem ich erklärte, ich hätte meinen Zug verpasst und müsse so schnell wie möglich nach Charkow.
»Mir soll’s recht sein«, erklärte der Taxifahrer unerschütterlich, der den Kopf zum Fenster seines alten Wolgas herausstreckte. »Wenn du zahlst, bring ich dich überall hin. Sogar nach Moskau.«
Nach Moskau?
Mit einem Mal wollte ich schrecklich gern zurück. Nach Hause, nach Moskau. Zurück in die lärmende Metropole, wo du problemloser untertauchen kannst als in jeder Wüste. Würden die da nach mir fahnden? Vielleicht hatten sie mich überhaupt nur verfolgt, weil ich - statt Ruhe zu geben und mein altes Leben wieder aufzunehmen - nach irgendwas suchte? Warum auch immer, der Gedanke leuchtete mir sofort ein. Ich bräuchte jetzt also nur nach Hause zu fahren, zurück nach Moskau - und der ganze Albtraum würde sich in Luft auflösen. Ich würde wieder bei Bit und Byte arbeiten, selbst wenn ich einen Rüffel wegen der blaugemachten Tage kriegte, mich mit Anka aussöhnen …
Ich würde Nastja vergessen.
»Nein«, sagte ich. »Ich muss nach Charkow.«
»Wie viel?«
Obwohl ich wusste, was er meinte, hörte ich mich zu meiner Überraschung antworten: »Wie fahren wir denn? Über Kursk oder über Snamenka?«
Was für ein Snamenka nun schon wieder? Mir war nicht mal klar, dass die Strecke über Kursk führte!
Der Fahrer musterte mich noch einmal. Diesmal wesentlich aufmerksamer. Anscheinend passte das, was er sah, nicht zu dem, was ich sagte. Als ob im Fernsehen im Sender »Unser Kino« irgendein Mädchenfilm läuft, der mit der Tonspur von irgendeinem Mädchenreport vom Pornokanal unterlegt ist.
»Warum willst du denn über Snamenka?«, wollte der Fahrer wissen.
»Das ist kürzer«, vermutete ich.
Nein, ich vermutete es nicht. Ich wusste es!
»Stimmt, dauert aber trotzdem länger. In Kromy bleiben wir stecken … Bist du Orlowtschane?«
»Sozusagen.« Ich lächelte ihn an. »Also, wie viel willst du?«
Der Fahrer seufzte. Dann spuckte er durch das offene Fenster. »Also …«, setzte er zögernd an. »Zurück bekomme ich niemanden … Sagen wir sieben?«
Nach alter Moskauer Gewohnheit nahm ich sofort an, es ginge um siebenhundert Dollar.
»Nun übertreib’s mal nicht, Chef, so kommen wir nicht ins Geschäft!«
»Dann halt sechstausend Rubel, weil du von hier bist.« Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Drunter mach ich’s aber nicht!«
»Geht klar!« Ich guckte noch einmal zum Bahnhof rüber, stapfte ums Auto rum und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Endlich war bei mir der Groschen gefallen: In der Provinz werden große Summen nicht à Hundert Dollar, sondern à Tausend Rubel angegeben.
»Erst das Geld«, verlangte der Fahrer, der keine Anstalten machte, den Motor anzulassen. »Ich fahr noch zu Hause vorbei und geb’s meiner Frau.«
»Ein kluger Gedanke«, lobte ich ihn und holte das Portemonnaie heraus, das früher einmal Kotja gehört hatte. Ich zählte sechs Tausender ab. Der Fahrer faltete sie sorgfältig zusammen und steckte sie in seine Tasche. Anschließend drehte er den Zündschlüssel. »Warum nimmst du nicht den Zug?«, fragte er.
»Den hab ich doch verpasst.«
»Klar.« Der Fahrer grinste. »Verpasst … Der Schwanz verschwindet gerade hinter den Bäumen … Ich könnte dich nach Kursk bringen, bevor der Zug da ist. Willst du das? Da haust du dich in deinem Abteil aufs Ohr …«
»Nach Charkow«, wiederholte ich stur.
