Wenn ein Herz nach Hause kommt - Linda Lael Miller - E-Book

Wenn ein Herz nach Hause kommt E-Book

Linda Lael Miller

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Beschreibung

Ein frecher Waisenjunge stellt Steven Creeds Leben auf den Kopf. Um dem kleinen Matt ein neues Zuhause zu geben, tauscht der erfolgreiche Anwalt seine Großstadt-Kanzlei gegen eine Ranch im beschaulichen Stone Creek. Als er dort ehrenamtlich als Strafverteidiger aushilft, bekommt er es mit der örtlichen Staatsanwältin zu tun: Melissa O'Ballivan. Sie macht ihn verrückt mit ihren Argumenten - und ihren sexy langen Beinen in High Heels. Bald fliegen nicht nur im Gerichtssaal die Funken...

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Seitenzahl: 483

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Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Umwelthinweis:

Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

Linda Lael Miller

DIE CREEDS: Wenn ein Herz nach Hause kommt

Roman

MIRA® TASCHENBUCH

Band 25637

1. Auflage: Januar 2013

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

A Creed In Stone Creek

Copyright © 2011 by Linda Lael Miller

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

EPUB-ISBN 978-3-86278-561-2

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

1. KAPITEL

Vielleicht war es sein Instinkt, der ihn weckte, vielleicht auch nur ein leichter Luftzug. Steven Creed setzte sich von der Couch auf und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Stück für Stück kehrte die Erinnerung zurück: Zimmer 6 im Happy Wanderer Motel, Stone Creek, Arizona.

Die Tür stand offen, damit die frische Landluft in den Raum wehen konnte, die in dieser Nacht Anfang Juni ziemlich kühl, aber nicht richtig kalt war. Der kleine Junge – erst seit Kurzem Stevens Adoptivsohn – hockte auf der aus Beton gegossenen Stufe vor dem Motelzimmer. Neben ihm lag sein Lieblingsplüschtier, ein Stinktier namens Fred. Das hatte er fürsorglich in eine Decke eingewickelt, während er selbst danebensaß. Die Silhouette des Jungen im silbrigen Mondlicht verriet seine schmale Statur.

Dieser Anblick schnürte Steven die Kehle zu.

Armer Bursche. Es war nicht schwer zu erraten, auf wen er wartete. Matt hatte die dunklen Haare seines Vaters und die fast ins Violette gehenden Augen seiner Mutter geerbt. Er war ein außerordentlich intelligenter, womöglich sogar hochbegabter Junge, aber das änderte nichts daran, dass er erst fünf war.

Wie sollte er verstehen, dass seine Eltern Zack und Jillie St. John für immer fort waren? Sie würden niemals zurückkehren, auch wenn er sich noch so sehr an diese Hoffnung und diesen Wunsch klammerte.

Stevens Augen brannten, und er musste angestrengt schlucken, um den Kloß im Hals zu vertreiben.

Jillian hatte vor eineinhalb Jahren den Kampf gegen eine besonders bösartige Form von Brustkrebs verloren. Zack hatte sie nur wenige Monate lang überlebt, bis die Trauer über den Verlust für ihn zu erdrückend geworden war und er sich – mehr oder weniger – das Leben genommen hatte.

„Hey, Tex“, sagte Steven und gab sich alle Mühe, unbekümmert zu klingen, während er sich auf die Kante der dünnen, durchgelegenen Matratze auf der Schlafcouch setzte. Als sie am Abend hier ihren Stopp eingelegt hatten, hatte er dem Jungen das Bett überlassen. Mit einer Hand fuhr er sich durch sein dunkelblondes Haar. „Was ist los?“, fragte er mit heiserer Stimme. „Kannst du nicht schlafen?“

Matt drehte sich zu ihm um und schüttelte nur stumm den Kopf. Wie er so in sich zusammengesunken dahockte, wirkte er noch kleiner und schmächtiger, als er ohnehin schon war.

Steven stand von seinem Nachtlager auf, er trug nur eine schwarze Jogginghose, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Barfuß schritt er über den Linoleumboden bis zur Türschwelle und ließ sich neben Matt auf der Stufe nieder. Die Luft war so kühl, dass er eine Gänsehaut bekam. Matt musste frieren, da er nur seinen Schlafanzug trug. Seufzend blinzelte Steven in die Dunkelheit, wo der murmelnde Bach entlangfloss, der das Mondlicht reflektierte. Alte knorrige Eichen säumten seinen Uferlauf, im Hintergrund schimmerten bläulich die Berge.

Als Matt sich leicht gegen ihn lehnte, ging diese Geste Steven noch mehr zu Herzen als der Anblick des Jungen.

Vorsichtig legte er einen Arm um ihn, damit er ihm nicht nur Trost, sondern auch Wärme spenden konnte. „Hast du plötzlich Bedenken, ob du in deinem Alter noch zum Rancher umsatteln sollst?“, scherzte er, wobei er dachte, dass er ein leibliches Kind nicht mehr hätte lieben können als den Sohn seines besten Freundes.

Morgen früh würde Steven bei der Bank die Dokumente unterzeichnen, die ihn zum rechtmäßigen Eigentümer von zwanzig Hektar Land machten. Darauf befanden sich ein robust gebautes, aber heruntergekommenes einstöckiges Farmhaus und eine Quelle. Davon abgesehen jedoch hatte der Flecken Erde nur wenig zu bieten. Die alten Zäune waren schon vor Jahren in sich zusammengefallen, nachdem sie jahrzehntelang im Winter dem Schnee und im Frühjahr dem Regen getrotzt hatten. Die Scheune war ebenfalls ein völlig hoffnungsloser Fall. Und dennoch strahlte dieser Ort etwas aus, das Steven auf den ersten Blick in seinen Bann geschlagen hatte.

