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Der Band enthält folgende Geschichten: Frank Rehfeld: Wenn der Todeswalzer erklingt Alfred Bekker: Vampirblut Ann Murdoch: Der Fluch aus der Gruft Ann Murdoch: Blutschwestern Vampire im schottischen Hochland. Aus einer zunächst unglaublichen Meldung wird für Patricia Vanhelsing rasch Gewissheit. Ausgerechnet ihre Tante hat sich auf den Weg dorthin aufgemacht, um einem alten Freund zur Seite zu stehen. Patti und Tom Hamilton machen sich ebenfalls auf den Weg, doch schon auf der Anreise wird der Zug von den Vampiren überfallen. Nur mit Hilfe einer alten Beschwörung entgehen sie einem grausigen Schicksal. Aber wo ist Tante Lizzy, und weshalb benehmen sich die Leute hier so seltsam? Als Patricia gebissen wird, erkennt sie die Hintergründe, doch sie verwandelt sich gerade selbst in einen Vampir, ohne Hoffnung auf Erlösung.
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Seitenzahl: 473
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Wenn auf deiner Liebe ein Fluch liegt: Mystic Thriller Viererband: Sammelband mit vier Romanen
Copyright
Wenn der Todeswalzer erklingt
Vampirblut
Der Fluch aus der Gruft
Blutsschwestern
Der Band enthält folgende Geschichten:
Frank Rehfeld: Wenn der Todeswalzer erklingt
Alfred Bekker: Vampirblut
Ann Murdoch: Der Fluch aus der Gruft
Ann Murdoch: Blutschwestern
Vampire im schottischen Hochland. Aus einer zunächst unglaublichen Meldung wird für Patricia Vanhelsing rasch Gewissheit. Ausgerechnet ihre Tante hat sich auf den Weg dorthin aufgemacht, um einem alten Freund zur Seite zu stehen. Patti und Tom Hamilton machen sich ebenfalls auf den Weg, doch schon auf der Anreise wird der Zug von den Vampiren überfallen. Nur mit Hilfe einer alten Beschwörung entgehen sie einem grausigen Schicksal. Aber wo ist Tante Lizzy, und weshalb benehmen sich die Leute hier so seltsam? Als Patricia gebissen wird, erkennt sie die Hintergründe, doch sie verwandelt sich gerade selbst in einen Vampir, ohne Hoffnung auf Erlösung.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author /COVER FIRUZ ASKIN
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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Der Umfang dieses Buchs entspricht 117 Taschenbuchseiten.
Beverly hat eine scheußliche Ehescheidung hinter sich und ist nun erleichtert, wieder in ihren alten Heimatort, in das Haus ihrer Eltern, zurückgekehrt zu sein; obwohl auch dort einige Schatten der Vergangenheit lauern. Zunächst lebt sie sich mit ihrem Hund Rex gut ein und lernt den attraktiven Michael Clanton kennen. Dann jedoch häufen sich unheimliche Ereignisse. Ist sie etwa mit den Nerven am Ende und bildet sich nur ein, dass jemand sie verfolgt? Oder steckt ihr rachsüchtiger Exmann George dahinter? Als Beverly erkennt, dass alles ganz anders ist als gedacht, scheint es zu spät zu sein …
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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Die Scheidung war fast ebenso schlimm gewesen wie die letzten Jahre ihrer Ehe, aber beides lag jetzt hinter ihr, und Beverly Sherman hatte das Gefühl, eine zentnerschwere Last wäre von ihr genommen worden.
Sie hatte George geliebt, früher, vor sechs Jahren, als sie ihn kennengelernt und – gerade erst neunzehnjährig – bereits nach vier Monaten geheiratet hatte. Viel zu früh, wie sie bald schon hatte feststellen müssen. Rasch war der Rausch der Liebe dem nüchternen Alltag gewichen. Die gesellschaftlichen Vergnügungen, Empfänge und Feste, deren fremde Glitzerwelt Beverly anfangs so fasziniert hatte, hatten bald schon ihren Glanz für sie verloren. Sie hatte sich immer einsamer gefühlt, während Georges beruflicher Aufstieg mit kometenhafter Geschwindigkeit erfolgt war.
Er war Ingenieur, und die Großaufträge aus aller Welt häuften sich, so dass er oft unterwegs war.
Aber der Erfolg hatte ihn auch charakterlich verändert, hatte Arroganz und Überheblichkeit in ihm erweckt. Er war zu einem machtbesessenen, herrschsüchtigen Snob geworden, an dessen Seite das Leben für Beverly immer unerträglicher geworden war. Manchmal schlug und beschimpfte er sie, aber viel schlimmer waren die ständigen Demütigungen, denen er sie aussetzte. Er hasste sie nicht, nicht einmal so viel war sie ihm wert. Er ließ keine Gelegenheit aus, ihr zu zeigen, dass er der Herr war, und sie nicht viel mehr als ein Stück Besitz, eine Dienerin, die sich glücklich schätzen durfte, dass ein wenig von seinem Glanz auch auf sie fiel.
Sie verblasste neben ihm, dabei war sie eine hübsche junge Frau. Ihr Gesicht trug edle Züge; höchstens die Nase war für ihren Geschmack ein wenig zu klein geraten, aber das ließ sich durch geschicktes Schminken ausgleichen. Das starke gelockte, blonde Haar trug sie modisch kurzgeschnitten, und sie verstand es, sich elegant und modebewusst zu kleiden.
Dennoch verblasste sie neben George zu einem konturlosen Schatten, aber so ging es vielen Leuten, die sich in seiner Gegenwart aufhielten. Er war eine ungeheuer dominante Persönlichkeit.
Obwohl sie sich unglücklich fühlte, hatte sie nie den Mut zu einer Trennung aufgebracht. Erst als sie erfuhr, dass er sie jahrelang mit anderen Frauen betrog, brachte das Fass zum Überlaufen.
Er hatte getobt, sie beschimpft und ihr gedroht, doch sie hatte ihre Angst überwunden und war standhaft geblieben. George hatte einen der besten Anwälte engagiert, einen Winkeladvokaten, der versucht hatte, sie nach allen Regeln der Kunst übers Ohr zu hauen. Zum Teil war es ihm gelungen, wie sie sich eingestehen musste, aber die Abfindung, die sie erhalten hatte, reichte aus, die ersten Schritte in ein neues Leben zu wagen.
Beverly verdrängte diese Gedanken. Das war Vergangenheit. Sie hatte einen endgültigen Schlussstrich daruntergezogen. Alles, was jetzt noch zählte, waren Gegenwart und die Zukunft.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Straße. Räumfahrzeuge hatten den Schnee des Vortages zu zwei Wällen rechts und links entlang der Straße aufgetürmt. Ihr Wagen war mit Winterreifen ausgerüstet, dennoch erforderte das Fahren höchste Konzentration.
Schnee lag wie Zuckerwatte auf den Bäumen und Büschen am Straßenrand, bedeckte die Felder der englischen Grafschaft Norfolk wie eine weiße Decke, die einen Eindruck von Unschuld und Unberührtheit vermittelte.
Vergnügt pfiff Beverly einen Schlager aus dem Radio mit. Im Inneren des Wagens war es behaglich warm. Solange die Straßen schneefrei waren, machte das Fahren durch die winterliche Landschaft Spaß. Jede Meile, die sie sich von London entfernte, war auch eine Meile fort von George, hinein in eine neue Freiheit. Als wüsste er genau, an was sie gerade dachte, hob Rex auf dem Rücksitz den Kopf und knurrte leise.
Er war eine unmögliche Promenadenmischung mit hellem, seidig glänzendem Fell. Am ähnlichsten sah er einem Windhund, doch mussten sich in seiner Ahnenreihe noch ein gutes Dutzend anderer Hunderassen befinden.
"Schon gut, wir sind ja bald da", murmelte sie, löste eine Hand vom Lenkrad und strich Rex kurz über das Fell. Der Hund mochte Autofahrten und hatte sich bislang während der ganzen Reise still verhalten. Sie schaute wieder nach vorne.
Schließlich entdeckte sie ein Verkehrsschild, auf dem das Ziel ihrer Reise erstmals genannt wurde. Hallerforth zehn Meilen, stand darauf, und ein Pfeil wies nach links.
Als Beverly die Straßenkreuzung mit dem Schild passierte, stieß sie einen leisen Jubelschrei aus. Die Gegend wurde ihr nun immer vertrauter. Hier war sie aufgewachsen, bis sie im Alter von dreizehn Jahren in ein Internat gekommen war. Ihr Gesicht verdüsterte sich ein wenig, als sie an die Vorfälle zurückdachte, die ihre Eltern damals gezwungen hatten, so zu handeln, wollten sie nicht selbst mit ihr aus Hallerforth fortziehen.
Es lag drei Jahre zurück, dass sie zuletzt in ihrem Heimatort gewesen war. Damals hatte sie der Tod ihrer Eltern hergeführt. Sie hatte sich nie überwinden können, das ererbte Elternhaus zu verkaufen. Auch wenn sie nach dem traurigen Ereignis nie dazu gekommen war, es zu besuchen, erfüllte der alleinige Gedanke daran, dass sie es besaß und jederzeit hinfahren konnte, mit einem warmen Gefühl der Vertrautheit. Vielleicht hatte sie das Haus gegen Georges Willen auch nur behalten, weil sie damals schon erkannt hatte, dass ihre Ehe nur noch auf dem Papier bestand und irgendwann vollends zerbrechen würde. Sie hatte gewusst, dass sie dann nach Hallerforth zurückkehren und das Haus ihr Schutz und Geborgenheit vermitteln würde.
