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Wir glaubten, alles im Griff zu haben und haben feste Pläne für die Zukunft geschmiedet. Alles schien imLot. Doch auf einmal kommt von außen eine Situation auf uns zu, die uns herausreißt aus allen Sicherheiten. Ob plötzliche Krankheit, der Verlust eines lieben Menschen oder persönliches Scheitern: Krisen können zutiefst verunsichern - und sind doch kaum zu vermeiden. Anselm Grün weiß: Sie können auch einen neuen Blick auf das Leben und auf unsere eigenen Möglichkeiten eröffnen. Sein Rat: Nicht flüchten oder resignieren. Sondern sich treu bleiben, ins Leben vertrauen und nach vorne schauen - in der Perspektive der Hoffnung. Dann kann sich die Situation wandeln. Das Buch ist entstanden aus konkreten Begegnungen mit Menschen. Es richtet sich zum einen an alle, die in eine Krise geraten sind und die sich auf einmal in einer Situation befinden, in der sie sich als ratlos und hilflos erleben. Die Beschreibung solcher schwierigen Lebenssituationen soll ihnen helfen, sich der eigenen Situation ehrlich zu stellen. Zum anderen richtet sich dieses Buch aber auch an die, die in ihrer Umgebung auf Menschen treffen, die in eine Krise geraten sind. Sie können darin Anregungen finden, wie sie mit der Notsituation anderer Menschen umgehen, wie sie sensibel reagieren und der Gefahr entgehen, mit billigen Ratschlägen die Not noch zu vertiefen. Eine Krise kann für den, der in sie geraten ist, zu einer Chance werden, mit einer neuen Sichtweise sein Leben zu leben, andere Maßstäbe an das Leben anzulegen, bewusster und achtsamer zu leben und mit neuer Hoffnung gestärkt in die Zukunft zu gehen. Wer andere in ihrer Krise begleitet, kann selbst Beglückung erfahren, wenn der andere aus seiner Krise stärker herauskommt. "Für jeden ist eine Krise etwas ganz und gar Persönliches. Die Situationen ähneln sich vielleicht, und doch erlebt sie jeder auf seine ganz persönliche Weise. Manchmal dauert die Verwandlung der Krise in eine neue Chance lange Zeit. Es gibt keine Tricks, dies zu verkürzen und keine Ratschläge, die alle Probleme lösen können. Die Wege, die ich in diesem Buch beschreibe, sind Gedanken, die ich den Lesern und Leserinnen anvertrauen möchte, im Vertrauen, dass jeder etwas damit anfangen kann. Aber wie er damit umgeht, das ist die Aufgabe und Verantwortung jedes einzelnen." (Anselm Grün)
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Seitenzahl: 214
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Anselm Grün
Wenn man nicht mehr weiterweiß
Ein einfach-leben-Buch
© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Designbüro GestaltungssaalUmschlagmotive: © ookawaphoto / ThinkstockPhotos© OmniArt / shutterstock
E-Book-Erstellung: Arnold und Domnick, Leipzig
E-Book-Erstellung
ISBN Print 978-3-451-00668-5
ISBN E-Book 978-3-451-81481-5
Anselm Grün
Wenn man nicht mehr weiterweiß
Spirituelle Impulse für einen Neuanfang
Herausgegeben von Rudolf Walter
Hilflos, ratlos, mutlos – was jetzt? Wie aus Lebenskrisen neue Chancen werden
Vorwort
Familiendramen, Zwiste und Konflikte
Plötzlich und ungewollt schwanger – was tun?
Wenn die Geburt eines behinderten Kindes prognostiziert wird
Der Schmerz der Kinderlosigkeit
Bedrohliche Leere: Wenn Kinder von zu Hause ausziehen
Missbrauchtes Vertrauen: Mein Kind oder der Partner ist kriminell geworden
Wenn Paare nicht mehr weiterwissen
Wenn der Vater sich mit seinen Kindern überwirft
Wenn die eigenen Kinder die Beziehung zu den Eltern abbrechen
Wenn die Familienbande reißen
Wenn die Eltern schwierig werden
Soziale Probleme und Beziehungskrisen?
Erbitterter Streit – ausweglos?
