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Im Durchschnitt unterzutauchen, das ist Beccas Plan, als sie mitten in der Oberstufe die Schule wechseln muss. Doch schon bald findet sie sich in der ›Daily Soap des Rathenburg-Gymnasiums‹ wieder. Klar, dass dabei der attraktive Jay ihr Interesse weckt – schließlich stiehlt er jedem Mädchen das Herz. Aber auch der unauffällige Nick will ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Richtig kompliziert wird es allerdings erst durch eine folgenreiche Verwechslung. Und plötzlich schlägt Beccas Herz nicht länger für einen Jungen, sondern für ein Mädchen. Irritiert von ihren eigenen Gefühlen verschließt sie sich vor diesen und erklärt sie als schlichtweg nicht vorhanden. Aber kann man es ignorieren, wenn Liebe einfach so passiert?
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Fanny BechertWenns einfach so passiert
WENNS EINFACH SO PASSIERT
Im Durchschnitt unterzutauchen, das ist Beccas Plan, als sie mitten in der Oberstufe die Schule wechseln muss. Doch schon bald findet sie sich in der ›Daily Soap des Rathenburg-Gymnasiums‹ wieder.Klar, dass dabei der attraktive Jay ihr Interesse weckt – schließlich stiehlt er jedem Mädchen das Herz. Aber auch der unauffällige Nick will ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen.Richtig kompliziert wird es allerdings erst durch eine folgenreiche Verwechslung. Und plötzlich schlägt Beccas Herz nicht länger für einen Jungen, sondern für ein Mädchen. Irritiert von ihren eigenen Gefühlen verschließt sie sich vor diesen und erklärt sie als schlichtweg nicht vorhanden.Aber kann man es ignorieren, wenn Liebe einfach so passiert?
FANNY BECHERT
Wenns einfach so passiert
LGBT-Jugendroman
https://fanny-bechert.de | [email protected] Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar. 1. Auflage, November 2021 © Fanny Bechert, Greiz 2021Impressum Fanny Bechert c/o WirFinden.Es Naß und Hellie GbR Kirchgasse 19 65817 Eppstein Umschlaggestaltung: M.D. Hirt Lektorat: Tamara Leonhard | Löwenherztexte Korrektorat: Ingrid Fuchs | Zeilenfuchs.work Sensitivity Reading: Inflagranti Jack E-Book-Formatierung: Stefanie Scheurich Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Liebe:r Leser:in,
auch wenn dieses Buch zur queeren Literatur gehört, ist es keine Fachliteratur und auch nicht zur Gesellschaftskritik gedacht.Es soll weder anprangern, noch belehren oder wachrütteln – sondern unterhalten – und vielleicht einen Weg zeigen, wie es laufen kann, wenns einfach so passiert.Wenn du dich darauf einlassen möchtest, wünsche ich dir viel Vergnügen und eine schöne Lesezeit!
»Sie finden Ihr Kurszimmer im zweiten Stock. Einfach die rechte Treppe nach oben, Sie können es nicht verfehlen«, murmle ich wütend die Worte vor mich hin, mit denen mich die Rektorin auf den Weg zu meiner ersten Stunde geschickt hat.
Pustekuchen – die Frau kennt doch ihre eigene Schule nicht! Eine gefühlte Ewigkeit bin ich durch die Gänge des Rathenburg-Gymnasiums geirrt, bis ich ihren Fehler bemerkt habe. Links und rechts zu unterscheiden ist aber auch schwer. Da kann man die neue Schülerin schon mal die falsche Treppe hochscheuchen.
Ich höre bereits die Stimme der Lehrerin von drinnen, als ich endlich das richtige Zimmer gefunden habe.
Kurz lausche ich und erkenne schnell, dass sie gerade den Aufbau einer Fabel beschreibt. Na, wenigstens wird es mir nicht schwerfallen, im Deutsch-Leistungskurs mitzukommen – das haben wir nämlich schon vor den Winterferien besprochen.
Ich atme noch einmal tief durch, klopfe und öffne die Tür, noch bevor ich dazu aufgefordert werde.
Mein erster Blick gleitet flüchtig über die Klasse. Alle Augen sind auf mich gerichtet, was mir ein unangenehmes Kribbeln im Nacken und auf der Kopfhaut beschert.