Jetzt dachte sie schon wieder an George, stellte sie ärgerlich fest und verdrängte diese Gedanken erneut.
Die ersten Häuser von Hallerforth tauchten vor ihr auf. Als sie an dem Ortsschild vorbeifuhr, jubelte sie noch einmal überschwänglich.
Sie überlegte, ob sie irgendwo anhalten und mit ein paar Leuten sprechen sollte, die sie noch von früher kannte, entschied sich aber dagegen. Als erstes wollte sie sich ausruhen. Die Straßen waren nicht überall so schneefrei wie auf den letzten Meilen gewesen, und die Fahrt hatte sie erschöpft. Sie wollte unbedingt ihr Elternhaus wiedersehen, alles andere hatte Zeit bis später. Es war ja erst früher Nachmittag.
Das Haus lag ein wenig außerhalb, etwa eine Meile vom Ort entfernt hinter einigen Hügeln. Zwischen den Hügeln führte eine Zufahrt an das Gebäude heran, aber da dort seit Jahren schon niemand mehr wohnte, war die Straße nicht von Schnee geräumt worden. Beverly konnte nur im Schritttempo fahren, und es dauerte eine Weile, bis sie ihr Ziel erreichte.
Es handelte sich um ein altes, im viktorianischen Stil erbautes Herrenhaus mit Erkern und Balkonen, einem weitgeschwungenen Dach und hohen Fenstern. Zu dem Haus gehörte ein großer Garten, der jetzt ebenso wie die umliegende Landschaft unter einer Schneedecke begraben lag.
Beverly parkte den Wagen und stieg aus. Nach der stundenlangen Fahrt mit eingeschalteter Heizung schlug ihr die Kälte wie eine eisige Faust entgegen. Sie versank bis zu den Waden im Schnee und stapfte mühsam vorwärts. Rex sprang hinter ihr aus dem Wagen. Ihm machte der Schnee nichts aus. Übermütig tollte er umher, um sich nach der langen Zeit stillen Sitzens etwas auszutoben. Sie pfiff nach ihm, stieg die drei breiten Stufen vor dem Eingang hinauf und schloss das Portal auf.
Als sie in die Eingangshalle trat, hatte sie das Gefühl, nach vielen Jahren endlich wieder zuhause zu sein.
Beverly blieb auf der Schwelle stehen und schaute sich um, während Rex alles neugierig beschnupperte. Wie oft war sie als Kind wohl durch dieses Portal gegangen?
Die Teppiche in der Halle waren wie im ganzen Haus zusammengerollt, die Möbel mit alten Bettlaken oder Plastikfolie abgedeckt worden. Beverly nahm es kaum wahr. Die Erinnerungen schossen wie eine Stichflamme in ihr hoch und überfluteten ihren Geist. Sie sah das Haus nicht so, wie es jetzt war, sondern wie es früher einmal gewesen war. Hier hatte sie eine weitgehend glückliche Kindheit verbracht. Sie glaubte, wieder elf oder zwölf Jahre alt zu sein. Gleich würde die Tür aufgehen, und ihr Vater oder ihre Mutter würden sie begrüßen.
Die Kälte riss sie aus ihren Tagträumen. Der Wind wirbelte einige Schneeflocken durch das geöffnete Portal herein. Sie schloss es rasch und massierte fröstelnd ihre Arme. Die Heizung war ausgeschaltet, und im Haus war es ebenso kalt wie draußen.
Beverly holte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach ihres Wagens und stieg über eine Treppe in den Keller hinunter, während Rex in der Hall zurückblieb. Schon als Kind hatte sie immer Angst vor dem Keller gehabt. Es roch muffig und ein wenig faul dort unten, als würde etwas in der Dunkelheit lauern und auf kleine Mädchen warten, die die Treppe herunterkamen.
Jetzt war sie kein kleines Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau, aber die Gefühle von damals waren wieder da, wenn auch in abgeschwächter Form. Heute wusste sie, dass es keine Ungeheuer gab, die in dunklen Kellern hausten und sie packen würden, sobald sie die Tür öffnete und den Fuß auf die erste Stufe setzte, aber dennoch ...
Unbehaglich ließ sie den Strahl der Taschenlampe in die Tiefe wandern, dann gab sie sich einen Ruck und stieg mit entschlossenen Schritten die Treppe hinab. Als erstes trat sie an den Sicherungskasten und schraubte die Sicherung ein. Eine altersschwache Glühbirne, die an einem Kabel nackt von der Decke baumelte, flammte auf und verbreitete trübes Licht. Beverly schaltete die Taschenlampe aus. Jetzt fühlte sie sich schon etwas wohler.
Sie nahm den Geruch des Lehmbodens wahr, der noch genau wie früher war, aber der im ganzen Keller vorherrschende Geruch hatte sich verändert.
Ihm fehlte etwas, das sich ebenso banal anhörte, wie es der Wahrheit entsprach, und das sich nicht wirklich beschrieben ließ: der Geruch des Lebendigen.
Die Regale, die ihr Vater einst selbst gezimmert hatte, standen noch an den Wänden, aber es stand nichts mehr darauf, keine Einmachgläser mit Gemüse und Obst, keine Konservendosen, nichts von all den Lebensmitteln und tausend anderen Dingen.
Auch die Kartoffelkiste war leer. Beverly erinnerte sich, dass ihr immer der stärkste Geruch entströmt war. Der Keller war völlig kahl. Keineswegs sauber, aber auf todesähnliche Weise steril. Hier unten lebte nichts, nicht einmal Ungeziefer, und selbst das Ungeheuer, vor dem sie als Kind Angst gehabt hatte, hätte längst die Flucht ergriffen, wenn es jemals existiert hätte. Der Keller war wie eine Gruft.
An einem Handrad drehte Beverly das Wasser an und kümmerte sich anschließend um die Heizung. Mit dumpfem Brummen erwachte die Pumpe zum ersten Mal nach vielen Jahren zu neuem Leben.
Dann ging Beverly, von Rex begleitet, durch das ganze Haus. Sie trat in jedes Zimmer. Auf ihren Anruf hin hatte jemand vor einigen Tagen gründlich saubergemacht, die Möbel aber wieder zugedeckt. Der Geruch von Putzmitteln hing noch schwach in der Luft. Sie hatte Bürgermeister McLasky, einem Freund ihres Vaters, einen Zweitschlüssel ausgehändigt, damit er gelegentlich nach dem Rechten sehen konnte, und er hatte auch der Reinmachfrau die Tür aufgeschlossen.
Überall zog Beverly die Abdeckungen von den Möbeln und drehte die Heizungskörper an, um die klamme Kälte zu vertreiben. Wieder strömten lange verloren geglaubte Erinnerungen auf sie ein. Jeder Winkel hier im Haus hatte seine eigene Geschichte zu erzählen, und sie hörte willig zu, schwelgte in nostalgischer Vergangenheit.
Sie hätte vor Glück weinen können. Das Haus war auch nach der langen Zeit auf Anhieb wieder zu ihrem Zuhause geworden, obwohl einige Erinnerungen, die ihre Eltern betrafen, schmerzhaft waren.
In ihrem früheren Kinderzimmer hielt sie sich besonders lange auf. Sie sah sich wieder als Kind dort spielen. In den Schränken befand sich noch der größte Teil ihres Spielzeugs. Sie nahm viele Teile heraus und betrachtete sie, bevor sie sie mit einem wehmütigen Lächeln wieder an ihren Platz zurückstellte.
Zuletzt ging sie ins Wohnzimmer und entfernte auch dort alle Abdeckungen. Es würde lange dauern, bis die Heizkörper richtig warm wurden und die Kälte aus den großen, hohen Räumen vertrieben, aber hier gab es auch einen offenen Kamin. Sie fand sogar etwas Brennholz daneben. Es dauerte nicht lange, bis sie ein Feuer entfacht hatte. Knisternd leckten die Flammen über die Scheite. Harztropfen und kleine Luftblasen zerplatzen in einer raschen Folge leiser Explosionen.
Versonnen betrachtete sie das schwarze Klavier, das vor einem Fenster stand. Es war ein schönes altes Stück mit einem Spiegel hinter dem Notenständer. Ihr Vater hatte früher oft darauf gespielt. Er war sehr musikalisch gewesen, und Beverly hatte sein Talent geerbt. Sie spielte eine einfache Melodie. Einige Töne klangen nicht mehr ganz rein. Kein Wunder, da das Klavier jahrelang im ungeheizten Haus ungenutzt herumgestanden hatte. Sie würde es stimmen lassen müssen.
Beverly schloss den Deckel wieder. Ihr wurde kalt. Sie rückte einen Ledersessel dicht an den Kamin und setzte sich hinein, nachdem sie eine Flasche Cognac aus dem Wagen geholt hatte. In einem Schrank fand sie Gläser und nahm eins heraus. Es war vom langen, unbenutzten Stehen blind geworden, und sie wischte es mit einem Papiertaschentuch gründlich aus, bevor sie einschenkte und einen Schluck trank. Heiß rann der Alkohol durch ihre Kehle und wärmte sie von innen her.
Rex machte es sich neben ihrem Sessel auf dem Teppich gemütlich, legte den Kopf auf die Pfoten und schaute sie mit großen Augen an. Es waren diese Augen, die Beverly von Anfang an fasziniert hatten, seit sie ihn in einem Tierheim zum ersten Mal gesehen hatte. Sie konnten unglaublich treu und verständnisvoll blicken. Sie hatte vom ersten Moment an gewusst, dass sie diesen Hund haben musste. Das war vor einem halben Jahr gewesen.