Grundlos aggressiv: Wenn mich fremde Wut anfällt
Keiner versteht mich wirklich
Ich fühle mich so allein
Definitiv Schluss: Wenn eine Beziehung schmerzlich endet
Mit Gefühlen umgehen, die sehr wehtun
Der Schock: Einseitige plötzliche Trennung
Enttäuscht: Wenn eine Welt zusammenbricht
Unter dem Druck von Arbeit und Beruf
Gelähmte Lebensfreude: Konflikte am Arbeitsplatz
Zu viel gearbeitet – und jetzt?
Total überlastet: Vor dem Zusammenbruch
Wenn der Burn-out droht
Festgefahren: Sackgasse im Beruf
Arbeitslos – niemand braucht mich
Ich werde gemobbt – was soll ich tun?
Seelische Konflikte und Turbulenzen
„Ich habe versagt. Ich schäme mich so!“
Ich bin schuld an einem Unfall
Schuldgefühle – Gedanken, die ich nicht loswerde
„Das ist nicht wiedergutzumachen!“
Verheddert im Denkmuster: „Was wäre, wenn …!“
Enttäuscht von und in der Kirche
Wenn der Glaube abhandengekommen ist
Sinnkrise in der Lebensmitte
Übersättigt – und doch innerlich leer
Die Welt dreht sich rasant weiter. Ich verliere meine emotionale Heimat
Verlorenes Weltvertrauen
Konfrontiert mit Krankheit, Alter, Tod
Wenn mein Kind schwer krank ist
Eine Krankheit, die mich aus der Bahn wirft
Zu stark der Schmerz, zu schwer das Leid
Altersangst: Verlust von Kraft und Ansehen
Die Angst vor Altersarmut
Demenz – die Angst, mich zu verlieren
Der Tod eines geliebten Menschen
Voll Vertrauen lebenSchluss
Vorwort
Auch wenn wir versuchen, gut zu leben, auf uns selbst acht zu geben, ein spirituelles Leben zu führen, kann es sein, dass wir ganz plötzlich und unvermutet in eine Situation geraten, in der wir uns als hilflos, mutlos und ratlos erleben. Wir haben uns alle Mühe gegeben, unser Leben so zu gestalten, dass es für uns stimmt. Wir glaubten, alles im Griff zu haben und haben feste Pläne für die Zukunft geschmiedet. Alles schien im Lot. Doch auf einmal kommt von außen her eine Situation auf uns zu, mit der wir überhaupt nicht gerechnet haben und die uns herausreißt aus allen Sicherheiten. Wir wissen nicht mehr, wie es weitergehen wird. Da wird plötzlich eine schwere Krankheit diagnostiziert, deren Verlauf alles überschattet. Ein Konflikt am Arbeitsplatz eskaliert, sodass er uns ganz in Beschlag nimmt. Wir haben aus Unachtsamkeit einen folgenreichen Unfall verursacht und werden nun von Schuldgefühlen zerfressen. Die Partnerschaft zerbricht und alle einmal gelebten Hoffnungen und Träume sind über den Haufen geworfen. Ein geliebter Mensch stirbt und wir bleiben allein zurück. Wir sind verzweifelt, wissen uns nicht mehr zu helfen. Es ist schwer, mit solchen krisenhaften Situationen umzugehen.
Viele versuchen, sie zu verdrängen. Sie flüchten sich in die Arbeit oder betäuben sich mit Alkohol. Sie wollen die Probleme nicht wahrhaben, in die sie geraten sind. Andere resignieren angesichts der Aussichtslosigkeit ihrer Situation. Sie fühlen sich in einer Sackgasse und wissen nicht, wie sie da wieder herauskommen können. Manche suchen auch nach Begleitern, die ihnen helfen, aus der Sackgasse herauszufinden. Aber sie reagieren allergisch auf allzu schnelle und billige Ratschläge. Da gibt es Menschen, die ihnen genau sagen, was sie tun sollen. Oder sie lesen Ratgeberbücher, in denen Tipps gegeben werden, wie sie aus jeder Krise herauskommen. Doch wenn sie versuchen, diese Tipps zu praktizieren, merken sie, dass sie nicht helfen. Ja, sie werden durch gut gemeinte Ratschläge noch ratloser. Manchmal vertiefen wohlmeinende Helfer noch die Not der Menschen. Die Erfahrung, dass in dem Wort Ratschlag auch das Wort „Schlag“ steckt, drückt ein Graffiti aus, das jemand an eine Hauswand gemalt hat: „Bitte nicht helfen, es ist schon schwer genug.“