Als mir zusätzlich die Hitze in die Wangen steigt, wende ich mich abrupt der Lehrerin zu. Ich habe kein Problem damit, im Rampenlicht zu stehen – solange es auf einer Bühne ist und nicht ich, sondern die von mir verkörperte Figur Ziel der Aufmerksamkeit ist. Dies hier ist allerdings ein Schulzimmer und das Publikum ist meine zukünftige Klasse, nicht eine Gruppe Menschen, die ich vermutlich niemals wiedersehe.
»Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung. Ich hatte noch einen Termin mit der Rektorin«, erkläre ich unaufgefordert und hoffe, dass die Lehrerin mir einfach schnell einen Platz zuweist und mit dem Unterricht weitermacht. Der Musterung der anderen werde ich dadurch kaum entkommen, aber ich kann mich dann zumindest hinter einem Buch verstecken.
Die ältere Frau schaut mich noch kurz verwirrt an, dann lächelt sie. »Ach, Sie sind bestimmt Rebecca Leitner, die neue Schülerin.«
Ich nicke ihr zu, schiebe mir eine blonde Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus meinem Zopf gelöst hat, und warte darauf, dass sie mir endlich sagt, wo ich mich hinsetzen soll. Mir wird immer heißer, so unangenehm ist mir die Situation. Hoffentlich bekomme ich keine Schweißflecke! Wie peinlich wäre das?!
»Sehr schön, sehr schön«, sagt sie. »Ich bin Frau Schreiber. Suchen Sie sich doch bitte einen freien Platz. Nach der Stunde möchte ich mich dann noch kurz mit Ihnen über Ihren Unterrichtsstand unterhalten.«
»Gern«, antworte ich bemüht freundlich. »Danke.«
Ich wende mich wieder der Klasse zu und verfluche die Lehrerin, dass sie mir die Wahl meines Platzes selbst überlässt. Ich habe keine Ahnung, wer diese Leute sind, wie soll ich da entscheiden, wo ich sitze? Was, wenn ich neben dem Klassenclown lande? Oder neben der absoluten Streberin? Oder noch schlimmer – dem schulinternen Alphaweibchen? Ich möchte weder in die Riege der Ausgestoßenen geraten noch in die Clique der Supercoolen. Eigentlich will ich doch nur meine Ruhe.
Meine Hände sind feucht vor Nervosität, als ich den Raum sondiere. Je länger ich zögere, desto peinlicher wird es. Und helfen wird es auch nicht – ich kann wohl kaum erwarten, dass plötzlich alle Alleinsitzenden nacheinander aufstehen, sich persönlich mit Namen und Status vorstellen und mir erklären, warum es gut wäre, mich neben ihn oder sie zu setzen.
Deshalb entschließe ich mich einfach, den Sitzplatz zu nehmen, der am weitesten vom Lehrerpult entfernt ist. Ich steuere also die vorletzte Reihe an, lächle meine zukünftigen Mitschüler schüchtern an und setze mich schließlich neben ein Mädchen mit langen, braunen Locken.
Sie grinst, rafft ein paar Blätter zusammen, die auf der freien Seite des Tisches verteilt lagen, und deutet dann mit einem Kopfnicken auf den leeren Stuhl.
Dankbar lasse ich mich darauf sinken, hole Federmappe und einen Schreibblock aus meinem Rucksack und stelle ihn dann neben mich auf den Boden.
Frau Schreiber macht sofort mit dem Stoff weiter und nach und nach drehen sich die Köpfe der anderen wieder nach vorn. Als mich endlich niemand mehr ansieht, kann ich ein erleichtertes Schnaufen nicht unterdrücken. Der schlimmste Teil des Tages ist geschafft!
Das Mädchen neben mir wartet noch kurz, dann stellt sie sich vor. »Ich bin Anne«, erklärt sie leise.
»Becca«, erwidere ich in der Hoffnung, von Anfang an durchzusetzen, dass ich mit meinem Spitznamen angesprochen werde. Ich finde es furchtbar, wenn mich jemand Rebecca nennt. Das klingt so altbacken.
Während die Lehrerin über klassische Muster in Fabeln referiert, unterzieht Anne mich einem wahren Verhör. Ich erzähle ihr bereitwillig, was sie wissen will: Dass ich siebzehn Jahre alt bin, aus einer Kleinstadt etwa zweihundert Kilometer von hier entfernt komme und mit meiner Mutter zu ihrem neuen Freund gezogen bin. Dass Mathe meine Achillesferse ist, Bio dafür mein Steckenpferd. Und dass ich in meiner Freizeit gerne lese und schauspielere.
