Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät - Pseudonymous Bosch - E-Book

Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät E-Book

Pseudonymous Bosch

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Beschreibung

Mensch oder Monster? Lerne das Wesen kennen, das vor über 500 Jahren in einer Flasche geboren wurde! Welche Geheimnisse hütet dieses seltsame, fürchterliche Wesen? Lies nach und finde es heraus, zusammen mit den zwei tapferen Helden Kassandra und Max Ernest. Aber Vorsicht: Dies ist ein sehr gefährliches Buch!

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Seitenzahl: 339

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Pseudonymous Bosch

Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät

Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis Zeichnungen von Sabine Völkers

Weitere Titel dieser Reihe:Der Name dieses Buches ist ein GeheimnisDieses Buch ist gar nicht gut für dichDieses Buch ist vielleicht gar kein BuchDieses Buch ist echt das LetzteDieses Buch braucht dich oder es wird nicht geschrieben

Das gleichnamige Hörbuch ist bei Arena audio erschienen

Pseudonymous Bosch ist ein Pseudonym, oder wie der Autor sagen würde (er ist nämlich ziemlich eingebildet): ein „nom de plume“. Aus Gründen, die er unglücklicherweise hier nicht offenlegen kann, die sich aber jedem leicht erschließen, der unklug genug ist, dieses Buch zu lesen, kann er seinen Namen nicht bekannt machen. Das einzige, was er bereit ist, preiszugeben, ist seine tiefe Abneigung gegen Mayonnaise.

1. Auflage als Sonderausgabe 2014 Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel „If you‘re reading this it‘s too late” bei Little, Brown and Company, Hachette Book Group USA, New York. Text Copyright © Pseudonymous Bosch © für die deutschsprachige Ausgabe: 2010 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis Umschlaggestaltung: Frauke Schneider Umschlagtypografie: knaus. büro für konzeptionelle und visuelle identitäten, Würzburg ISSN 0518-4002 ISBN 978-3-401-80034-9

www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel dreiunddreißig

Kapitel zweiunddreißig – Der bescheuerte Tisch

Kapitel einunddreißig – Der Streich am Gezeitentümpel

Kapitel dreißig – Auf See

Kapitel neunundzwanzig – Es juckt

Kapitel achtundzwanzig – Owen?

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig – Zutritt nur für Mitglieder

Kapitel fünfundzwanzig – Der unsichtbare Mann

Kapitel vierundzwanzig – Hausarrrrrrest

Kapitel dreiundzwanzig – Nachsitzen ohne Gnade

Kapitel zweiundzwanzig – Im Bus

Kapitel einundzwanzig – Drunter und drüber

Kapitel zwanzig – Max-Ernest, der Großartige

Kapitel neunzehn – Keine Geheimniskrämerei in diesem Haus!

Kapitel achtzehn – Die Klangprisma-Akte

Kapitel siebzehn – Ein kurzes Kapitel über eine kleine Sache

Kapitel sechzehn – Krauskopf

Kapitel fünfzehn – Stegreifaufgabe

Kapitel vierzehn – Rascheln oder zittern?

Kapitel dreizehn – Ein Geist wird herbeizitiert

Kapitel zwölf – Mensch, Bär oder … Monster?

Kapitel elf – Eine Spur aus Knochen

Kapitel zehn – Eine schwere Last

Kapitel neun – In der Zwischenzeit

Kapitel acht – Wie man höflich unhöflich ist

Kapitel sieben – Ein Spion hinter der Hecke

Kapitel sechs – Ein Anklopf-Witz, ein Badezimmerfenster und ein Vorschlag, der zum Kotzen ist

Kapitel fünf – Das Konzert

Kapitel vier – Das Ende

Kapitel drei – Der Schwur der Mieheg-Gesellschaft

Kapitel zwei – Das Findelkind

Kapitel eins – Der Talentwettbewerb

Anhang

FÜR ENIELEDAM, SACUL UND ILLIL

MIT BESONDEREM DANK AN XWP AHSATAN, DAFÜR, DASS ICH IHR SOCKENMONSTER STIEBITZEN DURFTE

Anmerkung des Autors

Bitte lies den Vertrag auf der folgenden Seite sorgfältig durch. Falls du dich weigerst, ihn zu unterschreiben, musst du dieses Buch leider sofort aus der Hand legen.

P. B.

Prolog

Ein Lichtstrahl bohrte sich durch die Dunkelheit

Ein Lichtstrahl zerriss die Dunkelheit

Ein Lichtstrahl zuckte – ja, das ist es! –, ein Lichtstrahl zuckte durch den dunklen Saal und warf seinen Schein auf eine wundersame Ansammlung antiker Kuriositäten:

Tarot-Karten mit kunstvollen Bildern, die altersweise Könige und lachende Hofnarren zeigten … schimmernde Lackschächtelchen aus China, mit Schnappfallen und Geheimfächern … fein ziselierte Becher aus Holz und Elfenbein, in denen man Münzen und Marmorkugeln verschwinden lassen konnte, oder auch Finger … glänzende silberne Ringe, die eine geschickte Hand ineinander verschränken und wieder lösen konnte, so leicht, als wären es Rauchkringel.

Ein Museum der Magie.

Der Lichtstrahl verharrte eine Weile auf einer leuchtenden Kristallkugel, als wartete er darauf, dass nun auf ihrer Oberfläche ein schwimmendes Bild erschiene. Dann glitt der Lichtstrahl weiter und ruhte zögernd auf einer großen Bronze-Lampe – die einstmals vielleicht einen mächtigen Dschinn beherbergt hätte.

Schließlich fiel er auf einen gläsernen Schaukasten, der ganz allein in der Mitte des Raums stand.

»Ha! Endlich!«, sagte eine Frau mit einer Stimme so kalt und schneidend wie Eis.

Der Mann, der die Taschenlampe in der Hand hielt, kicherte. »Hat nicht irgendjemand mal gesagt, die beste Methode, etwas zu verstecken, ist, es vor aller Augen offen hinzulegen? Was für ein Dummkopf. « Der Akzent des Mannes war merkwürdig und rätselhaft.

»Nun mach schon«, zischte die Frau.

Mit seiner behandschuhten Hand packte der Mann die Lampe fester und ließ sie wie eine Axt heruntersausen. Glassplitter flogen durch die Luft und eine milchig weiße Kugel kam zum Vorschein – eine riesige Perle etwa? –, die auf einem Bett aus schwarzem Samt ruhte.

Die Frau achtete nicht auf die scharfen, glitzernden Glasscherben, sondern griff mit ihrer zarten weißen Hand – die in einem zarten weißen Handschuh steckte – in den Kasten und nahm die Kugel heraus.