Die kleine Ranch war einmal ein gemütliches Zuhause gewesen, und das konnte sie wieder werden, wenn man viel Arbeit in sie investierte – und noch viel mehr Geld. Zum Glück war Letzteres für Steven kein Problem, dafür gab es jede Menge anderer Dinge, die ihm Kopfzerbrechen bereiteten.

Manchmal fühlte er sich genauso verloren und verlassen wie Matt.

Der Junge verzog den Mund in dem Bemühen, ein schwaches Lächeln zustande zu bringen, was umso rührender war, weil es ihn offensichtlich große Überwindung kostete.

„Ich bin doch erst fünf Jahre und drei Monate“, antwortete er nach einer Weile auf Stevens Frage in der ihm eigenen, seltsam erwachsenen Art. „Es ist nicht zu spät, Rancher zu werden. Mein Leben hat doch gerade erst angefangen.“ Die Phase, wie ein typisches Kleinkind zu reden, hatte Matt einfach übersprungen. Bis weit nach seinem zweiten Geburtstag hatte er nicht einmal ansatzweise versucht, irgendetwas zu sagen, aber von da an waren nur noch vollständige Sätze über seine Lippen gekommen.

„Fünf Jahre und drei Monate?“, wiederholte Steven und zog grinsend eine Braue hoch. „Wenn du nicht so klein wärst, würde ich sagen, du machst mir was vor. Komm schon, gib es einfach zu: Du bist genau genommen längst Großvater und gibst dich bloß als Fünfjähriger aus.“

Der bislang eigentlich immer gut bei Matt angekommene Witz traf diesmal bei dem Jungen auf taube Ohren. Er hob nur die Schultern und seufzte tief. Dann lehnte er sich mit etwas mehr Druck gegen Stevens Seite.

„Fühlst du dich einsam?“, fragte Steven, nachdem er sich geräuspert hatte.

Matt nickte und sah ihn mit großen Augen an. „Ich brauche einen Hund“, erklärte er ernst.

Während er leise und zugleich erleichtert lachte, zauste Steven ihm die rabenschwarzen Haare. Ein Hund war ein Wunsch, den er erfüllen konnte. Bei vielem anderen dagegen hätte er passen müssen.

„Sobald das Haus fertig ist, fahren wir zum Tierheim und suchen uns einen Hund aus“, versprach er Matt.

„Gibt’s da auch Ponys?“

Die Frage erheiterte Steven. Matt versuchte aus der Zusage mehr herauszuholen, was in seinem Zustand wohl ein gutes Zeichen war.

Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Unterhaltung führten. „Du kennst unsere Abmachung, Tex“, erklärte er dem kleinen Jungen in ruhigem Tonfall. „Bevor wir Pferde halten können, brauchen wir erst neue Zäune und eine neue Scheune.“

Wieder seufzte Matt. „Das kann aber lange dauern“, warf er ein, „denn du wirst ja jeden Tag in der Stadt arbeiten.“

Steven hatte die feste Absicht, sich in Stone Creek niederzulassen und zusammen mit seinem jungen Schutzbefohlenen ein normales Leben zu führen. In seinem Fall bedeutete „normal“, dass er werktags morgens irgendwo zur Arbeit erschien und acht Stunden lang einer Beschäftigung nachging, ob er das Geld nun brauchte oder nicht.

Es war ein langwieriger Kampf gewesen, die Highschool abzuschließen, vom nachfolgenden Jurastudium und dem Examen ganz zu schweigen. Eine frustrierende Menge an Lernstörungen hatte ihm in seiner Jugend das Leben zur Hölle gemacht. Und auch wenn er diese Störungen dank umsichtiger Lehrer in den Griff bekommen hatte, hatte er dennoch einiges nachholen müssen. Bis heute kam es ihm manchmal so vor, als müsste er sich ganz besonders anstrengen.

„Ja“, bestätigte er. „Ich werde arbeiten gehen.“

„Und was ist mit mir? Wo werde ich sein, wenn du nicht da bist?“

Auch das hatten sie schon oft besprochen. Doch der kleine Kerl hatte innerhalb weniger Jahre alle Menschen verloren, die in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatten, darum musste er einfach immer wieder hören, dass Steven ihn nicht auch noch im Stich lassen würde.

„Du bleibst in der Zeit in einer Kindertagesstätte“, erklärte Steven ihm. „Jedenfalls bis zu deiner Einschulung im Herbst.“

Matt schob das Kinn ein wenig trotzig nach vorn, was Steven so an Zack erinnerte, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Zack St. John war seit der Mittelstufe sein bester Freund gewesen – ein beliebter Sportler, exzellenter Schüler und ein rundum guter und netter Kerl. Jillies Tod hatte ihn in immer tiefere Depressionen gestürzt, bis er eines Tages bei einer Fahrt mit dem Motorrad auf einer steil abfallenden Gebirgsstraße die Kontrolle über die Maschine verloren hatte.