»Mir soll’s egal sein, ich bring dich überhall hin.« Der Fahrer zuckte mit den Achseln. »Du solltest aber eins wissen: Wenn deine Papiere nicht in Ordnung sind oder sie an der Grenze bei dir Waffen oder Drogen finden … dann ist das dein Problem.«
»Ich trage keine Waffen«, versicherte ich. »Und auf Drogen habe ich mich noch nie eingelassen. Wieso nimmst du mich überhaupt mit, wenn du mir so was unterstellst?«
»Ich mach’s halt«, erklärte der Fahrer. »Von irgendwas muss ich ja leben … Und lass dein Fenster runter, der ganze Wagen stinkt schon nach Bier … Wenn uns die Polizei anhält, darf ich denen noch beweisen, dass ich keinen Tropfen angerührt hab.«
 
An die Fahrt nach Kursk erinnere ich mich nicht mehr, denn ich schlief die ganze Zeit über. Kaum hatte der Fahrer bei sich zu Hause vorbeigeschaut und seiner verschlafenen Frau das Geld ausgehändigt, war ich weg gewesen. Ich träumte allerlei Unsinn, an den ich mich zwar nicht mehr erinnerte, der sich beim Wachwerden jedoch mit einem bedrückenden, ekelhaften Gefühl bemerkbar machte.
Als ich aufwachte, ließen wir Kursk gerade hinter uns. Der Fahrer fuhr auf eine Tankstelle, parkte, ging in den Laden und kaufte ein paar Dosen kalten Kaffee. Der kurze Halt weckte mich zuverlässiger als das ganze Gerumpel während der Strecke Orjol - Kursk. Ich drehte mich um und betrachtete blinzelnd den Fahrer, der gerade zurückkam. Benzin blubberte, als der Wagen aufgetankt wurde. Und es blubberte die in Blech gepackte koffeeinhaltige Flüssigkeit - meine Zunge weigerte sich, dem Getränk die Bezeichnung Kaffee zuzugestehen -, die die Speiseröhre des Fahrers hinunterplätscherte und seinen Magen füllte. Der Geschmack ließ mich von diesem Gebräu ausschließlich in kargen medizinischen Begriffen denken.
»Willst du auch?«, fragte der Fahrer. Da er anscheinend zu dem Schluss gelangt war, dass ich nicht die Absicht hatte, ihn zu überfallen und mir sein Auto anzueignen, taute er etwas auf.
»Gibt es hier ein Klo?«
»Im Laden.«
»Ich vertret mir mal die Beine.«
Nachdem ich wieder zurück war, nahm ich den angebotenen Kaffee, öffnete die Dose und trank einen Schluck. Wir verließen die Tankstelle und fuhren weiter. Langsam tagte es. Ich rauchte eine, wobei ich das Fenster ganz heruntergelassen hatte. Die Luft war kalt und frisch, der Winter hatte hier noch keinen Einzug gehalten, sodass mich meine Reise zurück in den Spätherbst brachte.
»Du bist ein komischer Vogel«, brummte der Fahrer plötzlich. »Irgendwie einer von uns … und gleichzeitig doch nicht. Kein Verbrecher, aber mit Geld wirfst du nur so um dich. Dann schläfst du ein … Was, wenn ich dir eins übergezogen hätte und du im nächsten Graben gelandet wärst?«
»War mir doch klar, dass du mir keins überziehst«, widersprach ich.
»Ach, das war ihm klar!« Der Fahrer schnaubte bloß.
Das Auto polterte über die nächtliche Straße. Wir wurden ordentlich durchgeschüttelt, denn die Straße, die erst im Frühjahr ausgebessert worden war, war zum Winter schon wieder aufgerissen.
Woher wusste ich, wann die Straßenarbeiten vorgenommen worden waren? Woher kannte ich die Entfernung zwischen den Städten?