Als sie erfuhr, dass das Tier eingeschläfert werden sollte, weil es bereits alt war und nicht genügend Platz zur Verfügung stand, hatte sie es mitgenommen. George hatte sich ungeheuer über die in seinen Augen entsetzliche Promenadenmischung aufgeregt und gefordert, dass das "Vieh" sofort wieder aus dem Haus käme, aber zum ersten Mal war sie gegen eine seiner Forderungen standhaft geblieben. Da er sich den größten Teil der Zeit ohnehin nicht zu Hause aufhielt, hatte er schließlich nachgegeben. Rex war für sie zum größten Trost während der letzten höllischen Monate ihrer Ehe gewesen, auch wenn er alt und reichlich faul war.
Entspannt lehnte sich Beverly zurück. Sie merkte nicht einmal, dass sie einschlief.
Verwirrt schreckte Beverly hoch, als Rex sie anstieß. Nach dem langen Sitzen im Auto war der Hund nun unruhig. Sie gähnte und schaute auf ihre Uhr. Gerade drei Uhr, sie hatte kaum eine halbe Stunde geschlafen. Erwartungsvoll blickte Rex sie an.
"Ich verstehe ja, du willst hinaus", sagte Beverly. Sie tätschelte den Kopf des Tieres, stand auf und öffnete die Haustür. Sofort sprang Rex in den Schnee hinaus und suchte sich einen Baum, um das neue Revier zu markieren. Hier draußen, wo es keinen Autoverkehr gab, konnte er gefahrlos herumtoben.
Beverly lud ihr Gepäck aus dem Wagen und fuhr los. Sie musste noch viele Sachen besorgen, vor allem Lebensmittel. Es gab keinerlei Vorräte im Haus. Behutsam fuhr sie los und beschleunigte erst, als sie die freie Straße erreichte.
In Hallerforth hatte sich nicht viel verändert, wie an vielen so kleinen Dörfern die Zeit oftmals wirkungslos vorbeiging. Nur in der Mitte des Ortes, wo vor einigen Jahren noch eine schöne, alte Kirche gestanden hatte, erstreckte sich jetzt ein freier, mit Bäumen und Bänken geschmückter Platz. In der Mitte gab es einen Springbrunnen, der zu dieser Jahreszeit natürlich nicht in Betrieb war. Das Wasser war gefroren, und der Anblick der vereisten Fläche versetzte ihr einen leichten Stich. Selbst heute, nach den vielen Jahren, sah sie beim Anblick einer Eisfläche immer noch Rick Osmonds Gesicht vor sich.
Die Kirche war vor zwei Jahren abgebrannt. Mit Betroffenheit hatte Beverly in der Zeitung davon gelesen. Es war unmöglich gewesen, das Gebäude zu retten, so dass man die Ruine hatte abreißen müssen. Seither fanden die Gottesdienste in einer ausreichend großen, etwas außerhalb gelegenen Kapelle statt. Es tat Beverly um die schöne Kirche leid, aber als Pragmatikerin erkannte sie sofort den Vorteil: Im Gegensatz zu früher fand sie auf Anhieb einen Parkplatz im Ortskern.
Sie stieg aus und schloss den Wagen ab. Ein Mann mit blonden, gelockten Haaren, der in der Nähe vorbeiging, stutzte, schaute sie noch einmal an und kam dann lächelnd zu ihr herüber.
"Beverly, bist du das wirklich? Meine Güte, man erkennt dich ja kaum noch wieder."
Auch Beverly zögerte einen Moment, dann wusste sie plötzlich, wer der Mann war. Ihre Augen leuchteten freudig auf.
"William, natürlich. Entschuldige, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. Wir haben uns schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen."
Sie reichten sich die Hände. William Osmond, der Bruder von Rick, war ein Jahr älter als Beverly. Als Kinder hatten sie zusammengespielt, doch ihr letztes Zusammentreffen lag nun schon fast zehn Jahre zurück. Als sie zur Beerdigung ihrer Eltern nach Hallerforth gekommen war, hatte er gerade Urlaub gemacht.
"Was führt dich hierher?", fragte er.
"Ich werde wieder in das Haus meiner Eltern ziehen. Vor ein paar Wochen habe ich mich von meinem Mann getrennt."
"Oh, ich habe nicht einmal gewusst, dass du verheiratet warst. Wie geht es dir denn?"
"Nun ja, die letzten Wochen haben meine Nerven ziemlich in Mitleidenschaft gezogen, aber hier werde ich mich bestimmt bald erholt haben. Und was machst du?"
"Ich bin immer noch Junggeselle und arbeite seit einiger Zeit in den Clanton-Werken. Vor ein paar Jahren wurde am Stadtrand eine riesige Fabrik gebaut. Mittlerweile ist Clanton der größte Arbeitgeber am Ort, aber das wird dich jetzt bestimmt nicht interessieren. Du musst mir unbedingt erzählen, wie es dir ergangen ist."
"Du auch. Ich heiße jetzt übrigens Sherman. Komm mich doch in den nächsten Tagen einfach besuchen."
"Das werde ich machen", versprach er. "Du willst wirklich wieder hierherziehen? Hast du dir das gut überlegt?"
"Warum nicht? Schließlich bin ich hier aufgewachsen. Der Londoner Trubel wird mir in der ersten Zeit sicherlich fehlen, aber auch an die Ruhe kann man sich gewöhnen. Eine Weile werde ich es schon aushalten."
"Das meine ich nicht." Sein Gesicht war plötzlich sehr ernst. "Ich meine die Geschichte mit ... nun ja, den Tod meines Bruders. Es gibt immer noch Leute hier, die nicht an einen Unfall glauben."
"Aber das ist doch Unsinn!", rief Beverly. "Ich war damals zwölf Jahre alt! Kann da jemand ernsthaft glauben, ich hätte Rick absichtlich umgebracht? Rick war mein bester Freund, und wie Kinder nun mal sind, wollte ich ihn damals heiraten, wenn ich groß bin."
"Natürlich ist es Unsinn, aber du weißt ja, wie die Leute sind. Meine Eltern haben in ihrem Schmerz damals überall verbreitet, du hättest Rick nicht geholfen, weil ihr Streit hattet."
"Ja, wir haben uns an diesem Tag gestritten, aber deshalb hätte ich doch niemals ..."
"Ich weiß, aber manche Gerüchte sind eben hartnäckig." Er schaute auf seine Uhr. "Wir werden sicher noch Gelegenheit finden, uns zu unterhalten. Jetzt muss ich weiter, ich bin leider sehr in Eile. Bis bald."
"Ja, bis bald. Denk an den Besuch."
Beverly blickte ihm nach, bis er um eine Ecke verschwand. Sie hatte William Osmond schon früher sehr gern gehabt, genau wie seinen Bruder Rick. Zumindest bis zu diesem schrecklichen Unglück. Die wachgerufene Erinnerung daran hatte ihre gute Laune und die Freude über die Heimkehr beträchtlich gedämpft.
Sie machte sich auf den Weg zum Friedhof. Die Gräber und die Kieswege dazwischen lagen wie alles unter einer dicken Schneedecke verborgen. Beverly musste eine Weile suchen, bis sie das Grab ihrer Eltern fand. Sie schämte sich ein wenig, dass sie in den letzten Jahren nicht längst schon mal hergekommen war, statt nur einen Gärtner für die Pflege des Grabes zu bezahlen. Nun, in Zukunft würde sie sich wieder selbst darum kümmern.
Nach dem Besuch auf dem Friedhof, machte sie einen Bummel durch die Stadt, einen Spaziergang auf den Spuren der Vergangenheit. Es war, als ob ihre Seele plötzlich in zwei Persönlichkeiten gespalten wäre. Die eine war ein kleines Mädchen, das von den anderen Kindern gehänselt oft wurde, weil es zu dick war. Dieses Mädchen, das sich mit der Eleganz eines Elefanten bewegte, das ständig gescholten wurde, weil es an Streichen und allerlei Dummheiten teilnahm und meist erwischt wurde, weil es mit seinem Übergewicht nicht so schnell weglaufen konnte, wie die anderen, schlich durch die Straßen mit dem scheuen Blick eines gejagten Tieres.
Die andere Persönlichkeit war Beverly selbst mit ihren vierundzwanzig Jahren, die Frau, die an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrte und nostalgischen Gedanken an diese frühere Zeit nachhing.
Sie war bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr dick gewesen, sehr dick, und die Sticheleien hatten sie bis ins Internat verfolgt. Es war ein Teufelskreis gewesen: je mehr sie gehänselt wurde, desto mehr hatte sie aus Kummer gegessen. Erst ein ganz simples, aber einschneidendes Erlebnis hatte diesen Kreis durchbrochen.
Sie hatte sich verliebt, aber der Junge – heute wusste sie nicht einmal mehr seinen Namen – hatte sie nur ausgelacht. Statt in ihrem Kummer wieder zu Bonbons und Schokolade zu greifen, hatte sie ein für alle Mal einen Schlussstrich daruntergezogen. Es hatte fast ein halbes Jahr gedauert, bis sie vierzig Pfund abgenommen hatte, ein halbes Jahr voller Entbehrungen, aber sie hatte ihre Diät mit aller Entschlossenheit durchgehalten, und als sie sich bis auf ihr Idealgewicht heruntergehungert hatte, war plötzlich allen aufgefallen, wie hübsch sie war.
