Wenn der Glaube nicht mehr passt - Martin Benz - E-Book

Wenn der Glaube nicht mehr passt E-Book

Martin Benz

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Beschreibung

"Passt einfach nicht mehr!" - geht es um das eigene Zuhause, dann ist es oft Zeit für einen Umzug. Und die eigene Glaubenswelt? Was, wenn man sich da zunehmend eingeengt und unwohl fühlt, immer wieder an Grenzen stößt? Wenn Teile des Glaubens immer irrelevanter werden und mit dem eigenen Alltag nur wenig zu tun haben? Dieses Buch ist ein Umzugshelfer zum Vorwärtsglauben und Weiterglauben. Es soll dabei helfen, den eigenen Glauben weiterzuentwickeln und in ihm ein neues Zuhause zu finden. Vor allem dann, wenn die bisherigen Glaubensüberzeugungen nicht mehr passen, keine Begeisterung wecken oder Antworten bieten. Martin Benz zeigt auf, wie viel Chance in diesem Entfremdungsprozess liegt, den viele Christ:innen aktuell erfahren: nämlich das zu entdecken, was wirklich glaubenswert ist. Dabei geht der Autor auf Themen wie Gemeindemüdigkeit, Bibelverständnis, Gottesbild, Liebe und Wahrheit, Gesetzlichkeit und Sexualmoral ein. Ermutigend und mit persönlichen Erfahrungen angereichert, lädt er Leser:innen ein, zu hinterfragen, was sich geändert hat, was trägt, was neu dazukommt und was man hinter sich lässt - kurzum, was wertvoll genug ist, mit auf den Umzugswagen zu kommen.

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Martin Benz•Wenn der Glaube nicht mehr passt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de, unter Verwendung eines Bildes von © Kuznetsov Dmitriy, photomaster, Omeris, ArtKio (shutterstock.com)DTP: Burkhard Lieverkus, Wuppertal

Lektorat: Hauke Burgarth, Pohlheim

Verwendete Schrift: Scala

Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH, www.ppp.eu

ISBN 978-3-7615- 6862-0 Print

ISBN 978-3-7615-6863-7 E-Book

www.neukirchener-verlage.de

Einleitung

Progressiv glauben – was ist das eigentlich? Vielleicht haben Sie diesen Begriff schon einmal gehört, vielleicht ist er für Sie mit Vorurteilen besetzt, vielleicht zählen Sie sich selbst zur „progressiven Szene“.

Für mich heißt progressiv glauben, meinen Glauben weiterzuentwickeln. Ich möchte vorwärts glauben, in die Zukunft glauben und mit meinem Glauben leidenschaftlich alt werden. Ich möchte nicht akzeptieren, dass Teile meines Glaubens immer irrelevanter werden und mit meinem Alltag wenig zu tun haben. Meine Lebensrealität muss in meinem Glauben ein Zuhause finden und nicht von ihm wegdriften.

Dieses Buch soll dabei helfen, Glauben weiterzuentwickeln und in dem Sinne progressiv zu werden. Es soll helfen, mit dem eigenen Glauben ein neues Zuhause zu finden, vor allem dann, wenn die bisherigen Glaubensüberzeugungen nicht mehr passen. Wer immer wieder denkt: „So kann ich nicht mehr glauben“ oder „Das kann ich nicht mehr glauben“, könnte bei diesem Buch am richtigen Ort sein.

Es geht mir nicht um atheistische Glaubensverneinung, vielmehr um die wachsende Zahl von Christen, die den Eindruck haben, dass ihr bisheriger Glaube nicht mehr funktioniert, keine Begeisterung mehr weckt, keine Antworten auf brennende Fragen bietet und in seiner Perspektive vor allem rückwärtsgewandt ist. Dieser Glaube bewährt sich zu wenig in der Gegenwart und begründet sich vor allem aus der Vergangenheit. Er dient zu oft als Verteidigung des Alten, statt als Gestaltungskraft von Neuem.

Das Bild des Umzugs soll helfen, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was am eigenen Glauben kostbar ist und darum mit in den Umzugswagen kommt. Es soll aber auch aufzeigen, welche Anteile am eigenen Glauben besser entsorgt gehören und ebenso, welche Glaubensaspekte man sich ganz neu aneignen sollte. Am Ende wünsche ich meinen Lesern und Leserinnen einen Glauben, der deutlich vorangekommen ist, progressiv lebt, keine Angst vor der Zukunft hat und in seinem Kern die Fähigkeit besitzt, Gott in allen Phasen des Lebens zu entdecken und mit ihm das Leben zu gestalten und zum Blühen zu bringen.

