Wenn Gott zum Aufbruch ruft - Daniela Mailänder - E-Book

Wenn Gott zum Aufbruch ruft E-Book

Daniela Mailänder

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Beschreibung

Vom Geschenk, nicht dazuzugehören! »Ich liebe es, Pionierin zu sein: den Aufbruch zu starten, den Istzustand weiterzuentwickeln, die Zukunft vorzubereiten. Das beflügelt mich - und es schmerzt! Denn genau deswegen gehöre ich oft nicht richtig dazu. Ich bin die, die die anderen zum Weitergehen bringen will, die sieht, wo es noch Entwicklungsbedarf gibt. Kennst du das? Dann ist das mein Weckruf für dich: Tritt hervor! Es ist nicht nur Schmerz, sondern vor allem Gottes Geschenk an dich, nicht dazuzugehören! Stell dich deiner Berufung, die Veränderung zu sein, die Gott für diese Zeit hat! Bist du bereit für den Aufbruch?«

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Seitenzahl: 258

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Daniela Mailänder

WENN GOTT ZUM AUFBRUCH RUFT

Von Mut und von der Unsicherheit als Chance

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-41727-026-6 (E-Book)

ISBN 978-3-417-00013-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2022 SCM R.Brockhaus in der

SCM Verlagsgruppe · Max-Eyth-Str. 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

BasisBibel. © 2021 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Weiter wurden verwendet:

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen

Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten. (NGÜ)

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)

Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (GNB)

Elberfelder Bibel 2006, © by SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten. (ELB)

Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel. (HFA)

The Message. The Bible in Contemporary Language, übersetzt von Eugene H. Peterson, NavPress 2017

Lektorat: Mirja Wagner, www.lektorat-punktlandung.de

Autorenfoto: © @madebyselina

Umschlaggestaltung: Astrid Shemilt // Büro für Illustration & Gestaltung,

www.astridshemilt.com

Titelbild: Eberhard Grossgasteiger, unsplash.com

Satz: Kathrin Spiegelberg, www.spika-design.de

Fotos im Innenteil: Esther Meinel-Zottl, www.esthermeinelzottl.com

INHALT

ÜBER DIE AUTORIN

ZUM START Einladung in die Wildnis

KAPITEL 1 In der Wildnis – Der Ort, der uns an unsere Berufung führt

KAPITEL 2 Erste Erkundung der Fremdheit – Wie heilige Unzufriedenheit uns antreibt und lockt und wir wahre Zugehörigkeit erleben

KAPITEL 3 Es ist ein Geschenk, nicht dazuzugehören – Unsere Einzigartigkeit ist unsere Bestimmung!

KAPITEL 4 Trainingseinheiten für die Wildnis – Wie wir wachsam werden, Unsicherheit zur Chance wird und Vertrauen wächst

INTERVIEW mit Bettina Becker, einer Pionierin: »Man hat mehr Möglichkeiten, als man denkt.«

KAPITEL 5 Unterwegs in der Wildnis – Eine Spiritualität finden, die sich auf dem Weg bewährt

KAPITEL 6 Der Tanz am Feuer – Hineinfinden in unsere Identität als Kinder Gottes

KAPITEL 7 Starker Rücken und wild-weiches Herz – Eine starke Haltung entwickeln, ohne dabei hart zu werden

KAPITEL 8 Die Wurzelspitzen berühren lassen – In tiefer Verbundenheit mit anderen leben

KAPITEL 9 Durchs Unterholz – Vom Umgang mit Widerständen, Niederlagen und Ermüdung

KAPITEL 10 Eine Hütte in der Wildnis bauen – Konkrete Schritte, um etwas Neues zu starten

KAPITEL 11 Der Gott der Wildnis lockt – Gott in deinem Herz begegnen und die Weite des Glaubens entdecken

DANKE

ANMERKUNGEN

ÜBER DIE AUTORIN

Daniela »Jele« Mailänder (Jg. 1982) arbeitet als Theologin, DesignThinkerin und Pädagogin. Sie coacht Pionierprojekte im Kircheninnovationsprogramm M.U.T. und im CVJM Bayern. Außerdem ist sie Teil des Leitungsteams der Fresh-X-Initiative »Kirche Kunterbunt«. Sie lebt mit ihrer Familie in Nürnberg.

ZUM START EINLADUNG IN DIE WILDNIS

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: »Sie haben sich gar nicht verändert.« »Oh!«, sagte Herr K. und erbleichte.

BERTOLT BRECHT1

Seit Jahren grüble ich über dieser kurzen Geschichte von Bertolt Brecht. Warum erbleicht Herr K.? Ist es die Angst vor der Veränderung? Oder ist es die Angst vor dem Stillstand?

Fakt ist: Jede Veränderung kostet uns etwas: Kraft, Zeit und noch mehr. Sie kostet uns das Verlassen von Bestehendem.