Was hilft in einer solchen Situation wirklich? Eine Geschichte dazu steht im Neuen Testament. Sie erzählt von einem Begleiter, der meine Not wahrnimmt und nicht an ihr vorbeiläuft. Es ist der barmherzige Samariter. In diesem Gleichnis sind der Priester und der Levit an dem Mann vorübergegangen, der unter die Räuber gefallen war. Der Samariter, also ein Fremder, sieht ihn und hat Mitleid mit ihm. Er empfindet mit ihm, er fühlt sich in ihn hinein. Aber er bleibt nicht bei seinem Mitgefühl stehen. Sein Mitgefühl treibt ihn vielmehr zum Handeln: Er geht auf den Verletzten zu, er gießt Öl und Wein auf seine Wunden und verbindet sie. Dann hebt er ihn auf sein Reittier und bringt ihn zu einer Herberge. (Lk 10,33ff) Er tut das, was in seiner Macht steht. Aber er erkennt auch seine Grenze. Er übergibt ihn der Sorge des Wirtes. Man könnte sagen, er übergibt ihn einer professionellen Hilfe. Aber er hat sich wirklich eingelassen auf den Mann, er hat ihn berührt, er hat seine Wunden gelindert und verbunden. Er ist nicht stehen geblieben und hat ihm von außen gute Ratschläge erteilt. Er hat das getan, was ihm möglich war. Und das hat den hilflos am Wegrand liegenden Mann weitergebracht.
Bevor wir also einem Menschen gute Ratschläge geben, ist es wichtig, sich auf diesen konkreten Menschen einzulassen, ihn zu verstehen suchen, das, was er fühlt und denkt, nicht zu bewerten, sondern es anzuhören. Wir sollten also nicht im Vorbeigehen schnell sagen, was der andere tun soll. Wir müssen stehen bleiben, es bei ihm aushalten, und das heißt: auch seine Verzweiflung und Not aushalten. Wir sollen ihn nicht mit billigen Worten vertrösten. Der Notleidende sucht Trost. Trost kommt von Treue und meint eine innere Festigkeit. Treu ist der, der fest wie ein Baum steht. Der Notleidende braucht jemanden, der bei ihm steht wie ein fester Baum, an den er sich anlehnen kann. Der Baum gibt keinen Kommentar, sondern Nähe und Halt.
Erst wenn ich beim andern stehen bleibe und seine Verzweiflung und seine Enttäuschung, seine Schuldgefühle und seine Selbstvorwürfe, seine Anklagen und seine Bitterkeit aushalte, kann ich versuchen, ihm nach langem Zuhören eine neue Sichtweise auf die Situation zu vermitteln. Da braucht es die Perspektive der Hoffnung, die jede noch so hoffnungslos erscheinende Situation in ein neues Licht taucht, das eine Wende möglich erscheinen lässt. Hoffnung ist kein billiger Trost. Sie ist im Ernstfall Hoffnung wider alle Hoffnung. Die Hoffnung verheißt dem Gelähmten, dass er wieder in Bewegung kommen: „hüpfen“ (hoffen kommt von hüpfen) kann. Sie verheißt dem, der am Boden liegt, dass er wieder aufstehen wird. Und sie verheißt dem, der in einer Sackgasse steckt, dass es einen Ausweg gibt. Es wird kein billiger Ausweg sein. Die Hoffnung überspringt nicht die Empfindung der Ausweglosigkeit. Aber sie ist eine innere Kraft, die mich nicht aufgeben lässt. Sie ist wie eine Pflanze, die sich durch den Beton hindurch einen Weg zum Leben bahnt.
Ich kann Menschen, die mir von ihrer großen Not, von tiefen Verletzungen, von Verzweiflung und Bitterkeit erzählen, nur dann gut begleiten, wenn ich selber darauf hoffe, dass ihre Wunden in Perlen verwandelt werden, wie Hildegard von Bingen das ausdrückt. Wenn ich selber schon den andern innerlich als hoffnungslosen Fall einordne, dann wird die Begleitung zur Farce. Wenn ich den andern aufgebe, dann wird er sich selbst aufgeben. Hoffnung brauchen beide: der Begleiter und der, der in Not ist. Ich vermittle dem anderen Hoffnung, indem ich selbst voller Hoffnung bin, dass er die Krise überwinden und aus der Sackgasse herauskommen wird. Aber diese Hoffnung ist nicht von selbst in mir. Ich muss immer wieder um diese Hoffnung ringen. Und ich bitte Gott darum, meine Hoffnung zu stärken. Die Theologen nennen die Hoffnung eine göttliche Tugend, d.h. es ist eine Tugend, die ich üben soll, aber zugleich eine Tugend, die Geschenk Gottes an mich ist. So ringe ich immer wieder um diese Hoffnung, damit ich dem andern nicht billigen Trost vermittle, sondern eine Hoffnung, die ihn nicht verzweifeln lässt, die wie eine Pflanze ist, die langsam in ihm heranwächst mitten im Wüstensand, und die irgendwann zur Blüte wird, die seinem Leben einen neuen Glanz verleiht.