Sie war durchsichtig, so groß wie ein Straußenei und schien von innen zu leuchten. Ihre Oberfläche ähnelte einer Honigwabe mit vielen verschieden großen Löchern. Um die Kugel war ein dünnes Silberband geschlungen, das sie in zwei gleich große Hälften teilte.

Die Frau strich sich das weißblonde Haar aus dem Gesicht und hielt den geheimnisvollen Gegenstand an ihr wohlgeformtes Ohr. Als sie ihn drehte, gab er einen leisen Ton von sich, etwa wie eine Flasche, über deren offenen Hals der Wind streicht.

»Ich kann es ja fast hören«, sagte die Frau triumphierend, »dieses schaurige Monster!«

»Bist du so sicher, dass es noch am Leben ist? Immerhin wäre es inzwischen vier-, fünfhundert Jahre alt …«

»Ein solches Geschöpf, das erschaffen wurde, obwohl dies völlig undenkbar zu sein schien, wird man wohl kaum einfach töten können«, erwiderte die Frau, während sie weiter den Tönen des kleinen Balls lauschte.

Eine dünne rote Blutspur zog sich jetzt über den weißen Handschuh, dort, wo die Frau sich an einer Scherbe geschnitten hatte, aber sie schien dem keinerlei Beachtung zu schenken. »Aber jetzt kann er uns nicht wieder entwischen. Das Geheimnis wird mir gehören!«

Der Strahl der Lampe senkte sich nach unten.

»Ich meine, uns, mein Lieber.«

Unter der geborstenen Vitrine schimmerte eine kleine Messingtafel und darauf stand: Klangprisma, Herkunft unbekannt.

A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A A H H H ! ! !

Tut mir leid – ich kann’s nicht.

Ich kann dieses Buch nicht schreiben. Ich hab viel zu viel Angst.

Nicht um mich, oh nein. Da wo ich jetzt bin, würden mich Dr. L. und Madame Mauvais niemals finden, ganz egal wie skrupellos sie auch sind. (Du hast dieses hinterlistige Duo sicher sofort erkannt, nicht wahr? Und zwar an ihren Handschuhen.*)

Ich hatte gehofft, der Vertrag würde dich schützen, aber jetzt, da ich den Tatsachen ins Auge sehe, erkenne ich: Er reicht einfach nicht aus.

Was wenn, sagen wir mal, die falschen Leute gesehen haben, dass du dieses Buch liest? Sie werden deinen Unschuldsbeteuerungen sicher keinen Glauben schenken. Dass du nämlich wirklich rein gar nichts von dem Geheimnis weißt.

Ich bedauere, das sagen zu müssen, aber dafür, was dann passiert, kann ich keinerlei Verantwortung übernehmen.

Ganz ehrlich, mir wäre viel wohler, wenn ich über etwas anderes schreiben könnte. Etwas weniger Gefährliches.

Über Pinguine, zum Beispiel. Alle mögen Pinguine.

Nein? Du willst nichts über Pinguine wissen? Du willst Geheimnisse?

Natürlich willst du Geheimnisse. Ich will sie ja auch. Es ist nur, na ja – was, wenn ich dir verraten würde, dass ich ein klitzekleines bisschen Angst habe? Um meine eigene Haut, meine ich.

Sagen wir’s mal so: Das Monster, von dem Madame Mauvais gesprochen hat – das war nicht nur so dahingesagt. Sie meinte wirklich ein Monster.

Also wie wär’s, wenn du mir eine kleine Pause gönnst? Nur dies eine Mal.

Wie bitte – zu spät, sagst du? Du hättest schließlich einen Vertrag unterschrieben?

Herrje. Das ist ja toll. Ich dachte, wir hätten eine freundschaftliche Abmachung getroffen, und jetzt drohst du mir?

Oh, ja, sicher. Ich kenne das. Du willst über meine Späße lachen. Vielleicht auch ein paar Tränen vergießen. Aber wenn es darum geht, wirkliches Mitleid mit einem verängstigten Menschen wie mir zu haben – vergiss es! Ist es nicht so?

Leser, ihr seid doch alle gleich. Ihr seid alle, ohne Ausnahme, verwöhnt. Legt die Füße hoch und ruft, damit jemand kommt und euch neue Plätzchen bringt.

Sag jetzt nicht auch noch, dass es Schokoplätzchen sein sollen, denn dann raste ich wirklich aus.

Tut mir leid, ich hab das nicht so gemeint – diese Bücherschreiberei macht mich noch ganz verrückt.

Wenn ich ehrlich bin – ich würde mich am liebsten drücken.

Oder anders gesagt: Alles aufschieben. Vor mir herschieben. Auf die lange Bank schieben.

Ich trööödle vooor mich hiiin.

Aber du hast natürlich recht, ich mache es mir damit nur noch schwerer.

Also: Lieber gleich ins kalte Wasser springen.

Egal, wie kalt es ist.

Oder wie tief.

Oder wie viele menschenfressende –.

Es gibt nur eine Art und Weise, ein Buch zu schreiben, und das ist zu schreiben, und genau das werde ich jetzt tun …

Moment! Ich brauche noch einen Augenblick, um mich zu beruhigen.

Zwei Augenblicke.

Drei.

Jetzt. Jetzt stehe ich am Abgrund, den Federhalter in der Hand, bereit zum Sprung.

Und jetzt …

* Falls nicht, lies nach in dem Buch Kass, Max-Ernest und das Rätsel um das geheime Spa, auch bekannt unter dem Titel Kass, Max-Ernest und der Fluch der nicht ganz so alten Pyramide. Womöglich kennst du es auch unter dem Titel Der Name dieses Buches ist ein Geheimnis – ein Titel, der so irreführend ist, dass ich ihn selbst kaum gebrauche.

Hey, hast du mich etwa geschubst?!?!

Na ja, ich glaube, das war unvermeidlich.Wir alle wissen ja inzwischen, dass ich nichtsfür mich behalten kann – egal, wie gefährlichoder wie unvernünftig es auch ist.

Und wenn du es genau wissen willst:

Wenn du das liest,

ist alles zu spät.

Kapitel dreiunddreißig*

Ein schlimmer Traum

Nachts auf einem Friedhof.

In einer Berglandschaft. Nahe an einem See.

Man sieht nicht viel. Es gießt in Strömen.

Überall ist es nass. Es tropft. Und tropft.

Eine fremdartige Melodie ertönt. Sie scheint von weit her zu kommen und doch klingt sie unglaublich nah.

Wie der Gesang von Feen oder Sylphen.

Als ob tausend leise Stimmchen in unseren Ohren klängen.