Von diesem Tag an hatte kein Junge sie mehr gehänselt. Im Gegenteil, anstelle spöttischer Bemerkungen waren bewundernde Pfiffe hinter ihr hergeschallt. Etwas, das bis heute andauerte.
Ziellos schlenderte Beverly umher. Sie traf viele alte Bekannte und grüßte freundlich. Manchmal wechselte sie ein paar belanglose Worte mit den Leuten.
Sie kam an dem Kino vorbei, in das sie damals alles Taschengeld, das ihre Gier nach Süßigkeiten übrigließ, hineingetragen hatte. In blitzartigem Tempo zogen Erinnerungen an einige der alten Filme durch ihr Gehirn. Sie hatte die kühle Dunkelheit in dem Kinoraum mit den samtbezogenen Sitzen immer geliebt. Das Kino war ihr Fenster zur Welt gewesen, hier hatte sie ihrem Alltag für ein paar Stunden entfliehen können.
Mehr als eine Stunde lief Beverly in Hallerforth herum, das auch nach den vielen Jahren seinen nostalgischen Reiz nicht eingebüßt hatte. Zwar betrachtete sie das Dorf als Erwachsene jetzt mit ganz anderen Augen, doch obwohl ihr alles kleiner vorkam, war es immer noch das alte Hallerforth geblieben.
Schließlich erinnerte sie sich wieder daran, dass Rex sicherlich schon sehnsüchtig auf ihre Rückkehr wartete. Im Supermarkt kaufte sie, was sie für die nächsten Tage an Lebensmitteln und anderem brauchte.
Sie lud alles ins Auto. Dann kümmerte sie sich um einige Formalitäten, die zu erledigen waren. So ließ sie sich von Edward McLasky den Zweitschlüssel zurückgeben, beantragte einen Anschluss des Telefons und anderes mehr, bevor sie zum Parkplatz zurückkehrte und sich auf den Heimweg machte. Auch während der Fahrt ließ sie ihren Blick ständig über die Fassaden der Häuser gleiten, als plötzlich ein anderer Wagen, eine große, dunkle Limousine, vor ihr aus einer Seitenstraße kam.
Beverly trat auf die Bremse, doch obwohl die Straße weitgehend von Schnee geräumt war, war sie doch so glatt, dass der Wagen noch ein Stück weiterrutschte.
Ein grelles Hupen erklang, und im nächsten Moment krachte es auch schon.
Durch den Ruck wurde Beverly kurz in den Sicherheitsgurt gepresst und dann zurückgeschleudert. Fassungslos umklammerte sie das Lenkrad. Glücklicherweise war sie nur langsam gefahren, aber sie war doch geschockt.
Einige Sekunden lang blieb sie völlig regungslos sitzen, dann griff sie nach der Packung auf dem Armaturenbrett und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Sie sah, wie der Fahrer des anderen Wagens seine Tür zu öffnen versuchte. Durch den Zusammenstoß hatte sich die Karosserie verzogen, und er musste schließlich auf der Beifahrerseite aussteigen.
Es handelte sich um einen jungen, dunkelhaarigen Mann mit kantigem Gesicht. Er trug Jeans und trotz der Kälte nur eine Lederjacke über seinem Rollkragenpullover.
"Haben Sie denn keine Augen im Kopf?", schimpfte er wütend. "Das hätte ..."
Beverly öffnete die Tür und stieg schuldbewusst aus. Der junge Mann verstummte, als er sie sah. Manchmal hatte es auch seine Vorteile, eine Frau zu sein, besonders eine hübsche, dachte sie.
"Es tut mir leid", entschuldigte sie sich. "Alles war allein meine Schuld, ich habe nicht aufgepasst. Sie hatten Vorfahrt."
"Allerdings, die hatte ich", bestätigte er, nun schon ein wenig versöhnlicher. "Ich bin froh, dass Sie es zugeben. Sind Sie versichert?"
"Ja."
"Ein Glück, denn ich fürchte, die Reparatur wird teuer werden. Das ist der Wagen meines Vaters. Ich habe ihn mir für heute ausgeliehen, weil er bei solchem Wetter eine bessere Straßenlage hat und mir sicherer erschien." Er grinste. "Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich ausgerechnet Ihnen begegnen würde."
Sie sahen sich den Schaden an. Beverlys Wagen hatte kaum etwas abbekommen, nur die Stoßstange war ein wenig eingebeult.
Die Limousine sah übler aus. Auf der Fahrerseite hatte es einigen Blechschaden gegeben.
"Mein lieber Vater wird sich freuen. Ach übrigens, ich heiße Michael Clanton. Meinem alten gehören die Clanton-Werke."
"Beverly Sherman." Sie war immer noch verwirrt, aber das Zittern ihrer Hände ließ allmählich nach. Die Ruhe und Freundlichkeit des jungen Mannes halfen ihr, die Fassung rasch zurückzugewinnen. "Es tut mir leid, wenn Sie meinetwegen Ärger bekommen."
"Alles halb so wild, schließlich konnte ich nichts für den Unfall. Wichtig ist nur, dass keiner verletzt wurde. Sie wohnen nicht in Hallerforth, nicht wahr?"
"Doch, seit heute schon. Ich bin hier aufgewachsen, habe aber die letzten Jahre in London gelebt."
"Oh, kein schöner Einstand."
Einige Schaulustige hatten sich inzwischen am Straßenrand versammelt. Bill Kingston kam herbeigeeilt, ein Polizist, den Beverly noch von früher kannte, und dem sie während ihres Rundgangs bereits begegnet war.
"Ich habe Ihnen doch vorhin erst gesagt, Sie sollen vorsichtig fahren", tadelte er. Er nahm den Hergang des Unfalls zu Protokoll. Beverly gestand jede Schuld offen ein und zeigte ihre Versicherungskarte. Die Schaulustigen zerstreuten sich.
"Auf den Schreck sollten wir eigentlich irgendwo etwas trinken", schlug Michael Clanton vor.
Beverly schüttelte den Kopf.
"Das geht nicht. Rex wartet auf mich. Er wird sich schon wundern, wo ich solange bleibe."
Enttäuscht verzog Clanton das Gesicht, dann zuckte er mit den Schultern.
"Schade. Na ja, vielleicht ein anderes Mal."
"Beim nächsten Unfall", sagte Beverly lächelnd. "Aber vielleicht begegnen wir uns ja auch auf weniger dramatische Weise wieder."
"Das will ich hoffen."
Ja, dachte Beverly, das hoffte sie auch. Clanton war ihr sympathisch, und schließlich war sie jetzt ungebunden. Diese Freiheit würde sie in vollen Zügen genießen. Dann wurde ihr plötzlich bewusst, wieso der junge Mann so enttäuscht reagiert hatte, und sie musste lachen. Michael Clanton hatte wohl falsche Schlüsse gezogen. Er konnte schließlich nicht wissen, dass Rex ein Hund war.
Sie nahm sich vor, dieses Missverständnis möglichst bald aufzuklären.
Den Nachmittag verbrachte Beverly damit, ihr Gepäck auszupacken und sich das Haus wohnlich einzurichten. Sie hatte fast vergessen, wie schön es war, ein eigenes Reich für sich allein zu haben. Es lag Jahre zurück, dass sie zuletzt auf eigenen Beinen gestanden hatte. Als sie nach dem Verlassen des Internats in London eine Arbeit angenommen hatte, war sie in eine kleine Wohnung gezogen, hatte diese nach der Heirat mit George Sherman aber aufgegeben. Anschließend hatte sie in seiner Londoner Villa gewohnt, umgeben von Dienstpersonal. Nachdem sie jahrelang rund um die Uhr bedient worden war, würde sie sich erst wieder daran gewöhnen müssen, alle Arbeiten im Haushalt selbst auszuführen.
Trotzdem genoss sie es, sich ein üppiges Abendessen selbst zuzubereiten. Die Kalorien waren ihr egal. Abgesehen von einem Teller Müsli zum Frühstück hatte sie den ganzen Tag über noch nichts gegessen und war hungrig von der langen Fahrt. Außerdem hatte sie ja schließlich etwas zu feiern. Um eine festliche Stimmung zu erzeugen, stellte sie sogar eine Kerze auf den Tisch und legte eine Platte mit klassischer Musik auf.
Rex machte es sich wieder vor dem Kamin bequem, während sie aß. Er hatte seinen Napf mit Hundefutter bereits geleert.
Beverly merkte, dass sie müde wurde. Sie rauchte eine Zigarette und lauschte der Musik. Als die Platte zu Ende war, setzte sie sich noch einmal ans Klavier. Sie schlug einige Tasten an, gab das Spielen aber bald wieder auf, da es auf dem verstimmten Instrument keinen Spaß machte. Stattdessen starrte sie aus dem Fenster.
Der Vollmond hing wie ein großer, weißer Ball am Himmel und vergoss sein kaltes Licht über die nächtliche Landschaft. Sie beschloss, noch einen kleinen Spaziergang zu machen und sich dann ins Bett zu legen.
"Kommst du mit?", wandte sie sich an Rex. Der Hund schaute sie aus seinen treuen Augen an und bellte zustimmend, als hätte er verstanden, was sie gesagt hatte. Beverly zog eine gefütterte Jacke und Stiefel an und öffnete die Haustür.
Etwas Kleines, Dunkles lag auf den Stufen vor der Schwelle. Sie bückte sich und hob es auf, dann trat sie ein paar Schritte zurück, um ihren Fund im Licht der Eingangshalle genauer zu betrachten.