In diesem Buch lade ich dich ein, einen Schritt nach draußen zu wagen. Aufzubrechen, vielleicht unsicher. Ich ermutige dich, hinauszugehen und dir selbst zu vertrauen, wenn du mit dem Status quo nicht zufrieden bist – sei es in deinem persönlichen Leben, in deinem Umfeld, deiner Gemeinde oder mit einer bestimmten Situation.

Ich bin überzeugt davon, dass Gott ein Gott der Bewegung ist. Dass er einer ist, der uns ruft, Altes hinter uns zu lassen und uns hinauszuwagen. Ich nenne dieses »Dadraußen« Wildnis. Es ist der Ort, an dem Gott mit uns spricht, an dem wir uns selbst begegnen und lernen, für uns zu stehen. Es ist der Ort der Veränderung. Dort draußen entsteht Neues.

Ich weiß nicht, wohin dein Weg führen und wie er verlaufen wird. Doch wenn du unsicher bist, ob du dich wirklich hinauswagen sollst, bist du hier genau richtig. Willkommen unter uns unsicher Mutigen. Wir lernen gerade, zu vertrauen. Ich habe gehört, Herr K. soll auch dort draußen sein. Und Gott.

KAPITEL 1 IN DER WILDNIS – DER ORT, DER UNS AN UNSERE BERUFUNG FÜHRT

Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum als bliebe die Wurzel im Boden als zöge die Landschaft und wir stünden fest.

HILDE DOMIN2

Ich stand vor der Tür. Mein Herz hämmerte. Meine Hände waren schweißnass. Ich schluckte den Kloß im Hals herunter und redete mir selbst gut zu: »Komm schon, du bist erwachsen! Das sollte dir doch eigentlich nichts mehr ausmachen.« Doch mein Herz hämmerte nur weiter und die Stimme in mir wurde lauter: »Du hast schon Neuanfänge hinter dir. Du weißt, wie so etwas abläuft: Am Anfang wirst du dich fremd fühlen, weil du die Neue bist, und nicht dazugehören. Klar, du wirst dir deinen Platz verdienen müssen. Aber irgendwann wirst du Teil der Gruppe sein und dazugehören. Also stell dich gefälligst nicht so an! Heb den Kopf, beiß die Zähne zusammen, steh aufrecht und geh da rein!«

Ich atmete tief durch und drückte langsam die Türklinke runter. Acht Gesichter blickten mich an. Manche offen. Andere kritisch und fragend. Ich schloss die Tür hinter mir, schaute mich nach einem Platz um und setzte mich. Ob das Pochen meines Herzens wohl durch mein T-Shirt hindurch zu sehen war? Da war ich also: die Neue. Die, die die Spielregeln erst noch lernen musste. Die, die fremd war. Und anders. Unsicher.

Dabei war ich bereit zum Aufbruch! Hatte sogar andere Angebote ausgeschlagen, um mich beruflich auf die Gründung einer völlig neuen Arbeit in Deutschland einzulassen. Hinter mir lagen viele Fragen und Zweifel, ob das wirklich der richtige Platz für mich war, und Gespräche über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der neuen Herausforderung. Am Ende dieses Prozesses startete ich mit der Ahnung, dass Gott mich an diesen neuen Platz gerufen hatte. Hinzu kam, dass ich die dringende Notwendigkeit dieser Arbeit sah. Ich war frustriert über den Status quo und genau das half mir bei der Entscheidung, diese Aufgabe anzunehmen. Ich wollte etwas verändern.

Vielleicht hatte ich an diesem ersten Tag insgeheim erwartet, dass sich zu meiner inneren Überzeugung auch das Gefühl, am richtigen Platz zu sein, dazugesellen würde. Dass Gott mir – zumindest ein bisschen – Konfettiregen und Lobeshymnen schenken würde. Ich wollte, dass es sich gut anfühlt bei diesem Neuaufbruch. Immerhin war ich bereit, eine völlig neue Aufgabe zu übernehmen – und das als Mutter von drei Kindern.

Mein Auftrag war es, frische Formen von Kirche für Familien zu entwickeln. Hierfür gab es keine Struktur, meine Stelle war zum großen Teil über Spenden und Stiftungsgelder finanziert, was uns als Familie herausforderte. Mein Mann und ich beschlossen, für meine neue Aufgabe jeweils in Teilzeit zu arbeiten, und jonglierten ab dem ersten Tag zwischen Kindergarten, Vesperbroten, Autofahrten, Kindergeburtstagen, Referententätigkeiten, Hausaufgaben, Mails und Meetings. Ich war überzeugt, dass ich die neue Herausforderung angehen sollte. Dass es nötig war, endlich Kirchen- und Gottesdienstformen zu finden, die Familien in den Blick nehmen. Ich hatte mich immer fremder in meiner eigenen Kirche gefühlt und wollte etwas verändern. Zu lange schon hatte ich an den festgefahrenen Strukturen dieser Kirche gelitten, hatte ich gesehen, was eigentlich längst hätte getan werden müssen – und nie wirklich getan worden war.