Auch sie ist siebzehn, wie ich erfahre, und mag Biologie – allerdings nur wegen des äußerst attraktiven Herrn Kling, der den Leistungskurs gibt.
Viele Gemeinsamkeiten haben wir nicht, wie ich feststelle. Trotzdem finde ich sie sympathisch. Vielleicht ist sie ein wenig zu neugierig und zu quirlig für meinen Geschmack, aber aufgeschlossen und freundlich. Ich hätte es definitiv schlechter treffen können mit meiner Banknachbarin.
Leider haben wir nur wenige Kurse zusammen, wie Anne feststellt, als sie unsere Stundenpläne vergleicht. Demnach werde ich heute noch zwei weitere Male in die Verlegenheit kommen, neue Kontakte knüpfen zu müssen – ob ich will oder nicht.
Ein bisschen Zeit bleibt mir aber, denn nach Deutsch steht Kunst auf meinem Plan, genau wie bei Anne.
»Da kannst du dich auch zu mir setzen«, versichert sie mir, als wir nach dem Klingeln auf dem überfüllten Gang stehen. »Wo ist dein Spind?«, will sie als Nächstes wissen.
»Keine Ahnung«, gebe ich zu. »Ich habe ihn noch nicht gesucht. Es ist die Nummer D34.«
»Ahhh, die Deutschabteilung. Da hast du Glück, dass ein Spind passend zu deinem Leistungskurs frei war. Dann kannst du gleich mit mir kommen, meiner ist auch dort.« Zielstrebig wendet sie sich nach links und ich folge ihr.
Weit müssen wir nicht laufen, da sich unsere Spinde in der gleichen Etage befinden wie der Raum, in dem wir gerade Unterricht hatten.
Während Anne ihren bereits öffnet, gleiten meine Augen über die Beschriftungen der Türen, bis ich meine Nummer gefunden habe.
»Den kann man ja gar nicht abschließen«, stelle ich irritiert fest, als ich die Tür aufziehe.
Zu meinem Glück hat der Vorgänger ihn sauber hinterlassen. Keine Kaugummireste, keine bescheuerten Aufkleber an der Tür, kein vergammeltes Brötchen. Er mieft nicht mal sonderlich stark, hat also auch keinem Sportfreak gehört.
»Hat man dir nicht gesagt, dass du ein Schloss mitbringen sollst? Das kommt dann von außen in diese komische Metallöse«, ruft Anne mir zu.
»Nein, hat man nicht«, murmle ich und betrachte den Verschlussmechanismus. An meiner alten Schule mussten wir über ein Rädchen einen Zahlencode eingeben. Hier wird lediglich ein Vorhängeschloss angebracht – eins, das ich heute natürlich nicht bei mir habe.
Kurz hadere ich mit mir, ob ich überhaupt etwas hierlassen soll, wenn ich den Schrank nicht verriegeln kann. Letztendlich beschließe ich, dass ich das Risiko eingehe, und stopfe meine Jacke hinein, die ich bisher mit mir herumgeschleppt habe. Die wird bestimmt keiner klauen, oder? Falls doch, werde ich später ein echtes Problem haben. Es ist wirklich kalt draußen und …
»Hi«, reißt mich plötzlich eine fremde Stimme aus meinen Grübeleien.
Ein Junge mit kurzem, blondem Haar ist neben mir aufgetaucht und lehnt sich lässig gegen die Spindreihe. »Du bist die Neue, richtig? Spricht sich schnell rum so was. Ich bin Jakob. Aber alle nennen mich Jay.«
›Hi, ich bin ein eingebildetes Arschloch, aber alle nennen mich Schulschönling‹, entspricht eher meinem ersten Eindruck von ihm.
Seine ganze Ausstrahlung lässt keinen Zweifel daran, dass er wahnsinnig überzeugt von sich ist. Die Arme hat er vor dem Körper verschränkt und das Kinn ein Stück angehoben, obwohl er zu mir herabsehen muss, da er einen Kopf größer ist als ich. Außerdem sieht er schlank und irgendwie fit aus. Ich wette, er macht Sport – Fußball oder so … Ein laszives Lächeln umspielt seine Lippen und in seinen blauen Augen funkelt etwas, das ich nicht deuten kann.