Als sie erkannte, um was es sich handelte, ließ sie es mit einem erstickten Schrei wieder fallen, als hätte sie sich daran verbrannt. Ihr Magen rebellierte vor Abscheu und sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen.
Das dunkle, pelzige Etwas war ein toter Vogel, ein kleiner Spatz!
Fassungslos starrte Beverly das Tier an. Einige Blutstropfen klebten an ihren Fingern. Von Ekel erfüllt rannte sie ins Badezimmer und wusch sich gleich mehrmals die Hände.
Es konnte Zufall sein, dass der Spatz ausgerechnet vor ihrer Tür gestorben war, vielleicht gab es ein Nest hinter der Regenrinne, die an der Kante des Balkons über dem Eingang entlangführte. Bei dem Schnee fanden die Vögel nicht viel Futter. Der Spatz könnte an Entkräftung gestorben und aus dem Nest gefallen sein. Das würde aber nicht das Blut erklären.
Beverly bezwang ihren Ekel und hob das Tier an einem Flügel noch einmal hoch, obwohl sich ihr vor Widerwillen fast der Magen umdrehte. Sie betrachtete den Spatzen, und an seiner Brust entdeckte sie, was sie gesucht, aber auch gefürchtet hatte: ein kleines Loch, aus dem der Blutfaden rann.
Das Tier war nicht einfach gestorben, es war mit einem Luftgewehr erschossen worden. Vorhin hatte es noch nicht vor der Tür gelegen, und sie hatte auch keinen Knall gehört. Also hatte jemand den toten Spatzen absichtlich vor ihre Haustür gelegt.
George besaß ein Luftgewehr und schoss oft damit!, fuhr es ihr durch den Kopf.
Furchtsam schaute sie sich um. Alle Bäume und Büsche warfen im kalten Licht des Vollmonds tiefe, schwarze Schatten.
Stand nicht jemand vor der hohen Tanne dort drüben? Beverly glaubte, überall in den Schatten huschende Bewegungen wahrzunehmen, die immer dann aufhörten, wenn sie genauer hinschaute.
Sie schleuderte den Vogel in weitem Bogen von sich, schlug die Tür zu und lehnte sich an der Innenseite dagegen. Die Lust auf einen Mondscheinspaziergang war ihr ihr vergangen. Ihr Herz raste.
George!
Sie besaß keinen Beweis, dass er den Spatz abgeschossen und vor ihre Tür gelegt hatte, aber instinktiv spürte sie, dass es so war. Wer sollte sich sonst einen so makabren Scherz mit ihr erlaubt haben? Alles deutete auf ihn hin. Schon als sie verheiratet gewesen waren, hatte er gelegentlich im Garten seiner Villa auf Vögel geschossen, obwohl er gewusst hatte, wie sehr sie das hasste. Vielleicht hatte er es sicher gerade deshalb getan.
Er war immer noch wütend, dass sie ihn verlassen hatte. Niemand nahm George Sherman einfach etwas weg, schon gar nicht sein Lieblingsspielzeug. Sie hatte viel mehr getan, als sich einfach nur gegen ihn aufgelehnt. Sie hatte ihn in seine Grenzen verwiesen. All seine Macht und sein Reichtum hatten nicht ausgereicht, sie gegen ihren Willen bei sich zu halten.
Das würde er ihr nicht verzeihen. Beverly hatte gehofft, dass seine Wut nach einiger Zeit verrauchen und er sie aus seinen Gedanken verbannen würde, aber das schien nicht der Fall zu sein, jedenfalls noch nicht.
Es war leicht gewesen, ihren Aufenthaltsort zu erraten, und nun war er anscheinend nach Hallerforth gekommen. Er wollte ihr wohl Angst einjagen, aber das würde ihm nicht gelingen.
Beverly war fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Letztlich konnte er ihr nichts antun. Er musste wissen, dass sie auch nicht davor zurückschrecken würde, die Polizei einzuschalten, wenn er sie ernsthaft belästigte. Vorerst würde sie ihn einfach ignorieren. Wenn er merkte, dass er ihr keine Angst einjagen konnte, würde er das Interesse an ihr verlieren und sich wieder seinen Aufträgen zuwenden, die ihn weit weg von Hallerforth führten. Wenn er schon aus Liebe zu ihr auf kein Geschäft verzichtet hatte, würde er es auch aus Zorn nicht machen.
Sie schloss die Haustür ab und vergewisserte sich, dass auch die Hintertür in der Küche verschlossen war, bevor sie ins Wohnzimmer zurückkehrte.
Das Feuer im Kamin war zwar heruntergebrannt, aber noch nicht am Verlöschen. Beverly kontrollierte es, um sicherzugehen, dass kein Scheit herausfallen und einen Brand verursachen konnte.
Dann ging sie in ihr Schlafzimmer im ersten Stock hinauf. Sie zog die Vorhänge der Fenster zu, entriegelte die gläserne Doppeltür und trat auf den kleinen Balkon vor dem Schlafzimmer heraus.
Die eisige Nachtluft strich wie mit sanften Händen über ihr Gesicht. Sie stützte sich auf der steinernen Brüstung auf und starrte in die Nacht hinaus. Wieder glaubte sie eine dunkle Gestalt im Schatten der Bäume stehen zu sehen. Sie kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin. Es war nichts Verdächtiges zu sehen. Die Bewegung, die sie zu sehen geglaubt hatte, konnte ein vom Wind bewegter Zweig gewesen sein, oder auch nur Einbildung.
Nun ja, besser eine Einbildung, als gar keine Bildung, dachte sie sarkastisch, kehrte ins Zimmer zurück und schloss die Tür. Viele neue Eindrücke waren an diesem Tag auf sie eingestürmt, und der tote Vogel hatte ihr einen gewaltigen Schreck eingejagt. Dazu kamen die langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen der letzten Zeit. Ihre Nerven waren nicht mehr die besten, und sie begann schon Gespenster zu sehen. Es kam darauf an, sich nicht verrückt machen zu lassen.
Selbst wenn George irgendwo dort draußen war, konnte er nicht ins Haus. Sollte er doch in der Kälte stehen und sie verfluchen. Hoffentlich fror er ordentlich.
Beverly zog auch vor der Balkontür die Vorhänge zu, zog sich aus und legte sich ins Bett. Es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war.
Es waren Stunden verstrichen, als sie wieder aufwachte. Verwirrt schaute sie sich in dem für sie noch ungewohnten Zimmer um, dann wusste sie wieder, wo sie sich befand. Sie hatte schlecht geträumt, doch die Erinnerung an den Traum entzog sich ihr vom Moment des Erwachens an. Sie wusste nur noch, dass der Alptraum etwas mit dem Vogel und mit George zu tun gehabt hatte. Sie war am ganzen Körper schweißgebadet.
Leise, gedämpfte Musik drang an Beverlys Ohr, doch da sie noch vom Schlaf benommen war, dauerte einen Moment, bis sie erkannte, um was es sich handelte.
Es war Klaviermusik.
Jemand spielte auf dem alten Klavier im Wohnzimmer!
Beverlys Benommenheit war mit einem Schlag wie fortgewischt. Sie verkrampfte sich. Kalte Angst griff nach ihr und schnürte ihr die Luft ab. Sie war doch allein im Haus, wie konnte also jemand im Erdgeschoss auf dem Klavier spielen?
Es war eine langsame, getragene Melodie. Die Töne klangen schauerlich verzerrt und dadurch besonders unheimlich. Beverly war wie gelähmt. Sie krallte ihre Hände in die Bettdecke und lauschte dem Klavierspiel. Rex, der neben ihrem Bett auf dem Boden lag, stieß ein leises Knurren aus.
Es dauerte fast eine Minute, bis Beverly die Fassung wiedererlangte und ihre Erstarrung überwinden konnte. Es musste George, ihr Ex-Mann sein, der heimlich in ihr Haus eingedrungen war. Er schien fanatisch in seinem Hass geworden zu sein, dass er es wagte, einfach bei ihr einzubrechen. Damit war die Grenze dessen, was sie hinzunehmen bereit war, weit überschritten. Sie würde ihn anzeigen, wenn er nicht unverzüglich verschwand.
Beverly schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Als sie die Tür öffnete, brach das Klavierspiel ab. Die plötzliche Stille zerrte beinahe noch mehr an ihren Nerven. Erstmals kam ihr der Gedanke, dass ihr direkte Gefahr drohen könnte. Wenn George schon gegen die Gesetze verstieß und bei ihr einbrach, würde er möglicherweise noch weiter gehen, um sie einzuschüchtern.
Unsicher trat sie auf den Korridor hinaus und machte ein paar Schritte. Rex blieb in ihrem Zimmer. So alt und träge wie das Tier geworden war, würde es sie ohnehin nicht schützen können.
Beverly ging bis zur Treppe und lauschte. Aus dem Erdgeschoss war nichts mehr zu hören.
"Bist du das, George?", rief sie. "Ich weiß, dass du es bist, du kannst mir keine Angst einjagen. Ich werde niemals zu dir zurückkehren. Lass mich in Ruhe, sonst rufe ich die Polizei!"
Erst als sie diese Worte aussprach, wurde ihr bewusst, dass sie es gar nicht konnte. Ihr Telefon war noch nicht angeschlossen, es würde noch einige Tage dauern, wie man ihr mitgeteilt hatte.