Lukas Amstutz, Leiter des christlichen Bildungszentrums Bienenberg bei Basel, ist es meiner Meinung nach gelungen, in wenigen Thesen zusammenzufassen, was progressiven Glauben im Wesentlichen ausmacht. Im „Bienenberg Magazin“ schreibt er: „Auch in Freikirchen entfremden sich Menschen von ihrem bisherigen Glauben und verabschieden sich von ihrer Gemeinde. Das gab es schon immer. Ein neueres Phänomen ist allerdings, dass zunehmend Stimmen laut werden, die in solchen Entfremdungsprozessen eine Chance sehen, neu zu entdecken, was sich als glaubenswert erweist. Diese Stimmen werden meist als progressiv oder post-evangelikal bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen eine tiefe Unruhe über traditionell-(frei)kirchliche Glaubensinhalte und -formen.“1 Vor allem die folgenden Punkte sieht Lukas Amstutz dabei besonders im Fokus:

DIE BIBEL UND IHRE AUSLEGUNG

Menschen mit progressivem Glauben beschäftigt die Unterschiedlichkeit biblischer Texte mit ihren teils spannungsvollen Aussagen. Einsichten der Bibelwissenschaften helfen ihnen, die Texte in ihrem Kontext zu lesen und ihre Weisheit in moderne Lebenswelten zu übersetzen.

GANZHEITLICHES EVANGELIUM

Menschen mit progressivem Glauben sorgen sich nicht primär um das „Seelenheil“, sondern erwarten, dass die gute Nachricht vom Reich Gottes bereits heute zu einem christlichen Lebensstil anstiftet, der auch soziale und ökologische Gerechtigkeit umfasst.

DAS VERHÄLTNIS ZUR WELT

Menschen mit progressivem Glauben erleben, dass auch außerhalb der Kirchen viel Gutes geschieht. Sie erkennen darin das Wirken Gottes und sind bereit, Wege des Miteinanders zu suchen, die ein friedliches Zusammenleben fördern.

GEMEINSCHAFT VOR STRUKTUREN

Menschen mit progressivem Glauben pflegen neue Formen von Gemeinschaften, die Gruppenzugehörigkeit mit Flexibilität, Authentizität, Respekt vor der persönlichen Individualität und Platz für Scheitern zu verbinden suchen.

GLAUBWÜRDIGES CHRISTSEIN

Menschen mit progressivem Glauben scheuen sich nicht, Fragen und Zweifel offen zu formulieren. Schnellen und einfachen Antworten misstrauen sie. Sie ziehen es vor, mit gewissen Spannungen und Brüchen zu leben, anstatt eine christliche Doppelmoral zu leben.

DIE LIEBE GOTTES ALS HAUPTANTRIEB

Menschen mit progressivem Glauben lassen sich von der Liebe Gottes motivieren, ihren Glauben mit anderen zu teilen. In dieser Liebe sehen sie auch ihre Offenheit gegenüber anderen Lebensentwürfen und -formen begründet.2

Für mich klingen diese Thesen verheißungsvoll. Sie stoßen Türen auf, öffnen Räume und lösen Blockaden. Das vorliegende Buch greift einige dieser Thesen auf, um sie zu vertiefen. Ich möchte ein Bild davon malen, wie progressiver Glaube aussehen könnte, welche Chancen er hat und welches Potenzial in ihm steckt, um neue Begeisterung für Jesus zu wecken. Wer wieder Freude am eigenen Glauben empfindet, der ist nur einen kleinen Schritt davon entfernt, auch andere ganz neu zu diesem Glauben einzuladen.

Der Umzugswagen steht vor der Tür. Und jetzt gehtʼs los!

1 BIENENENBERG Bienenberg Magazin, Winter/Frühling 2020, Seite 11, https://de.bienenberg.ch/medien/magazin7; mit freundlicher Genehmi­gung des Autors.

2 Ebd. Seite 11.

Teil 1 Glaubensmüdigkeit

1. Glaubensentwicklung

Warum „Zurück zur ersten Liebe“ der falsche Weg ist

Glaube entwickelt sich. Das ist meine tiefe Überzeugung. Wenn ich mein eigenes Leben betrachte, dann sieht mein heutiger Glaube anders aus als im Alter von 13 Jahren, als ich diesen Glauben für mich entdeckt habe. Glaube geht durch Phasen, und es dient seiner Gesundheit, dass er immer wieder die Übereinstimmung mit der eigenen Lebensrealität sucht.

Je ernster Menschen ihren Glauben nehmen, desto absoluter und unveränderlicher wünschen sie ihn sich manchmal. Sie unternehmen große Anstrengungen, damit er sich bloß nicht verändert, nicht verwässert oder lau wird. Glaube soll bleiben, wie er ist, bleiben wie am Anfang, immer deckungsgleich mit einem Mix an Überzeugungen, dass man aus einem bestimmten Bibelverständnis hergeleitet hat.

Und doch erleben manche Christen über die Jahre hinweg die zunehmende Entfremdung ihres starren Glaubens von ihrem Leben. Mir begegnen immer mehr Christen, die mit ihrem Glauben ehrlich werden wollen. Für sie ist die innere Spannung zu groß geworden, und sie erleben den Glauben zunehmend als frustrierende Erfahrung. Diese Christen sind glaubensmüde, sie fühlen sich in ihrem eigenen Glauben nicht mehr zu Hause.