„Kann ich nicht mit dir ins Büro gehen?“, bat der Junge leise. „Vielleicht gefällt mir die Kita ja gar nicht. Außerdem haben wir Sommer. Wer geht denn schon im Sommer dahin?“

„Viele Kinder machen das“, erwiderte Steven und stand auf. „Und vielleicht gefällt dir die Tagesstätte ja noch besser als ein 3-D-Fernseher.“ Er hielt Matt eine Hand hin. „Jetzt komm, Tex. Leg dich wieder hin. Morgen könnte ein anstrengender Tag werden, und du musst dich bis dahin ausruhen.“

Matt griff nach dem Plüschstinktier und legte die zerschlissene Decke um sich, die er nie aus den Augen ließ. Jillie hatte sie gestrickt, um ihren Sohn nach der Geburt darin einzuwickeln, als sie ihn aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht hatte. Seitdem hatte der Zahn der Zeit unübersehbar an der Handarbeit genagt.

Vermutlich war Matt zu alt, um noch dermaßen an seiner Babydecke zu hängen, doch Steven hätte es nicht übers Herz gebracht, sie ihm abzunehmen.

Also sah er dem Jungen zu, wie er aufstand, ins Zimmer zurückkehrte, einen kurzen Abstecher ins Bad machte und schließlich einsam und verlassen in der Mitte des Raums stehen blieb.

„Darf ich bei dir schlafen?“, fragte er. „Nur heute Nacht?“

„Ja, klar“, sagte Steven. „Mach’s dir bequem.“ Er schlug die Zudecke auf der ausgeklappten Couch zurück und streckte sich, während er sich bewusst machte, dass er bis zum Morgen wahrscheinlich keinen Schlaf bekommen würde.

Matt kroch zu ihm auf die durchgelegene Matratze und drehte sich eine Zeit lang hin und her, bis er die richtige Schlafposition fand.

Als Steven die Nachttischlampe ausschaltete, murmelte der Junge leise: „Danke.“

„Gern geschehen.“

„Ich hab von Mom und Dad geträumt“, erzählte Matt plötzlich, nachdem er so lange geschwiegen hatte, dass Steven schon geglaubt hatte, er sei bereits eingeschlafen. „Sie waren unterwegs, um mich abzuholen … mit einem großen roten Truck. Darum hab ich auf der Stufe gesessen, als du aufgewacht bist. Ich hab lange gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass das nur ein Traum war.“

„Ja, so was dachte ich mir schon“, entgegnete Steven, sobald er sich sicher war, dass seine Stimme nicht versagen würde.

„Sie fehlen mir sehr“, gab der kleine Junge zu.

„Mir auch“, gestand Steven ihm heiser.

„Aber wir kriegen das schon hin, oder? Du und ich? Weil wir Partner für alle Zeiten sind.“

Steven schluckte und war froh, dass es dunkel war und Matt seine Tränen nicht sehen konnte.

„Genau, Partner für alle Zeiten“, versicherte er ihm. „Und wir werden es ganz sicher hinkriegen.“

„Okay.“ Matt gähnte und war mit der Antwort offenbar zufrieden, zumindest für den Moment. Aber es würde nicht lange dauern, bis er ihn das wieder fragen würde. „Nacht.“

„Nacht“, erwiderte Steven.

Wenig später war Matt eingeschlafen, und obwohl Steven es nicht für möglich gehalten hätte, fiel er selbst schließlich auch in einen tiefen Schlaf.

Melissa O’Ballivan brachte ihren kostbaren Roadster mit quietschenden Reifen vor der Sunflower Bakery & Café im Stadtzentrum von Stone Creek zum Stehen, schob den Schalthebel in den Leerlauf und öffnete die Tür.

Es war einer dieser sonnigen Tage mit strahlend blauem Himmel, an denen man getrost das Verdeck des Wagens offen lassen konnte.

Sie zog die Handbremse an, ließ den Motor laufen und eilte in das kleine Lokal, das Tessa, die Schwester ihres Schwagers Tanner Quinn, betrieb. Zwischen den besetzten Tischen hindurch bahnte sie sich ihren Weg zum Tresen.

An sechs Tagen in der Woche bestand Melissas Frühstück aus Obstsmoothies mit einem Schuss Proteinpulver, doch fast jeden Freitag gönnte sie sich hier ihr Lieblingsgericht zum Mitnehmen: Tessas Putenbrustfilet-Sandwich mit Käse und gebratenem Eiweiß.

„Das Übliche?“ Tessa stand hinter der Theke und lachte sie an, während sie in einer Hand eine kleine braune Papiertüte hielt, aus der ein verführerisches Aroma stieg.

Auf dem Weg zu ihr wünschten mehrere Gäste Melissa einen guten Morgen, sie nickte ihnen zu und erwiderte den Gruß. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie ein Gesicht, das sie noch nicht kannte – das eines gut aussehenden Mannes mit dunkelblondem, leicht zotteligem Haar, der vor dem Tresen auf einem Hocker saß. Er trug eine schwarze Hose und ein teures Polohemd, das das intensive Blau seiner Augen betonte.

Aus einem unerklärlichen Grund stellte Melissa sich den Mann plötzlich in einer alten Jeans, abgewetzten Stiefeln und einem Hemd in jenem Westernschnitt vor, den die meisten Männer in Stone Creek bevorzugten.

Schnell schaute sie wieder weg, allerdings nicht schnell genug, wie das flüchtige Grinsen ihr verriet, das einen Mundwinkel des Fremden umspielte. Der Mann musterte sie ebenfalls. Wer ist das, wunderte sich Melissa, während sie ungeduldig darauf wartete, dass Tessa ihr das Wechselgeld herausgab.