Gut, Letzteres bilde ich mir vermutlich nur ein. Aber attraktiv ist er wirklich, sogar sehr.
Allein die Tatsache, dass er das ganz offensichtlich weiß und sein Ego dadurch die Größe des Eiffelturms hat, macht ihn unsympathisch. Er gehört definitiv zu der Art Schüler, in dessen Kreise ich nicht unbedingt aufgenommen werden möchte.
»Und du heißt?«, fragt er und zieht eine Augenbraue nach oben, als ich nichts erwidere.
»Das ist Becca«, kommt mir Anne zur Hilfe, die plötzlich hinter mir steht. »Heute ist ihr erster Tag. Sie ist gerade erst hergezogen. Wir haben Deutsch zusammen und … «
»Hi, Anne«, unterbricht Jay ihren Redeschwall zum Glück, noch bevor sie ihm meine ganze Lebensgeschichte erzählt hat.
»Hi«, antwortet sie gedehnt, fast schon seufzend.
Okayyy, Anne ist verknallt in Jay. Wie wahrscheinlich jedes zweite Mädchen der zehnten bis zwölften Klasse.
»Und was habe ich mit Becca für Kurse?«, fragt er und sieht mich dabei an, als würde er tatsächlich eine Antwort erwarten.
Was denkt der sich eigentlich? Dass ich ihn bereits gestalkt habe und seinen Stundenplan auswendig kenne?
Das hat Anne anscheinend erledigt. »Geschichte, Englisch und Physik, glaube ich«, kommt es von ihr wie aus der Pistole geschossen.
Er schenkt ihr einen kurzen, zufriedenen Blick und ich sehe im Augenwinkel, wie sie rot wird.
Herrje, habe ich es tatsächlich geschafft, mich schon am ersten Tag mitten in die Daily Soap des Rathenburg-Gymnasiums hineinziehen zu lassen? Herzlichen Glückwunsch, Becca!
»Na, dann sehen wir uns ja gar nicht mal so selten«, stellt Jay fest und schaut wieder zu mir. »Vielleicht redest du sogar irgendwann mit mir.« Mit übertriebener Coolness stößt er sich von dem Spind ab. »Übrigens: tolle Bluse«, sagt er noch, dann schlendert er davon.
Mit gerunzelter Stirn schaue ich ihm nach. »Lass mich raten. Das war der heißeste Typ der Schule, Kapitän der Fußballmannschaft und versetzungsgefährdet«, mutmaße ich an Anne gewandt.
»Basketball. Und eigentlich hat er ganz gute Noten«, erklärt sie grinsend. »Aber heiß ist er, absolut!«
»Also die Floskel mit der Bluse hätte er sich sparen können. Das war echt billig.«
Anne kichert. »Ich denke schon, dass ihm der Anblick gefallen hat.«
Ich schaue an mir herab. Klar habe ich mir heute Morgen besonders genau überlegt, was ich anziehe. Schließlich wollte ich weder, dass man mich für eine graue Maus hält, noch dass ich sofort als Püppi abgestempelt werde. Also habe ich mich am Ende für eine simple hellblaue Bluse mit langen Ärmeln entschieden, dazu dunkle Jeans und Turnschuhe. Chic, aber einfach, so die Devise.
Als ich jetzt an mir heruntersehe, erkenne ich allerdings sofort, was Jay so toll fand. Der obere Knopf hat sich gelöst, sodass ich viel mehr von meinem Dekolleté preisgebe, als ich eigentlich wollte. Und sicher auch mehr, als es anständig ist.
»Wieso hast du mir das nicht gesagt?«, schimpfe ich, wobei meine Stimme ein wenig piepst. Hektisch schließe ich gleich zwei Knöpfe, auch wenn ich jetzt vermutlich wie ein Mauerblümchen aussehe.
Anne lacht. »Ich dachte, das soll so sein. Ach, sieh es positiv: Immerhin hast du damit Jays Aufmerksamkeit erregt.«
»Weil das ja auch ganz oben auf meiner To-do-Liste für heute stand«, erwidere ich, was Anne jedoch übergeht.