Ein bestimmtes Entwicklungsmuster begegnet mir dabei immer wieder. Ich gebe hier einen ersten kurzen Überblick, um dann genauer auf die einzelnen Phasen einzugehen.

Leidenschaft

Bei vielen Christen beginnt das Glaubensleben mit dem, was man typischerweise als „erste Liebe“ oder Leidenschaft bezeichnen könnte. Überwältigende Erfahrungen mit Gott oder Gemeinschaft zünden ein inneres Feuer an, das viel Glaubensenergie freisetzt. Es ist eine Phase hoher Aktivität bei nicht so hoher Reflexion dessen, was man da eigentlich glaubt.

Glaubenssystem

Im Laufe der Zeit entwickelt sich daraus ein Glaubenssystem. Es wachsen theologische Überzeugungen, man eignet sich bewusst oder unbewusst eine bestimmte Dogmatik (Glaubenslehre) an. Der Glaube gewinnt an Profil mit klaren Ansichten. In dieser Phase erlebt man zunächst eine wachsende Synchronizität zwischen Lebensrealität und Glaubensrealität.

Realität

In der dritten Phase klaffen Lebens- und Glaubensrealität immer weiter auseinander. Durch ausbleibende Gebetserhörungen, geplatzte Lebensträume, Brüche in der eigenen Biografie, Gemeindekonflikte oder die Konfrontation mit anderen Glaubensmodellen bekommt das Glaubenssystem Risse. Die Eindeutigkeit bisheriger Überzeugungen schwindet und man erlebt eine wachsende Enttäuschung, Skepsis und Ernüchterung dem Glauben gegenüber. Diese Phase ist oft mit Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen verbunden, weil man weiß, was man eigentlich glauben sollte, es wegen der Brüchigkeit des Glaubens aber nicht mehr kann.

Zynismus

Oftmals hält ein inneres Aufbäumen gegenüber Ernüchterung und Frustration eine Zeit lang an, nur um einen dann umso härter auf den Boden der Realität zu werfen. Die Fragen, die entstanden sind, und der Zweifel, der sich eingeschlichen hat, lassen sich irgendwann nicht mehr zum Schweigen bringen. Die Appelle an die erste Liebe ziehen nicht mehr, und ihr ständiges Wiederholen lässt einen nur abstumpfen. Wer dies oft genug mitgemacht hat, dessen Ernüchterung und Frustration kann am Ende so weit führen, dass nur noch ein dumpfer Zynismus Gott und dem Glauben gegenüber übrigbleibt oder der Glaube gänzlich verloren geht.

Ich plädiere mit diesem Buch für einen anderen Weg: nicht zurück zur ersten Liebe finden, sondern durch die Veränderung unseres Glaubens, das Ernstnehmen unserer Brüche, Fragen und Zweifel die Möglichkeit schaffen, dass Glaube und Leben sich synchron entwickeln. Dadurch können eine neue Liebe und eine neue Leidenschaft wachsen für einen Glauben, der wieder authentisch und im wahrsten Sinne des Wortes „glaubwürdig“ ist.

Phasen der Glaubensentwicklung

Um diese Idee der Glaubensentwicklung zu vertiefen, möchte ich ausführlicher auf die einzelnen Phasen eingehen. Gleichzeitig gebe ich ein wenig biografischen Einblick in meine eigene Glaubensentwicklung.

Realität, Skepsis, Ernüchterung, Enttäuschung, Frustration

Glaubensentwicklung

Leidenschaft

Glaubenssystem

Zynismus, Unglaube

Neue Leidenschaft

Veränderter Glaube

Phase 1: Leidenschaft

Wenn Menschen für sich den Glauben entdecken, folgt oft eine Phase großer Begeisterung und Leidenschaftlichkeit. Da statistisch gesehen der Großteil der Menschen in der Jugendzeit zum Glauben findet, ist dieses Bekehrungserlebnis oftmals mit jugendlichem Eifer und Elan gepaart. Theologie und differenzierte Glaubensvorstellungen spielen eine untergeordnete Rolle. Es geht weniger um das Verstehen als um das Praktizieren des Glaubens. Vieles in dieser anfänglichen Phase ist unreflektiert – dafür umso eifriger. Glaube wird nicht durchdacht, er wird erlebt.

Mein eigener Glaube beginnt leidenschaftlich

In meinem eigenen Leben habe ich das stark so erfahren. Obwohl ich katholisch aufwuchs und auch meine Erstkommunion und Firmung mitmachte, begegnete mir die Dynamik eines persönlichen Glaubens und christlicher Gemeinschaft erst im Rahmen einer Jugendgruppe. Durch die Einladung von Klassenkameraden ging ich mit 13 Jahren in die Jungschar, ein Angebot des CVJM (Christlicher Verein Junger Menschen). Auch wenn in der Jungschar gesungen und gebetet wurde, lag der Fokus doch auf gemeinsamen Aktionen, Spielen und Erlebnissen im Wald oder Gelände. Daneben gab es allerdings einen Bibelkreis, den ich nach kurzer Zeit ebenfalls besuchte. Die Beschäftigung mit biblischen Texten, das gemeinsame Diskutieren darüber und die lehrreichen Inputs haben mich fasziniert. Ich konnte meine Fragen loswerden und mich hat vor allem der Glaube der Leiter begeistert und angespornt. So kam es, dass ich mich kurze Zeit darauf „bekehrte“. Ich wollte ganz zu dieser Gemeinschaft und auch zu Gott gehören.

