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Herzinfarkt! Karl-Heinz Föste hatte die Risikofaktoren ignoriert: Falsche Ernährung, zu wenig Bewegung, Übergewicht, Dauerstress rundum, alles schaffen wollen. Dann der unerkannte Krankheitsverlauf, Fehldiagnosen, vier Stents, eine Bypass-OP, die Reha, Rückkehr in den Alltag. Turbulenzen eines Ausnahmezustandes, in Episoden authentisch erzählt.- Extra: Mit Hinweisen des Psychiaters und Psychologen Univ. Doz. Dr. Dr. Reinhard J. Boerner über die Psychosomatik bei Herzkrankheit und medizinischen Infos des Kardiologen Dr. med. Hanno Schnoor.
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Seitenzahl: 264
KARL-HEINZ FÖSTE MIT DR. MED. REINHARD J. BOERNER & DR. MED. HANNO SCHNOOR
WENN DAS HERZ NICHT MEHR SCHRITT HÄLT
Herzinfarkt: Der Sturz aus dem Leben und mein Weg zurück
KÖSEL
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Copyright © 2014 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlag: Monika Neuser, München
Umschlagmotiv: fotolia © Maria Vazquez
Autorenfotos: Karl-Heinz Föste (Fa. Mannes, Ahrensburg); Dr. med. Reinhard J. Boerner (Fa. Bodemann, Quakenbrück); Dr. med. Hanno Schnoor (Privatarchiv)
ISBN 978-3-641-12380-2V002
www.koesel.de
Meiner Tochter Carolin, die mir die Idee zu diesem Buch gab
Inhalt
Vorwort
Vorwort zur Psychosomatik
1 Vorgeschichte
»Vielleicht hat es Wendepunkte gegeben …«
Kritische Werte
Koronare Werzkrankheit – eine erste Winführung
Einführung in die Psychosomatik der KHK
Gewichtsabnahme
Blutfettwerte und Arteriosklerose
Lebensängste und Atress
Die Bedeutung der Atressforschung für die KHK
2 Erste Anzeichen
»Wenn Schmerzen und Beklemmungsgefühle in der Brust aufkommen«
Infarkt
Körperwahrnehmung – Verleugnen und Verdrängen körperlicher Signale
»Stummer« Infarkt
Symptome und Fehldiagnose
Konsultation des Kardiologen
3 Akute Erkrankung
»Hab ich so ungesund gelebt?
Die Bedeutung der Persönlichkeit für die Krankheitsbewältigung
Bewegung
Anzeichen und Maßnahmen
Sport und Beschwerden
Herzkatheter im AK St. Georg
4 Stent-Operationen
»Wird alles wieder gut?«
Der Krankenwagen kommt
Gründe für den negativen Krankheitsverlauf
Stent-OP im Marienkrankenhaus
Indikation Stent-Typen
5 Zwischen den OPs
»Hoffen und Bangen wechseln sich ab«
Stent Nr. 3
Neue Schmerzen und Ängste
Stent in Stent
Ängstlichkeit und Ängste bei KHK
Ein Urlaub in England
6 Bypass-OP
»Was kommt da auf mich zu?«
Dilemma zwischen Krankheitsverleugnung und Versagen
Einweisung und Eingriff
Überwältigung und Bewältigung
Der Arzt als seelische Stütze
OP-Verlauf
Erwachen
Die Patientenrolle im Krankenhaus – ein Ringen zwischen Autonomie und Abhängigkeit
Halluzinationen
Trugbilder und Ängste
Visite
Atemübungen
Tiefpunkt
Psychische Verfassung im postoperativen Verlauf – Angst, Depression, Traumatisierung
Erstes Aufstehen
Ein kurzer Verlust an Haltung
Das Ringen um eine ganzheitliche Medizin im Krankenhaus
Zwei atemberaubende Erlebnisse
Normalstation
Bad Segeberg oder Timmendorfer Strand?
Warten auf ein Herz
7 Die Reha
»Schritt für Schritt ins Leben zurück«
Ankunft
Anwendungen
Sex und KHK
Sex, Verlangen, Medikamente und Belastbarkeit
Strand
Gespräch mit dem Psychologen
Spaziergänge
8 Wiedereingliederung
»Den alltag neu sortieren«
Familienalltag
Zurück im Büro
Die Seele braucht Zeit
Was das Herz stärkt
Psychosomatische Therapie der KHK – Psychotherapeutische Ansätze
9 Nachsorge
»Motivation für einen Neubeginn«
Kontrollen, Untersuchungen, Perspektiven
Nachwort
Glossar
Literatur
Über die Autoren
VORWORT
Mit diesem Buch will ich Sie auf eine Reise mitnehmen, die ihre ganz eigenen Herausforderungen hat. Eine Reise, die Ärzte aus der Theorie und von ihren Patienten her kennen, die vielleicht Sie selbst bereits unerkannt oder erkannt angetreten haben und vor der andere wiederum sich fürchten. Es ist die Reise hin zur Koronaren Herzkrankheit (KHK), mit allem, was ich dabei erlebt und erlitten habe, von Infarkten bis hin zu einer Bypass-OP und der Wiedereingliederung in den Alltag.