Und woher in drei Teufels Namen wusste ich, dass die Frau des Fahrers Oxana hieß, zehn Jahre jünger war als er und den Rest der heutigen Nacht im Bett ihres Nachbarn verbringen würde - mit stillschweigender Duldung ihrer bei ihnen lebenden Mutter.
Den Namen des Fahrers wiederum kannte ich nicht.
Waren das Reste meiner Funktionalfähigkeiten? Die sich ganz willkürlich zeigten?
»Du bist wirklich seltsam«, meinte der Fahrer noch einmal.
»Ich weiß.«
»Was ist dir wichtiger, Kumpel, möglichst schnell in Charkow zu sein oder dir nicht wie der letzte Idiot vorzukommen?«
»Du stellst Fragen!«, stöhnte ich. »Wär’ nett, wenn sich beides machen ließe. Am Ende wäre es mir aber wichtiger, schnell anzukommen.«
»Dann lass ich dich in Belgorod am Busbahnhof raus. Ich bring dich sogar zu einem von den Taxifahrern, die da stehen. Die haben ihre Abkommen mit den Grenzern und werden schnell durchgelassen. Uns beide würden die Typen ein paar Stunden aufhalten. Das würde dich nur fünfhundert Rubel kosten.«
»In Ordnung.« Ich nickte. »Akzeptiert. Und für wie viel hättest du mich nach Belgorod gebracht? Wenn ich mich von Anfang an mit dir darauf geeinigt hätte?«
»Bei dreitausend hättest du einsteigen können!«, erklärte der Fahrer mit unverhohlener Genugtuung.
»Verstanden. Soll mir’ne Lehre sein.«
Eine Weile fuhren wir schweigend weiter. »Hör mal«, brachte der Fahrer schließlich hervor, »die fünfhundert in Belgorod übernehm ich.«
»Warum das?«, wollte ich wissen. »Das würde ich nie vor dir verlangen …«
»Ich bin Taxifahrer, kein Abzocker.« Der Mann holte eine Zigarette aus seiner Camel-Schachtel. »Das ist meine Arbeit, und da will ich ein reines Gewissen haben. Außerdem …« Er schielte mich aus den Augenwinkeln an. »… zu feilschen, um mehr Geld rauszuschlagen, das geht in Ordnung. Und bei einem Ukrainer hätte ich vermutlich auch jetzt keine Probleme … Aber wo du kein Fass aufmachst, dein Geld nicht zurückverlangst, da will ich mich auch anständig verhalten. Ich bin nämlich der Ansicht, wenn die Leute ihre Arbeit endlich mit Begeisterung machen würden und Respekt vor ihrem Beruf hätten, dann würde schon alles ins Lot kommen.«
Beinahe hätte ich laut losgelacht. Stattdessen sagte ich jedoch kein Wort, sondern nickte nur, um mein Einverständnis mit diesem Motto zu bekunden, das eines echten Funktionals würdig war.
 
Sie sind schon seltsam, diese kurzen Bekanntschaften. Normalerweise macht man sie auf Reisen, manchmal aber auch zu Hause. Wir treffen jemanden, unterhalten uns, essen und trinken gemeinsam. Manchmal kommt es zu Streit, manchmal zu Sex - aber danach geht man für immer auseinander. Doch der zufällige Trinkgenosse, mit dem du ein Herz und eine Seele bist, bis ihr euch Gemeinheiten an den Kopf werft, oder die sich langweilende junge Zugbegleiterin, mit der du beim Rattern der Räder das Bett geteilt hast, und, in der prosaischsten aller Varianten, der Taxifahrer, der dich ein paar Stunden lang durch die Gegend chauffiert - sie alle stehen für ein nicht in Erfüllung gegangenes Schicksal.
Mit dem Trinkgenossen zerstreitest du dich derart, dass er dich absticht. Oder du ihn.
Bei der Zugbegleiterin fängst du dir Aids ein. Oder sie wird deine treue und dich liebende Ehefrau.