Nur ein Jahr darauf verstarb meine Mutter nach einem langwierigen Krebsleiden, und meine Jugendkreisleiter waren besorgt, was diese traumatische Erfahrung mit meinem jungen Glauben machen würde. Auch wenn dieser Tod eine starke Trauerphase ausgelöst hatte, erlitt mein Glaube keinen Schiffbruch, sondern gab mir Halt und Perspektive.

Der Heilige Geist kommt

Auf Jugendfreizeiten, die ich regelmäßig besuchte, wurde immer öfter über das Thema „Heiliger Geist“ gesprochen. Bis dahin waren mir die Themen „Heiliger Geist“, „Pfingsten“ oder „Charismatik“ gänzlich unbekannt und in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts auch nicht unumstritten. Aber weil mich Erfahrungen mit dem Heiligen Geist sehr interessierten, fragte ich offensiv nach und vertiefte mich in entsprechende Literatur und Bibelstellen. Es dauerte nicht lange, bis ich Jugendleiter und Freunde bat, für mich um die Erfüllung mit dem Heiligen Geist zu beten. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich als 16-Jähriger zu Hause an meinem Schreibtisch saß und mit ganzer Entschlossenheit und Vertrauen Gott um diese Erfüllung mit dem Heiligen Geist bat. Ich hatte die feste Erwartung, als Zeichen dieser Erfüllung auch die Gabe des Sprachenredens (Zungenreden) geschenkt zu bekommen. Und so begann ich mutig nach meinem „Amen“ in anderen Sprachen zu beten. Neben der großen Begeisterung über diese Geistesgabe kamen mir beim Mithören meines eigenen unverständlichen Plapperns doch beträchtliche Zweifel, ob ich das Ganze nicht gerade selbst produzierte. Die aufregende Erfahrung wurde durch diesen Zweifel eingetrübt. Aber ich wollte mich nicht geschlagen geben. Und so unterbreitete ich Gott folgenden Vorschlag (das ist nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen!): Ich würde die Losung der Herrnhuter Brüdergemeine, die ich normalerweise regelmäßig las, aber an diesem Tag eben noch nicht gesehen hatte, aufschlagen, und dort sollte stehen, wie mein Sprachengebet zu beurteilen war. Hatte dieses Gebet Bestand vor Gott oder machte ich es selbst? Als ich das Losungsbüchlein zur Hand nahm und die Texte für den 8. Mai 1983 aufschlug, lautete der Bibeltext folgendermaßen: „Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft, noch seine Güte von mir wendet.“ (Psalm 66,20). Und im anschließenden Gebet stand: „Nichts habe ich von mir selbst; alles ist Gabe von dir…“. Man kann sich kaum vorstellen, welche Freude und welches Erstaunen ich dadurch erlebte. Gott hatte direkt zu mir gesprochen, er hatte mich ernst genommen und mich beschenkt. Mehr noch als meine Bekehrung war dieses Erlebnis eine Art Initialzündung, die meinen Glauben mit Leidenschaft erfüllte. Die deutlichste Veränderung dieser Erfüllung mit dem Heiligen Geist war allerdings nicht das Sprachengebet, sondern eine starke Veränderung in meinem Bibellesen.

Liebe zur Bibel

Bis dahin hatte ich große Mühe in der Bibel zu lesen. Ich nutzte zu diesem Zeitpunkt einen Bibelleseplan für Teenager und versuchte, morgens nach dem Aufstehen die entsprechenden Verse und die dazugehörige Erklärung zu lesen. Das fiel mir richtig schwer. Des Öfteren bin ich dabei wieder eingeschlafen und fand es unzumutbar, mehr als fünf Verse am Stück lesen zu müssen. Nach meinem Erlebnis mit dem Heiligen Geist veränderte sich das völlig. In mir entwickelte sich ein Hunger nach der Bibel, und ich begann, sie zu verschlingen. Ich las in dieser Zeit ein Buch von Watchman Nee, einem bekannten und leidenschaftlichen Christen aus China, mit dem Titel „In Hingabe leben“. In diesem Buch schrieb er: „Unsere Hoffnung ist, dass jeder Gläubige hundertmal durch die Bibel kommen möge. Wenn jemand 50 Jahre lang Christ sein darf, muss er die Bibel mindestens zweimal im Jahr durchgelesen haben, um auf hundert Mal zu kommen.“3