Als die ersten Symptome sich zeigten, habe ich recht bald verstanden, welche körperlichen Risikofaktoren die Krankheit begünstigen. Länger hingegen hat es gedauert, bis ich erkannte, dass die Krankheit neben der rein körperlichen auch eine psychosomatische Dimension hat, seelische Gründe, die sich körperlich auswirken. Kaum ein anderes unserer Organe wird in der eigenen Wahrnehmung und im Sprachgebrauch so sehr mit der Gefühlswelt in Verbindung gebracht wie das Herz: Wir sind mit dem Herzen bei der Sache, Dinge gehen uns zu Herzen, der eine oder andere ist im Herzen getroffen und so weiter.
Im »Positionspapier zur Bedeutung psychosozialer Faktoren in der Kardiologie 2013 der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie« liest sich das so: »Psychosoziale Belastungsfaktoren wie Depression, Angst oder niedriger sozialer Status sind mit einem erhöhten kardio-vaskulären Erkrankungsrisiko und einem ungünstigeren Verlauf nach Krankheitseintritt verbunden.« Eine inzwischen verbreitete Erkenntnis, die aber bei vielen Ärzten wie auch Patienten erst noch bewusst werden muss. Was dieser Satz übersetzt auf den ganz normalen Lebensalltag heißt, wird dieses Buch zeigen.
Die Reise macht meine erlebte Entwicklung der Krankheit und den möglichst optimalen Umgang mit der Krankheit sichtbar; sie schildert den medizinischen Apparat (Arzt, Krankenhaus, Reha-Klinik), mit dem ich konfrontiert wurde, und gibt Einblicke in meinen Alltag (Familie, Arbeit und Freizeit), den ich als Herzpatient zu bewältigen hatte. Begriffe, die ein Patient immer wieder von Ärzten hört, werden auch im Buch genannt, jedoch durchgängig erläutert, denn nicht selten versteht man im Gespräch nicht alles, was der Arzt zu erklären versucht. Ein kleines Glossar am Ende des Buches soll hierbei ebenfalls helfen.
Das Buch wendet sich an alle, die aus der Sicht des betroffenen Patienten mit der Entwicklung der Koronaren Herzkrankheit vertraut gemacht werden wollen und sich anhand von Kommentaren der Co-Autoren über laienverständliche medizinische Details, über die Krankheit selbst sowie über Therapiemöglichkeiten informieren möchten. Es wäre mein Wunsch, dass damit Früherkennung, rechtzeitiges Gegensteuern und ein möglichst angstfreier Umgang mit der Krankheit ermöglicht würde.
Im Verlauf der akuten Erkrankung habe ich wegen meines Alters von 55 Jahren häufig zu hören bekommen: »Sie sind doch noch viel zu jung für diese Krankheit.« Mehr als achselzuckende Zustimmung konnte ich kaum erwidern, schließlich hatte ich mir die Krankheit ja nicht ausgesucht. Oder vielleicht doch?
Ich danke meinen Co-Autoren Dr. med. Hanno Schnoor als Internisten und Facharzt für Kardiologie sowie Univ.-Doz., Dr. med., Dr. scient. pth., Dipl.-Psych. Reinhard J. Boerner, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychotherapeut, wissenschaftlicher und klinischer Experte für die Diagnose und Therapie von Angststörungen, die in ihren Beiträgen aus fachlicher Sicht wichtige medizinische und psychologische Fragen im Zusammenhang mit der Koronaren Herzkrankheit beantworten werden.
VORWORT ZUR PSYCHOSOMATIK
Das Buch von Herrn Karl-Heinz Föste stellt einen ausgesprochen differenzierten und einfühlsamen Erfahrungsbericht über den Verlauf und die Therapie seiner chronischen Herzerkrankung dar. Der besondere Wert dieses Werks liegt darin, dass Herr Föste neben der Darstellung des medizinischen Verlaufs einen Einblick in sein »Seelenleben« zulässt und auf diese Weise eindrücklich die enge Verknüpfung von körperlichen und seelischen Faktoren in Bezug auf seine Erkrankung deutlich macht. So erschließt sich für ihn wie auch für viele andere Patienten die Bedeutung psychischer Faktoren für die Entstehung sowie den Verlauf der Krankheit.
Der medizinische Fortschritt hat auch auf dem Gebiet der Kardiologie zu immer besseren Diagnostik- und Therapieverfahren geführt, die zum Wohle vieler Patienten die Behandlungsqualität nachhaltig verbessert haben. Diese unstreitbar positive Entwicklung führte allerdings zu einer zunehmenden fachlichen Spezialisierung und Technisierung im Gesundheitssystem. Diese hat nicht nur die fächerübergreifende Kommunikation über Diagnose und Behandlungsergebnisse körperlicher Erkrankungen erschwert, sondern insbesondere auch ein ganzheitliches Verständnis des Patienten und seiner Erkrankung in den Hintergrund treten lassen.
An der Koronaren Herzerkrankung (KHK) von Herrn Föste wird die eminente Bedeutung psychosozialer Faktoren bereits im Vorfeld der Erkrankung, ihrem Verlauf, aber auch hinsichtlich der daraus zu ziehenden therapeutischen Konsequenzen eindrücklich wie plastisch erkennbar. In den letzten Jahrzehnten hat die psychosomatische Forschung fundierte Erkenntnisse zur Bedeutung psychosozialer Faktoren für die KHK gewinnen können, die mittlerweile auch von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie aufgegriffen worden sind.
Herr Föste hat sein Buch in erster Linie an medizinische Laien und Betroffene adressiert. Diesen macht er Mut, ihre Erkrankung ganzheitlich unter Berücksichtigung innerseelischer Faktoren zu sehen.