Das vorliegende Buch ist entstanden aus Begegnungen mit Menschen, die ich in Kursen und Einzelgesprächen begleitet habe. Dabei habe ich versucht, in der Darstellung die jeweilige Situation so zu verallgemeinern, dass sich auch andere darin wiederfinden können und dass so der Erzählende geschützt ist und nicht erkannt werden kann. Das gilt auch von den Briefen, die ich in den letzten Jahren immer beantwortet habe. Die vielen Briefe und Mails, die ich bekomme, beantworte ich persönlich. Auch wenn ich dann im Brief „einfach leben“ solche Fragen aufgreife, sind sie immer so formuliert, dass der Schreiber selbst dabei anonym bleibt. Einige dieser Briefe und Antworten sind daher auch hier in diesem Buch abgedruckt.
Zum einen richtet sich dieses Buch an alle, die in eine Krise geraten sind und die sich auf einmal in einer Situation befinden, in der sie sich als ratlos und hilflos erleben. Die Beschreibung solcher schwierigen Lebenssituationen soll ihnen helfen, sich der eigenen Situation ehrlich zu stellen. Wenn sie die Schicksale anderer Menschen leben, fühlen sie sich in ihrer Situation nicht allein. Sie spüren, dass sie ein Schicksal erlitten haben, das auch andere kennen. Und ich hoffe, dass sich die Menschen durch die Beschreibung der Situation verstanden fühlen. Aber zugleich sollen die Gedanken auch Hoffnung vermitteln, dass wir der Krisensituation nicht hilflos ausgesetzt sind, sondern einen Weg herausfinden können. Es ist kein schneller Weg, aber doch ein Weg, den wir Schritt für Schritt gehen können. Und auf einmal haben wir das Gefühl, dass wir aus der Krise herausgekommen sind: gestärkt und mit einer neuen Sicht auf unser Leben.
Zum anderen richtet sich dieses Buch aber auch an die, die in ihrer Umgebung auf Menschen treffen, die in eine Krise geraten sind. Sie können darin Anregungen finden, wie sie mit der Notsituation anderer Menschen umgehen, wie sie sensibel reagieren und der Gefahr entgehen mit billigen Ratschlägen die Not noch zu vertiefen. Oft entspringen solche allzu schnellen Ratschläge der eigenen Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Daher möchte das Buch auch die Hoffnung der Begleiter stärken, damit sie aus dieser Hoffnung heraus die Situation der in Not geratenen Menschen aushalten können. Statt Ratschläge sollten sie Hoffnung vermitteln. Aber es ist keine billige Hoffnung, sondern eine, die Gott uns allen schenken möge, so wie er sie dem Abraham geschenkt hat. Von Abraham sagt Paulus: „Er ist unser aller Vater vor Gott, dem er geglaubt hat, dem Gott, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft. Gegen alle Hoffnung hat er voll Hoffnung geglaubt, dass er der Vater vieler Völker werde.“ (Röm 4,17f)
Aus dieser Hoffnung heraus die Not der Menschen wahrnehmen und ihnen beistehen, um sie teilhaben zu lassen an unserer Hoffnung, das gibt unserem Leben Sinn. Ein gutes Leben besteht darin, anderen freundlich zu begegnen, sich in sie einzufühlen, wahrzunehmen, was ihnen das Leben schwer macht, nicht nur mit ihnen zu fühlen, sondern ihnen auch zu helfen, wenn sie es nötig haben. Die Krise kann für den, der in sie geraten ist, zu einer Chance werden, mit einer neuen Sichtweise sein Leben zu leben, andere Maßstäbe an das Leben anzulegen, bewusster und achtsamer zu leben und mit neuer Hoffnung gestärkt in die Zukunft zu gehen. Wer andere in ihrer Krise begleitet, kann selbst Beglückung erfahren, wenn der andere aus seiner Krise stärker herauskommt. Er wird die beglückende Erfahrung machen, dass das Helfen auch den Helfer stärkt und ihn aufrichtet. „Helfen“ sei neben „lieben“ das schönste Wort, hat Bertha von Suttner einmal gesagt. Liebevolle Zuwendung und praktische Hilfe gehören zusammen. Wir sind aufeinander angewiesen, dass wir so einander Hoffnung schenken und uns gegenseitig aufrichten, um aufrechter und authentischer unseren Weg zu gehen.