Irgendwer auf der Durchreise sagte sie sich und steckte das Kleingeld ein, wobei ihr auffiel, dass der rätselhafte Mann nicht allein war. Auf dem Platz neben ihm hockte ein schmächtiger Junge, der einen kleinen Berg von Tessas einzigartigen Blaubeer-Walnuss-Pfannkuchen verputzte.

Sie machte auf dem hohen Absatz kehrt und sah auf ihre Armbanduhr. Ihr blieben nur noch fünfzehn Minuten bis zu ihrem Termin bei Richter J. P. Carpenter, was bedeutete, dass sie ihr Sandwich runterschlingen musste, anstatt es wie sonst freitags in Ruhe zu genießen und dabei die eingegangenen Anrufe abzuhören.

Auch ohne hinzuschauen, wusste sie, dass der Fremde ihr nachsah, als sie das Café verließ, denn sie spürte förmlich, wie sich sein Blick zwischen ihren Schulterblättern durch den dünnen Cordblazer, die weiße Baumwollbluse und den Spitzen-BH bohrte.

Draußen traf sie auf Alice McCoy, nach Melissas Meinung die älteste Politesse der Welt. Alices dreirädriges Gefährt, das an ein Golfkart mit gelbem Blinklicht erinnerte, parkte neben dem Roadster. Die Ordnungshüterin hielt einen Block in der Hand und zog die Mundwinkel missbilligend herunter, während sie etwas notierte.

„Nicht schon wieder einen Strafzettel, Alice“, protestierte Melissa. „Ich war nur für zwei Sekunden im Café, um mir mein Frühstück zu holen.“ Zum Beweis hielt sie die braune Tüte hoch. „Zwei Sekunden“, wiederholte sie.

Alice sah sie ungerührt an. „Hier ist Halteverbot. Ob zwei Sekunden oder zwei Stunden ist mir gleich. Ein Verstoß ist ein Verstoß.“ Leise schnaubend riss sie den Strafzettel vom Block und klemmte ihn unter den Scheibenwischer, obwohl Melissa so dicht neben ihr stand, dass sie ihr das Stück Papier auch in die Hand hätte drücken können.

„Sie sind die Staatsanwältin für das County“, fuhr Alice aufgebracht fort. „Sie sollten es besser wissen. Und den Motor lassen Sie auch noch laufen. Eines Tages wird jemand Ihren Wagen stehlen, junge Dame, und dann möchte ich Ihr Geschrei nicht hören.“

Seufzend nahm Melissa den Strafzettel an sich und steckte ihn in die Jackentasche. „Wir sind hier in Stone Creek, Arizona“, hielt sie dagegen. Auch wenn sie wusste, dass sie diese Diskussion nicht gewinnen konnte, musste sie es dennoch versuchen. Immerhin war sie Anwältin – und dazu eine O’Ballivan. „Nicht in New York.“

„Das Verbrechen lauert überall“, konterte Alice. „Wenn Sie mich fragen, die ganze Welt wird noch vor die Hunde gehen. Aber Ihnen muss ich das ja nun wirklich nicht sagen.“

Melissa gab es auf, stieg in ihr Auto und stellte die Papiertüte auf ihre Aktentasche, die auf dem Beifahrersitz lag. Dann fuhr sie zu dem flachen Ziegelsteinbau, in dem sich nicht nur das Gericht befand, sondern auch die Zulassungsstelle, das Gefängnis und das Büro des Sheriffs. Sie parkte den Wagen auf ihrem Stammplatz im Schatten einer altehrwürdigen Eiche und eilte nach drinnen, wobei sie sich ihre Handtasche, die Aktentasche und die Tüte mit dem kälter werdenden Sandwich kurzerhand unter die Arme klemmte.

Ihr offizielles Büro, das kaum größer war als das ihrer Assistentin Andrea, ging vom selben Korridor ab wie der einzige Gerichtssaal und die beiden kleinen Zellen, in denen jedoch nur selten einmal Gefangene untergebracht wurden.

Für ihre neunzehn Jahre trug Andrea zu viel Lidschatten. Außerdem kaute sie unablässig Kaugummi, aber sie war in der Lage, eingehende Nachrichten zu notieren und Telefonate zu erledigen. Und da ihre Arbeitsplatzbeschreibung nur diese beiden Punkte umfasste, hielt Melissa es für angebracht, ihre Meinung für sich zu behalten.

Sie hetzte an Andreas Schreibtisch vorbei und stieß mit dem Ellbogen die Tür auf, da sie die Hände voll hatte. Dabei bemerkte sie, wie ihre Assistentin das Schauspiel mitverfolgte, allerdings keine Anstalten machte, ihr zu helfen. Melissa stellte die braune Sandwichtüte auf den Schreibtisch und packte die Aktentasche und ihre Handtasche auf die kleine Couch vor der Wand, an der ihre Diplome und zahllose Familienfotos hingen. In dem kleinen Badezimmer neben ihrem Büro wusch sie sich die Hände und griff anschließend hungrig nach der Papiertüte.

Andrea kam ins Büro geschlendert und ließ eine Kaugummiblase platzen. In einer Hand hielt sie ein Blatt mit aufgeklebten rosa Telefonnotizen. Ihre langen Fingernägel waren – soweit Melissa das auf diese Entfernung erkennen konnte – mit winzigen Totenschädeln und gekreuzten Knochen verziert. Ein Funkeln legte die Vermutung nahe, dass außerdem winzige Strasssteine mit eingearbeitet worden waren.