In Großbritannien waren solche neuen Formen bereits entstanden, ich hatte es selbst erlebt und war fest davon überzeugt, dass sie auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden fallen könnten. Jahre zuvor hatte ich ein Schlüsselerlebnis auf einem Kongress gehabt, das mir deutlich vor Augen gemalt hatte, dass es dringend nötig war, diese Arbeit hier in Deutschland zu starten. Ja, ich war davon überzeugt, dass Gott mir den Auftrag gegeben hatte, diese neue Arbeit zu beginnen. Außerdem hatte ich Lust darauf, das Neue auszuprobieren. Ich war neugierig auf das Team, den Arbeitsplatz und darauf, ob man auch mit drei kleinen Kindern noch einmal einen Aufbruch wagen kann.

Doch der geheime Konfettiregen und die Lobeshymen Gottes blieben aus. Im Gegenteil: Am ersten Tag und auch in den folgenden Wochen und Jahren fühlte sich meine neue Berufung eher fremd, unsicher, einsam und herausfordernd an. Ich zählte irgendwann nicht mehr die Tage, in denen ich abends zu meinem Mann sagte: »Morgen kündige ich. Ich bin am falschen Platz. Es braucht diese Arbeit, aber ich bin die Falsche dafür.«

Dabei stieß ich von Anfang an auf faszinierend viele offene Türen. Schon in den ersten Monaten erlebte ich, wie Neues entstand und Gemeinden sich auf Vorschläge und Angebote einließen. Ich war fasziniert von den Möglichkeiten, den Neuanfängen und dem Aufbruch. Wir gründeten schon im ersten Jahr mehr als zwanzig Kirche-Kunterbunt-Initiativen in Bayern.3 Und nicht nur das: In ganz Deutschland wuchs die Bewegung, und ich staunte über das, was sich da tat. Pfarrkonvente, Kirchenvorstände, Vereine, Familienzentren luden mich als Referentin ein, und überall stieß ich auf Begeisterung über die Ideen, die wir bei »Kirche Kunterbunt« entwickelt hatten.

Das war die eine Seite. Doch da gab es noch die andere Seite und die war schmerzhaft. So schmerzhaft, dass sie sich nicht einfach wegdrücken ließ.

Ich glaube, niemand meinte es so richtig böse. Vielleicht waren auch alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch als Pionierin war ich allein. Das war nicht nur ein Gefühl, sondern harte Realität. Ich gehörte gleichzeitig drei Teams an und trotzdem nirgends dazu. Auf Deutschlandebene hatte ich Teammitglieder, mit denen ich Material und Öffentlichkeitsarbeit entwickelte, auf bayerischer Ebene waren da Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Kirchen, Konfessionen und Verbänden, mit denen ich gut zusammenarbeitete – aber die kein Team für mich waren. Im eigenen Verband hatte ich eine Sonderrolle und nahm nur teilweise an den regelmäßigen Teamveranstaltungen teil. Auch privat hatte ich zunehmend den Eindruck, dass ich nirgends hingehörte. Im Vorort von Nürnberg waren wir mit unserem verrückten Teilzeitstellenmodell und wenig Fremdbetreuung unserer Kinder immer irgendwie anders. Wir gehörten nicht zu den Eltern, die beide voll arbeiteten und ihre Kinder im Hort betreuen ließen. Aber wir gehörten auch nicht zu den Eltern, die ein klassisches Familienmodell lebten, in dem einer voll arbeitete und der andere sich vorrangig um Kinder und Care-Arbeit kümmerte. Unter meinen Freundinnen fühlte ich mich von Monat zu Monat weniger wohl. Ich stieß auf wenig Verständnis für meine neue Arbeit, und immer hörte ich die vorwurfsvolle Frage, warum gerade ich mich als Pionierin einsetzen müsse. Da draußen gebe es schließlich noch viele andere.

Während die Arbeit von »Kirche Kunterbunt« weiter und weiter wuchs, fühlte ich mich immer einsamer. Trotz vieler Begegnungen wurde ich das Gefühl nicht los, nicht dazuzugehören. Die barsche Stimme in mir klagte mich an: »Du bist fremd, weil du die Regeln nicht beachtest und aus der Reihe tanzt. Spiel mit! Verdiene dir deine Zugehörigkeit! Werde Teil eines Teams! Hör auf, zwischen den Stühlen zu leben! Deine Unzufriedenheit mit dem Status quo treibt dich nur weg von den etablierten Strukturen und damit auch weg von einem Ort zum Wohlfühlen.« Eine sehr viel leisere, behutsamere Stimme in mir entgegnete: »Vielleicht musst du das Spiel ja gar nicht mitspielen. Bleib dir treu! Lass dich nicht verbiegen, nur um dazuzugehören. Du bist anders, und du wirst nie wirklich dazugehören. Traue deiner Berufung. Du bist auf dem richtigen Weg.«

Ich kam mir vor wie eine Teenagerin, die als Einzige nicht zur Party eingeladen wird. Oder wie die Neue in der Klasse, die einfach ignoriert wird. Oder die Fußballspielerin, die jedes Spiel auf der Ersatzbank sitzt und nicht einmal erwähnt wird, wenn es um die Aufstellung der Mannschaft im nächsten Spiel geht. Ich fühlte mich wie diejenige, die als Einzige nicht bei dem Witz mitlachen kann, weil alle Bescheid wissen – nur sie nicht.