Das bedeutete, dass sie keinerlei Hilfe herbeiholen konnte. Das Haus lag so weit außerhalb, dass sie auch niemand hören würde, wenn sie schrie. Sie war George allein ausgeliefert. Falls er wirklich vorhatte, ihr etwas anzutun, falls er in seinem Hass soweit gehen würde, ihr ein Leid zuzufügen, musste sie sich ganz allein gegen ihn zur Wehr setzen.
"Hast du mich gehört, George?", rief sie trotzdem. "Es ist mir ernst!"
Er konnte nicht wissen, dass das Telefon nicht angeschlossen war, wusste also nicht, dass sie nur bluffte. In ihrem Fall half nur Frechheit weiter. Sie musste den Spieß umdrehen und ihn durch Drohungen einschüchtern, wenn sie ihn vertreiben wollte.
Oder war er bereits geflohen? Immer noch war nichts zu hören.
Beverly zählte lautlos bis hundert, um sich zu beruhigen, und die ganze Zeit über vernahm sie keinen anderen Laut als ihren eigenen keuchenden Atem.
Sie schaltete das Licht im Treppenhaus an. Im ersten Moment wurde sie von der Helligkeit geblendet, doch ihre Augen gewöhnten sich rasch daran. Sie setzte einen Fuß auf die Treppe, stieg eine Stufe tiefer, dann noch eine und noch eine weitere, bis sie das Erdgeschoss erreicht hatte. Hier blieb sie erneut stehen und lauschte mit angehaltenem Atem. Sie spürte, wie sich kalter Angstschweiß auf Stirn und Rücken bildete. Das hauchdünne Nachthemd klebte feucht an ihrem Körper.
Instinktiv rechnete sie damit, dass George jeden Moment vor ihr auftauchen würde. Es sähe ihm nicht ähnlich, einfach zu fliehen, wenn er sich einmal zu etwas entschlossen hatte. Aber anderseits sah es ihm auch nicht ähnlich, einfach in ein Haus einzubrechen, selbst wenn er noch so wütend war. Abgesehen von Bestechungsgeldern und seinen Steuererklärungen hatte er sich an die Gesetze immer gehalten, denn ein Mann von seiner Berühmtheit konnte sich keinen Skandal erlauben, den das Aufdecken eines Einbruchs unweigerlich bedeutet hätte.
Und wenn er es gar nicht war?, schoss es Beverly durch den Kopf. Wenn es nun irgendein Fremder war, ein echter Einbrecher?
Sie dachte einen Moment darüber nach und verdrängte den Gedanken dann sofort wieder. Der Zufall wäre zu groß, so etwas gab es höchstens in schlechten Filmen. Das Haus war seit Jahren unbewohnt, mehr als genug Gelegenheit, hier einzubrechen. Es müsste schon ein sehr dummer Dieb sein, der ausgerechnet bis zu dem Tag warten würde, bis jemand wieder hier einzog.
Da die Garage mit alten Möbeln vollgestellt war, hatte sie den Wagen direkt vor dem Haus geparkt, ein unübersehbarer Hinweis auf ihre Anwesenheit. In Hallerforth hatte es schon seit langem keine schweren Verbrechen mehr gegeben; hier auf dem Lande, wo die Leute einander alle kannten, war es anders als in der Stadt.
Außerdem pflegten normale Einbrecher ihr Kommen nicht durch tote Vögel anzukündigen, und gewöhnlich gingen sie so leise wie möglich vor, statt durch Klavierspiel auf sich aufmerksam zu machen.
Nein, es konnte sich nur um George handeln. Er konnte sehr gut Klavier spielen, und er schoss gerne mit dem Luftgewehr. Beides waren keine Beweise, die vor Gericht Gültigkeit besessen hätten, aber zusammen mit dem zweifelsohne vorhandenen Motiv, reichte es aus, um Beverly zu überzeugen.
Sie hatte sich schon oft vor George gefürchtet, wenn er getrunken hatte und seine schlechte Laune an ihr ausließ, aber dabei stets gewusst, dass er über einen bestimmten Punkt – dass waren meist wilde Beschimpfungen und einige nicht allzu harte Ohrfeigen – nicht hinausging.
Jetzt empfand sie erstmals Angst vor ihm; richtige nackte Angst.
Minutenlang stand sie vor der verschlossenen Tür des Wohnzimmers und wagte nicht, sie zu öffnen. Stattdessen starrte sie nur gegen das Holz, und die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf.
Was, wenn George nur auf sie wartete, um ihr ein Leid zuzufügen? Auch wenn er einen großen Teil seiner Arbeit vom Schreibtisch aus erledigte, war er doch athletisch und überaus stark, da er sich mit regelmäßigem Bodybuilding fit hielt. Beverly war ihm kräftemäßig weit unterlegen, und sie besaß nicht einmal eine Waffe.
Als sie die Hand schließlich auf die Klinke legte, zitterten ihre Finger wie nach einem Stromschlag. Sie überwand ihre Angst, atmete noch einmal tief durch und riss die Tür dann mit einem Ruck auf.
Im gleichen Moment stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Das Wohnzimmer war leer.
Beverly durchsuchte das ganze Erdgeschoss, ohne eine Spur von George zu finden. Sie konnte sich auch nicht erklären, wie er hereingekommen war, denn die Türen waren nach wie vor verschlossen und die Fenster unversehrt, aber das war ihr im Moment egal. Wichtig war nur, dass er das Haus wieder verlassen hatte, ohne ihr etwas anzutun.
Sie setzte sich vor den Kamin und rauchte eine Beruhigungszigarette, dann kehrte sie ins Bett zurück und versuchte wieder einzuschlafen.
Es wurde eine unruhige Nacht für sie. Obwohl nichts passiert war, saß der Schreck ihr noch in den Gliedern, und sie konnte nicht richtig schlafen. Immer wieder wachte sie auf und fuhr sie im Bett hoch, ohne dass es einen Anlass dafür gab.
Erst gegen Morgen wurde ihr Schlaf ruhiger, und es war bereits später Vormittag, als sie erneut durch ein Geräusch geweckt wurde. Diesmal war es kein Klavierspiel, sondern ein schriller, einige Sekunden währender Misston.
Verschlafen richtete sie sich auf, strich sich mit der Hand übers Gesicht und blinzelte ein paarmal, um die Benommenheit zu vertreiben. Ihre Augenlider waren verklebt und schienen schwer wie Blei zu sein, und sie hatte das Gefühl, kaum geschlafen zu haben.
Noch einmal drang der schrille Misston an ihr Ohr, und diesmal merkte sie, dass das Geräusch außerhalb des Hauses erscholl. Sie erkannte auch, dass es sich um eine Autohupe handelte.
Verwundert schwang sie die Beine aus dem Bett, gähnte, trat ans Fenster und schaute hinaus. Ein blauer, ihr unbekannter Kleinwagen stand vor dem Haus. Wieder hupte der Fahrer. Die Hupe klang entsetzlich schrill und tat ihr in den Ohren weh.
Beverly konnte nicht erkennen, wer in dem Wagen saß, da die Windschutzscheibe etwas spiegelte. Entnervt riss sie das Fenster auf und beugte sich hinaus. Eisige Luft fauchte ins Zimmer.
"Was ist denn?", rief sie. "Wer sind Sie, und was wollen Sie?"
Die Wagentür wurde geöffnet, und der junge Mann, den sie am Vortag in den Unfall verwickelt hatte, stieg aus. Wie hieß er gleich? Beverly versuchte sich zu erinnern. Richtig, er hieß Clanton. Michael Clanton.
"Guten Tag!", rief er. "Ihre Türklingel funktioniert nicht, deshalb habe ich mich auf diese Art bemerkbar gemacht." Er grinste verstohlen. "Es tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie um diese Zeit noch schlafen."
"Woher wissen Sie ..."
Beverly brach ab. Die Antwort auf ihre Frage war zu offensichtlich, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Sie trat hastig einen Schritt vom Fenster zurück, als ihr bewusst wurde, dass sie immer noch nur ihr hauchdünnes Nachthemd trug, das mehr von ihrem Körper enthüllte, als es verbarg.
"Warten Sie bitte einen Moment, Mr. Clanton, ich komme hinunter", rief sie. "Ich muss mir nur schnell noch etwas anziehen."
"Machen Sie sich meinetwegen nur keine Umstände", gab er grinsend zurück.
Beverly schluckte. "Das könnte Ihnen so passen", rief sie lahm. Eine schlagfertigere Antwort auf seine freche Bemerkung fiel ihr nicht ein, und so schloss sie rasch das Fenster, bevor er ihre Verwirrung spüren und sie noch weiter necken konnte.
Sie wusch sich hastig und streifte Jeans und einen wolligen Rollkragenpullover über. "Du bleibst hier", befahl sie Rex und eilte ins Erdgeschoss. Die Temperatur lag auch an diesem Tag weit unter null Grad. Ungeduldig trat Michael Clanton vor der Tür von einem Bein auf das andere. Er musste trotz seiner dicken Lammfelljacke frieren. Der Atem hing wie eine weiße Fahne vor seinem Mund, und sein Gesicht hatte sich vor Kälte gerötet.
"Kommen Sie herein", ermunterte Beverly ihn. Mit einem dankbaren Nicken folgte er der Aufforderung. "Was verschafft mir denn die Ehre Ihres Besuchs?", fragte sie lächelnd. "Brauchen Sie auch in Ihrem eigenen Wagen ein paar Beulen?"
Er erwiderte ihr Lächeln, während er seine Jacke auszog und an die Garderobe hängte, wurde dann aber sofort wieder ernst und schüttelte den Kopf.