Familiendramen, Zwiste und Konflikte
Plötzlich und ungewollt schwanger – was tun?
Krisensituationen
„Kalte Herzen“, so nennt die Freiburger Kulturwissenschaftlerin Julia Heinecke ihr Buch über das harte Leben lediger Mütter in den 1950er Jahren. Vorwürfe an unverheiratete Schwangere wie „Hast du denn keine Ehre im Leib?“ waren früher auch in der engeren Familie nicht ungewöhnlich, und ledige Mütter hatten oft lebenslang unter diskriminierenden Vorurteilen der Gesellschaft und unter den Folgen ihrer „Schande“ zu leiden. Nicht wenige wurden von ihren Kindern getrennt. Viele sahen sich in ausweglos schwierigen Situationen, wirtschaftlich, aber auch in ihrem sozialen Umfeld, und nicht zuletzt seelisch.
Und heute? Zum Glück ist unsere Gesellschaft von einer Moral abgekommen, die ungewollt schwangere Frauen generell verurteilt. Aber immer wieder kommt es zu Situationen, die für die Betroffenen krisenhaft sind – aus den unterschiedlichsten Gründen: Eine Schülerin mit 17 Jahren ist schwanger geworden – von dem Lehrer, in den sie sich verliebt hat, der aber selbst verheiratet ist. Eine junge Frau hat einen Partner. Aber die Partnerschaft ist sehr problematisch. Es ist nicht klar, ob sie wirklich halten wird. Denn der Mann erscheint als unreif und letztlich als beziehungsunfähig. Oder eine verheiratete Frau, die schon drei Kinder hat, wird mit 44 Jahren nochmals schwanger. Die Kinderwünsche waren eigentlich alle erfüllt. Sie hat jetzt große Angst, dass sie es nicht schaffen wird, sich noch einmal auf ein kleines Kind einzulassen.
Wie soll es weitergehen?
All das sind Situationen, die eine Frau in eine tiefe Krise stürzen. Von außen kann man da keinen klaren Ratschlag geben: Mach es so! Oder so! Die Frau muss selbst entscheiden, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Aber sie braucht in dieser Phase der Unsicherheit und Unklarheit Unterstützung. Das heißt: Sie braucht jetzt in erster Linie jemanden, der ihr zuhört, dem sie alles erzählen kann, ohne dass er es bewertet. Das ist das Entscheidende: Die Frau soll spüren, dass der andere ihre Entscheidung mitträgt, ganz gleich wie sie ausfällt. Und dass er jetzt ihre Empfindungen und Gedanken nicht bewertet. Denn in dieser Situation kämpfen die verschiedensten Gedanken und Gefühle in der Frau gegeneinander. Da ist auf der einen Seite die Freude, schwanger zu sein und ein Kind zu bekommen. Diese Freude kommt in jeder Frau hoch. Zugleich aber tauchen viele Ängste auf. Da ist die Angst vor dem Urteil anderer Menschen. Was sagen sie zu der Schwangerschaft, die das Mädchen und den Lehrer in große Schwierigkeiten bringt? Da taucht sofort der Gedanke auf, es ungeschehen zu machen. Die Konsequenz wäre, heimlich abzutreiben, sodass es keiner merkt. Aber wie gehe ich dann mit den Schuldgefühlen um, die mich plagen?
Die Angst der verheirateten Frau, die schon drei Kinder hat, bezieht sich mehr auf die veränderte Situation in der Familie. Die Frau hat gerade wieder angefangen zu arbeiten. Jetzt wird ihre ganze Lebensplanung durchkreuzt. Und sie hat Angst, mit 44 Jahren zu alt zu sein für ein kleines Kind. Kann sie es noch mit Geduld und Liebe annehmen? Aber gegenüber diesen Ängsten tauchen auch andere Gedanken auf: Ist es nicht ein Geschenk Gottes, dass ich nochmals schwanger geworden bin, dass wir noch ein Kind bekommen? Darf ich der Richter sein über das Leben des Kindes, das in meinem Bauch heranwächst?