Die junge Frau trug ihr volles rötlich braunes Haar kurz geschnitten. Ihr Outfit bestand aus einer schwarzen Jeans und einem T-Shirt mit einem Motorradlogo.

„Wir sollten uns wirklich einmal darüber unterhalten, wie Sie sich kleiden, Andrea“, meinte Melissa seufzend, ließ sich in ihren Sessel sinken und fasste in die Papiertüte.

„Heute ist Freitag, und da dürfen wir was Lässiges tragen“, betonte Andrea in einem leicht trotzigen Tonfall, wobei sie sich mit dem Zettel voller Telefonnotizen kühle Luft zufächelte. Ihr Blick wanderte über Melissas teure Hose, die Bluse und den Blazer, schließlich schüttelte sie den Kopf. „Oder haben Sie das schon vergessen?“

Obwohl das Sandwich inzwischen fast kalt war, schmeckte es immer noch fantastisch.

„Gibt es Kaffee?“, fragte Melissa vorsichtig, nachdem sie den ersten Bissen heruntergeschluckt hatte.

Andrea sah sie verwundert an. „Woher soll ich das wissen? Als Sie mich eingestellt haben, haben Sie mir gesagt, dass es nicht meine Aufgabe ist, für Kaffee zu sorgen. Ich soll nur die Ablage machen und ans Telefon gehen und dafür sorgen, dass Sie alle Nachrichten bekommen.“

Frustriert verdrehte Melissa die Augen. „Apropos … Nachrichten. Irgendwas Besonderes?“, hakte sie nach.

„Nur der übliche langweilige Kram“, erwiderte ihre Assistentin und präsentierte ihr die Telefonnotizen.

Während sie weiter ihr Sandwich aß, überflog sie die Liste mit den eingegangenen Anrufen. Ihre Zwillingsschwester Ashley hatte angerufen. Sie war mit ihrem Mann Jack gerade in Chicago, um bei einem Familientreffen mit ihrer reizenden zweijährigen Tochter anzugeben.

Unterdessen kümmerte sich Brad, der ältere Bruder von Ashley und Melissa, um Ashleys Katze Mrs Wiggins. Allerdings waren da auch noch die älteren Gäste in dem Bed & Breakfast, das Ashley gehörte. Und ihre Zwillingsschwester zählte darauf, dass Melissa einmal am Tag dort vorbeischaute und sich vergewisserte, ob die Meute noch wohlauf war. Da es sich bei einem von ihnen um einen Koch im Ruhestand handelte, kümmerte er sich auch um die Verpflegung.

Die zweite Nachricht kam von der Sprechstundenhilfe ihres Zahnarztes. Die halbjährliche Kontrolluntersuchung und eine Zahnreinigung standen an.

Der dritte Anruf betraf die Biografie, die sie vergangene Woche bestellt hatte und die nun in der Buchhandlung drüben in Indian Rock eingetroffen war.

„Manchmal frage ich mich, wie ich diesen Druck von allen Seiten eigentlich ertrage“, meinte sie ironisch, als sie bereits nach der Hälfte des Sandwiches satt war und den Rest ihres Essens zurück in die Tüte steckte, die sie dann in den Papierkorb warf.

„Druck?“ Andrea sah sie verständnislos an.

„Schon gut, vergessen Sie’s“, sagte Melissa resigniert.

In diesem Moment betrat ein strahlender Richter Carpenter ihr Büro. Er trug einen Sommeranzug, der mindestens seit dreißig Jahren aus der Mode war. Seine Haare bildeten einen wilden grauen Wirbel, und seine blauen Augen funkelten spitzbübisch.

Er erinnerte Melissa immer ein wenig an den Schauspieler Hal Holbrook, der Mark Twain darstellte.

Andrea trat unauffällig den Rückzug aus dem Büro an, während Melissa bemerkte, dass J. P. zwei Tassen mit dampfendem Kaffee in den Händen hielt.

„Gott segne Sie“, rief sie ihm zu, woraufhin er einen Schritt nach vorn machte und mit dem Schuhabsatz die Tür hinter sich zuwarf. Anschließend stellte er ihr eine Tasse hin und nahm ihr gegenüber Platz.

„Er ist hier“, begann er ohne Einleitung, wie es so seine Art war.

„Wer?“, fragte Melissa irritiert, wobei sie den Richter über den Rand ihrer Tasse hinweg anstarrte.

J. P. lehnte sich ein wenig vor und erwiderte vertraulich: „Steven Creed.“

Plötzlich musste sie an diesen wahnsinnig gut aussehenden Mann denken, der ihr im Sunflower aufgefallen war. Er und der kleine Junge waren vermutlich die einzigen Menschen in der ganzen Stadt, die sie nicht kannte.

Sie war auf einer Ranch am Rand von Stone Creek aufgewachsen. Abgesehen vom College, der Universität und einer kurzen Phase, in der sie für den Staatsanwalt von Maricopa County tätig gewesen war, hatte Melissa ihr ganzes Leben hier verbracht. Wenn sie also alle Leute ausschloss, die sie kannte, dann blieb nur noch …

„Oh“, sagte sie. „Richtig. Steven Creed.“

Es hieß, Creed sei ein entfernter Verwandter des McKettrick-Clans drüben in Indian Rock und er sei im Begriff, das alte Anwesen der Emersons zu kaufen, das an die Stone Creek Ranch angrenzte. Letztere hatte sich der Rinderzucht verschrieben und war seit mehr als einem Jahrhundert im Besitz von Melissas Familie. Ihr Bruder Brad lebte dort mit seiner Frau Meg, einer geborenen McKettrick, und der rasch größer werdenden Familie.