Außerhalb dieser Zielgruppe ist die Lektüre seines Werks jedoch auch bestens für Studierende der Gesundheitsberufe geeignet, die hier nicht nur einen sehr wirklichkeitsnahen Einblick in die heutige medizinische Versorgung erhalten, sondern auch verstehen lernen, wie sinnvoll und notwendig eine ganzheitlichen Sichtweise des Patienten für die Diagnose und Therapie von körperlichen Erkrankungen ist.
Univ.- Doz., Dr. med., Dr. scient. pth., Dipl.- Psych. Reinhard J. Boerner
1 VORGESCHICHTE
»Vielleicht hat es Wendepunkte gegeben …«
Wenn ich heute in den Spiegel schaue, sehe ich einen Mann mittleren Alters, sehr schütteres, stark angegrautes Haar und untersetzt. Geboren wurde ich 1958 im Zuge der geburtenstarken Jahrgänge zwischen der »schlechten Zeit« und dem Wirtschaftswunder, als Taxen noch schwarz waren, das Essen gut, wenn der Teller voll war, und es nur zwei Programme gab. Frauen waren mit 40 Jahren alt, steckten die Haare zum Dutt zusammen und verbargen sich unter schwarz-gemusterten Kittelschürzen. Männer waren noch Kerle, tranken, rauchten und hatten das Sagen. Gegen solcherart Schwarz-Weiß setzten wir Rock ’n’ Roll und die aufkeimenden Ideale der »68er«. Wir hörten Joan Baez und Bob Dylan, tranken Lambrusco, lasen Hesse, stellten alles Uniforme in Frage und merkten nicht, dass Boots und Parkas auch eine Art Uniform waren. Nicht nur die Raumpatrouille brach in neue Welten auf. Das Leben wurde bunter. Die Liebe und das Leben schienen frei und unbeschwert. Das alles ist längst vorbei. Geblieben ist die fatale Neigung, in vielerlei Hinsicht ungesund zu leben.
Manchmal jedoch schauen die braunen Augen aus dem Spiegel noch immer verträumt auf die kärglichen Reste der vergangenen Welt, auf der Suche nach den alten Idealen. Falls sich aus dieser Zeit etwas bei mir erhalten hat, dann ein wenig Wehmut darüber, dass die Ideale aus der damaligen Aufbruchstimmung in der heutigen Welt nicht mehr zu finden sind. Geblieben aber ist auch der Mut, das Leben offensiv anzugehen – selbst die Krankheit, um die es hier geht. Dieser Mut hat mich manchmal verlassen wollen, aber er kam immer wieder. Und so hoffe ich, diesen Mut mit meiner Geschichte und den Erfahrungen mit der Herzkrankheit an andere weitergeben zu können.
Wann begannen die Gefahren dieser Erkrankung? Drastisch gesagt, fängt die Arteriosklerose, die Gefäßverkalkung, bei vielen schon mit Beginn des Erwachsenenalters an. Nur merkt man über Jahrzehnte hinweg, in denen man durch Rauchen, fettes Essen und mangelnde Bewegung seine Arterien mehr und mehr mit Plaques (Ablagerungen) verklebt, nicht, dass es für den Blutdurchfluss immer enger wird. Wenn man es dann merkt, ist es häufig bereits zu spät, dagegen anzusteuern.
Stress, hoher Blutdruck und ungesundes Essen, Übergewicht, Sorgen und Ängste: In der Erinnerung muss ich mehr als zehn Jahre vor den eigentlichen Ausbruch der Krankheit zurückgehen. Jahre, in denen ich spätestens hätte gesünder leben sollen, um der Gefäßverkalkung vorzubeugen bzw. deren Fortschreiten hinauszuzögern. Einen Zeitpunkt X, an dem man einen besonderen Auslöser oder einen Punkt ohne Wiederkehr festmachen könnte, gibt es nicht. Vielleicht hat es Wendepunkte gegeben, die Anlass hätten sein können, das bisherige Leben und die eigenen Gewohnheiten einmal auf den Prüfstand zu stellen. Aber wer macht das schon?
Möglicherweise fing es bei mir schon mit dem Start ins Berufsleben an, als die Bewegung zu Fuß und mit dem Fahrrad weniger und die Zeit am Schreibtisch dafür sehr viel mehr wurde. Vielleicht aber begann es mit den Sorgen, als wir Eltern wurden. Stress, Sorgen, Existenzängste. All das fängt für viele mit der Mehrbelastung und der Verantwortung für die eigene Familie an. Wenn ich so weit zurückgehe, muss ich mit dem Frühjahr 1994 beginnen, an dem frühmorgens der Traum von der Familie begann. Unser Sohn wollte geboren werden.
Unser alter Golf sprang nicht an. Ich drehte hektisch am Zündschlüssel herum, tippte nervös mit dem Fuß gegen das Gaspedal, aber nichts tat sich. Meine Frau saß gelassen auf dem Beifahrersitz, die Hände über dem runden Bauch verschränkt. »Lass uns ein Taxi rufen!« Sie war die Ruhe selbst. Unglaublich! Seit sie mich mit einem sanften »Ich glaube, es geht los« wachgerüttelt hat, war ich nur noch ein Bündel Hektik. »Bleib sitzen«, sagte ich zu ihr, als sie Anstalten machte, sich abzuschnallen. »Ich geh das Taxi rufen.«
Als ich aus der Wohnung zurückkam, stand meine Frau schon am Straßenrand. Sie sah hinreißend aus mit dem Bauch, der nicht mehr in den Mantel passte, mit ihren kurzen messingbraunen Haaren, die unter der Straßenlaterne leuchteten, und der zufriedenen Ruhe, die sie ausstrahlte. Der Morgen dämmerte schon. Es war noch sehr kalt an diesem Märztag. Noch nie hatte der Wagen uns im Stich gelassen. Ausgerechnet heute!