Der Taxifahrer ist derart auf euer Gespräch konzentriert, dass er gegen einen Betonpfosten knallt. Oder ihr steckt in einem Stau fest, du kommst irgendwo nicht rechtzeitig an, erhältst eine Abmahnung, musst dir eine neue Arbeit suchen, fährst in ein anderes Land, triffst dort eine andere Frau, zerrüttest eine fremde Familie und verlässt deine eigene …
Jede Begegnung ist ein winziger Einblick in eine Welt, in der du leben könntest. Und der aalglatte Beamte Sascha ist genau wie der Taxifahrer aus der Provinz, den seine Frau nachts betrügt, dein nicht in Erfüllung gegangenes Schicksal. Und diese Schicksale interessieren mich.
Vor allem, nachdem ich am eigenen Leib erfahren hatte, wie leicht unsere Schicksale aus dem Leben zu löschen sind.
Fröstelnd bohrte ich die Hände tief in die Taschen (letzten Endes war es selbst hier im Süden kalt) und wanderte durch die morgendliche, gerade erst erwachende Stadt. Zu dumm, dass ich Wassilissa nicht nach ihrer Adresse gefragt hatte. Aber wie hätte ich ahnen können, dass ich sie je brauchen würde?
In einem Imbiss mit leicht ukrainischem Anstrich bestellte ich eine Portion Wareniki, einen Teller Borschtsch, Kaffee und - nach kurzem Zögern - einen Kognak, um wieder warm zu werden. Zu meiner Überraschung stellten sich die Teigtaschen als handgemacht und lecker heraus, zur Suppe reichte man ein köstlich nach Knoblauch duftendes Hefebrötchen, beim Kaffee handelte es sich um einen vorzüglichen Espresso, und der Kognak - oder, ehrlich gesagt, der ukrainische Brandy - zog mir keineswegs den Kiefer zusammen. Obendrein verkehrten in diesem Imbiss junge Frauen, die im Vergleich zu den Moskauerinnen sehr viel sympathischer wirkten. Ich hatte immer geglaubt, in Moskau würden sehr sympathische Frauen leben, aber Charkow lief eindeutig außer Konkurrenz. Bei der fünften oder sechsten Frau, die ich auf der Stelle kennenlernen wollte, hielt ich es schließlich für geboten, meinen Kaffee auszutrinken und hinaus in den ekelhaften Sprühregen zu fliehen.
Die Straße brachte mir allerdings auch keine Erleichterung. In der Nähe musste es ein großes Institut oder eine Universität geben, wohin die Studenten - und Studentinnen! - zu ihren ersten Veranstaltungen eilten. (Gab es in Charkow überhaupt eine Uni? Ich wusste es nicht, und meine Intuition ließ mich im Stich.) Schon nach einer Minute ertappte ich mich dabei, wie ich eine Frau neben mir offen angaffte, die mir daraufhin ein freudestrahlendes Lächeln schenkte. Sofort bog ich scharf ab und murmelte: »Wird Zeit, dass Sie heiraten, gnädiger Herr …«
Leider war ich nicht hierhergekommen, um eine Freundin zu finden. Und auch nicht wegen der Wareniki.
Ich setzte mich auf eine Bank im Hof eines alten zweistöckigen Hauses, bei dem der Putz abbröckelte, die kleinen Balkons mit den bauchigen, rissigen Balustraden auf Stücken von Eisenbahnschienen ruhten und wenige weiße Thermofenster von den ansonsten alten grauen Rahmen abstachen. Etwas an diesem Haus erinnerte seltsam an Moskau, und zwar an das alte Nachkriegsmoskau. Ob es womöglich tatsächlich von Moskauer Maurern gebaut worden war? Während des Kriegs war Charkow heftig umkämpft gewesen und fast dem Erdboden gleich gemacht worden. Danach hatte sich das ganze Land am Wiederaufbau beteiligt, weshalb die Stadt stellenweise an Moskau erinnerte, stellenweise an andere Städte.