"Bestimmt nicht, kein Bedarf. Aber es geht um den Unfall. Ich habe gestern nach ein paar Angaben zur Versicherung zu fragen vergessen, die ich unbedingt brauche."
"Kommen Sie, gehen wir ins Wohnzimmer, dort können wir uns bequemer unterhalten. Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir?"
"Nur wenn es Ihnen keine Umstände bereitet."
"Ach was, ich muss ohnehin welchen für mein Frühstück aufbrühen." Beverly deutete auf die Sitzgruppe. "Setzen Sie sich doch. Ich bin direkt wieder da."
Während Clanton in einem Sessel Platz nahm, ging sie in die Küche und füllte einen Kessel mit Wasser. Der Herd wurde mit Gas betrieben. Aus London war sie nur einen Elektroherd gewöhnt, und obwohl sie schon am Vortag hier gekocht hatte, dauerte es einen Moment, bis sie sich mit der Funktionsweise des Gerätes vertraut gemacht hatte. Da sie wie schon am Vortag keinen Funkengeber fand und vergessen hatte, einen zu kaufen, musste sie ein Feuerzeug nehmen und hätte sich beim Entzünden des ausströmenden Gases fast die Finger verbrannt, da sie die Flamme viel zu groß gestellt hatte.
Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück und beantwortete Michael Clantons Fragen, die ihre Versicherung betrafen, während das Wasser heiß wurde.
Beverly ließ es durch den Filter laufen, stellte zwei Gedecke und die Kanne auf den Wohnzimmertisch und bestrich für sich selbst ein Brot mit Butter und Marmelade.
"So gut möchte ich es auch mal haben, erst mittags zu frühstücken", sagte Michael Clanton, trank einen Schluck Kaffee und nickte anerkennend.
"Vom Kaffeekochen verstehen Sie mehr als vom Autofahren", lobte er lächelnd und zündete sich eine Zigarette an.
Im ersten Moment wollte Beverly aufbrausen. Sie hasste das alte Vorurteil, Frauen könnten nicht Autofahren, aber dann erkannte sie, dass ihr Gast es nicht ernst meinte. "Wenn Sie weiterhin so frech sind, hetze ich Rex auf Sie", drohte sie im gleichen scherzhaften Tonfall.
Ein Schatten glitt über Clantons Gesicht, als sie ihn daran erinnerte, und sie entschloss sich, das Missverständnis endlich aufzuklären.
"Rex, komm her!", rief sie laut. Amüsiert beobachtete sie, wie ihr Gast zusammenzuckte und unbehaglich in seinem Sessel hin und her rutschte. Rex stieß die Tür mit der Schnauze auf, trottete zu Clanton, beschnüffelte ihn kurz und begrüßte ihn dann mit einem freudigen "Wuff".
Michael Clanton begann zu lachen und strich dem Hund übers Fell.
"Oh", murmelte er. "Das ist Rex? Und ich habe gedacht ..." Er sprach nicht weiter.
"Was haben Sie gedacht?", hakte Beverly nach.
"Ich habe gedacht, Rex wäre Ihr Mann oder zumindest Ihr Freund."
"Nun, mein Freund ist er ja auch, aber mein Mann ist in London zurückgeblieben. Ich habe mich vor ein paar Tagen von ihm scheiden lassen", fügte sie rasch hinzu, bevor es ein neues Missverständnis geben konnte.
"Ach so, deshalb sind Sie hierher zurückgekommen. Ich kann Sie verstehen. So eine Scheidung ist nie eine angenehme Angelegenheit, und man bleibt nur ungern an dem Ort, wo man vorher gelebt hatte, und durch alles an die Ehe erinnert wird. Haben Sie denn auch Kinder?"
"Nein, glücklicherweise nicht. Die hätten darunter wahrscheinlich am meisten zu leiden. Für mich war diese Trennung wie eine Erlösung. George war ein schrecklicher Tyrann."
Clanton stutzte. Seine Augen verengten sich für einen Moment.
"George?", murmelte er. "George Sherman? Den Namen habe ich doch schon mal gehört." Er überlegte kurz, dann hellte sich sein Gesicht auf. "Ist Ihr Ex-Mann etwa der bekannte Architekt?"
"Richtig geraten. Der Kandidat hat hundert Punkte. Warum fragen Sie?"
"Ich fürchte, ich kenne ihn", entgegnete Michael Clanton seufzend. "Durch meinen Vater. Er ist mit vielen bekannten Persönlichkeiten im In- und Ausland bekannt. Da ich einmal in seine Fußstapfen treten soll, schleppt er mich gelegentlich zu diesen faden Empfängen mit, auch wenn ich meist keine Lust dazu habe. Bei einer solchen Gelegenheit habe ich George Sherman vor einiger Zeit flüchtig kennengelernt."
"Das darf doch nicht wahr sein!", rief Beverly überrascht. "Jetzt wollen Sie mich aber auf den Arm nehmen."
"Nein, bestimmt nicht. Die Welt ist eben doch kleiner, als man denkt; zumindest die Welt der Leute, die in der Öffentlichkeit stehen und Vermögen besitzen. Man begegnet sich ständig irgendwo."
"Und welchen Eindruck hat George auf Sie gemacht?", wollte Beverly wissen.
Clanton zuckte mit den Schultern.
"Das kann ich so nicht sagen. Ich habe ihn ja nur flüchtig gesehen. Sagen wir mal so: Er war mir nicht gerade übermäßig sympathisch, wenn Sie sich dadurch nicht beleidigt fühlen."
"Ganz bestimmt nicht, ich sagte ja, dass ich mich von ihm getrennt habe. Das Leben an seiner Seite war unerträglich geworden. Aber ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen, einem Wildfremden, das alles erzähle", erwiderte Beverly mit einem versteckten Lächeln.
Michael Clanton enttäuschte sie nicht. Er erkannte sofort die goldene Brücke, die sie ihm baute, und nutzte die Gelegenheit.
"Dann müssen wir uns eben besser kennenlernen", sagte er. "Hätten Sie nicht Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen? Ich kenne ein sehr nettes und gepflegtes Restaurant ein wenig außerhalb von Hallerforth, aber noch ganz in der Nähe."
Beverly tat so, als müsste sie erst überlegen, dann nickte sie.
"Wie wäre es mit acht Uhr?", fragte sie voller Vorfreude.
"Einverstanden, ich komme Sie dann abholen." Er blickte auf seine Armbanduhr. "So, jetzt muss ich aber gehen. Ich bin ja eigentlich nur wegen der Versicherung gekommen. Manchmal haben Autounfälle sogar ihre angenehmen Seiten, nicht wahr?"
Beverly brachte ihn noch bis zur Tür und verabschiedete sich von ihm. Vom Fenster aus schaute sie zu, wie er in seinen Wagen stieg und davonfuhr, dann war sie wieder allein.
Das Gespräch über George hatte sie innerlich aufgewühlt. Bislang war sie durch Michael Clantons Anwesenheit so abgelenkt gewesen, dass sie gar nicht dazu gekommen war, an die Ereignisse der vergangenen Nacht zu denken. Dafür brachen die Erinnerungen jetzt über sie herein.
Ihr Blick streifte das Klavier. War George wirklich in der Nacht hier gewesen und hatte darauf gespielt? War er wirklich heimlich in ihr Haus eingedrungen?
Sie konnte es kaum glauben. So etwas passte einfach nicht zu ihm, nicht einmal, wenn er wirklich so wütend war, wie sie annahm.
Vielleicht hatte sie sich nur etwas eingebildet? Ein Alptraum, der – wenn sie es sich recht überlegte – gar nicht einmal so verwunderlich war, nach allem, was sie durchgemacht hatte. Erst die wochenlangen gerichtlichen Auseinandersetzungen und Georges zahlreiche Versuche, sie einzuschüchtern, die Presse, die fast ausschließlich auf seiner Seite gestanden und sie auf seine Weisung hin als eine Art Schlampe dargestellt hatte; schließlich die lange Fahrt hierher, der Unfall am Vortag und das Schlafen in der ungewohnten Umgebung.
War es da ein Wunder, wenn ihre Nerven nicht mehr mitspielten und sie Alpträume bekam? Es konnte gut sein, dass sie etwas zu hören geglaubt hatte, das in Wahrheit gar nicht existierte.
Aber da war noch der tote Vogel, den sie bestimmt nicht geträumt hatte. Beverly kam sich mit einem Mal wieder furchtbar allein und verlassen vor. Sie wünschte, Michael Clanton wäre noch nicht so schnell wieder gefahren. Die Bekanntschaft mit ihm erschien ihr wie ein kleiner Lichtblick. Noch kannte sie den jungen Mann zu wenig, um sich ein Urteil über ihn erlauben zu können, aber er machte einen sehr sympathischen und vertrauenserweckenden Eindruck auf sie.
Und umgekehrt schien es genauso zu sein. Seine Einladung zum Essen war ein deutliches Zeichen dafür. Sie freute sich schon jetzt auf den Abend und hoffte nur, dass sich Michael Clanton nicht als ein Casanova entpuppen würde, der auf der Jagd nach kurzen, belanglosen Romanzen jedem hübschen Mädchen nachstellte. Bei seinem Aussehen und seinem Elternhaus war dies durchaus vorstellbar. Seine Eltern waren reich, und es gab bestimmt viele Mädchen, die allein deshalb schon viel dafür geben würden, mit ihm befreundet zu sein, aber Michael hatte eigentlich nicht auf sie gewirkt, als ob es ihm nur um Äußerlichkeiten und flüchtige Abenteuer ginge.