In mir wuchs die Ahnung, dass ein Neuaufbruch sich nicht immer als das wundervollste Abenteuer entpuppt. Dass Mut sich nicht zwingend wie Mut anfühlt. Wer einen Aufbruch wagt, dem kann es passieren, dass er sich einsam auf einem Weg wiederfindet. Und dieser Weg kann trotzdem der richtige sein. Wer einen neuen Weg geht, der hat mit Unsicherheit zu kämpfen. Dabei geht es nicht nur um das Gefühl. Nein, vielmehr sind es die tatsächlichen und handfesten Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, wenn wir einen Aufbruch wagen: fehlende Begleitung, Strukturhindernisse, manchmal kommen sogar andersartige Gepflogenheiten oder Kulturgrenzen dazu. Wer aufbricht, ist bereit, sich auf Neues und Fremdes einzulassen.

Damals suchte ich nach Worten, um dieses Gefühl zu beschreiben. Vor meinem inneren Auge tauchten undurchdringliche Wälder und Frühnebel auf. Gefühlt befand ich mich in der Wildnis, und deshalb begann ich, dieses Gefühl auch so zu nennen: Wildnis. Es vereinte beides in mir: Ich fühlte mich fremd und war gleichzeitig fasziniert und voller Neugierde auf das, was nun kommen würde. War einsam und empfand gleichzeitig diese tiefe Klarheit in mir, dass Gott mich zu diesem Aufbruch gerufen hatte. Meine Sinne waren alle auf »Gefahr« eingestellt, ich hatte den Eindruck, fehl am Platz zu sein, und gleichzeitig war ich mir sicher, dass ich hier richtig war. Ich fühlte mich wie ein Mensch, der alle Annehmlichkeiten der Zivilisation selbstverständlich kennt und nutzt und sich dann plötzlich mit den Herausforderungen der Wildnis konfrontiert sieht und dabei völlig auf sich allein gestellt ist: unberechenbares Wetter, undurchdringliche Wälder, unbekannte Gebiete, wilde Tiere, fremde Geräusche und Gerüche. Ich befand mich inmitten der Schönheit der Wildnis – und doch gleichzeitig von ihr bedroht.

DIE INNERE WILDNIS

Ich war fasziniert vom Neuaufbruch. Gleichzeitig fühlte sich alles so fremd, einsam und herausfordernd an. »Warum bin ich in dieser inneren Wildnis?«, fragte ich mich. »Liegt es an dem System, in das ich einfach nicht hineinfinde? Liegt es an mir als Person? Warum habe ich das Gefühl, hier nicht hinzupassen?«

Das Gefühl, fremd im »eigenen Laden« zu sein, konnte ich fast körperlich spüren. Alles war neu. Alles war anstrengend. Alles war anders. Dabei ging es nicht um die Einarbeitung in ein neues Arbeitsfeld. Die Erfahrung der inneren Wildnis war viel tiefer und herausfordernder, als die ersten Wochen in einem neuen Projekt, bei einer neuen Aufgabe oder an einem neuen Wohnort normalerweise sind. Es war die Erfahrung, nicht dazuzugehören und mit jedem Schritt noch tiefer in unbebautes Gebiet und Einöde vorzudringen. Ich fühlte mich allein, sowohl mit den Herausforderungen als auch mit den Möglichkeiten, die ich sah. Lange dachte ich, dass ich wirklich die Einzige bin, die diese Erfahrung, dort draußen allein in der Wildnis zu sein, kennt. Doch als ich begann, darüber zu sprechen und mein Fremdsein zu teilen, geschah etwas, das ich nicht für möglich gehalten hatte: Dort draußen in der Unberechenbarkeit der inneren Wildnis waren noch andere. Sie lebten dort draußen – und offensichtlich waren sie glücklich.

Es gibt viele, mit denen ich den Schmerz der Fremdheit teile, bis heute. Andere, die wie ich die Schönheit des unbebauten Gebietes erlebt haben und noch erleben. Uns verbindet das Gefühl der Fremdheit und die Sehnsucht nach Veränderung.