Als das Taxi kam, sah ich die Panik in den Augen des Fahrers. »Warten Sie! Warten Sie!«, rief der untersetzte, kleine Mann zur Begrüßung und lief um den Wagen herum zum Kofferraum. Schnell holte er eine Decke hervor und breitete sie auf der Rückbank aus. Meine Frau setzte sich brav darauf. »Zum Elim«, sagte ich. Erleichterung breitete sich auf seinem Gesicht aus, denn das Elim-Krankenhaus war nur wenige Straßen entfernt.
Die Geburt unseres Sohnes verlief reibungslos. Ich hatte seit der Öffnung des Brandenburger Tors nicht mehr so gerührt und glücklich geweint. Nun waren wir zu dritt. Ein neues Leben begann.
Nur wenige Tage später holte ich meine Frau und unser Kind ab. Unser Kind. Wie sich das noch merkwürdig anfühlte. Mutter und Sohn hatten das Wochenbett gut überstanden und wir waren bereit für das Abenteuer Familie. Als wir durch unseren Stadtteil fuhren, kam mir Hamburg im schmelzenden Schnee dreckig vor. Doch damit nicht genug. Die vielen Menschen wurden mir bewusst, der Verkehr, der Lärm. Das ganze Elend der Großstadt flog mich urplötzlich und dem Anlass überhaupt nicht angemessen an. Ich suchte den Blick meiner Frau. »Weißt du, ich bin auf dem Land groß geworden.«
»Ja, ich weiß.« Sie sah mich fragend an. »Und?«
»Was hältst du davon, wenn wir uns etwas außerhalb der Stadt suchen?«
Ich hielt es für einen guten Zeitpunkt, die Sache, die mich schon während der Schwangerschaft oft umgetrieben hatte, zur Sprache zu bringen.
»Lass uns erst einmal nach Hause fahren!«, sagte sie, und es klang irgendwie ziemlich abschließend.
Alles war vorbereitet: Aus der Double-Income-no-kids-Großstadtgenießer-Wohnung war ein Heim geworden. Im Wohnzimmer stand der Laufstall, mein Schreibtisch war zum Wickeltisch umfunktioniert worden, und die Lücken im Badezimmer waren mit Windelpaketen ausgefüllt. Beifall heischend sah ich meine Frau an. Sie strahlte, meinte dann jedoch: »Du hast recht. Uns wird bald ein Kinderzimmer fehlen.«
Zwei Wochen – so lange hatte ich Urlaub gehabt – genossen wir die Zeit als Familie. Soweit es die kleine Wohnung zuließ, haben wir uns gemütlich eingerichtet und uns an den Alltag mit Kind gewöhnt. Zu diesem Alltag gehörten leider auch die Nächte mit häufigem Aufstehen, Baby wickeln und einem Sohn, der sich als Schreikind erwies und endlos lange im Schlafzimmer hin und her getragen werden musste, bis er endlich schlief.
An einem der letzten Tage meines Urlaubs fuhren wir an die Ostsee. Das Wetter war für Anfang April ungewöhnlich warm und man konnte sich schon am Strand aufhalten. Unser Sohn war jedoch noch zu klein für Sonne, Sand und Meer. Als er schon am frühen Nachmittag quengelig wurde, entschlossen wir uns, die Segel zu streichen und über die Dörfer zurückzufahren. Kurz vor Hamburg erreichten wir einen ländlich idyllischen Ort namens Siek, keine zehn Kilometer von Hamburgs Stadtgrenze entfernt. Ich sah alte Höfe, die Backsteinkirche und knickgesäumte Felder. Wir packten unser Kind in den Kinderwagen und schlenderten durch den Ort.
Ja, so hatte ich es in Erinnerung, damals als Kind, als ich selbst auf dem Dorf groß geworden bin: Natur, Felder, Pferdekoppeln und ein Restaurant mit Kaffeegarten. Dort ließen wir uns auf eine Tasse Kaffee nieder.
Wir aßen unseren Kuchen, eine inzwischen lieb gewordene tägliche Gewohnheit, die anfing, meinen Gürtel unter einer leichten Wölbung verschwinden zu lassen, und genossen den Rest des schönen Nachmittags. Irgendwann fuhren wir wieder nach Hamburg in unsere kleine Wohnung. Doch mir geisterte das kleine Dorf durch den Kopf.
Am nächsten Tag hatte mich der Alltag wieder. Auf dem morgendlichen Weg zur Bahn lief ich wie so oft – müde von Nächten mit zu wenig Schlaf – Slalom um Müll und Hundehaufen herum, fand wie jeden Tag tätowierte Bierdosenmachos am Dammtorbahnhof und in der S-Bahn. Nichts hatte sich verändert. Aber die Arbeit machte mir Spaß. Die wenigen Zweige, die ich vom Bürofenster aus sah, öffneten langsam ihre Knospen und verhießen Frühling.