Die Frau, die in einer unsicheren und unklaren Partnerschaft lebt und nun schwanger ist, wird wieder andere Gedanken und Gefühle mit sich herumschleppen. Da ist neben der Freude, dass sie schwanger ist und ein Kind in ihrem Leib trägt, die Hoffnung, dass das Kind die Partnerschaft retten könnte. Aber zugleich ist die Angst da, dass dann der Partner sich endgültig von ihr trennt, weil er nicht bereit ist, Verantwortung für das Kind zu übernehmen. Wie geht es mir dann, wenn er mich allein lässt mit dem Kind?
Als Begleiter darf ich der Frau die Entscheidung nicht abnehmen. Ich kann ihr nur immer wieder Fragen stellen, sodass sie all ihre Gefühle aussprechen kann. Sie selbst darf nicht erschrecken vor den verschiedenen Gedanken, die da in ihr auftauchen. Alle müssen einmal ausgesprochen werden. Sonst trägt die Frau die nicht ausgesprochenen Gedanken weiter in sich. Da sind manche Gedanken gar nicht fromm. Oder man hat das Gefühl, dass diese Gedanken gegen die eigenen Werte und Maßstäbe sind, die man bisher immer vertreten hat. Nur wenn alle Gedanken ausgesprochen sind, kann man gemeinsam überlegen, wie man mit diesen Gedanken und Gefühlen umgeht.
Was jetzt wichtig ist
Da ist zunächst die Tatsache der Schwangerschaft. Es ist wichtig, sich vorzustellen, dass in mir ein Kind heranwächst, dass ich einem Kind das Leben schenken kann. Diesen Gedanken soll man nicht sofort durch die Ängste, die auftauchen, beiseiteschieben. Es ist etwas Kostbares, ein Kind zur Welt zu bringen. Und wenn ich das Kind abtreiben lasse, wie gehe ich dann mit den Schuldgefühlen um? Bei jedem Schwangerschaftsabbruch tauchen Schuldgefühle auf. Davon erzählen mir viele Therapeuten. Ich muss also auch mit diesen Schuldgefühlen rechnen, mich ihnen stellen und mir überlegen, wie ich damit umgehe.
Dann sind da die Ängste. Ich soll die Ängste ernst nehmen und wirklich ausdrücken. Aber ich sollte mich immer auch fragen: Wie kann ich mit dieser oder jener Angst umgehen? Wenn die Schülerin Angst hat, von der Schule gehen zu müssen und dem Lehrer Schwierigkeiten zu bereiten, kann sie überlegen: Welche Chance liegt auch darin? Ich spüre, dass ich durch die Schwangerschaft einen großen Schritt in Richtung Erwachsenwerden mache und dass ich bereit bin, Verantwortung zu übernehmen. Und auch der Lehrer muss für sein Verhalten Verantwortung übernehmen. Das kann immer auch eine Chance sein, auch für ihn. Zum einen ist es die Chance, Abschied zu nehmen von der Illusion, dass ich immer mit einer weißen Weste durch das Leben gehen kann und dass das Leben ohne Komplikationen abläuft. Zum andern besteht die Chance darin, Mutter zu werden und so neue Fähigkeiten in mir zu entwickeln. Die Frau, die noch mit 44 Jahren schwanger wird, soll ihre Ängste auch offen anschauen. Und wenn sie sich die Ängste konkret vorstellt, kann sie zugleich fragen: Liegt darin nicht auch eine Chance, auf neue Weise Mutter zu sein? Ist das Nachzüglerkind nicht auch eine Bereicherung für die Familie, auch für die anderen Kinder? Oder sind wir in Gefahr, es als Nesthäkchen zu verwöhnen? Kann ich ihm die nötige Liebe entgegenbringen?
Und auch die Frau, die in einer problematischen Beziehung lebt, soll sich die Ängste konkret ausmalen: Wenn der Partner mich verlässt, bin ich dann überfordert oder wachse ich daran? Wie fühle ich mich als Mutter eines Kindes? Kommt da nicht auch Freude auf und das Vertrauen, dass ich es auch allein schaffen werde?