Ich kenne dich, liebe Leserin und lieber Leser, nicht. Doch du hast dieses Buch in die Hand genommen. Vielleicht steht auch bei dir ein Aufbruch an. Und vielleicht verbindet dich mit mir das Gefühl der Fremdheit und der Sehnsucht nach Veränderung. Vielleicht bist du mit einer Situation oder einem Zustand in deiner Gemeinde, deinem Ort oder deinem Umfeld unzufrieden, und du siehst die Veränderung, die dringend nötig ist. Vielleicht machst du gerade erste Schritte auf einem neuen Weg: ein Umzug, eine Weiterbildung, eine neue Herausforderung. Vielleicht orientierst du dich gerade neu, gestaltest dein Leben an einer Stelle um. Vielleicht ist etwas in die Brüche gegangen und du bist auf neuem Terrain unterwegs. Ich schreibe hier in erster Linie für Menschen, die den Aufbruch in ihrer Gemeinde oder Kirche wagen möchten. Doch ich bin davon überzeugt, dass viele der Gedanken hier auch für Veränderung und Aufbruch auch im persönlichen Leben und für ganz andere Themenfelder passen.

Wenn du auf neuem Terrain unterwegs bist, sage ich: Willkommen in der Wildnis! Hier draußen ist es faszinierend, unberechenbar, herausfordernd und wunderschön. Dieses Buch möchte dich auf deinem Weg des Aufbruchs begleiten. Ich erzähle dabei nichts, was ich nicht selbst erlebt habe oder aus erster Hand kenne. Jede Geschichte ist in ihren Grundzügen genau so passiert, auch wenn ich manches zum Schutz der Personen verändert habe. Es sind viele, die mit mir dort draußen unterwegs sind. Menschen wie …

• die junge Frau, die gerade mit einem Podcastprojekt beginnt, weil sie es kaum noch aushält, dass alle genau wissen, wie das Leben nicht funktioniert, aber niemand darüber redet, was wirklich gelingt.

• der erfolgreiche Geschäftsmann, der einen neuen Weg beschreitet, weil er offen erzählen will, wo er in seinem Leben so richtig »auf die Schnauze gefallen ist«, obwohl doch von außen betrachtet alles gut aussieht. Kaum jemand glaubt ihm bei seiner Karriere, dass er zu diesem Thema einen Podcast starten möchte.

• die Studentin, die ihr Studium im Bereich »Transformation« mit 46 Jahren startete, weil sie in dieser Gesellschaft einen Unterschied machen möchte und bestmöglich dafür ausgebildet werden will.

• die Kirchenpionierin, die sich selbst niemals so bezeichnen würde. Sie hat es im dritten Lockdown der Corona-Pandemie einfach nicht mehr ausgehalten, dass es keine Angebote für Familien in ihrer Kirchengemeinde gab. Da hat sie begonnen, Stationenwege einzurichten, in denen Familien wertvolle Zeit miteinander und Begegnungen mit Gott haben können.

• der Pastor, der sich nach langem Ringen mit seiner Familie auf den Weg gemacht hat, eine neue Gemeinde zu gründen.

• die Pfarrerin, die bei Instagram einen eigenen Kanal hat, auf dem sie offen davon berichtet, wie herausfordernd und gleichzeitig tief Trauergespräche vor Beerdigungen sind, auf dem sie von ihren Tiefpunkten erzählt und davon, wie offen Menschen ihr Leben in Trauerzeiten teilen.

Es gibt noch so viel mehr Menschen dort draußen. Dies sind lediglich ein paar Beispiele. Ich weiß nicht, was dich gerade bewegt und was sich in deinem Leben gerade anfühlt wie Wildnis: unterwegs auf einem neuen Weg, fasziniert und gleichzeitig voller Unsicherheit und mit Hindernissen konfrontiert. Doch ich möchte dir Mut machen, den Weg in die Wildnis zu wagen: Neues wartet auf dich, und ja, es fühlt sich nicht nur gut an. Vielleicht findest du dich in einer dieser Aussagen wieder:

• Du siehst, dass sich etwas ändern muss an den Strukturen und dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.

• Du sehnst dich nach Veränderung und möchtest Teil dieser Veränderung sein.

• Du kennst das Gefühl, einsam mit deiner Meinung oder deiner Art zu denken zu sein.

• Du fühlst dich häufig nicht zugehörig und bist nicht zufrieden mit dem, wie es gerade läuft.

Was auch immer es ist, was in deinem Leben gerade konkret aufbricht und von dem du den Eindruck hast, dass Gott dich ruft: Es lohnt sich, loszugehen.

HINAUS IN DIE WILDNIS

Inzwischen bin ich überzeugt: Gott führt uns an den Ort der inneren Wildnis, damit wir unsere Berufung finden und Neues entsteht. Allerdings: Der Weg fühlt sich oftmals einsam an, kann schmerzhaft und so unberechenbar sein, wie es eben nur die Wildnis sein kann.