Und dann fand ich im Immobilienteil der Zeitung eine Anzeige: »Maisonette-Wohnung in Siek«. Eine größere Wohnung? Noch immer etwas klein vielleicht, aber eine eigene Wohnung! Die Zinsen waren auf fast fünf Prozent geschmolzen. Es passte irgendwie wunderbar zusammen. Und wieder lächelte ich. Das Leben schien langsam in die richtigen Bahnen zu kommen. Ein Fehlschluss, wie sich bald zeigen sollte.
Der Umzug war organisiert. Die Männer der Umzugsfirma arbeiteten routiniert. Einer der jungen Männer wurde nicht müde, den großen Raum unter den Dachschrägen begeistert zu loben. Das neue Heim nahm langsam Gestalt an. Es war schon Herbst, aber es herrschte noch immer fröhliche Aufbruchstimmung. Die Arbeit ging uns flott von der Hand, und schon am Abend waren Schränke und Betten aufgebaut. Trotz der Berge von Umzugskartons kam sogar schon ein wenig Heimeligkeit auf.
Am Abend rieb ich mir den Rücken und dachte daran, dass Spazierengehen meinem inzwischen 36 Jahre alten Rücken erheblich besser getan hätte, als die schweren Kisten zu schleppen. Wir hatten uns bei der Umzugsfirma für den Tarif mit Eigenbeteiligung entschieden. Ein Fehler, wie ich im Nachhinein fand. Die Wohnung wurde von uns zwar bei günstigen Zinsen, jedoch in einer absoluten Hochpreisphase gekauft. Also musste nun gespart werden.
Dabei standen wir finanziell gar nicht schlecht da. Wir hatten zwar nur noch ein Gehalt zur Verfügung. Doch ich hatte erst kürzlich den Arbeitgeber gewechselt und verdiente erheblich besser als vorher. Gespart werden sollte trotzdem, und zwar auf ein Haus. Wir hatten kalkuliert, bis zum Ende der Abschreibungs- und Zinsbindungsfrist so weit liquide zu sein, dass wir uns ein Haus leisten können sollten. Dieser Traum währte nicht lange.
Jetzt aber zogen wir erst mal in eine eigene Wohnung. »Morgen gehen wir durchs Haus und begrüßen die Nachbarn.« Meine Worte wurden vom Läuten der Türklingel unterbrochen. Ich öffnete die Tür, wo mich die erste Nachbarin bereits begrüßte und sich über unsere Schuhe beschwerte, die vor der Tür standen. »Das Treppenhaus ist Gemeineigentum. Die Hausordnung. Sie verstehen.«
»Die Hausordnung, soso.« Ich blieb um ein Lächeln bemüht. »Die werde ich mir natürlich sofort ansehen. Einen schönen Abend noch.«
Die Schuhe ließen wir natürlich stehen, putzten sie abends, nachdem der holsteinische Lehm getrocknet war, und holten sie dann herein. Ich war nun auf die Hausordnung gespannt. Sie fand sich in dem umfangreichen Ordner voller Protokolle über Eigentümerversammlungen, den die Verkäufer uns hinterlassen hatten. Sehnsüchtig dachte ich an die mir zahlreich bekannten Hamburger Treppenhäuser, teilweise mit Stuck verziert, vielfach mit fantasievollen Fliesenarbeiten, jedenfalls sämtlichst voller Leben.
Als ich die Hausordnung herausnahm, fiel mein Blick auf eine Bauzeichnung des wunderschönen großen Raums unter dem Dach mit den Stützbalken und den Studiofenstern. Eine Zeichnung, wie ich sie schon etliche Male bei der Anwältin gesehen hatte, bei der ich im Referendariat gejobbt hatte: eine Anlage zu einem Baugenehmigungsantrag. Der Grundriss war eindeutig. Ein Stempel des Bauamtes prangte darauf, darunter der Zusatz »Genehmigt als Trockenraum«. Hektisch kramte ich den Bauantrag hervor. Ich hatte doch ausdrücklich gefragt, ob der Raum unter dem Dach zu Wohnzwecken genehmigt war, und es war mir eine Zeichnung mit dem Zusatz »Genehmigt zu Wohnzwecken« vorgelegt worden. Ich fand die Zeichnung, die dem Vertrag nicht beigelegt war. Der sprach nur von soundso viel 10.000stel Miteigentumsanteilen und enthielt keine Quadratmeterangaben. Kein Zweifel: Ich hatte weniger den Maklern, wohl aber den Verkäufern und dem Notar vertraut und eine Wohnung mit Trockenraum zum Preis einer Maisonette-Wohnung gekauft!
Vielleicht war es die Euphorie über die erste Eigentumswohnung, vielleicht mangelnde Menschenkenntnis. Es wurde jedenfalls unsere erste schlaflose Nacht in Siek, der Beginn mancher Sorgen.
Die nächsten Tage waren niederschmetternd. Es gab keine Zeugen. Die Verkäufer ließen über ihren Anwalt verlauten, die Herkunft der gefälschten Kopie sei ihnen nicht bekannt, sie hätten sie nie verwendet, geschweige denn hergestellt. Es dauerte Wochen, bis wir resigniert aufgaben.