»Ich finde, für den ersten Tag schlägst du dich echt gut.« Sie hakt sich bei mir unter. »Los, wir müssen uns beeilen, wenn wir nicht zu spät zu Kunst kommen wollen.«
Die Zeit bis zum Mittagessen verläuft ohne weitere Peinlichkeiten. Im Kunstkurs stellt mich Anne ihren Freundinnen vor, Kim und Melanie, die ich ebenfalls ganz nett finde. Und sie mich zu meinem Glück auch.
Der Unterricht selbst ist eher langweilig. Es geht um irgendwelche barocke Architektur und wie man sie von gotischer unterscheiden kann, etwas für die Kategorie ›Wer wird Millionär‹ also.
Auch die Stunde Physik, die danach folgt, bringe ich halbwegs unbeschadet hinter mich, da der Lehrer straff durchzieht. Außerdem habe ich einen Einzelplatz ergattert, bin also nicht gezwungen, schon wieder neue Kontakte zu knüpfen – schon gar nicht mit diesem Jay, der zwei Reihen vor mir sitzt.
Als es klingelt, wartet Anne bereits vor dem Klassenzimmer auf mich. Ich glaube fast, dass sie es ein bisschen genießt, sich um die Neue zu kümmern.
Nun folgt das wichtigste soziale Ereignis des Tages: die Mittagspause.
Wir reihen uns in den Strom Schüler ein, die alle dasselbe Ziel haben, und gelangen nach einer gefühlten Ewigkeit in die Kantine.
In meiner alten Schule hat es so was nicht gegeben. Wir hatten zwar einen Speisesaal, wo sich zu Mittag die halbe Schülerschaft versammelt hat, Essen gab es jedoch nur für die Kleinen aus der Fünften und Sechsten. Aber selbst die brachten lieber von Mutti geschmierte Brote mit, anstatt den Fraß zu essen, den die Schulleitung als ›ausgewogene Mahlzeit‹ betitelte.
Hier hingegen erkenne ich mit einem Blick zum Tresen, dass es drei verschiedene Menüs zur Auswahl gibt und zusätzlich noch einen Snack- und einen Getränkeautomaten.
Ich hatte zwar gelesen, dass die Kantine gut sein soll, aber mit so etwas habe ich nicht gerechnet. Schwermütig denke ich an die Brotbüchse mit den Salamibrötchen in meinem Rucksack. Klar könnte ich sie einfach dort lassen und wieder mit nach Hause nehmen, denn ›Rindergulasch mit Nudeln‹ klingt ziemlich verlockend … Allerdings habe ich kaum Bargeld dabei. Und Anne gleich am ersten Tag anzupumpen, wäre mir unangenehm.
»Hast du was zu Essen mit?«, fragt sie, da ich zögere, als sie auf das Ende der Schlange zusteuert, die sich am Tresen gebildet hat.
»Ja, ich wusste nicht … «, setze ich an. Da taucht Melanie neben mir auf.
»Ich auch. Komm, wir suchen uns schon mal einen Platz.« Sie bahnt sich einen Weg durch den überfüllten Speisesaal, wobei sie zielgerichtet auf einen Tisch zusteuert, an dem bereits drei Mädchen sitzen.
Scheinbar kennt sie die anderen, denn sie hockt sich wie selbstverständlich zu ihnen. Ich meine, mich zu erinnern, eine davon in Physik gesehen zu haben. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich mir merken kann, wer alles zu meinem Jahrgang gehört, geschweige denn, wie die Leute alle heißen.
Nachdem auch ich mich auf einem freien Stuhl niedergelassen habe, krame ich in meinem Rucksack, der mittlerweile vollgestopft ist mit irgendwelchen neuen Büchern, die ich leihweise in den einzelnen Kursen erhalten habe. Schließlich gelingt es mir, meine Brotdose, einen Apfel und eine Thermoskanne mit Tee hervorzuholen. Als ich endlich alles vor mir ausgebreitet habe, stößt auch Anne mit Kim im Schlepptau zu uns.
Sie setzt sich neben mich und ich kann mir einen neidvollen Blick auf das Schnitzel mit Kartoffeln auf ihrem Teller nicht verkneifen.
Memo an mich selbst: Nie wieder ohne Bargeld das Haus verlassen.