Bei mir schlugen diese Worte ein wie eine Bombe! Für mich waren diese Zeilen Programm. Ich entwarf meinen eigenen Bibelleseplan, der darin bestand, jeden Tag sechs Kapitel aus dem Alten und drei Kapitel aus dem Neuen Testament zu lesen. So konnte ich die Bibel zweimal im Jahr durchlesen. Zudem hatte ich mein Taschengeld zusammengespart und konnte mir damit ein griechisches und hebräisches Wörterbuch kaufen, die mich damals mehr als 100 Mark pro Buch kosteten. Und so brachte ich mir selbst das Lesen von Griechisch und Hebräisch bei, um der Bibel in ihrer eigentlichen Sprache auf den Grund gehen zu können. Was hier vielleicht nach Pflicht und viel Arbeit klingt, hat mir unendlich viel Spaß gemacht. Wo mir vorher fünf Verse zu viel waren, stellte ich jetzt meinen Wecker jeden Morgen auf 5.40 Uhr, um dann vor der Schule meine ersten drei Kapitel zu lesen und eine halbe Stunde zu beten. Und am Nachmittag, nach dem Erledigen der Hausaufgaben, verbrachte ich nochmals zwei volle Stunden damit, die nächsten sechs Kapitel zu lesen und eine weitere Stunde zu beten.

Auch der Weg zur Schule blieb von radikaler Leidenschaft nicht verschont. Zusammen mit anderen Jugendlichen aus unserem Bibelkreis machten wir mit unseren Rädern auf halber Strecke zur Schule halt, um dort regelmäßig in einer Hütte eine Gebetsgemeinschaft zu haben. Als der katholische Priester des Ortes, der gleichzeitig unser Religionslehrer war, auf unser morgendliches Gebet aufmerksam wurde, bot er uns an, das katholische Gemeindezentrum direkt neben unserem Gymnasium für unsere Gebetstreffen vor der Schule nutzen zu können. Und es dauerte nicht lange, bis sich zum Teil 30 Personen am Morgen zum Gebet trafen: Schüler aus unterschiedlichen Klassen, der Pfarrer und weitere Personen aus der Pfarrei. Wir waren „on fire“!

Spielkarten brennen und Schallplatten zerbrechen

In diese Phase der ersten Liebe gehörte (und natürlich auch in die christlichen Vorstellungen der 1980er-Jahre), dass ich mich ganz deutlich von der Welt abgrenzen wollte. Ich war nun Teil einer anderen Gemeinschaft, war von Neuem geboren und gehörte nicht länger zu diesem „Kosmos“.

Ich mochte mich nicht an den Werken der „Nichtchristen“ beteiligen und trennte mich deshalb bewusst von allem Weltlichen. Diesem Bestreben fielen dann auch die Spielkarten meiner Familie zum Opfer, die für mich Ausdruck von etwas Okkultem waren. Sie wurden in einem feierlichen Akt auf einem Sandhügel hinter dem Jung­schargelände verbrannt. Natürlich wollte ich mich auch von aller weltlichen Musik trennen, was dazu führte, dass ich meine gesamten nichtchristlichen Schallplatten und Hörspiele, die sich so im Lauf der Jahre angesammelt hatten, zerbrach und wegwarf. Darunter waren auch das Rote, das Blaue und das Weiße ­Album der Beatles, die im Verdacht standen, per „backward masking“4 satanische Botschaften zu vermitteln (so manches dieser Alben habe ich mir Jahre später wieder angeschafft oder bin dankbar, sie heute auf Spotify vorzufinden).

Ich erinnere mich noch, wie ich in dieser Zeit dem Rektor der benachbarten Realschule eine heftige Standpauke hielt, weil er es zuließ, dass die Evolutionslehre ungebremst im Biologieunterricht vermittelt wurde. Ich erhielt Hausverbot in der Realschule. Und der evangelische Religionslehrer an unserem Gymnasium war mir ein besonderer Dorn im Auge. Seine historisch-kritische Bibelhaltung im Unterricht gefährdete in meinen Augen den Glauben, und ich rang ernsthaft mit mir, ob ich ihm nicht Einhalt gebieten müsste. Ich wollte mit ihm im Stile eines Paulus verfahren, der in der Apostelgeschichte den Zauberer Elymas als Kind des Teufels bezeichnete und ihn mit Blindheit schlug. Ich lauerte dem Religionslehrer im Schulhof auf, um dann im richtigen Moment hervorzutreten und ihn mit dem entsprechenden Fluch zu belegen. Zum Glück verließ mich am Ende dann doch der Mut. (Puh, beim Schreiben dieser Zeilen erschrecke ich auch fast 40 Jahre später noch über mich.)

Mir ist bewusst, dass nicht bei allen die Phase ihrer ersten Liebe mit einer derartigen Radikalität verbunden ist. Erste Liebe ist nicht erst dann vorhanden, wenn man die Bibel zweimal im Jahr durchliest und sich selbst Hebräisch beibringt. Es geht vielmehr um diese Anfangsphase, die ganz stark von Leidenschaft, Begeisterung und Hingabe geprägt ist. Wenn ich hier so leichtfüßig über die ersten Jahre meines Glaubens berichte, muss ich wahrscheinlich nicht erwähnen, was für ein arroganter Kerl ich in dieser Zeit war. Das Entdecken der eigenen christlichen Identität war oft verbunden mit dem Verurteilen anderer, einer stark abgrenzenden Haltung, einem elitären Denken, das oft stolz und überheblich wirkte.