Wie sollte ich hier eine Frau namens Wassilissa finden? Als ich noch ein Zöllner gewesen war, hatte ich einen Richtungsinstinkt besessen, der es mir erlaubte, zu dem als alten Wasserspeicher getarnten Turm an der Kreuzung der Welten zurückzufinden. Fremde Portale hatte ich jedoch selbst damals nicht gespürt. Und auch Funktionale hatte ich erst erkannt, wenn sie mir direkt gegenüberstanden.
Meine Idee, nach Charkow zu fahren, Wassilissa zu finden und sie um Hilfe zu bitten, hatte von Anfang an nicht viel Aussicht auf Erfolg. Gut, wir hatten uns damals auf Anhieb gemocht. Und den unsichtbaren Puppenspielern, die uns zu Funktionalen gemacht hatten, brachten wir beide nicht allzu viel Sympathie entgegen. Soweit ich es verstanden hatte, war Wassilissa mehr oder weniger freiwillig in die Verbannung gegangen und kontaktierte ihre Kollegen nicht allzu oft.
Aber wie kam ich darauf, dass sie mir helfen würde - und damit riskierte, alles zu verlieren?
Nur weil ich sie besser kannte als die anderen Zöllner? Hmm, genau genommen stimmte auch das nicht. Die Begegnung mit dem deutschen Zöllner war nicht weniger herzlich verlaufen, beinahe hätten wir sogar Brüderschaft getrunken …
Während ich rauchend diesen eher unerfreulichen Gedanken nachhing und im Regen durchweichte, driftete ich nach und nach in eine Depression ab. Was machte ich hier? Wäre es nicht wesentlich gescheiter, die Funktionale wissen zu lassen, dass ich nicht die geringste Absicht hatte, gegen sie zu kämpfen? Weshalb sie mich getrost in Ruhe lassen konnten? Vielleicht würden sie mir ja glauben … Ich würde einfach nach Hause fahren. Bei Bit und Byte würde man mir zwar den Kopf für die unentschuldigt gefehlten Tage waschen, aber vermutlich würde man mich trotzdem wieder einstellen. Und selbst wenn nicht! Schließlich hatte ich weiß Gott nicht die Absicht, bis ins hohe Alter pickligen Teenies die neuesten Videokarten anzudrehen oder Buchhaltern fortgeschrittenen Alters vorzuführen, dass der und der Rechner extrem leistungsstark ist und mit Maus, Monitor und Internetanschluss verkauft wird! Ich würde an die Uni gehen, an die Fakultät für Physik und Mathematik. Um … um eine Maschine zu erfinden, mit der man von einer Welt in eine andere gelangte. Um auf Erde-1 zu landen … Nein, besser gleich auf Erde-0, die meiner Ansicht nach hinter alldem stecken musste. Denen würde ich Feuer unterm Arsch machen! Mit zwei Schwertern auf dem Rücken und einer MPi im Anschlag! Nachdem ich mich mit heiligem Wasser besprengt und tibetanische Kampfmagie studiert hatte! Ein Szenario, ganz im Geiste des SF- und Fantasy-Schriftstellers Melnikow …
Sobald mir Melnikow einfiel, musste ich unwillkürlich an Kotja denken.
Das gab mir den Rest. Ich stand auf und trat die zweite Zigarette aus, die ich mir gleich nach der ersten angesteckt hatte. Missmutig durchquerte ich den Hof.
Charkow ist eine große Stadt. Mit einer Metro und allem, was statusbedingt sonst noch dazu gehört. In erster Linie halt eine Unmenge von Häusern. Platz hatten sie hier nicht gespart, weshalb es nur stellenweise Hochhäuser gibt.
Komisch, dass Wassilissa ausgerechnet aus dieser Stadt stammte. Zu ihr hätte viel besser ein gemütlicher kleiner Ort wie Bobruisk gepasst …
Die nächsten Höfe - feuchte, graue, traurige Plätze - durchquerte ich völlig in Gedanken versunken und ohne irgendetwas wahrzunehmen. Die Häuser zogen sich einen Hügel hinauf, zwischen ihnen schlängelte sich eine asphaltierte Straße entlang, die an bezäunten Vorgärten vorbeiführte, fast schon kleinen Gemüsegärten, eine für eine Millionenstadt befremdliche und vermutlich nicht erlaubte Erscheinung. Aber im Süden war eben alles unkomplizierter. Weiter weg von diesem idiotischen Schema von »Das gehört sich und das nicht«, dichter dran an der Realität. Es konnte durchaus sein, dass die Bewohner hier unbehelligt Zwiebeln und Dill vor der eigenen Haustür anpflanzten.