Über uns flattert eine Krähe durch den Regen und verschwindet krächzend in der Dunkelheit.

Für Sekunden erhellt ein Blitzstrahl die Grabsteine zu unseren Füßen, aber sie sind schon so vom Alter verwittert, dass auf ihnen keine Spur eines Namens oder eines Datums mehr zu erkennen ist. Es sind keine Grabmäler mehr, es sind nur noch Steinbrocken.

Was sie bedecken, das ist ihr Geheimnis.

Hektisch huscht eine Maus zwischen den Steinen umher. Als wolle sie sich aus einem Labyrinth befreien. Aus einer tödlichen Falle.

Bald kommen noch mehr Mäuse hinzu. Sie kämpfen sich schwimmend durch den Schlamm. In ihrem verzweifelten Versuch zu entkommen klammern sie sich mit den Krallen aneinander fest.

Unwillkürlich fällt unser Blick auf die Stelle, von der sie zu fliehen suchen. Ein offenes Grab, auf dem ein zerborstener Grabstein liegt. Als der Blitz ein zweites Mal den Himmel erleuchtet, erkennt man die schartigen Kanten des Steins.

Der Wind trägt die fremdartige, unheimliche Melodie zu uns – bis ein Donnerschlag sie erstickt.

Während wir noch schauen, kippt der gebrochene Grabstein vornüber – und fällt mit einem klatschenden Geräusch in den Schlamm. Zurück bleibt ein klaffendes Loch. Klumpen von Lehm fliegen heraus. Ein Vulkan, der Schlamm speit.

Zuerst taucht eine Hand aus der Grube auf, dann die zweite – beide sind riesengroß. Halt suchend krallen sie sich in die nasse Erde.

Und dann: eine Nase.

Zumindest halten wir es für eine Nase, aber ebenso gut könnte es ein Blumenkohl sein …

»Kassandra …!«

Wir schauen nach unten. Eine einsame, hilflose Maus ruft uns etwas zu – ihr Ruf klingt, als käme er von weit, weit her.

»Steh auf, Kass – es ist schon spät!«

Die Stimme hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Stimme unserer Mutter …

Schaudernd hob Kass den Kopf von ihrem Kissen.

Sie war jetzt Mitglied in einer gefährlichen Vereinigung, rief sie sich in Erinnerung. Nämlich der Mieheg-Gesellschaft. Oder zumindest würde sie es bald sein. Also konnte sie sich doch nicht von so einem läppischen Traum Angst einjagen lassen.

Wie hatte doch gleich Pietro, der alte Magier, in seinem Brief geschrieben? Wenn sie und Max-Ernest erst einmal den Eid der Mieheg-Gesellschaft abgelegt hätten, dann müssten sie »der Gefahr und der Not ins Angesicht schauen«. Und sie müssten »allen Befehlen gehorchen, ohne Fragen zu stellen«.*

Wenn sie nicht einmal ihren eigenen Träumen ins Auge sehen konnte, wie sollte sie dann ihren wirklichen Feinden, Dr. L. und Madame Mauvais zum Beispiel, entgegentreten? Oder den Meistern der Mitternachtssonne?

Aber das merkwürdige Lied ging ihr einfach nicht aus dem Sinn, ja es verfolgte sie geradezu.

Immer wieder.

Jede Nacht hatte sie einen anderen Traum, aber immer kam dieses Lied darin vor.

Warum nur?

»Kassandra!«

Ihre Mutter rief sie von unten. Kass konnte zwar nicht jedes Wort verstehen, aber sie wusste genau, was ihre Mutter sagte:

Steh auf, es ist schon spät! Ich muss zur Arbeit ( … oder zum Yoga … oder zu einer Besprechung). Auf dem Herd stehen Haferflocken ( … oder Müsli auf der Anrichte … oder eine Waffel im Toaster). Denk dran, dass du heute eine Mathe- Probe hast ( … oder ein Buch vorstellen musst … oder Oboen-Unterricht hast). Ich hab dich lieb!

Zurzeit schloss ihre Mutter fast jeden Satz mit den Worten Ich hab dich lieb!. Es war wie ein Satzzeichen oder wie ein nervöses Zucken.

»Ich hab dich lieb!«

Na bitte.

Die Tür fiel ins Schloss, ihre Mutter war aus dem Haus gegangen.

Kass hatte keine Lust aufzustehen, also lag sie nur da und starrte an die Wand gegenüber.

Die Wand des Schreckens, wie ihre Mutter sie nannte.

Hunderte Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften klebten an der Wand und alle berichteten über schreckliche Unglücke oder drohende Katastrophen …

Erdbeben. Vulkanausbrüche. Tsunamis. Tornados.

Es hingen auch Bilder von Seevögeln an der Wand, deren Gefieder ölverklebt war, und von Eisbären, die dem Verhungern nahe auf schmelzenden Eisbergen standen. Von Atompilzen und Giftpilzen, von Killerbienen und tödlichen Schimmelsporen.

Auf Postern und Schautafeln konnte man lesen: WIE MAN FROSTBEULEN BEHANDELT … Der Heimlich-Handgriff … DREI ANZEICHEN FÜR EINE VERBRENNUNG DRITTEN GRADES … Das Erste-Hilfe-ABC

Und mittendrin: ein Artikel über einen Bären, der Camper in den Bergen in Angst und Schrecken versetzt hatte. BÄR ODER BIGFOOT?, lautete die Überschrift.

Die meisten Menschen – wie Kassandras Mutter zum Beispiel – würden eine solche Wand ziemlich beunruhigend finden. Auf Kass hingegen wirkte sie überaus beruhigend.

Normalerweise jedenfalls.

Als Überlebenskünstlerin wollte Kass auf das Schlimmste vorbereitet sein. Sie glaubte, sie würde alles überstehen, wenn sie nur wusste, was auf sie zukam.

Ein Hurrikan? Verbarrikadiere die Fenster. Eine Dürre? Sammle Wasservorräte. Feuer? Keine Panik. Atme möglichst keinen Rauch ein, suche einen sicheren Fluchtweg.

Aber das alles waren ja natürliche Katastrophen, und Kass fragte sich unwillkürlich, was sie täte, wenn sich jemals eine übernatürliche Katastrophe ereignen würde.

Das war das eigentlich Beunruhigende an ihren Träumen. Sie waren seltsam und irrational. Sie ergeben keinen Sinn, wie ihr Freund Max- Ernest zu sagen pflegte. (Max-Ernest redete zwar ununterbrochen, aber alles, was er sagte, war immer sehr logisch.) Ein Erdbeben war vielleicht nicht mit letzter Sicherheit vorauszusagen, aber wenigstens gehorchte es den Naturgesetzen.