Eine Gewissensentscheidung
Als Begleiter kann ich die Frauen nur einladen, alle Gefühle und Ängste zum Ausdruck zu bringen. Ich darf ihnen die Entscheidung nicht abnehmen. Es ist eine Gewissensentscheidung, die jede Frau selbst treffen muss. Ich darf mich als Begleiter nicht zum Richter über das Gewissen des andern aufspielen. Ich kann nur immer wieder Fragen stellen. Das deutsche Wort „Frage“ hat die gleiche Wurzeln wie „Furche“. Mit meinen Fragen frage ich die Frauen nicht aus, ich dränge sie nicht in die Enge, sondern ich grabe eine Furche in den Acker ihrer Seele, damit die Frucht in ihrem Acker aufgeht. Und wenn sich die Frau entschieden hat, dann akzeptiere ich ihre Entscheidung. Ich habe dann nicht das Recht zu urteilen: Du hast dich falsch entschieden. Du darfst dich nur in dieser Richtung entscheiden. Das Gespräch, das wirkliche Beziehung schafft zwischen den Gesprächspartnern, ist immer offen. Wenn ich den andern im Gespräch von meiner Meinung überzeugen will, dann spreche ich nicht aus meinem Herzen zum andern, sondern ich will ihm etwas einreden, ihn überreden, ihn mit meinen Argumenten in die Richtung drängen, die ich für richtig halte. Doch wenn sich eine Frau im Gespräch verstanden fühlt, dann darf ich darauf vertrauen, dass sie eine Entscheidung trifft, die für sie und für die Menschen, mit denen sie sich verbunden fühlt, zum Segen wird.
Das Geschenk des Lebens
Eine Geschichte, die die verstorbene Politikerin Hanna-Renate Laurien erzählte, zeigt diese Haltung – aber auch, wie man Menschen in einer Krise hilfreich begegnen kann: Sie war Mitte der 60er Jahre Schulleiterin in Rheinland-Pfalz geworden, als eine Schülerin schwanger wurde. Nicht nur die Elternvertretung, sondern auch Stimmen aus dem Kollegium forderten, diese Schülerin „wegen schlechten Vorbilds“ von der Schule zu verweisen. Laurien weigerte sich. Wer Leben in erster Linie als Geschenk sieht, ist auch in einer solchen Konfliktsituation positiv motiviert. Lange vor der Gründung von „donum vitae“ zeigte sie, was das bedeutet: Sie kümmerte sich um das Mädchen, und sie half ganz konkret. Im Büro der Direktorin wurde ein Wickeltisch mit dem nötigen Zubehör aufgestellt. Die Schülerin durfte nach der Geburt ihres Kindes, während der Pause und wenn nötig während der Unterrichtszeit, für ihr Baby sorgen. Und schließlich bestand sie erfolgreich ihr Abitur.
Als viele Jahre später Frau Laurien zu einer Fernsehsendung eingeladen war, wurde ein Überraschungsgast angekündigt: Ein dreißigjähriger, strahlender junger Mann trat ein, umarmte sie und bedankte sich bei ihr vor dem Millionenpublikum. Es war der Sohn der schwangeren Schülerin, der sie damals geholfen hatte.
Wenn die Geburt eines behinderten Kindes prognostiziert wird
Belastungen und Unwägbarkeiten der Pränataldiagnose
Drei Frauen erzählten mir, dass der Arzt ihnen bei der Pränataldiagnose gesagt hatte: Ihr Kind wird behindert werden. Sie sollten es daher abtreiben. Da alle drei Frauen von ihrem christlichen Glauben her eine Abtreibung ablehnten, haben sie das Kind ausgetragen. Und alle drei haben ein gesundes Kind zur Welt gebracht. Eine Frau fragte dann den Arzt, warum er ihr das gesagt habe. Seine Worte hätten sie neun Monate lang in ständige Gewissensqualen getrieben. Sie habe mit ihrem Mann ständig daran gedacht, wie das alles werden würde. Der Arzt sagte ihr: Die Nackenfalten hätten darauf hingewiesen, dass es behindert sein könnte. Und er habe Angst gehabt, wenn das Kind wirklich behindert wäre, dann könnten die Eltern ihn verklagen, wenn er sie nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.