Im christlichen Glauben aufgewachsen

Erste Liebe zeigt sich besonders dort, wo es ein vorchristliches Leben gibt, das durch ein Bekehrungserlebnis sein abruptes Ende findet. Der Wandel von „ungläubig“ zu „gläubig“ hat oftmals diese erste Leidenschaft zur Folge. Für manchen Christen ist es ein Schmerz, durch das Aufwachsen in einer christlichen Familie oder das Hineinwachsen in den Glauben über die ganze Kindheit hinweg nie solch ein klares Bekehrungserlebnis gehabt zu haben. Und weil sie nie einen Wechsel erlebt haben, konnte sich diese erste Liebe nicht entwickeln. Für diese Christen beginnt ihre Glaubensentwicklung oftmals mit Phase zwei, um die es im Folgenden gehen wird.

Phase 2: Glaubenssysteme

Durch das Lesen der Bibel, das Hören von Predigten, den Austausch mit anderen Christen und das Leben in einer christlichen Gemeinde entwickeln sich nach und nach klare christliche Überzeugungen. Auch ohne Theologiestudium entstehen bei jedem Christen in irgendeiner Form theologische Ansichten. Wir entwickeln ein bestimmtes Gottesbild, wir eignen uns ein bestimmtes Bibelverständnis an, wir haben klare Vorstellungen wie Gebet funktioniert, welche Bedeutung Kirche hat, wie wir das Reich Gottes verstehen, wer wirklich gläubig ist und wie genau man Christ wird. Moralische Überzeugungen entwickeln sich, wir ordnen Menschen, politische Überzeugungen oder gesellschaftliche Trends bestimmten Kategorien zu und teilen die Welt ein in gut – böse, geistlich – ungeistlich, schwarz – weiß, biblisch – unbiblisch, gläubig – ungläubig.

Gleichzeitig erzeugt dieses Glaubenssystem zusammen mit vielen Bibelstellen und Verheißungen, die man im Lauf der Zeit kennenlernt, auch bestimmte Erwartungen: z. B. dass Gott unsere Gebete erhört, alle Kranken heilt, mir ein Leben in Wohlstand ermöglicht, einen Ehepartner für mich vorgesehen hat, mein Leben klar führen möchte, dass es in unseren Kirchen keine Konflikte geben sollte, die eigenen Kinder zum Glauben finden, die Ehe gelingt oder ich mit bestimmten Geistesgaben beschenkt werde.

Und so wird im Lauf der Jahre aus der anfänglichen, oft unreflektierten ersten Liebe und Begeisterung ein Glaubensleben mit klaren Überzeugungen und Erwartungen. Diese haben sich tausendfach verfestigt durch all die Predigten, die man gehört hat, Bücher, die man las, Konferenzen, die man besuchte oder Gespräche, die man innerhalb der eigenen christlichen Kreise führte. Dieses Glaubenssystem gibt Halt, Sicherheit, bildet einen Rahmen, in dem wir uns sicher bewegen können. Es schafft Identität und ermöglicht ein Zugehörigkeitsgefühl zu all den Menschen, die mit den gleichen Überzeugungen oder Erwartungen unterwegs sind.

Über viele Jahre wurde ich persönlich von der sogenannten »Wort-des-Glaubens-Bewegung« geprägt. Vertreter wie Kenneth Hagin oder Kenneth Copeland weckten in mir die Überzeugung, dass Gottes Segen auch in materiellem Wohlstand besteht. Zudem waren Krankenheilungen nur eine Proklamation weit entfernt. Und Gott wollte alle Kranken heilen, so sicher, wie er uns die Sünden vergeben möchte. Mein Gottesbild bewegte sich zwischen den beiden Polen Liebe und Zorn. Auch wenn Gott in Jesus eine besonders liebevolle Phase hatte, durfte man doch seinen Zorn, der im Alten Testament, in der Offenbarung und dann auch wieder in der Ewigkeit den Ungläubigen gegenüber deutlich zum Ausdruck kommt, nicht aus den Augen verlieren.

Natürlich war meine Erwartung, dass Gott meine Ehe und Familie segnet. Als Pastor hatte ich den Glauben, dass Gott meine Gemeinde segnet und sie wächst. Wenn ich in jenen Tagen auf einer Pastorenkonferenz war oder prophetisch begabten Menschen begegnete, hörte ich immer wieder die gleichen Prophetien über mir. Mir wurde zugesagt, dass ich einen Heilungsdienst entwickeln würde und Gott Zeichen und Wunder durch mein Leben vollbringen wollte. All diesen Zusagen habe ich Glauben geschenkt, und sie bildeten die Grundlage meines persönlichen Glaubenssystems und meiner geistlichen Identität.