In den meisten ihrer Träume kamen ein monsterhaftes Geschöpf und ein schauriger, alter Friedhof vor. Wie soll man sich auf so etwas vorbereiten?

Nicht dass Kass ernsthaft geglaubt hätte, ihre Träume würden wahr; nein, abergläubisch war sie nicht. Es war einfach nur so, dass die Träume ihr so unglaublich echt vorkamen.

»Auf diesem Friedhof muss etwas sein, was du dir wünschst«, hatte Max-Ernest sofort vermutet, als sie ihm davon erzählte. »Ein Traum ist die Erfüllung eines Wunsches. Behauptet jedenfalls Sigmund Freud. Wie findest du das?«*

»Aber warum sollte ich mir ein Monster wünschen?«, hatte Kass zurückgefragt. Max-Ernests Eltern waren Psychologen – deshalb nahm sie an, dass er sich auskannte.

»Na ja, ich weiß nicht, ob man tatsächlich behaupten kann, du hättest dir das gewünscht. Ich glaube, Träume sind wie Dinge, von denen man sich nicht eingesteht, dass man sie gern hätte. Weil man sich dann schuldig fühlt oder weil’s peinlich ist oder sonst was. Man nennt es das Unbewusste«, hatte Max-Ernest erklärt. »Ist alles ist ein bisschen verwirrend.«

Kass lag also im Bett und dachte über seine Worte nach. Sie griff unter ihr Kopfkissen und holte ein kleines ausgestopftes Ding hervor, das sie darunter versteckt hatte.

»Wer bist du? Was bist du?«

Kassandras Sockenmonster war ein kleines, kurioses Geschöpf aus alten Socken und Überbleibseln aus der Altwarenhandlung der Großväter. Kass hatte es eines Tages wie im Fieberrausch zusammengebastelt, als sie an nichts anderes mehr denken konnte als an das Wesen, das durch ihre Träume geisterte. Ihr Sockenmonster war grün und violett, sah aus wie ein Kobold und hatte eine große Knollennase, die aus den Fersen der Socke bestand, Glotzaugen aus Kronkorken und Schlappohren, die sie aus den Zungen ihrer Tennisschuhe gemacht hatte. Kass mochte die Ohren ganz besonders, sie waren fast so groß, aber längst nicht so spitz wie ihre eigenen.

Da es ganz und gar aus Altmaterialien bestand, war das Sockenmonster ein Super-Überlebenskünstler, und Kass glaubte, wenn sie es nur fest genug an sich drückte, dann gingen auch seine Überlebenskräfte auf sie über.

Manchmal jedenfalls.

Ansonsten war es einfach nur schön, das Monster an sich zu drücken*.

Vielleicht, dachte Kass, würden ihre schlimmen Träume ja aufhören, wenn erst ihr neues Leben – ihr geheimes Leben, das Leben in der Mieheg-Gesellschaft – begonnen hatte.

Wie jeder Überlebenskünstler hatte Kass sich morgens nach dem Aufstehen ein strenges Programm auferlegt. Als Erstes zog sie ihren Rucksack unter dem Bett hervor und überprüfte mit größter Sorgfalt dessen Inhalt. Der Rucksack war eine Spezialanfertigung, die ihr Pietro geschickt hatte, und er hatte ein paar besondere Vorzüge. So ließ er sich beispielsweise in ein Zelt oder in einen Fallschirm verwandeln. Trotzdem bewahrte Kass auch noch einige ihrer alten Überlebensutensilien in dem Rucksack auf, zum Beispiel Kaugummi, den man sehr gut als Klebstoff verwenden konnte, oder Traubensaft, den sie als Tinte zu benutzen pflegte.

Sie wusste nicht, welchen Auftrag ihr die Mieheg-Gesellschaft übertragen würde – alles, was sie über diese Gesellschaft wusste, war, dass es ihre Aufgabe war, das Geheimnis zu bewahren –, aber Kass war in jedem Fall bereit dazu.

Als Nächstes nahm sie jeden Winkel des Hauses unter die Lupe, um sich zu vergewissern, ob nicht vielleicht jemand, ganz gleich ob Freund oder Feind, nachts ins Haus eingedrungen war.

Sie überprüfte

1. die winzigen Flusen Zahnseide, die sie an den Griffen ihrer Schreibtischschublade angebracht hatte, damit niemand sie unbemerkt öffnen konnte,

2. die vertrocknete tote Biene, die sie eines Tages gefunden und sofort strategisch auf dem Fenstersims platziert hatte,

3. alle Fenster, Spiegel und Türen, um nachzusehen, ob nicht vielleicht jemand eine verschlüsselte Botschaft in den Staub geschrieben oder mit Zahncreme oder Rasierschaum hinterlassen hätte,

4. und noch ein paar andere Orte, die ich aber hier nicht verraten will, für den Fall, dass die Falschen dies lesen.

Erst nachdem Kass sicher sein konnte, dass im oberen Stockwerk alles war, wie es sein sollte, gestattete sie sich, nach unten zu gehen, wo sie für gewöhnlich als Erstes am Küchenschrank haltmachte. Kass hatte so eine Vorahnung, dass sie die nächste geheime Botschaft der Mieheg-Gesellschaft in einer besonders alten Schachtel mit Buchstaben-Cornflakes finden würde.

Doch als Kass an diesem Morgen die Küche betrat, stieß sie einen ganz unüberlebenskünstlerischen Überraschungsschrei aus. Die Haftmagnete am Kühlschrank waren nicht mehr an Ort und Stelle. Sie klebten nicht mehr dort, wo sie noch am Abend zuvor geklebt hatten (Kass hatte sie nach ihrer Farbe, nicht alphabetisch angeordnet); das konnte sie mühelos schon von der Tür aus erkennen.

In zwei Sätzen war Kass dort und stand nun atemlos vor dem Kühlschrank, darauf gefasst, eine verschlüsselte Nachricht zu entziffern oder zu einem geheimen Treffpunkt geschickt zu werden oder die Einzelheiten eines Auftrags zu erfahren. Oder alles drei auf einmal.

Doch dann war ihre Enttäuschung groß.

Auf dem Kühlschrank stand in Magnetbuchstaben: Hab dich lieb.

Darunter klebte ein handschriftlicher Zettel.

Bin zur Arbeit gegangen. Im Toaster ist eine Vollkornwaffel. Vergiss nicht die Exkursion zum Gezeitenbecken morgen – weißt du, wo dein Anorak ist? Ich finde ihn nicht.

M.