Sie steht für unbeherrschbare, unwegsame Natur und unentdeckte Orte und gleichzeitig für Schönheit, Natürlichkeit und Freiheit. Die Wildnis lebt als empfindliches Ökosystem, alles ist fein aufeinander abgestimmt. Sie macht sich an vier Eigenschaften fest4:

1. Natürlichkeit

2. Ungestörtheit

3. Unerschlossenheit

4. Größe

Während ich diese Worte schreibe, beginne ich zu ahnen, dass diese Eigenschaften auch gut zu Jesus passen, und der spielt ja in dieser ganzen Frage die entscheidende Rolle: Er war natürlich, suchte den Rückzug, war immer auch ungewöhnlich und zeigte wahre Größe. Lockt uns nicht Jesus selbst heraus aus unserem »Indoor-Glauben« hinein in die Wildnis des Unbekannten? Wenn wir ihm an dieser Stelle folgen, gehen wir den Weg, den Gott ganz persönlich mit uns gehen möchte – hinein in unbekanntes Terrain.

Die Wildnis steht auch in der Bibel für beide Facetten. Das Bild des Bedrohlichen der Wildnis wird zum Beispiel als Warnung an das Volk Israel genutzt (z.B. in Hosea 2,14). Doch die Wildnis ist häufig auch der Ort für die Begegnung mit Gott. In der Wildnis spricht Mose mit Gott und gibt ihm seinen Auftrag (2. Mose 3). In der Wildnis wird Hagar, die Sklavin, angesehen (1. Mose 16). In der Wildnis lebt David in der Vorbereitung auf seinen Königsdienst (1. Samuel 22). Die Wildnis ist der Rückzugsort Jesu (Matthäus 4,1). Mehr noch: Was wäre, wenn wir Gott die Eigenschaft »wild« zuschreiben würden? Ist nicht der, dem wir folgen, auch wild, unberechenbar, unbekannt, schön und frei?

Mich fasziniert dieses Bild von der Wildnis auch deshalb, weil ich es von Kindheit an liebe, draußen zu schlafen, Zeit im Wald und in den Bergen zu verbringen. Natur übt einen intensiven Einfluss auf mich aus. Alle Sportarten, die mich in Kontakt mit Wildnis und Naturgewalt bringen, führen mich auch immer ein Stück näher zu mir selbst: Skitouren, Klettern, Mountainbiken oder Trekking. Keine Sorge! Dieses Buch wird kein Outdoor-Ratgeber. Hier ist die innere Wildnis gemeint, ein Ort, der uns zu uns selbst und unserer persönlichen Berufung führt. Ein Ort, der uns mutig sein und der unser Vertrauen wachsen lässt. Der uns mit der Unverfügbarkeit des Lebens und gleichzeitig mit der Freiheit in Berührung bringt. Nur in der Wildnis lassen wir alle Anpassungstaktiken fallen und lernen, wir selbst zu sein: Geliebt. Berufen. Begabt. Einzigartig. Kraftvoll.

Was wäre, wenn wirGott die Eigenschaft»wild« zuschreibenwürden? Ist nicht der,dem wir folgen, auchwild, unberechenbar,unbekannt,schön und frei?

Vielleicht stehst du so wie ich damals, am ersten Tag meiner neuen Aufgabe, an so einer Tür. Dein Herz pocht. Du startest neu. Das fasziniert dich und macht dich gleichzeitig unsicher. Dann lade ich dich ein, dich mit mir auf den Weg in die Wildnis vorzuwagen. Dabei lernen wir zu vertrauen, der leisen Stimme Gottes zuzuhören und zu glauben, dass wir in der Einzigartigkeit, die er in uns angelegt hat, leben dürfen. Dass wir nicht angepasst sein müssen, um unsere Berufung zu ergreifen. Die Wildnis lehrt uns, ehrfürchtig, frei und mutig zu werden.

KAPITEL 2 ERSTE ERKUNDUNG DER FREMDHEIT – WIE HEILIGE UNZUFRIEDENHEIT UNS ANTREIBT UND LOCKT UND WIR WAHRE ZUGEHÖRIGKEIT ERLEBEN

FerneEin Einheimischer hat keine Fragen. Er ist eindeutig. Sprache verrät ihn nicht, er bewohnt seinen Ort mit anderen Einheimischen. …Ein Fremder aber wohnt in den Fragen. Ihm gehört nur die Ferne und die Hoffnung, dass Gnade dort auf ihn wartet.

JOOP ROELAND5

Der Yukon ist das Gebiet im nordwestlichen Teil Kanadas und Alaskas: wilde Natur, reißende Flüsse, endlose Wälder, Weißkopfseeadler, Steinadler, Karibus und weite Flächen, die mit den rosafarbenen Blüten des Fireweed bedeckt sind. Unberührte Natur. Es ist nicht nur das Territorium der frühen Goldsucher, sondern auch der Grizzlys, Schwarzbären und Pumas. Der Yukon ist einzigartig, wunderschön, gefährlich. Dort leben mehr Bären als Menschen.