„Er hat den Laden neben der Reinigung angemietet“, fuhr J. P. fort. „Er ist Anwalt, wie Sie wissen, und wie ich gehört habe, wird er in Kürze sein Firmenschild draußen aufhängen.“

„Stone Creek könnte einen guten Anwalt gebrauchen“, entgegnete Melissa, die an dem Thema nur wenig Interesse hatte. Hatte sich J. P. etwa deshalb heute Morgen mit ihr treffen wollen? Um ihr zu erzählen, was er über Steven Creed wusste? „Seit Lou Spencer in Rente ist, müssen die Leute bis nach Flagstaff oder Indian Rock fahren, wenn sie einen Anwalt brauchen.“

J. P. trank laut schlürfend einen Schluck Kaffee. „Wie es heißt, plant Mr Creed, seine Dienste kostenlos anzubieten. Rechtsvertretung für Leute, die sich keinen Anwalt leisten können, und so weiter.“

Das ließ Melissa aufhorchen. Stone Creek war nicht gerade eine Brutstätte der Kriminalität, aber es gab regelmäßig Kläger und Beklagte zu vertreten. Immer wieder kam es zu Streitigkeiten, was den Grenzverlauf zwischen den Grundstücken oder Wasserrechte anging, und Sheriff Parker erwischte gelegentlich einen betrunkenen Autofahrer. Außerdem schienen ein paar Jugendliche in der Stadt geradewegs auf eine Karriere hinzuarbeiten, die sie mit dem Gesetz in Konflikt bringen musste.

„Interessant“, murmelte Melissa, die ein leichtes Unbehagen verspürte, das sie aber nicht näher bestimmen konnte, da es mit irgendeiner schemenhaften Erinnerung zu tun hatte. Was Mr Creed anging, neigte sie persönlich dazu, selbst ernannten Wohltätern mit Skepsis zu begegnen, denn aus eigener Erfahrung wusste sie, dass die meisten von ihnen bestimmte Absichten verfolgten. Gleichzeitig freute es sie, dass Steven Creed sich nicht nur auf Durchreise befand, um sich irgendwo niederzulassen, wo es angesagter war, zum Beispiel in Scottsdale oder Sedona.

Ihr fiel das Kind ein, das mit dem pechschwarzen Haar wie das absolute Gegenteil zu Creed aussah, dessen Locken eher die Farbe von Karamell hatten.

„Der Junge muss dann wohl nach der Mutter kommen“, überlegte sie laut.

„Der Junge?“, wiederholte J. P. verwundert, dann ging ihm ein Licht auf. „Ach so, der Junge. Er heißt Matthew, ist fünf Jahre alt und adoptiert.“

Es erstaunte Melissa, dass J. P. so viel über Creed wusste, doch dann fiel ihr ein, dass Carpenters jüngste Tochter Elaine nach ihrer Scheidung vor zwei Jahren nach Stone Creek zurückgekehrt war und die Creekside Academy eröffnet hatte, eine private Vorschule, die das ganze Jahr geöffnet war. Zweifellos hatte Creed den Jungen dort angemeldet, und Elaine hatte ihrem Vater alles darüber brühwarm weitererzählt.

„Und es gibt keine Mrs Creed“, fügte J. P. noch hinzu.

Laut Elaine – sie und Melissa waren gemeinsam zur Schule gegangen – saß ihr Vater ihr seit der Scheidung und der Rückkehr in ihre Heimatstadt damit im Nacken, dass sie häufiger ausgehen, mehr unter Leute kommen und sich einfach öfter verabreden sollte. „Als ob es in Stone Creek von Singles nur so wimmeln würde“, hatte Elaine ihr erst vor ein paar Tagen gesagt, als sie sich im Drugstore über den Weg gelaufen waren.

Melissa, die seit über einem Jahr kein Date mit einem Mann mehr gehabt hatte, konnte nur zu gut mit Elaine mitfühlen. Ob Ashley, Olivia oder Brad – einer der drei ging ihr ständig damit auf die Nerven, öfter auszugehen, um die wahre Liebe zu finden. Dabei hatten ihre Geschwister alle gut reden, Brad war mit Meg zusammen, Olivia mit Tanner und Ashley mit Jack. Die unausgesprochene Frage schien zu lauten: Was stimmt mit dir nicht, Melissa? Wann wirst du dich endlich aufraffen, um dir einen Mann zu schnappen?

Ihr Stirnrunzeln bemerkte J. P. aber entweder nicht, oder er ignorierte es absichtlich. Er stand auf und warf seinen leeren Pappbecher mit dem Schwung eines deutlich jüngeren Manns in den Papierkorb. Während seiner Zeit auf der Highschool und am College war Carpenter ein Basketball-Star gewesen, hatte sich jedoch für eine Karriere als Anwalt entschieden. „Okay“, meinte er gut gelaunt. „Dann erkläre ich unsere Besprechung hiermit für beendet.“

„Das war eine Besprechung?“, wunderte sich Melissa, die am liebsten gesagt hätte: Ich schlinge ein halbes Sandwich runter, das ich mir nur einmal in der Woche gönne, nur damit Sie mir erzählen, dass Steven Creed Single ist?