Aber es kam ganz anders …

Phase 3: Der harte Boden der Realität

Es dauert im Normalfall nicht lange, bis unsere Glaubensüberzeugungen die ersten Risse bekommen. Früher oder später landen viele Christen auf dem harten Boden der Realität. In dieser Phase stellen wir das, was wir uns erhofft haben, wovon wir überzeugt waren, was wir fest geglaubt und erwartet haben dem gegenüber, wie sich unser Leben entwickelt hat, wie es sich anfühlt und was wir mit diesem Glauben erlebt haben.

Schicksalsschläge, Brüche, Leiderfahrungen, Konflikte oder Enttäuschungen zwingen uns innerlich dazu, Geglaubtes mit dem Erlebten zu vergleichen. Obwohl sich diese Bilanz aufdrängt, ist eine gehörige Portion Mut und Ehrlichkeit nötig, diese Gegenüberstellung zuzulassen. Oft genug werden Zweifel und Fragen verdrängt, weil sie in unserem christlichen Umfeld keinen Platz haben, unser christliches Image beschädigen oder mit dem Etikett des Gefährlichen oder Ungeistlichen versehen sind.

So manche Überzeugung unseres Glaubenssystems erscheint uns auf einmal unlogisch, subjektiv oder hartherzig. Die Begegnung mit Christen aus anderen Konfessionen oder Kul­turen macht uns bewusst, dass das Lesen der gleichen Bibel zu ganz anderen Schlussfolgerungen führen kann. Als würde man langsam erwachen, stellt man mehr und mehr fest, dass sich die Dinge nicht so entwickelt haben, wie man es gedacht hatte.

Trotz jahrelanger Gebete und Gottes Verheißungen hat man immer noch keinen Lebenspartner gefunden. Auch das Gebet um eine Arbeitsstelle wurde nicht erhört, die Eheprobleme haben sich verschlimmert und die Gesundheit nicht verbessert. Trotz christlicher Erziehung haben unsere Kinder nicht den erhofften Glaubensweg eingeschlagen. Man stellt fest, dass die Bibel nicht mehr zu einem spricht und hat zunehmend Schwierigkeiten mit bestimmten gewalttätigen Bibelversen oder moralischen Aussagen, die einen früher überhaupt nicht gestört hatten.

Wo ist Gottes Hilfe? Wo ist seine Gegenwart? Warum greift er nicht ein? Warum erlebe ich nicht mehr mit ihm? Warum habe ich noch so viele Probleme? Warum zeigt der Glaube nicht mehr Wirkung? Warum ist mir vieles am Glauben fremd geworden, was mir doch einmal so vertraut war?

Wer diesen Blick auf die Realität nicht verdrängt, sondern zulässt, der erlebt schnell dieses Gefühl der Skepsis Gott oder dem Glauben gegenüber. Wenn Glauben und Leben nicht mehr zusammenpassen, wenn man nicht wirklich erlebt, was man glaubt, dann macht sich unweigerlich Zweifel breit. Aus der ersten Begeisterung wird verstörende Ernüchterung. Das Ausbleiben bestimmter Glaubenserfahrungen oder das sich nicht Bewahrheiten bestimmter Verheißungen ist eine frustrierende Erfahrung. Wer das Auseinanderklaffen von Glauben und Leben realisiert, neigt erfahrungsgemäß zu zwei gegensätzlichen Schlussfolgerungen: Entweder stimmt mit Gott etwas nicht oder mit mir. Und weil Gott die Aura des Unantastbaren hat, landen wir meist bei der Selbstanklage. Wir schämen uns, wir haben ein schlechtes Gewissen und überlegen uns, was wir falsch gemacht haben.

Hilflose Reflexe: Zurück zur ersten Liebe

Je nach Umfeld, in dem ich mich bewege, kommt es dann zu einem ganz typischen Reflex: Ich muss zurück zur ersten Liebe. Die Diskrepanz zwischen Glauben und Leben wird dahingehend diagnostiziert, dass mit mir wohl etwas nicht stimmt. Die ausbleibenden Gebetserhörungen, die fehlende Gegenwart Gottes, die Schicksalsschläge sind dann Folgen eines lauen Glaubens, eines mangelhaften Gebetslebens, fehlender Stiller Zeit, dem Zulassen von Zweifeln oder nachlassender Leidenschaft und Hingabe. Diese Diagnose wird noch biblisch untermauert durch Verse wie

Offenbarung 3,15–16: „Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ (LUT 2017) oderOffenbarung 2,4–5: „Aber ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast. Denke nun daran, aus welcher Höhe du gefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werke! Wenn aber nicht, werde ich über dich kommen und deinen Leuchter wegstoßen von seiner Stätte – wenn du nicht Buße tust.“ (LUT 2017)

Damit ist der Therapieplan erstellt: zurück zur ersten Liebe, zu glühender und heißer Leidenschaft für den Glauben. Die Gemeinde, der Pastor, die Sprecherin auf der Konferenz oder der Seelsorger appellieren an unsere erste Liebe. Diese gilt es wiederzuentdecken, wieder zum Blühen zu bringen. Damit das gelingt, muss in irgendeiner Weise die Skepsis und der Zweifel ignoriert oder zur Seite geschoben werden. Man zwingt sich wieder zur Stillen Zeit, tut Buße für die Lauheit, beschwört alte Zeiten oder sucht alte Orte der Leidenschaft auf, zeigt guten Willen und strengt sich an. Und eine gewisse Zeit lang mag das tatsächlich funktionieren.

Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass es so etwas wie Lauheit gibt, und dass Glaube einschlafen kann, ohne dass es dafür besondere Gründe gibt außer der menschlichen Bequemlichkeit. Doch oft genug hat sich gezeigt, dass der Therapieansatz: „zurück zur ersten Liebe“ nur kurzfristig Symptome bekämpft, aber das Problem nicht an der Wurzel packt. Und so vergehen ein paar Wochen oder Monate, bis man feststellt, wieder bei der gleichen Ernüchterung wie zuvor gelandet zu sein. Die Realität unseres Lebens holt uns ein, und die Frustration kommt mit voller Wucht zurück.

Aus Ernüchterung wird Zynismus

Wer dieses Spiel lange genug mitmacht und versucht, seine Ernüchterung durch die Rückkehr zur ersten Liebe zu überwinden, der landet am Ende nicht nur auf dem frustrierenden Boden der Realität, sondern rutscht manchmal noch eine Stufe tiefer in abgeklärten Zynismus hinein, in beißende Ironie dem Glauben oder Gott gegenüber. Ich habe inzwischen viele Christen kennengelernt, die diesen Therapieversuchen gegenüber resistent geworden sind. Sie sind abgestumpft und haben sich damit abgefunden, dass ihr Leben und ihr Glaube einfach nicht zusammenpassen. Sie leben einen Glauben auf Sparflamme, gerade so stark, dass es noch in den Himmel reicht. Nicht selten entwickeln sie eine Art geistliche Allergie allem Frommen gegenüber. Man möchte sich all diesen Themen und auch diesen Appellen nicht mehr aussetzen. Es tut weh, es erinnert an die tiefe innere Verzweiflung und Frustration. Also sucht man die Distanz, stumpft ab und im schlimmsten Fall kommt es am Ende zur Dekonversion, dem gänzlichen Verlust des Glaubens.

Ich kann keine Schwangere mehr sehen

In meinem Leben nahm ich die über mir ausgesprochenen Prophetien sehr ernst. Ich vertiefte mich in all die Bibelstellen, die von Krankenheilungen sprechen, und strich jede Heilung in der Bibel farblich an. Da bekommt man eine bunte Bibel. Ich lernte die entsprechenden Verse auswendig, und es verging kaum ein Tag, wo ich nicht um die entsprechende Gabe und Fähigkeit betete. Ich schrieb im Studium meine Examensarbeit über das Leben von Kathryn Kuhlman, eine phänomenale Heilungsevangelistin aus den USA im 20. Jahrhundert. Ich gab meiner Tochter den Zweitnamen Kathryn und schrieb ein Buch über das übernatürliche Wirken des Heiligen Geistes.5

Und natürlich begann ich, für Kranke zu beten. Es wurde zu meinem Mantra, für alles zu beten, was noch Atem in sich hatte. Von einfachen Kopfschmerzen bis Krebs im Endstadium habe ich zusammen mit anderen alles Gott hingelegt und ihn um sein Eingreifen angefleht. Aber als ich nach zehn Jahren Bilanz zog, musste ich ernüchtert feststellen, dass ich persönlich noch nie eine nachweisbare Heilung oder ein Wunder erlebt hatte. Andere erzählten mir von Heilungen, an bestimmten Orten schienen sie an der Tagesordnung zu sein, aber kaum tauchte ich dort auf, war es offensichtlich mit den Heilungen zu Ende. Was großen Raum in meinem Glaubenssystem einnahm, war in meiner Realität nicht einmal im Ansatz vorhanden. Dazu kamen verstörende Erfahrungen mit sogenannten Heilungsevangelisten. Bei einer Großveranstaltung mit einem bekannten amerikanischen Heilungsevangelisten in Basel waren Kommilitonen von mir als Ordner und Helfer eingeteilt. Ihnen wurde aufgetragen, genau in dem Moment die Hallenlüftung einzuschalten, wenn der Evangelist den Heiligen Geist einlud. Einen anderen Heilungsevangelisten konnten wir sogar mit einer kleinen Gruppe von Freunden privat einladen. Dort erzählte er uns von einer sehr beeindruckenden Heilung, die er in einer anderen Gemeinde bei Karlsruhe erlebt hatte. Zufällig war das genau die Gemeinde, in der ich meine Jugendzeit verbracht hatte. Als ich einen der Ältesten aus der Gemeinde anrief und mich nach dieser Heilung erkundigte, stellte sich heraus, dass alles ganz anders war und die entsprechende Person überhaupt nicht geheilt wurde, sondern später am Abend ins Krankenhaus gebracht werden musste. Ich war geschockt von diesem Maß an dreister Unehrlichkeit.