Wir waren für sechs Wochen dort mit einem kleinen Zelt unterwegs, machten mehrere Trekkingtouren, in denen wir über mehrere Tage auf uns gestellt in der Wildnis waren. Wir planten jede dieser Touren genauestens, hatten Vorräte dabei und waren gut ausgerüstet. Unsere Handys ließen wir in den Unterkünften – Mobilfunknetz gab es sowieso nicht –, dafür hatten wir Pfefferspray, um uns vor möglichen Angriffen durch Raubtiere zu schützen, immer griffbereit an unseren Gürteln. Es waren die intensivsten Wochen, die ich jemals in der Natur verbracht habe – wunderschön, faszinierend und großartig. Fast täglich stießen wir auf andere Landstriche, bestiegen Berge und folgten der Route der Goldgräber. Die Stille, die Wälder und die ungezähmte Natur haben sich tief bei mir eingeprägt. Ich liebte es, mit dem Kanu oder zu Fuß dort unterwegs zu sein, Adler zu beobachten und abends an einem kleinen Feuer zu sitzen.

Und doch lag ich Nacht für Nacht in unserem kleinen Zweimannzelt und fragte mich, ob wir unser Essen weit genug in die Bäume gehängt hatten. Bären riechen mit ihren feinen Nasen Nahrungsmittel auf viele Kilometer Entfernung und würden jedes Zelt mit einem für sie leichten Hieb zur Seite befördern, um an sie dranzukommen. Wenn sie sich angegriffen fühlen, werden sie hochaggressiv, sie laufen schneller als jeder Mensch und klettern auf jeden Baum. Immer wieder lag ich nachts wach und lauschte auf die kleinsten Geräusche: War da nicht ein Schnüffeln? Ein Knacken im Gebüsch? Fast jeden Tag beobachteten wir Bären und machten Fotos. Doch uns war klar: Wenn uns diese Raubtiere ins Visier nähmen, hätten wir – selbst mit Pfefferspray – keine Chance. Die Bären waren bei Weitem nicht die einzige Gefahr: Die schnellen Wetterumschwünge, die plötzlich aufkommenden Winde, Eisregen und Schneefall im August hatten schon in der Zeit der ersten Besiedelung und beim Versuch, die sogenannte »Goldgräberroute« zu überqueren, viele Leben gekostet. Klar: Wir waren gut ausgestattet, aber der Yukon bleibt wild und unberechenbar. Neben der Schönheit, der Faszination, der sternenklaren Nächte und traumhaften Landschaften war da auch die Gewissheit: Wir waren dort fremd, waren nicht für diesen Ort gemacht. Wir gehörten nicht dorthin.

Dort im Yukon befanden wir uns zwischen Gefahr und Faszination. Das Erstaunliche ist, dass sich die Erfahrungen, die wir dort draußen in der Wildnis gemacht haben, auf viele Bereiche unseres Lebens übertragen lassen. Und so schreibe ich dieses Buch für alle, die sich aktuell oder zukünftig zwischen der Gefahr und Faszination des Lebens wiederfinden, eines Lebens in Gottes Berufung. Für Menschen, die sich nach Veränderung sehnen und deshalb aufmachen, um nach dieser Pionierberufung in ihrem Leben zu suchen, selbst wenn sich das neue Umfeld fremd anfühlen mag. Für Menschen, die den Aufbruch wagen.

Wenn diese Zeilen über Wildnis, Faszination und Aufbruch in dir etwas zum Schwingen gebracht haben, dann lass uns den Weg gemeinsam gehen und dieser Wildnis dort draußen gemeinsam gegenüberstehen!

FREMDHEIT UND HEILIGE UNZUFRIEDENHEIT

Ein Aufbruch startet damit, dass man den Entschluss fasst, loszugehen. Es braucht etwas, das einen antreibt oder lockt, damit man seine Sachen packt und den ersten Schritt vor die Tür macht. Einer, der aufgebrochen ist, erzählte es mir einmal so:

Ich schaute mir das an und dachte: »So kann das doch nicht weitergehen. Ich kann nicht mehr anschauen, wie wir in unserem ganzen materiellen Mist ersticken, und schräg über die Hauptstraße sitzen Hunderte von geflüchteten Familien in ihren Einzimmerwohnungen der Unterkunft und langweilen sich.« Ich fühlte mich nicht mehr wohl in meinem eigenen Stadtteil. Jedes Mal, wenn ich eines meiner Kinder in den Musikunterricht, zum Fußballtraining oder Voltigieren brachte, stand es mir glasklar vor Augen: Es muss sich etwas ändern. Na ja, wir haben am Anfang nichts Großes gemacht oder so. Wir sind einfach als Familie mal rübergegangen, und ich habe mit einem Vater der geflüchteten Familien gesprochen. Mit Händen und Füßen haben wir uns verständigt. Er hatte auch zwei Kinder, ähnlich alt wie unsere. Nach der Begegnung wurde ich nur noch unruhiger. Ich begann mich zu schämen für unseren Reichtum, unsere fehlende Hilfsbereitschaft in unserem Land und den Überfluss, den wir alle miteinander nicht bereit waren zu teilen. Wir luden die Familie ein. Ich glaube, es war der Abend, an dem ich beschlossen hatte, jetzt etwas zu starten. Irgendwas – Hauptsache irgendwas, das diese Situation veränderte. Ich konnte einfach nicht mehr zuschauen. Wir begannen, in der Nachbarschaft herumzufragen, ob nicht auch andere Familien bereit wären, eine Art Patenschaft für andere geflüchtete Familien zu übernehmen und sie regelmäßig zu besuchen. Es fühlte sich komisch an, mit den anderen Vätern, mit denen ich bis jetzt über Fußball und den nächsten Urlaub gesprochen hatte, plötzlich so ein Thema anzustoßen. Ich war irgendwie ein Außenseiter. Ein paar Familien begannen tatsächlich, mich zu meiden, weil ihnen das Thema irgendwie unangenehm war. Aber ich blieb dran: Wir können doch nicht von der Liebe Gottes sprechen und sie dann nicht teilen. Ein paar aus unserer Nachbarschaft machten mit. Wir blieben dran und bauten da echt ein Netzwerk in unserer Nachbarschaft auf. Heute würde ich sagen, dass es ein Wunder war. Doch ganz ehrlich: Es war auch anstrengend. Ich weiß noch, wie ich irgendwann dachte: Unser Leben findet irgendwo auf dieser Hauptstraße statt – also zwischen unserem Wohngebiet und der Unterkunft für Geflüchtete. Aber immerhin: Ich bin meinem inneren Bedürfnis gefolgt. Ja, ich würde sogar sagen, dass ich einer Art innerer Unzufriedenheit gefolgt bin. Inzwischen ist die Flüchtlingsunterkunft geräumt. Aber ich werde wahrscheinlich nie mehr vergessen: Wenn dich etwas umtreibt oder aufregt, dann ist es es wert, dem nachzugehen.

Bei diesem Aufbruch war es der Schmerz über den aktuellen Zustand, der dazu geführt hat, dass ein Vater einen Aufbruch gewagt und sich damit in die Wildnis begeben hat. Wer sich fremd im »eigenen Laden« fühlt, den treibt etwas zum Aufbruch. Wen eine Idee für etwas, das entstehen könnte, lockt, der ist bereit, sich der Wildnis auszusetzen.

Wenn dich etwas zieht oder du an etwas leidest, dann gehörst du zu den heiligen Unzufriedenen. So nenne ich die Menschen, die bereit sind, eine Veränderung anzugehen. Sie bleiben nicht dabei stehen, zu beklagen, was alles schiefläuft. Sie suhlen sich nicht in ihrer Andersartigkeit und darin, dass sie ganz genau wissen, was falsch läuft. Nein, es sind Menschen, die bereit sind, loszugehen.

Christine ist eine von ihnen. Manchmal ist sie fast verrückt geworden und dann wieder traurig, wenn sie in ihre Gemeinde geschaut hat. Natürlich war es nett, fromme Lieder im Gottesdienst zu singen oder einen Hauskreis zu haben, der aus dem engsten Freundeskreis besteht. Aber vor zwei Jahren bekam sie immer mehr den Eindruck, dass die Gemeindeglieder sich nur noch um sich selbst drehten. Da war keine Bewegung drin, und von außen kam niemand mehr dazu. Sie stellte immer mehr Fragen. Am Anfang nur in ihren Gedanken. Irgendwann laut. Sie begann, unsicher zu werden über die glasklare Theologie, und stolperte darüber, dass die Predigt vom Sonntag so wenig mit ihrem Leben und dem Leben ihrer Freundinnen zu tun hatte. Irgendwann fand sie keinen Andockpunkt mehr und gestand sich ein, dass die Themen sie nicht interessierten und Antworten auf Fragen gegeben wurden, die sie nie gestellt hatte. Dazu kam, dass die Gottesdienstzeiten nicht zu ihrem Leben passten.

Sie ging immer seltener zur Gemeinde, und je seltener sie hinging, desto fremder fühlte sie sich. Sie fand Gott eher außerhalb der Kirche: bei Konzerten. Kulturveranstaltungen, im Café oder beim Hören von Podcasts. Irgendwann entstand ein Bild in ihr: Wie wäre es, eine Kirche zu haben, die im Café stattfindet für und mit Menschen, die dort sowieso ein und aus gehen? Sie begann zu träumen: von Gesprächen beim Latte macchiato und Livemusik. Von Predigten, die nicht zu schnell Antworten geben und ehrliche Fragen zulassen. Von Menschen, die dazukommen, weil sie – wie sie selbst – auf der Suche sind. Und von offenen Herzen. Diesen Traum hat sie lange mit sich herumgetragen. Vor Kurzem habe ich sie getroffen. Sie hat ein Ladencafé in ihrer Kleinstadt angemietet. Sie weiß noch nicht genau, wie es werden wird. Aber sie möchte dranbleiben und Kirche im Café leben. Gemeinsam mit Menschen, die auf der Suche nach Gott sind.6