Die Mädchen quatschen über irgendwelche Banalitäten, irgendein Film, den Mel letztens gesehen hat und dessen beste Szenen die waren, in denen der Hauptdarsteller sich seines T-Shirts entledigt hat.
Ich kenne den Film nicht, nicke aber immer wieder, um nicht teilnahmslos zu wirken.
Dabei betrachte ich die Mädchen ganz genau, versuche, jeder ein bisschen Aufmerksamkeit zu schenken, und bleibe schließlich an Anne hängen. Ein Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht. Was für ein Glück, dass ich mich zu ihr gesetzt habe. Diese Mädchen sind weder besonders hübsch noch hässlich. Sie werden weder gemieden noch von jedem mit Handschlag begrüßt. Sie sind absoluter Durchschnitt und das finde ich toll.
Lautes, übertriebenes Gelächter an einem Tisch nicht weit von unserem erregt meine Aufmerksamkeit. Vier Mädchen sitzen dort, die etwa in meinem Alter sind, und gackern wie aufgescheuchte Hühner. Daneben sitzen noch einige Jungs, unter denen ich Jay erkenne.
»Soll ich dir einen kleinen Crashkurs geben?«, fragt Anne, die meinem Blick gefolgt ist.
»Na los«, fordere ich sie auf. »Ich kann dir aber nicht garantieren, dass ich mir das bis morgen merke.« Namen zu behalten zählt nicht unbedingt zu meinen Stärken. Und mein Kopf ist jetzt schon voll mit Melanie, Kim und den anderen hier am Tisch.
»Macht nichts, fangen wir mit den Wichtigsten an. Jay kennst du ja schon. Ihm gegenüber sitzen Karl und Enrico, beide aus der Zwölf und ebenfalls im Basketballteam. Rechts von ihm, das ist Tim und links Martin, der … «
Abwehrend hebe ich die Hände. »Okay, vergiss es.« Ich bin jetzt schon raus, wer wer ist.
Anne lässt sich jedoch nicht abbringen. »Das ist aber wichtig, Becca.« Beharrlich fährt sie fort mit dem Who-is-who von Rathenburg, nennt mir die Namen der übrigen Jungs aus Jays Clique und macht dann mit den Mädchen weiter. Dass ich mir Amanda merke, ist ihr dabei besonders wichtig. »Sie ist sozusagen die Anführerin«, erklärt sie hinter vorgehaltener Hand.
Als ob in dem Stimmenlärm, der hier herrscht, irgendjemand außer mir hören könnte, was sie sagt …
»Sie kann eine richtige Zicke sein. Mit ihr solltest du dich gut stellen … Aber lass dich nicht ausnutzen.«
Amanda beugt sich gerade zu Jay hinüber und flüstert ihm etwas ins Ohr, wobei sie ihre Hand fast zärtlich auf seinen Oberarm legt.
»Sind die beiden zusammen?«, frage ich. Wenn schon Klassentratsch, dann doch bitte richtig!
Anne lacht. »Das weiß man nie genau, aber im Moment sieht es ganz danach aus.« Dann seufzt sie. »Hach, sie ist so zu beneiden … Gib zu, dir gefällt er doch auch.« Sie versetzt mir einen leichten Stoß mit dem Ellbogen.
Ich mustere Jay noch einmal genauer, dann die anderen, die in seiner Nähe sitzen, und muss Anne leider zustimmen. Von all den Typen dort ist er mit Abstand der Attraktivste.
Was auch immer Amanda zu ihm gesagt hat, Jay winkt ab. Dann steht er auf, zwei weitere Jungs tun es ihm gleich. »Wer hat Bock auf ne Runde Basketball nach diesem ach so köstlichen Mahl?«, ruft er so laut, dass seine Stimme den halben Speisesaal übertönt. »Hey Nick, was ist mit dir? Bock auf ein paar Körbe?«
Unbewusst folge ich Jays Blick, der nun auf einen Tisch hinter seinem gerichtet ist – und revidiere meinen Gedanken, was seine mangelnde Konkurrenz betrifft.
Wirklich vergleichen kann man Jay und Nick nicht, der diesem gerade mit einem knappen »Ich bin dabei«, antwortet und aufsteht.
Jay ist der klassische Sportlertyp und Mädchenschwarm: Gestylte blonde Haare, kantiges Gesicht und ein trainierter Körper, den er in einem engen schwarzen Shirt wunderbar zur Schau stellt.