Plötzlich zwang mich etwas stehenzubleiben. Und zwar in einer schmalen Gasse, direkt am Ausgang eines dieser Höfe.
Dieses Etwas ließ sich nur schwer mit Worten beschreiben. Es lag an der Grenze zwischen Realem und Märchenhaftem, Gesehenem und Eingebildetem, eine Art huschender Schatten, aus den Augenwinkeln erfasst und ins Nichts verschwunden.
Ich schaute mich um. Lauschte.
Und wenn ich auf meine durch die Zigaretten verdorbene Nase vertraut hätte, hätte ich auch noch geschnuppert!
Dieser Hof war anders.
Hier hatten die Bäume noch nicht alle Blätter verloren. Die Gardinen in den Fenstern waren knalliger. Auf den Fensterbrettern leuchteten die Blumen triumphaler und fröhlicher, fast als seien sie Nachkommen des Rosenstocks von Gerda und Kay. Ein dicker schwarzer Kater, der sich auf dem Kofferraum - pardon, auf der Motorhaube - eines Saporoschez putzte, bis sein Fell glänzte. Er hatte Maße, die dich stutzen ließen: Thronte da eine Rohrkatze oder ein kleiner Luchs?
Auch der alte Saporoschez sah erstaunlich gut in Schuss aus, nicht wie ein restaurierter Oldtimer, nicht wie ein Haufen Schrott, sondern genau wie das, was er war: ein kleines, wendiges Auto.
Bei dem Zaun vor einem der Häuser handelte es sich um ein schmiedeeisernes Gitter. Es war mit einer widerlichen Farbe gestrichen, außerdem schmutzig, aber dennoch eine echte Schmiedearbeit. Kunstvoll rankten sich Weinreben um Blätter von Erdbeerpflanzen. Als Tüpfchen auf dem i bekrönte das Dach eine schmiedeeiserne Wetterfahne, kein banaler Hahn, sondern ein Drache, der die Flügel spreizte, die Zähne fletschte und gezackte Flammen spie. Ein Lattenzaun aus Fernsehantennen ragte um ihn herum in den Himmel auf wie die Piken einer Armee in der Verteidigung, die einen ungebetenen Gast entdeckt hatte.
Ich lachte los. Wenn das keine Visitenkarte von Wassilissa war, dem Zöllnerfunktional, das so großzügig Schmiedearbeiten verschenkte!
Wie hatte ich mir ihre Zollstelle in einer anderen Welt denn vorgestellt? Damals hatte sie eine ironische Bemerkung gemacht über die Türme, die Männer immer bewohnen würden … Genau, etwas über Freud oder in der Art. Und jetzt handelte es sich bei ihrer Zollstelle tatsächlich nur um ein einfaches kleines Häuschen. Ganz ohne jede Exotik.
Titel der russischen Originalausgabe:
 
Deutsche Übersetzung von Christiane Pöhlmann
 
 
Die Verse in den Kapiteln 20 und 22 dichtete Erik Simon nach.
Das Zitat von Montaigne auf Seite 213 ist übersetzt von Hans Stilett, zitiert nach Michel de Montaigne: Essais. Frankfurt am Main: Eichborn 1998.
Verlagsgruppe Random House
 
 
 
 
Redaktion: Erik Simon
Lektorat: Sascha Mamczak
 
 
Deutsche Erstausgabe 08/08
Copyright © 2008 by S. W. Lukianenko
Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbHhttp://www.heyne.de
Umschlagillustration: Dirk Schulz
 
eISBN : 978-3-641-02000-2
 
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