„Ja“, antwortete er. „Und jetzt werde ich zum Angeln fahren, glaube ich.“

Lachend und kopfschüttelnd sah sie ihm nach. Kaum war J. P. gegangen, tauchte Sheriff Tom Parker in der Tür zu ihrem Büro auf. Er war ein großer, schlanker Mann mit dunklen Haaren und einer für gewöhnlich recht ernsten Miene.

„Hi“, begrüßte er sie.

„Hi.“ Melissa lächelte ihn an. Sie und Tom waren alte Freunde, aber nicht mehr als das. Auf seine etwas raue Art war er durchaus gut aussehend, wenn auch ein wenig schüchtern. Vor Jahren hatte er sich von seiner Jugendliebe Shirleen scheiden lassen. Jeder in Stone Creek wusste, dass er hoffnungslos in Tessa Quinn verliebt war, seit sie die Sunflower Bakery betrieb – wirklich jeder wusste das, nur Tessa nicht.

„Ich wollte dich nur daran erinnern, dass Byron Cahill heute aus dem Gefängnis entlassen wird.“

Eine Gänsehaut lief über Melissas Rücken. Vor zwei Jahren war Cahill noch ein Teenager gewesen. Und eines Samstagnachmittags hatte er reichlich Drogen geschluckt und dazu erhebliche Mengen Alkohol konsumiert. In diesem Zustand hatte er die Idee, den Wagenschlüssel seiner Mutter zu stibitzen und eine Spritztour zu machen. Sie nahm allerdings ein jähes Ende – mit tödlichen Folgen für die fünfzehnjährige Chavonne Rowan auf dem Beifahrersitz. Als bei dem „geborgten“ Wagen in einer viel zu schnell genommenen Kurve ein Reifen platzte, durchbrach das Fahrzeug die Leitplanke und stürzte eine steile Klippe hinunter in den Stone Creek. Der Wagen knallte mit der Frontpartie auf das Flussbett, kippte um und ging unter. Zwei Angler retteten Byron aus dem Wrack. Er kam mit ein paar Schnittwunden und Prellungen davon, während Chavonne bei dem Aufprall ums Leben gekommen war.

Byron wurde festgenommen, als er das Krankenhaus in Flagstaff verließ, in das man ihn nach dem Unfall vorsorglich gebracht und ihm eine einwöchige Entgiftung verordnet hatte. Melissa hatte vor Gericht durchgesetzt, dass der junge Cahill nicht lediglich nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wurde, auch wenn seine Mutter unter Tränen protestierte und beteuerte, er sei doch ein guter Junge, der nur manchmal ein wenig über die Stränge schlage. Doch Melissa hatte ihn die ganze Härte des Gesetzes spüren lassen.

Es war ein voller Erfolg für sie gewesen. Byron wurde wegen Totschlags mit bedingtem Vorsatz verurteilt und in ein Gefängnis nahe Phoenix gebracht, wo er seine Strafe absitzen musste – etwas mehr als achtzehn Monate.

Seine Mutter Velda Cahill, die Motelzimmer putzte und als Kellnerin arbeitete, um über die Runden zu kommen, ließ keine Gelegenheit aus, Melissa vorzuhalten, auf was der arme Byron alles verzichten musste, nur weil eine „arrogante O’Ballivan“ allen hatte zeigen wollen, dass man sich mit der neuen Staatsanwältin besser nicht anlegte.

Velda tat ihr leid, und darum hielt sie ihr im Gegenzug auch nie vor, worauf Chavonne Rowan alles verzichten musste – nämlich auf den Rest ihres Lebens. Ganz zu schweigen von Chavonnes Eltern, die den Verlust bis heute nicht verarbeitet hatten.

Tom ballte die Hand zu einer lockeren Faust und tippte mit den Knöcheln leicht gegen den Türrahmen, um Melissa auf sich aufmerksam zu machen, deren Gedanken durch das Geräusch prompt ins Hier und Jetzt zurückkehrten.

„Pass gut auf dich auf“, warnte er sie. „Wenn Cahill dich auch nur schief ansieht, sag mir Bescheid, und zwar sofort.“

Sie zwinkerte ein paarmal, dann brachte sie ein Lächeln zustande. „Ich glaube nicht, dass er tatsächlich nach Stone Creek zurückkehren wird. Es ist ja schließlich nicht so, als würde die Stadt zu seinen Ehren eine Parade veranstalten.“

Zwar versuchte Tom das Lächeln zu erwidern, aber es wirkte nicht überzeugend. „Ich glaube, Cahill ist der Typ, der wieder bei seiner Mutter einzieht und sich von ihr durchfüttern lässt, solange sie das mitmacht. Und du kennst ja Velda. Sie würde ihr armes, kleines Baby niemals in diese kalte, grausame Welt hinausschicken.“ Nach einer kurzen Pause klopfte er noch einmal gegen den Rahmen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und wiederholte: „Pass gut auf dich auf.“

„Das werde ich“, versicherte sie ihm. Sie hatte weder vor Byron Cahill noch vor irgendwem sonst Angst.

Tom zögerte einen Moment. „Apropos Parade …“

In der Zwischenzeit hatte Melissa sich einer ihrer Akten gewidmet und sah nun auf, als sie ihn reden hörte. Dabei merkte sie, dass sie Kopfschmerzen bekam. „Das war nur im übertragenen Sinne gemeint, Tom“, erklärte sie geduldig.