»Jetzt sitzen wir in der Falle«, brachte meine Frau es Heiligabend auf den Punkt. Das erste Weihnachtsfest als Familie; die Stimmung war auf dem Nullpunkt. Der festlich leuchtende Baum brachte erstmals keine innere Erhebung. Wir saßen vor dem Weihnachtsbraten und hatten keinen Appetit. »Bis zum Abschluss der Zinsbindung können wir die Wohnung nicht verkaufen, weil die Bank saftige Vorfälligkeitsentschädigung verlangt, und wenn wir verkaufen, dann kriegen wir nur gut zwei Drittel des Kaufpreises wieder.«
Ich nickte stumm. Es blieb auf Jahre eine drückende Hypothek, schwerer als die im Grundbuch.
An sich war das Dorf sehr schön. Der Dorfanger, die alte Kirche mit der maroden Idylle des Verfalls, die der Kirchhof voll alter Gräber verströmte. Im Kontrast dazu strotzte die Natur um das Dorf herum nur so vor Leben, Felder, Seen, Wiesen und Knicks. Sooft wir in der Natur unterwegs waren, wurden wir ein wenig mit unserer Entscheidung versöhnt. Und nach und nach lernten wir Leute kennen, meist Familien mit kleinen Kindern.
Allmählich erwachten wir mit dem Frühling aus einem bösen Traum und lebten uns ein. Gelegentlich trafen wir uns nach der Arbeit in Hamburg an der Alster. Eine Kollegin und Freundin meiner Frau begleitete uns dabei oft mit ihrem Sohn nebst Golden Retriever.
»Und?«, fragte sie interessiert. »Wie ist es auf dem Land?«
»Toll!«, sagte ich viel zu hastig und sah sogleich schuldbewusst drein. Meine Frau verzog das Gesicht und strich sich die messingbraune Haarpracht beiseite, die der Wind hartnäckig wieder zurückblies. »Ja, sehr toll! So als Nobody auf dem Dorf. Nicht zu vergessen das kulturelle Angebot in Form der Kirche, eines Restaurants und des kleinen Lebensmittelhökers.«
Und so wurde ich ziemlich kalt erwischt davon, was sich bei ihr an Frust angestaut hatte. Überrascht und schuldbewusst. Schließlich hatte ich sie überredet, nach Siek zu ziehen, weg vom geliebten Hamburg.
»Aber komm!«, meinte die Freundin. »Die Ostsee vor der Tür. Hamburg nur ’ne halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Ihr habt doch alles direkt vor der Nase.« Im Stillen war ich ihr dankbar.
Wir erreichten das kleine Fährhaus. Die Frauen setzten sich auf die Terrasse, und ich versprach, mich um die Kinder und den Hund zu kümmern. Nicht ganz uneigennützig dachte ich daran, dass es sicherlich mal guttun würde, sich alles von der Seele zu reden.
Der Hund stupste mich auffordernd mit der Nase an, einen Stock im Maul. Jetzt waren wir hier, die Probleme woanders, und ich gab mich einer meiner liebsten Beschäftigungen hin und ließ den Hund Stöcke apportieren, sehr zur Freude der Kinder. Ich lächelte versonnen in mich hinein und genoss diese Minuten, auch wenn ich beim Toben merkte, dass meine Kondition arg gelitten hatte. Es wurde Zeit, trotz all der Sorgen mal wieder an Bewegung zu denken. Dabei wusste ich insgeheim, dass es bei dem Vorsatz bleiben würde. Wie gern man doch solche Anfälle mit Vernunft beiseiteschiebt.
Die nächsten zwei Jahre nahm nicht nur der Balkankrieg Europa das in Jahrzehnten gewachsene Gefühl von Sicherheit. In diesen zwei Jahren wurde auch das Einkommen durch Streichung von Vergünstigungen, von übertariflichen Zulagen und durch Lohnnullrunden abgeschmolzen, der Golf bekam die ersten teuren Macken und in der Folge wurde erstmals am Urlaub gespart. Es waren zwei Jahre, in denen mein Vater wie auch mein Schwiegervater starben. Und meine Mutter zeigte erste Anzeichen von Demenz.
In diesen zwei Jahren wurde aber auch unsere Tochter geboren. Am Ende waren wir zu viert in einer viel zu kleinen Wohnung, ohne die greifbare Perspektive, uns demnächst eine größere Immobilie leisten zu können. Die Dichte an Sorgen und Problemen war damit auf einem Level angelangt, das ein Mehr kaum vertrug.
Ich bekam einen ersten Migräneanfall und war die nächsten Jahre mit teils unerträglichen Kopfschmerzattacken geschlagen, die medikamentös kaum zu lindern waren und mich nicht selten ein- bis zweimal im Vierteljahr für zwei Tage im Büro und auch zu Hause ausfallen ließen.