M stand für Mom oder Mutter. Es konnte aber auch Mel heißen. Mel war die Kurzform von Melanie, denn so hieß ihre Mutter.

Also wohl kaum ein Geheimcode.

Niedergeschlagen zerknüllte Kass den Zettel. Warum war ihre Mutter so, wie sie war?

Und wann würde sich endlich die Mieheg-Gesellschaft bei ihr melden?

* Du wirst bemerkt haben, dass ich die Kapitel dieses Buchs rückwärts zähle. So wie beim Countdown für einen Raketenstart. Oder bei einer Bombenexplosion. Mit ein bisschen Glück wird das Buch zum Schluss in die Luft fliegen. Dann muss ich es wenigstens nicht zu Ende schreiben.

* Falls du diesen Brief nicht kennst, empfehle ich dir, ihn zu lesen. Er ist in einer Geheimschrift verfasst und mit den Initialen P. B. – Pietro Bergamo – unterzeichnet. Kass und ihr Freund Max-Ernest hatten diesen Brief, der auf eine angelaufene Fensterscheibe geschrieben war, entdeckt. Aber du kannst ihn auch am Ende des letzten Kapitels meines ersten Buchs, Kass, Max-Ernest und das Geheimnis des Faulen-Eier-Gestanks, oder wie immer es auch heißt, nachlesen. Es bleibt dir überlassen, ob du das ganze Buch liest (was ehrenhaft wäre) oder ob du nur den Brief liest und dann das Buch ins Regal zurückstellst (was im Prinzip auf Diebstahl hinausläuft).

* Freud war der Erfinder des freudschen Versprechers – das ist etwas, was in der untersten Schublade des Gedächtnisses versteckt ist, und wenn man etwas Bestimmtes sagen will, dann sagt man aus Versehen das, was in der Schublade lag. Aber Schnitte – ich meine natürlich bitte – nimm alles, was dieser Freud gesagt hat, nicht ganz so wörtlich. Vielleicht meint er ja auch nur, dass ein Traum die Erfüllung eines Punsches ist!

* Ja, ich stimme dir zu. Ein knuddeliges Kuscheltier an sich zu drücken – selbst wenn es sich dabei um ein Recycling-Monster handelt –, hat mit Überlebenskunst nicht gerade viel zu tun. Wenn Kass wüsste, dass ich das erzähle, wäre sie bestimmt ziemlich entsetzt. Also bitte vergiss das sofort wieder – so wie auch alles andere, was ich noch erzählen werde.

Kapitel zweiunddreißig

Der bescheuerte Tisch

Die Xxxxxxxxx-Schule. In Xxxxx Xxxxxx. Zur Mittagspause.

Tut mir leid, aber den Namen von Kassandras Schule kann ich dir noch immer nicht verraten. Oder wo sie sich befindet. Oder wie sie aussieht. Ich kann dir eigentlich so gut wie gar nichts darüber sagen.

Nein, natürlich vertraue ich dir. Aber es besteht immer noch die Möglichkeit, dass du ohne eigenes Verschulden das Buch aus dem Fenster wirfst und es dann in die falschen Hände fällt*.

Aber so viel kann ich sagen: Es ist eine Schule, in der strenge Regeln herrschen.

Da waren zunächst die Regeln, die Mrs Johnson, die Schulleiterin, aufgestellt hatte; sie waren wirklich ziemlich streng, aber in der Regel konnte man sie verstehen. Zum Beispiel war es verboten, in den Korridoren Skateboard zu fahren oder die Unterhosen über der Kleidung zu tragen.

Aber daneben gab es noch viele andere Regeln, die nirgends aufgeschrieben waren und die niemand Spezielles aufgestellt hatte – und die überhaupt keinen Sinn ergaben.

Eine dieser sinnlosen Regeln besagte, dass man sein Mittagessen immer am selben Tisch und mit denselben Leuten essen musste; setzte man sich an einen anderen Tisch, dann konnte das nur bedeuten, dass man sich gestritten hatte oder etwas wirklich Schlimmes passiert war.

Die Tische standen in Gruppen draußen im Schulgarten, in einem Bereich, den man den Hain nannte (obwohl dort überhaupt keine Bäume standen). Am Tisch in der Mitte saßen Amber und ihre Freundinnen. Amber, ihr erinnert euch vielleicht noch, war das netteste Mädchen in der ganzen Schule und das dritthübscheste. Wenigstens sagten das alle.

Drum herum waren die anderen Tische gruppiert – wie Planeten, die die Sonne umkreisen.

Kass und Max-Ernest, ich muss das leider sagen, unternahmen wenig, um sich gegen dieses System aufzulehnen. Der Tisch, an dem sie saßen, stand am äußersten Rand des Hains und er war so bekannt, dass er sogar einen Namen hatte: der bescheuerte Tisch.

»Der Name ist Quatsch«, beschwerte sich Max-Ernest fast täglich. »Er sollte eigentlich der gescheuerte Tisch heißen, weil er für Kinder ist, die Allergien haben, und immer ganz sauber sein muss.«

»Ich vermute, die Leute finden, der bescheuerte Tisch klingt lustiger«, erwiderte Kass dann immer.

Aber sie ließ sich nicht weiter auf das Thema ein. Denn wenn Max-Ernest nicht kapierte, dass die anderen Schüler diejenigen, die am bescheuerten Tisch saßen, für, nun ja, bescheuert hielten, umso besser für ihn.

Kass hatte keine Allergien, trotzdem aß sie nur sehr wenig. Denn das Mittagessen war Teil ihres Überlebenstrainings. Alles, was sie aß, musste monatelang haltbar sein und durfte weder in einem unterirdischen Bunker noch in einer Weltraumrettungskapsel verderben. Frisches Obst kam also nicht infrage, Fruchtbonbons hingegen waren erlaubt. Sandwiches waren verboten, Instant-Nudeln waren okay.

Am allerbesten war Studentenfutter; es ersetzte eine komplette Mahlzeit.*

Heute jedoch stutzte Kass, ehe sie sich über ihre Chip-Mischung hermachte, denn obenauf lag ein handgeschriebener Zettel.

Mürrisch verzog Kass das Gesicht. Sie hasste es, wenn ihre Mutter Zettel in ihr Mittagessen legte – das war so peinlich! Ganz abgesehen davon, dass es in der Regel eine nicht sehr spaßige Liste von Dingen war, die Kass erledigen sollte.

Sie steckte den Zettel in ihren wiederverwendbaren, wasserdichten Brotzeitbeutel zurück. Sie würde ihn später lesen. Vielleicht.