„Nächsten Monat finden die Stone-Creek-Rodeotage statt“, fuhr er fort. „Tante Ona ist wegen ihrer Probleme mit der Gallenblase aus dem Paradenkomitee ausgetreten. Du weißt, sie hat das dreißig Jahre lang gemacht. Damals waren wir beide noch Babys.“

Melissa ahnte, worauf er hinauswollte, und wusste längst, was als Nächstes kommen würde. „Hör mal, Tom“, erklärte sie eindringlich und lehnte sich dabei vor, während sie die Hände faltete und auf den Schreibtisch legte. „Ich bin eine gute Bürgerin, ich bin eine gewählte Vertreterin der Bürger dieser Stadt. Ich gehe zu jeder Wahl, ich zahle meine Steuern, und darüber hinaus komme ich meiner Bürgerpflicht nach, indem ich dafür sorge, dass alle Verbrecher in der Stadt und im County vor Gericht gestellt werden. Du kannst mir glauben, wenn ich sage, dass ich mit Ona und ihrer Gallenblase mitfühle.“ Sie machte eine kurze Pause. „Aber das bedeutet nicht, dass ich dem Komitee beitreten werde.“

Toms Wangen färbten sich rot, und er räusperte sich. „Um ehrlich zu sein … wir hatten eigentlich gehofft, du würdest sogar die Leitung übernehmen.“

Wieder dachte Melissa an ihre Geschwister. Olivia, die Tierärztin, schien eine Verwandte von Dr. Doolittle zu sein, da sie sich auf irgendeine sonderbare telepathische Weise mit den Tieren verständigen konnte. Sie kümmerte sich neben ihrer Praxis um die Leitung des hochmodernen örtlichen Tierheims und leitete auch noch die dazugehörige Stiftung.

Ashley widmete sich ständig irgendwelchen Wohltätigkeitsveranstaltungen, für die sie Spenden sammelte. Und ihr Bruder Brad hatte es zum Superstar unter den Countrymusikern geschafft, auch wenn er seit seiner Heirat mit Meg McKettrick mehr oder weniger im Ruhestand war. Seine Vorliebe war es, äußerst großzügige Schecks für jeden guten Zweck auszustellen, den er für unterstützenswert hielt. Außerdem gab er von Zeit zu Zeit Konzerte, deren Einnahmen er Bedürftigen stiftete.

„Du redest mit der falschen O’Ballivan“, entgegnete sie, auch wenn sie sich wie ein Drückeberger fühlte. Ihre Geschwister übertrieben es ganz einfach mit der Wohltätigkeit, was sie selbst in ein schlechtes Licht rückte. „Frag lieber Olivia … oder Ashley. Oder noch besser: Lass dir von Brad eine Parade kaufen.“

„Olivia hat keine Zeit, Ashley ist nicht in der Stadt, und Brad hat mit der Stone-Creek-Ranch alle Hände voll zu …“

„Nein“, unterbrach Melissa ihn. „Ich meine das ganz ernst. Ich tauge nicht dazu, eine Parade zu organisieren. Ich habe Dutzende Festumzüge gesehen, hier in der Stadt, im Fernsehen und im Kino, aber das sind auch schon alle Erfahrungen, die ich vorweisen kann. Ich wüsste nicht mal, wo ich anfangen sollte.“

„Meinst du etwa, Tante Ona war eine Expertin für Paraden, als sie den Job übernommen hat? Von wegen. Sie hat einfach die Ärmel hochgekrempelt und sich in die Arbeit hineingekniet. Was sie wissen musste, hat sie dabei gelernt.“

„Es muss doch noch irgendjemanden geben, der das übernehmen kann“, wandte Melissa ein.

Doch Tom schüttelte energisch den Kopf. „Wir haben das Komitee, das sich um das leibliche Wohl kümmert, und das für die kunsthandwerkliche Ausstellung und für die Kirmes. Jeder ist schon irgendwo als Freiwilliger eingespannt, anderweitig beschäftigt oder derzeit nicht in der Stadt.“

Trotzig schob sie das Kinn vor. Zugegeben, sie bekam allmählich ein schlechtes Gewissen; das bedeutete allerdings nicht, dass sie nachgeben würde.

Aus dem Vorzimmer hörte sie Andrea irgendjemanden fröhlich begrüßen. Im nächsten Moment bemerkte Melissa eine sonderbare Anspannung in der Luft, wie eine elektrisch aufgeladene Atmosphäre kurz vor einem Sommergewitter.

„Dann werdet ihr die Parade wohl absagen müssen“, gab sie schließlich zurück.

Kaum hatte sie das gesagt, da stürmte der kleine Junge, den sie morgens im Café gesehen hatte, in ihr Büro.

Er sah zuerst Tom und dann Melissa an. In seine tiefblauen Augen trat ein Schatten, seine Unterlippe zitterte.

„Die Parade fällt aus?“, fragte er ungläubig.

2. KAPITEL

Steven war nicht schnell genug, als er versuchte, Matt davon abzuhalten, durch die geöffnete Tür in das Büro dahinter zu laufen. Als er ihn endlich zu fassen bekam, war der Junge schon so weit vorgedrungen, dass Steven die ausgesprochen scharfe Frau erblickte, die am Schreibtisch saß – dieselbe Frau, die ihm schon heute Morgen im Café aufgefallen war.

Als sich ihre Blicke trafen, fühlte Steven sich, als würde er irgendwo aufprallen. Einen Moment rechnete er fast damit, dass die Wände weggesprengt würden, die Decke einstürzte und Flammensäulen aus dem Boden aufstiegen wie in einem apokalyptischen Actionfilm.

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