Verwirrt schüttelte Beverly den Kopf. Was waren denn das für Gedanken? Hatte sie nicht noch vor ein paar Stunden selbst geplant, sich kopfüber in alle Vergnügungen zu stürzen und alles nachzuholen, was ihr in den letzten Jahren entgangen war?
Sie wollte ihre Freiheit genießen, aber stattdessen grübelte sie bei anderen Männern schon wieder darüber nach, ob sie genau die festen Absichten hätten, die Beverly sich selbst nicht auferlegen wollte.
Oder ging es gar nicht um die Männer im Allgemeinen, sondern nur um einen bestimmten? Hatte sie sich etwa in Michael verliebt?
Sie musste selbst bei dem Gedanken an diese Vorstellung lächeln. Nachdem sie ihre entsetzliche Ehe gerade erst hinter sich hatte, würde sie sich bestimmt nicht schon wieder auf eine feste Beziehung einlassen; nicht einmal mit Michael Clanton, der ein völlig anderer Mensch als George zu sein schien.
Es war müßig, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Sie würde einfach abwarten, was der Abend bringen würde. Viel besser war es, die Dinge auf sich zukommen zu lassen, statt für alles nach Erklärungen zu suchen und es vor sich selbst zu rechtfertigen. Diesen Fehler hatte sie in den letzten Jahren viel zu oft gemacht.
Sie räumte Michaels Tasse weg. Dann schenkte sie sich selbst den noch verbliebenen Rest Kaffee ein, zündete eine Zigarette an und setzte sich vor den Kamin. Sie hatte am Vortag ein viel zu großes Feuer entzündet, das bis jetzt noch nicht völlig erloschen war. Beverly legte einige Scheite nach und fachte die vor sich hin schwelende Glut mit einem Blasebalg zu neuer Hitze an. Bald schon leckten die Flammen wieder nach dem Holz.
"Sag du mir mal, ob ich geträumt habe, oder ob gestern Nacht wirklich jemand im Haus war", wandte sie sich an Rex, doch der Hund hob nur den Kopf und starrte sie aus seinen großen Augen verständnislos an. Na ja, was sollte man von einem Hund auch anderes erwarten, selbst wenn er so klug wie Rex war, dachte Beverly. Achselzuckend zog sie noch einmal an ihrer Zigarette und warf die Kippe dann ins Feuer.
Sie kontrollierte alle Fenster und Türen im Erdgeschoss. Bis auf die Haustür, die sie vorhin erst selbst geöffnet hatte, waren alle verschlossen, und es war auch keine Scheibe eingeschlagen worden. Wahrscheinlich hatte sie wirklich nur schlecht geträumt.
Noch eine weitere Erklärung fiel ihr plötzlich ein. Es hatte für sie außer Frage gestanden, dass die schrillen Töne auf dem Klavier erzeugt worden waren. Aber auch jetzt hörte sie Geräusche, als sie genau hinhörte, die ein wenig an die Laute der Nacht erinnerten und fast wie leises Heulen und Wehklagen klangen, dabei aber eine ganz natürliche Ursache hatten. Diese Geräuschkulisse hatte Beverly durch einen großen Teil ihrer Kindheit hindurch begleitet. Es war der Wind, der sich in den kahlen Zweigen der Bäume vor dem Haus fing und um Winkel und Kanten strich. Mit einer wenig Phantasie konnte man durchaus so etwas wie eine Melodie heraushören.
Beverly ärgerte sich, dass sie nicht gleich auf diese Erklärung gekommen war. Dieses Geräusch und die Alpträume gemeinsam hatten ihren Nerven wahrscheinlich einen Streich gespielt.
Sie verdrängte die Gedanken an das nächtliche Erlebnis. Für den Vogel war vielleicht George verantwortlich, aber alles andere entsprang nur ihrer eigenen Einbildung. Jetzt, im hellen Licht des Tages, sah alles ganz anders aus, und es gab keinen Grund mehr, sich zu fürchten.
Rex brauchte etwas Auslauf, und sie hatte in den letzten Tagen viel zu viel geraucht, so dass auch ihr ein bisschen frische Luft nicht schaden würde. Beverly entschloss sich zu einem Spaziergang.
Die winterliche Landschaft hatte ihren eigenen, fast magischen Zauber, der Beverly sofort in seinen Bann schlug. Nach dem verhältnismäßig milden Vortag musste es in der Nacht wieder ungeheuer gefroren haben. Schnee und Reif bedeckten neben dem Boden auch jeden noch so winzigen Zweig und ließen alles so unwirklich wie in einem Märchen erscheinen.
Beverly ging einmal rund ums Haus, um nach eventuellen Spuren Ausschau zu halten. Die Idee kam ihr erst jetzt. Falls doch jemand dagewesen sein sollte, müssten seine Abdrücke im Schnee zu erkennen sein.
Aber die Idee erwies sich als untauglich. Es hatte im Laufe der Nacht wieder ein wenig geschneit, und wenn es Spuren gegeben haben sollte, so waren sie längst zugeschneit oder vom Wind mit Schnee gefüllt worden. Auch jetzt führten noch vereinzelte kleine Flocken einen bizarren Tanz in der Luft auf. Der Schnee knirschte unter Beverlys Füßen. Bei jedem Schritt sank sie bis über die Knöchel in die weiche, weiße Masse ein und war froh, dass sie hohe Gummistiefel angezogen hatte, so dass sie wenigstens keine feuchten Füße bekam.
Die Luft war klar und kalt, der Blick reichte weit. Bei jedem Ausatmen kondensierte die Feuchtigkeit zu weißen Dampfwölkchen vor ihrem Mund. Der kalte Wind trieb ihr in den ersten Minuten die Tränen in die Augen. Die Kälte ließ ihr Gesicht erst brennen, stach dann wie mit unzähligen kleinen Nadeln in ihre Haut und ließ es dann taub und gefühllos werden. Sie spürte den Biss des Windes selbst durch ihre dicke Kleidung hindurch und lief ein Stück, um sich aufzuwärmen. Einen Moment lang überlegte sie vor lauter Übermut sogar, einen Schneemann zu bauen, aber dann entschied sie, dass sie für solche Spielereien wohl doch schon etwas zu alt wäre.
Rex tollte ausgelassen umher. Obwohl es nun wirklich nicht der erste Winter war, den er erlebte, schien ihn das seltsame weiße Zeug immer wieder vor neue Rätsel zu stellen. Er jagte den herabsinkenden Schneeflocken nach und versuchte sie zu schnappen, was ihm natürlich nicht gelang und ihn noch mehr verwirrte.
Beverly ließ ihn gewähren und lachte über die komischen Verrenkungen, die er manchmal aufführte. Sie waren bereits ein ganzes Stück gegangen, als ihr Blick auf den Teich fiel, der zwischen ihrem Haus und dem Dorf lag. Im Sommer gab es manchmal Enten darin, und das Ufer war mit Schilf bewachsen, in dem sich zahlreiche Vögel tummelten.
Jetzt war der Teich zugefroren und nur die toten, braunen Spitzen einiger Schilfbüschel ragten noch aus dem Schnee heraus. Ein paar Kinder drehten mit Schlittschuhen auf dem Eis ihre Runden.
Der Anblick versetzte Beverly einen heftigen Stich und wischte ihre gute Laune schlagartig fort. Sie hatte das schlimme Erlebnis von damals immer noch nicht ganz verwunden. Kein Wunder, sie war ein Kind gewesen, und das Unglück hatte ihre erste Begegnung mit dem Tod dargestellt, noch dazu in Gestalt ihres besten Freundes. Ein Geschehen, an dem sogar der Geist vieler Erwachsener noch zerbrechen konnte. Sie als Kind hatte den Schock doppelt schlimm empfunden, denn sie war zwar noch jung und unbekümmert gewesen, aber nicht mehr so jung, dass sie nicht begriffen hätte, was das Unglück bedeutete, das sich direkt vor ihren Augen ereignet hatte.
Es war an einem ebenso schönen Wintertag wie diesem gewesen. Die Jugendlichen auf dem Eis verschwanden, und Beverly sah wieder sich selbst und Rick Osmond auf dem Teich Schlittschuh laufen. Sie war wieder zwölf, Rick elf Jahre alt, und keiner von ihnen ahnte, dass er niemals älter werden sollte. Sie waren Kinder und sie waren glücklich, denn es gab nichts, über das sie sich Sorgen machen mussten, außer vielleicht darüber, dass sie von den Eltern bestraft werden würden, wenn sie jemandem einen Streich spielten oder irgendetwas Unerlaubtes taten und sich dabei erwischen ließen.
Was nicht bedeutete, dass sie es nicht dennoch taten; so wie an diesem Tag, der das beste Beispiel dafür war, dass Erwachsene mit ihrer stets übertriebenen Vorsicht und Ängstlichkeit manchmal doch recht hatten, auch wenn es Kindern oft schwerfiel, das einzusehen. Es hatte Tauwetter gegeben in den letzten Tagen, und das Eis war nicht mehr sicher. Sie hatten die Gefahr nicht richtig eingeschätzt, obwohl ihre Eltern ihnen verboten hatten, noch einmal zum Teich zu gehen, und so hatten sie es in aller Heimlichkeit doch getan, wie man sich manchmal erst an einer Herdplatte verbrennen musste, um zu glauben, dass sie wirklich heiß sei. Nur war dies hier keine heiße Herdplatte, und die Folgen würden schlimmer sein, als ein paar rasch heilende Brandblasen.