Anders als Kass hatte Max-Ernest gleich mehrere Allergien. Zum Beispiel gegen Nüsse (dabei war nie ganz klar, gegen welche Nüsse er allergisch war). Dazu kam noch eine ganze Reihe von ernährungsbedingten Leiden. Aber was noch bemerkenswerter war: Er brachte stets zwei Pausenbrotpakete in die Schule mit. Eines hatte seine Mutter gemacht, das andere sein Vater. Max-Ernest war immer sehr darauf bedacht, gleichviel von jedem zu essen. Seine Eltern waren nämlich geschieden und alles in seinem Leben war entweder doppelt oder halbiert. (Als Kass ihn zum ersten Mal zu Hause besuchte, konnte sie nicht glauben, was sie sah: Das Haus war in der Mitte geteilt, jede Hälfte war anders eingerichtet und weder Vater noch Mutter betraten jemals die Seite des anderen.)

Heute allerdings hatte es Max-Ernest nicht sehr eilig, eines seiner Schulbrote zu essen.

»Hör mal, ich habe ein neues Kartenkunststück gelernt. Willst du es mal sehen?«, fragte er und war schon im Begriff, die Spielkarten auszulegen. »Es heißt Die vier Brüder.«

Max-Ernest las nun schon seit ein paar Monaten alles, was ihm über Zauberei in die Hände fiel – nicht nur Anleitungen fürs Zaubern, sondern auch über die Geschichte der Zauberei und Lebensbeschreibungen berühmter Magier. Jedes Mal, wenn Kass ihn sah, las er eine neue Geschichte von einem indischen Schwertschlucker oder einem Flohzirkus aus dem neunzehnten Jahrhundert oder er hatte einen Aufsatz dabei, in dem es darum ging, wie es einem Zauberer erstmals glückte, einen Elefanten verschwinden zu lassen.

Für das Kunststück, das er heute vorführte, nahm er die vier Buben aus dem Blatt und legte sie fächerförmig auf den Tisch. »Siehst du diese vier Buben? Sie sind Brüder und sie wollen nicht getrennt werden.«

Dann nahm er die Buben, steckte sie an verschiedenen Stellen in den Kartenstapel zurück – jedenfalls tat er so. Dann hob er die Karten ab.

»Jetzt pass auf, wie die Buben wieder zusammenkommen …«

Er mischte die Karten und zeigte Kass, wie sie wieder hintereinanderlagen – oder hintereinander zu liegen schienen. »Wie findest du das?«

Er wird besser, dachte Kass bei sich. Wenn auch nur ein bisschen.

Zugegeben, es war nicht gerade vorteilhaft, dass Max-Ernest einen großen Pickel an der Nasenspitze hatte. Mit diesem Pickel und seiner stacheligen Frisur – jedes Haar war wie immer exakt gleich lang geschnitten – sah er eher wie ein Maulwurf aus und nicht wie ein Magier.

»Ziemlich gut«, antwortete Kass diplomatisch. »Aber ich glaube, ich habe diesen Trick schon mal gesehen – nur war er damals mit Königen. Und die waren keine Brüder, sondern Freunde.«

»Das ist doch Quatsch. Vier Könige würden niemals miteinander befreundet sein – sie wären Feinde und würden sich gegenseitig ihre Reiche streitig machen. Und selbst wenn sie sich nicht streiten würden, so zweifle ich doch stark, dass sie so viele Freunde hätten. Das ist nicht sehr realistisch …«

Kass wollte ihn gerade darauf aufmerksam machen, dass bisweilen auch Brüder verfeindet sein können. Wie zum Beispiel Pietro und Dr. L. Die waren sowohl Zwillinge als auch Todfeinde. Andererseits gab es viele Leute, die vier Freunde hatten, manche sogar mehr. Amber zum Beispiel. Amber glaubte von sich, dass sie mit der ganzen Schule befreundet war.

Aber Kass entschloss sich zu schweigen. Man musste sich genau überlegen, ob man sich mit Max-Ernest auf ein Streitgespräch einlassen wollte. Es konnte nämlich gut sein, dass es dann einen ganzen Tag lang dauerte.

Tatsächlich hatte keiner von ihnen beiden viele Freunde; was das anging, hatte Max-Ernest recht. Genau genommen war Kass der einzige Freund, den Max-Ernest hatte. Und obwohl sie es ungern zugab: Max-Ernest war auch ihr einziger Freund. (Wenn man von ihrem früheren Klassenkameraden Benjamin Blake absah. Aber der ging seit diesem Schuljahr in eine andere Schule. Und er hatte auch nie viel gesagt – jedenfalls nicht viel, was man hätte verstehen können.)

»Mir wäre es lieber, du würdest für die Mieheg-Gesellschaft trainieren, anstatt dir neue Zauberkunststücke beizubringen«, sagte Kass.

»Wir wissen ja nicht einmal, was wir trainieren sollen!«, protestierte Max-Ernest ein wenig gereizt. »Außerdem, Pietro war Magier, oder etwa nicht?«

»Du meinst, er ist Magier – er lebt ja noch, erinnerst du dich?«

»Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Den Brief könnte auch ein anderer geschrieben haben, dessen Name mit den gleichen Anfangsbuchstaben beginnt. Oder jemand, der nur so tat, als wäre er Pietro. Oder vielleicht ist er ja gestorben, nachdem er den Brief geschrieben hat. Immerhin ist es schon vier Monate her. Weshalb hat sich die Mieheg-Gesellschaft nicht längst bei uns gemeldet, wo sie doch –«

Kass warf ihm einen bösen Blick zu. Sie hasste es, wenn er so tat, als wäre Pietro gestorben. Oder als gäbe es die Mieheg-Gesellschaft gar nicht. Sie hatte schon so viel Zeit damit verbracht, sich auf ihre zukünftigen Aufgaben vorzubereiten, dass sie diese Möglichkeit gar nicht erst in Betracht ziehen wollte.

»In dem Brief stand, dass Owen uns abholen würde, und das wird er auch«, sagte sie zuversichtlicher, als sie eigentlich war.

Owen hatte geholfen, sie aus den Klauen der Meister der Mitternachtssonne zu befreien. Er hatte die Gewohnheit, sein Aussehen komplett zu verändern. Monatelang hatten Kass und Max-Ernest deshalb jedes neue Gesicht eingehend geprüft. Aber niemals war ihnen auch nur ein einziger falscher Bart untergekommen, nie hatte jemand mit einem falschen Akzent gesprochen. Und man hörte auch nicht von verdächtigen Autounfällen. (Owen war ein fürchterlich schlechter Autofahrer.)