Die Frage ist berechtigt, ob jede schwangere Frau wirklich eine vorgeburtliche Untersuchung machen sollte, die gezielt nach Hinweisen auf Fehlbildungen oder Störungen beim ungeborenen Kind sucht, deren Ergebnisse jedoch nicht immer eindeutig sind. Oder ob Eltern nicht einfach vertrauen sollten, dass Gott ihnen ein gesundes Kind schenkt. Und wenn es behindert sein sollte, dass Gott ihnen dann auch die nötige Kraft geben wird, mit dem Kind gut umzugehen. Ich habe mit vielen Müttern gesprochen, die ein behindertes Kind haben. Es ist immer eine Belastung. Aber oft erzählen mir die Mütter, dass das behinderte Kind auch ein Segen ist für die Familie. Gerade Kinder mit Down-Syndrom sind oft von ihrem Gemüt her fröhlich und heiter. Sie bringen in die Familie Freude.
Welche Gedanken, welche Gefühle überwiegen?
Aber wie soll nun eine Frau damit umgehen, wenn die Pränataldiagnose ein schwer behindertes Kind prognostiziert? Auch da ist es für den Begleiter wichtig, dass er die Frau alle Gedanken, Sorgen und Ängste aussprechen lässt. Alle Gedanken dürfen sein, ohne dass sie bewertet werden. Die frühen Mönche sagen schon: Wir sind nicht verantwortlich für die Gedanken, die in uns auftauchen, sondern nur dafür, wie wir damit umgehen. Wie wir mit den Gedanken aber umgehen, das darf der Begleiter der Frau nicht vorschreiben. Er kann nur Anregungen geben, die Gedanken in aller Ruhe anzuschauen und die widerstrebenden Gedanken miteinander ins Gespräch zu bringen. Wenn ich die Alternative der Abtreibung zu Ende denke, wie geht es mir dann? Wenn ich das Kind austrage und mir die Schwierigkeiten eines schwerbehinderten Kindes vorstelle, welche Gefühle tauchen dann in mir auf? Welche Gedanken und Emotionen überwiegen? Sind es mehr die Gedanken, ob ich das behinderte Kind mit seiner Existenz überfordere? Dass es vielleicht nicht glücklich wird mit seiner Behinderung, sondern sich immer benachteiligt fühlt? Oder sind es mehr meine eigenen Sorgen, ob wir als Eltern mit dem Kind überfordert sind?
Es ist wichtig, alle diese Gedanken zuzulassen und auszusprechen. Aber dann könnten auch die Gespräche mit betroffenen Familien helfen. Wie gehen die Familien mit dem schwerbehinderten Kind um? Ist es ein Segen für die Familie? Oder ist es eine Belastung? Möchten die Eltern das behinderte Kind nicht missen, weil es eine Herausforderung für die ganze Familie ist? Die Erfahrungen anderer Eltern können einem helfen, die eigene Entscheidung zu treffen. Auch hier ist es immer eine Gewissensentscheidung.
Mehr Vertrauen ins Leben
Wir haben heute in der Gesellschaft die Tendenz, dass wir alles kontrollieren wollen. Wir wollen über den Anfang des Lebens ebenso wie über das Ende bestimmen. Doch tut es uns wirklich gut, immer alles kontrollieren zu wollen? Wäre es nicht besser, zu vertrauen, dass Gott uns die Kinder schenkt, die zum Segen werden für uns und für alle, denen sie begegnen werden?
Ich plädiere für mehr Vertrauen in das Leben. Aber ich kann das Rad nicht zurückdrehen. Es gibt heute die Pränataldiagnostik als medizinisches Angebot. Und es gibt viele Frauen, die sie in Anspruch nehmen. Ich möchte darüber nicht urteilen. Denn ein Urteil steht mir nicht zu. Und ich kann auch die Entscheidung der Eltern nicht beurteilen, die sie auf dem Hintergrund der Diagnose treffen. Ich kann ihnen nur beistehen, dass sie nach ihrem Gewissen entscheiden. Und über das Gewissen der anderen bin ich nicht Richter. Da steht nur Gott das Urteil zu.
Der Schmerz der Kinderlosigkeit
Mein Mann und ich sind kinderlos. Wir sind jetzt in einem Alter, in dem wir akzeptieren müssen, dass wir keine Kinder mehr bekommen werden. Das macht uns beide traurig. Es zieht uns nach unten. Wenn wir mit anderen Ehepaaren zusammen sind, haben wir immer das Gefühl, wir müssten uns rechtfertigen und erklären, warum wir keine Kinder haben. Wir fühlen uns dann minderwertig.