Zur Arbeit pendelte ich inzwischen mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hamburg, weil unser Auto einem Unfall zum Opfer gefallen war. Dadurch war ich täglich rund zwei Stunden länger unterwegs und bekam mit, wie schlecht Siek an den Hamburger Verkehrsverbund angeschlossen war. Nach den bequemen Fahrten von Tiefgarage zu Tiefgarage, verbunden mit den sich abzeichnenden körperlichen Veränderungen durch Bewegungsmangel, fiel mir der Schritt zu den langen Fahrradfahrten zum nächsten Ort, wo sich ein U-Bahn-Anschluss befindet, zuerst noch leicht. Ich freute mich, mich gesund durch die Natur zu bewegen. Die Idylle währte jedoch nur so lange, wie das Wetter annehmbar blieb. Recht bald trübten verregnete Fahrten zur U-Bahn den schönen Schein. Auch das Leben in »vollen Zügen« zu genießen hatte nicht nur Vorteile. Häufig stand ich auf Bahnsteigen in der Kälte herum und vergeudete die Zeit mit Verspätungen. Sehr bald bekam ich Sehnsucht nach dem schönen Audi, den mein Schwiegervater uns hinterlassen und der den Golf abgelöst hatte. Den konnte meine Frau aber nur in Ausnahmefällen entbehren, denn sie brauchte ihn für Besorgungen, die auf dem Dorf kaum anders als mit dem Auto zu erledigen sind. Also fügte ich mich in mein Pendlerdasein.
Gelegentlich gönnten wir uns nach Feierabend oder am Wochenende ein gutes Essen in dem Sieker Restaurant. Wir genossen solche Highlights jedoch immer seltener, dafür aber sehr bewusst und freuten uns, wenn sich die Restaurantchefin um die Kinder kümmerte und wir dadurch einmal etwas Ruhe und Entspannung fanden. Denn anders als all die Familien um uns herum hatten wir weder Großeltern noch Geschwister als Babysitter vor Ort. Auch meine Frau war an solchen Abenden immer wie ausgewechselt, wenn wir, von unseren Alltagssorgen abgelenkt, durchatmen konnten.
Die kulinarischen Highlights hatten aber auch andere Auswirkungen. Ganz im Gegensatz zu meiner Frau begann ich nämlich, schleichend dicker zu werden. Immer mal wieder tauschte ich schmackhafte Fleischgerichte mit schweren Soßen gegen Salatteller, weil ich bereits bei Hosen mit Zwischengrößen gelandet war. Mit Argwohn betrachtete ich diese Tendenz, mich dem Äußeren meines Vaters anzunähern. Meine halbherzigen Versuche, hier und da ein paar Kalorien einzusparen, blieben jedoch erfolglos.
Die Anlage zum Dickwerden konnte ich bei meinen Eltern und auch bei meinen Brüdern ablesen. Mein Vater war bis zu seinem Tod sehr rund und in der Folge schwer herzkrank geworden. Bereits Jahre zuvor hatte er eine Bypass-OP hinter sich bringen müssen, von der er sich in den folgenden Jahren zunächst sehr gut erholt hatte. Allen ärztlichen Ratschlägen zuwider hatte er jedoch weiter so ungesund gelebt wie in den Wirtschaftswunderjahren, fett und üppig. Wir Söhne hatten da kaum eine Chance, ihn zu gesünderem Essen anzuhalten. Wenn er nach dem Essen Schmerzen in der Brust bekam, weil der Magen bereits auf das Herz drückte, dann wurde er regelmäßig kalkweiß im Gesicht und hatte Schweiß auf der Stirn. Aber nicht einmal das brachte ihn dazu, beim nächsten Mahl weniger zu essen. Er nahm dann flugs eine Nitro-Kapsel. Die Flüssigkeit in den Kapseln wirkt sehr schnell über die Mundschleimhaut und erweitert die Blutgefäße am Herzen. Da es ihm dann immer schnell besser ging, sah er keinen Grund für ein Umdenken.
Noch im Sommer 1996, wenige Monate vor seinem Tod, hatte ich einen kleinen Disput mit ihm bei einer Familienfeier, weil er unbedingt noch einen Nachschlag vom leckeren Braten haben musste. »Lieber ein paar Jahre gut gelebt und üppig genossen als viele Jahre Diät und Quälerei im Altersheim«, war sein einziger Kommentar. Mir blieb nichts, als den Kopf zu schütteln. Im November darauf starb er, weil das Herz keine Kraft mehr hatte. Überall im Körper, auch in der Lunge und im Herzbeutel, hatten sich Wasserablagerungen gebildet.
Die kommenden Wochen und Monate waren durch weiter zunehmende Sorgen geprägt: Unsere Tochter hatte mit Neurodermitis zu kämpfen und wir waren sehr häufig mit ihr beim Arzt. Außerdem mussten wir uns verstärkt um meine nun allein lebende Mutter kümmern. Die Demenz war weiter fortgeschritten.
Ich gewöhnte mich unterdessen an Arbeitsverdichtung und an Ängste um den Job, die durch meine häufigen Ausfälle wegen der Migräne nicht eben gemildert wurden. Woran ich mich nicht gewöhnen konnte, war, dass die Wohnung mit zwei Kindern allmählich zu klein wurde. Es war eine Einbahnstraße, in die ich uns mit dem Kauf der Wohnung hineinmanövriert hatte. Der Wohnungsmarkt war kräftig eingebrochen, sodass ein akzeptabler Verkaufspreis und damit unser Wunschtraum, einmal ein Haus für die Familie kaufen zu können, in weite Ferne gerückt war.
Den 40. Geburtstag zwei Jahre später verbrachte ich ziemlich freudlos, nicht nur deshalb, weil ich ahnte, dass die sogenannten besten Jahre nicht wirklich anstanden. Außerdem war es ein Alter, in dem man mit Vorsorgeuntersuchungen beginnt. Nichts, was man cool findet. Aber mit der Geschichte meines Vaters vor Augen war ich schließlich vernünftig genug, einen Termin für eine solche Untersuchung zu machen.