»Vielleicht ist er ja bereits da gewesen«, lenkte Max-Ernest versöhnlich ein. »Vielleicht war es so etwas wie eine Entführung. Er hat uns verschleppt und wir haben unseren Schwur auf die Gesellschaft unter Hypnose abgelegt. Und jetzt arbeiten wir unter geheimem Befehl, ohne es zu wissen …«

Kass musste lachen. Max-Ernest war wirklich jederzeit bereit, noch die unwahrscheinlichsten Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.

»War das komisch?«, fragte er überrascht.

Kass nickte.

»Was sagt man dazu?«, wunderte sich Max-Ernest und grinste.

(Zu Kassandras Leidwesen hatten Max-Ernests Ambitionen in puncto Zauberei sein ebenso abwegiges Bestreben, Komiker zu werden, nicht im Mindesten geschmälert.)

»Ist der Zettel von deiner Mutter?«, fragte Max-Ernest, um das Thema zu wechseln. Er betrachtete das Blatt Papier, das zur Hälfte aus dem Brotzeitbeutel herausschaute.

Ärgerlich zog Kassandra ihn hervor. Und das stand auf dem Zettel:

Kass, hier die Einkaufsliste für morgen:Schwarte – vom Metzger, der kein Sch sprechen kannBier (3) – aber nur das vom Bootshafen12 Pürierte MehlkartoffelnPaprika. Butter.Mutter

Als Kass den Zettel las, wunderte sie sich doch sehr. Und zwar aus mehreren Gründen:

Erstens war ihre Mutter erst am Vortag einkaufen gewesen.

Zweitens hatten sie nie Bier im Haus, geschweige denn gleich drei Flaschen.

Drittens kaufte ihre Mutter Mehlkartoffeln immer roh und nicht püriert. Das machte sie zu Hause selbst. Kass war sich gar nicht mal sicher, ob man überhaupt fertig pürierte Kartoffeln kaufen konnte.

Viertens unterschrieb ihre Mutter ihre Zettel nie mit »Mutter«. Meistens kritzelte sie nur ein »M«. Wenn sie in besonders liebevoller oder neckischer Stimmung war, verstieg sie sich mitunter auch zu einem »Mommy«. Manchmal, wenn sie Kass beweisen wollte, dass sie sie wie eine Erwachsene behandelte, schrieb sie nur kurz »Mel«.

Aber nie Mutter, nicht dass Kass wüsste.

Ein Gefühl der Erregung kitzelte Kass plötzlich in den Fußzehen, blubberte durch ihren Bauch und platzte dann aus ihrem Mund heraus:

»Hey, sieh dir das an …«, flüsterte sie Max-Ernest zu. »Das kommt von ihnen, da bin ich mir sicher. Es ist eine geheime Botschaft. Kaum zu glauben, aber sie müssen es in meinen Brotzeitbeutel gesteckt haben! Dabei lag er nur eine Stunde in meinem Schrank! Meinst du, Owen ist hier irgendwo?«

Sie sah sich um. Der Einzige, den sie nicht kannte, war ein asiatisch aussehender Junge, der am Nebentisch saß; er schloss gerade seine Gitarre an einen kleinen, tragbaren Verstärker an.

Stirnrunzelnd betrachtete Max-Ernest den Einkaufszettel.

»Glaubst du etwa nicht, dass es sich um eine geheime Botschaft handelt?«, fragte Kass. »Es muss eine sein. Der Zettel ist ganz bestimmt nicht von meiner Mom.«

»Nein, da hast du recht. Sieht aus, als ob es irgendein Code wäre. Er ist nur etwas verzwickt …«

Heimlich zog Max-Ernest ein Ding aus der Tasche, das aussah wie ein Gameboy. Pietro hatte es ihm geschickt, und dieses kleine, handliche Gerät war in Wirklichkeit ein ULTRA-Decoder II, der eigens zu dem Zweck erfunden worden war, Geheimbotschaften zu entschlüsseln. In seinem Speicher hatte er mehr als tausend Sprachen und sogar noch mehr Geheimcodes.

Unter dem Tisch richtete Max-Ernest den Decoder auf die Einkaufsliste und scannte sie.

»Merkwürdig, der Decoder entziffert gar nichts«, flüsterte er. »Wenn es wirklich ein Geheimcode ist, dann steckt jedenfalls kein System dahinter.«

Kass seufzte. Und wenn den Zettel nun doch ihre Mutter geschrieben hatte?

»Das habe ich als Preis gewonnen, als ich bei den Hundert Besten der Skelton-Schwestern aufgenommen wurde«, hörten sie eine vertraute, honigsüße Stimme.

Die Stimme gehörte Amber, die mit ihrer Freundin Veronika (das zweithübscheste Mädchen der Schule, aber nicht einmal das viert- oder fünftnetteste) vorbeiging. Soweit Kass wusste, war noch keine von beiden dreizehn. Aber irgendwie schienen sie während des Sommers um Jahre älter geworden zu sein. Es lag wohl an ihrer eng anliegenden Kleidung und an dem Glitzer-Make-up. (Kass konnte es kaum fassen, dass Mrs Johnson zuließ, dass die Mädchen so herumliefen, ganz zu schweigen von ihren Müttern.)

Amber hielt ein funkelndes pinkfarbenes Handy in die Höhe, das mit einem großen roten Herz geschmückt war. »Jedes Mal, wenn die Skelton-Schwestern einen neuen Song herausbringen, habe ich ihn gleich als Klingelton!«, prahlte sie so laut, dass man es auf dem ganzen Schulhof hörte. »Wenn ich dann in ihr Konzert gehe, kenne ich schon alle ihre Lieder. Falls ich noch reinkomme – denn es ist schon so gut wie ausverkauft.«

(Romi und Montana Skelton waren Teenager und Zwillingsschwestern; sie hatten es im Fernsehen zu einigem Ruhm gebracht und herrschten mittlerweile über ein weitverzweigtes Firmenimperium – twinheartsTMinc. –, wo alles Mögliche hergestellt wurde, angefangen von rosafarbenen Flauschrucksäcken bis zu stinkendem Lipgloss. Kass hatte eine ausgeprägte Abneigung gegen die Skeltons – nicht zuletzt deshalb, weil Amber eine ausgeprägte Vorliebe für sie hatte.)

»Hier, hör mal …« Amber drückte ein paar Tasten auf ihrem Telefon, aber bevor sie es zum Klingeln brachte, schrillte eine Rückkopplung über den ganzen Schulhof und das verzerrte Jaulen einer E-Gitarre. Es kam von dem neuen Jungen am Nachbartisch, der so tat, als wäre er Jimi Hendrix.*

Kass lachte laut auf. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können – das Kreischen unterbrach Amber genau in dem Augenblick, wo sie ansetzte, sie alle mit einem dieser entsetzlichen Skelton-Songs zu quälen.

Kass schaute zu dem jungen Gitarristen hinüber. Er zupfte auf seiner Gitarre herum und blickte dabei gedankenverloren in die Ferne, als säße er irgendwo allein in einer Garage und nicht zusammen mit Hunderten anderer Schüler auf dem Schulhof. Er war ziemlich groß gewachsen für sein Alter, und seine Haare waren wie ein dichter schwarzer Mopp, der ihm über die Augen hing. Er trug hellgrüne Tennisschuhe und ein T-Shirt mit dem Aufdruck

ALIENS OHRENSCHMERZ

Wir rocken so laut, man hört’s bis zum Mars

»Ich wette, das ist der Neue … aus Japan«, sagte Kass zu Max-Ernest. »Du erinnerst dich doch an die Durchsage von Mrs Johnson?«

Kassandras Lachen war Amber nicht entgangen.

»Hey, Kass … geht’s dir gut?«, fragte sie und blieb am Tisch stehen, nicht ohne den Gitarristen zuvor von oben bis unten zu mustern.

»Hm, ja, glaub schon …«

»Wie schön«, flötete Amber zuckersüß. »Ich hab schon befürchtet, du hättest wegen der Gitarre einen Ohrenschaden abbekommen …«

Die Richtung, die das Gespräch nahm, behagte Kass ganz und gar nicht.

»Ich nehme an, deine Ohren sind sehr empfindlich, weil sie – na ja, du weißt schon.«

»Nein, wir wissen gar nichts!«, brauste Max-Ernest auf. »Ihre Ohren sind völlig normal, Amber. Sie hört nicht mehr und nicht weniger als du.«

Wie jeder wusste, waren die Ohren Kassandras wunder Punkt. Nicht nur, dass sie groß und spitz waren wie die Ohren eines Kobolds, sie wurden auch sehr schnell knallrot, wenn Kass ärgerlich oder verlegen oder sonst wie aufgebracht war.

Oder wenn andere über sie sprachen.

Im Moment nahmen sie gerade eine dunkelrote Farbe an, die ins Violette spielte.

»Oh, hi, Max-Ernest!«, sagte Amber, als hätte sie ihn gerade eben erst gesehen. »Ich habe es wirklich nicht böse gemeint. Aber es ist echt süß, wie du sie verteidigst! Seid ihr beiden jetzt ein Pärchen?«

Max-Ernest verschluckte sich fast an den beiden völlig gleich aussehenden Karotten, an denen er gerade kaute. Dann wurde er sehr blass.

Verstohlen blickte Amber zu dem Gitarrenspieler, um zu sehen, ob er das alles auch mitbekäme. Was er aber anscheinend nicht tat.

»Wir sind kein Pärchen«, erwiderte Kass, so ruhig sie konnte, und das obwohl so viel Blut in ihre Ohren schoss, dass es sich anfühlte wie eine Feuersbrunst. (Wenn es eine richtige Feuersbrunst gewesen wäre, dann hätte sie eine Asbestdecke dabeigehabt, um sich davor zu schützen.)

»Oh, das ist zu schade. Ihr beide würdet so ein nettes Pärchen abgeben«, mischte sich Veronika ein. »Komm weiter, Am…«

Die beiden Mädchen unterdrückten ein Kichern und schlenderten davon.

»Tut mir leid, ich hab nicht auf die Lautstärkeregelung geachtet, jo!«, sagte der Gitarrenspieler und klang dabei alles andere als japanisch. Er langte nach unten, um seine Gitarre vom Verstärker zu trennen, dabei schaute er zum bescheuerten Tisch hinüber. »Ich hab gehört, Amber soll das netteste Mädchen der ganzen Schule sein. Ich hatte eben gar nicht den Eindruck.«

»Ja, das ist ein bisschen k-k-komisch, hm?«, stotterte Kass und versuchte dabei, die Haare über die Ohren hängen zu lassen (was ziemlich schwierig war, denn sie hatte die Haare zu Zöpfen geflochten.) »Egal, mach dir keine Gedanken deshalb. Ich fand es …«, sie suchte nach einem passenden Wort, »cool, wie du gespielt hast.«

»Danke«, sagte er und grinste dabei übers ganze Gesicht. »Ich bin Jo-schi. Du weißt schon, der Neue.«

»Ja, haben wir uns fast schon gedacht«, sagte Kass und hoffte inständig, ihre Ohren würden wieder ihre normale Farbe annehmen.

»Du kannst mich Jojo-schi nennen. Wenn du willst. Alle meine Freunde nennen mich so …«

»Okay. Ähm, Jojo-schi, tut mir leid, dir das so deutlich sagen zu müssen, aber ich glaube, du wirst dich gleich noch mal entschuldigen müssen …«

Kass deutete mit dem Kinn in Richtung Schulleiterin, die über den Schulhof direkt auf Jojo-schi zukam; ihr riesiger gelber Hut schwankte bei jedem Schritt.

Jojo-schi zog eine Grimasse und tat, als würde er vor Angst gleich sterben. »O-oh! War jedenfalls nett, euch kennengelernt zu haben.«

»Ja, war nett, dich kennengelernt zu haben … Oh, warte! Beinahe hätte ich es vergessen – ich bin Kass. Und das ist Max-Ernest … Sag hi, Max-Ernest.«

Sie zupfte ihren Freund am Ärmel.

»Hi, Max-Ernest«, sagte Max-Ernest, der in stummer Wut dasaß, seit Amber ihn gefragt hatte, ob er und Kass ein Pärchen wären.

Ehe Jojo-schi etwas darauf antworten konnte, stand Mrs Johnson schon an seinem Tisch.

»Aufstehen!«, kommandierte sie. »Da lang …« Sie zeigte in die Richtung, in der sich ihr Büro befand. Jojo-schi zuckte die Schultern und marschierte los, die Gitarre auf dem Rücken.

Kass sah ihm nach und fragte sich, welche Rolle diese unerwartete Verschiebung in ihrem sorgfältig geknüpften gesellschaftlichen Umfeld der Schule spielen würde. Sollte sie womöglich irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen treffen?

Plötzlich setzte sich Max-Ernest kerzengerade auf. »Ich hab’s!«

»Was?«, fragte Kass zerstreut.

»Schwarte«, sagte Max-Ernest geheimnisvoll. »Die Einkaufsliste auf dem Zettel. Da steht: Schwarte – aber nur vom Metzger, der kein Sch sprechen kann. Du hast gerade warte gesagt, das hat mich auf eine Idee gebracht. Was, wenn man bei Schwarte einfach das Sch weglassen muss?«