KRITISCHE WERTE
Ich fand eine Ärztin im Nachbarort, die mir empfohlen wurde. Es wurden neben körperlichen Untersuchungen auch einige Röhrchen Blut abgenommen. Die Untersuchung ergab einen grenzwertigen Blutdruck, und es wurden leicht erhöhte Blutfettwerte festgestellt. Die Ärztin fragte nach meinem Alltag und der familiären Vorbelastung und riet mir, da sie über mein Übergewicht kaum hinwegsehen konnte, Medikamente zur Senkung der Blutfettwerte zu nehmen.
Das Ganze hörte sich für mich noch nicht ausgesprochen dramatisch an. Schließlich waren die Werte ja noch »grenzwertig« und damit noch nicht ausdrücklich zu hoch. Also nichts, was nicht in den Griff zu bekommen sein sollte. Vielmehr nahm ich es als »Schuss vor den Bug« und als Motiv, mich wieder mehr sportlich zu betätigen. Eine Bedrohung für meine Gesundheit sah ich allenfalls in weiter Ferne. Aus meiner damaligen Sicht brauchte es nur eine kleine Kurskorrektur.
Dabei war der Rat der Ärztin damals berechtigt, wie ich heute weiß. Auch Chemieskeptiker wären bei ordentlicher Abwägung des Für und Wider zu überzeugen gewesen, dass das Medikament die richtige Vorbeugung gewesen wäre, um Gefäßverschlüsse zu verhindern. Sport und Gewichtsabnahme sind natürlich vernünftige Ansätze, seine Gesundheit allgemein und auch hinsichtlich der KHK zu verbessern (und sie bleiben es in jedem Stadium des Krankheitsverlaufs).
In meinem Fall waren sie in der kritischen Rückschau jedoch nicht ausreichend. Damals war ich jedoch von der Perspektive, auf Jahre hin jeden Tag Pillen zu schlucken, wenig begeistert. Außerdem hatte ich den Vorbehalt, dass Ärzte gelegentlich mit dem Verschreiben von Medikamenten zu schnell bei der Hand sind. Allerdings war dies bei mir keine verbohrte Ablehnung von Medikamenten, sondern einerseits das Wissen, dass diese in aller Regel Nebenwirkungen haben und andererseits auch schlichte Unwissenheit. Tatsache ist, dass ich die möglichen Nebenwirkungen gar nicht genau erfragt und mich insgesamt nicht ausreichend über das nötige Mittel zur Senkung der Blutfettwerte (Simva) informiert hatte, von dem ich erst später erfuhr, dass es nebenwirkungsarm ist.
So fragte ich die Ärztin also nur nach Alternativen zu Medikamenten. Sie wog bedenklich den Kopf und legte mir Gewichtsabnahme, fettärmeres Essen und mehr Bewegung nahe. »Sie werden allerdings erleben, dass der innere Schweinehund auf Dauer meist stärker ist als der gute Wille, gesünder leben zu wollen«, hielt sie meinem sportlichen Ehrgeiz entgegen. Deshalb empfahl sie mir noch einmal den Blutfettwertesenker. Hätte ich seinerzeit meine Vorbehalte mit der Ärztin besprochen bzw. mich besser informiert, vielleicht wäre meine Entscheidung anders ausgefallen. Möglicherweise wären damals Weichen anders gestellt worden, die mir den späteren Krankheitsverlauf erspart hätten.
Heute muss ich über den Tag verteilt sechs verschiedene Medikamente schlucken, die zum Glück bei mir ohne Nebenwirkungen sind. Aber selbst wenn sie Nebenwirkungen zeigen würden, ich hätte nun nicht mehr die Wahl, sie abzulehnen. Eine schlechte Bilanz, auch aus Sicht eines Chemieskeptikers.
Inzwischen über 90 Kilogramm schwer bei nur 170 Zentimetern Körpergröße war ich aber immerhin ziemlich motiviert, es endlich zu schaffen, ein paar Pfunde abzunehmen und damit auch meine Optik ein wenig zu verbessern. Das aber hat die Erkrankung nicht aufhalten können. Denn viele andere subtile Faktoren hatten unmerklich ihre Spuren hinterlassen.
Wenn Sie meiner Geschichte gefolgt sind, erkennen Sie leicht, dass der Verlauf eines relativ normalen Lebens mit allen möglichen Problemen und der einen oder anderen Katastrophe unmerklich in Richtung eines immer ungesunderen Alltags mit mehr Lebensängsten, Stress und weniger Bewegung abgleiten kann. Es ist eine schleichende Entwicklung, die es schwer macht, einen Zeitpunkt festzumachen, an dem die gesundheitlichen Schäden erkennbar werden oder an dem man gegensteuern sollte.
Diese Veränderungen belasten die Gesundheit mit
Übergewicht,Stress,hohem Blutdruck und vielfachDiabetes (Zuckerkrankheit).Damals ahnte ich nicht, wie weit die Gefäßverengungen fortgeschritten sein mussten, wie nah ich mich schon dem Herzinfarkt genähert hatte, während ich noch mit Gedanken an mein Aussehen beschäftigt war. Das Tückische dabei ist, dass man die Verengungen der Gefäße nicht spürt – nicht, bevor Beschwerden auftreten. Dann allerdings ist es zu spät. Auch hohen Blutdruck empfindet man nicht als unangenehm. Im Gegenteil, man fühlt sich wohl und leistungsstark.