Nick hingegen hat rostbraune, kinnlange Haare, eher weiche Gesichtszüge und einen schmaleren Körper, was aber durch den weiten Hoodie, den er trägt, auch nur so wirken mag.
Doch es ist nicht nur die Optik, welche die beiden grundlegend unterscheidet, es ist ihre Ausstrahlung. Während Jay sich der Wirkung auf sein Umfeld, speziell den weiblichen Teil, durchaus bewusst ist und sich gezielt in Szene setzt, scheint es Nick egal zu sein, was seine Umgebung von ihm denkt, und wie er beim anderen Geschlecht ankommt. Er strahlt eine Authentizität aus, die Jay vollkommen fehlt und die dafür sorgt, dass mein Blick wie magnetisch an ihm haften bleibt.
»Uhhh, er kommt, er kommt«, piepst Anne, als Jay sich mit den anderen Jungs im Schlepptau in Bewegung setzt.
Auf dem Weg Richtung Ausgang gehen sie unweigerlich an unserem Tisch vorbei.
»Na Mädels, Lust, uns ein bisschen anzuhimmeln, während wir unsere Muskeln spielen lassen?«, lockt Jay, als sie auf unserer Höhe sind.
Ganz ehrlich, das ist so eine Art Einladung, bei der ich einer zweiwöchigen Grippe den Vortritt lassen würde. Aber ich vermute, Anne wird sich sofort dafür begeistern lassen.
Zu meiner Überraschung lehnt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Das klingt ja echt verlockend, aber leider, leider haben wir wichtigere Dinge zu tun. Die Flusen in unserem Spind zählen, zum Beispiel.«
Wow, da scheint ja doch noch ein Funken Selbstwertgefühl übrig zu sein!
»Schade, echt schade«, beteuert Jay und zwinkert uns zu.
Also, eigentlich zwinkert er mir zu, was mich sofort dazu veranlasst, zur Seite zu schauen.
Er ist zwar nicht mein Fall, das bedeutet aber nicht, dass mich so was kalt lässt. Jungs gegenüber bin ich ziemlich schüchtern, vor allem, wenn sie so unverhohlen Interesse an mir zeigen. Mit sowas kann ich nicht umgehen – und da spielt es überhaupt keine Rolle, ob mir der Typ gefällt oder ich ihn für einen Kotzbrocken halte, wie in diesem Fall.
Ich lande aber in der nächsten Falle, als ich Jays Blick ausweiche, denn meine Augen treffen auf die von Nick, der hinter ihm geht. Und jetzt schaffe ich es nicht, mich sofort wieder abzuwenden.
Ich glaube, er hat die schönsten Augen, die ich je bei einem Jungen gesehen habe. Sie sind groß und von einem hellen Braun, das beinahe golden schimmert. Und sie sind freundlich. Können Augen allein freundlich sein?
Irgendwie habe ich das Gefühl, die Zeit würde stehen bleiben. Oder ist Nick stehen geblieben? Auf jeden Fall scheint eine Ewigkeit zu vergehen, in der wir uns einfach nur ansehen – und ich ertappe mich bei dem Wunsch, sie würde nie zu Ende gehen.
Kann man sich nur in einen Blick verlieben? Vermutlich schon, wenn er so tief ist und einen regelrecht festhält, obwohl man sich am liebsten abwenden würde …
Himmel, was denke ich denn da für dämliche Sachen? Ich bin ja nun wirklich nicht die Sorte Mädchen, die sich an ihrem ersten Schultag sofort in den nächstbesten Jungen verknallt, der ihr über den Weg läuft! Wobei … zu meiner Verteidigung ist zu sagen, dass er ja bereits der zweite Junge ist, den ich getroffen habe.
Ich schenke Nick ein schiefes Lächeln, das so viel heißt wie: ›Hi, ich bin sozial inkompetent, aber freue mich trotzdem, dich kennenzulernen.‹
Tatsächlich erwidert er es auf eine Art wie: ›Danke gleichfalls.‹
In der nächsten Sekunde sind die Jungs auch schon an unserem Tisch vorbei und verlassen die Kantine – nicht, ohne doch noch ein paar Groupies aufgegabelt zu haben.
Ich schaue ihnen hinterher und kann nicht verhindern, dass mein Blick dabei abermals an Nick hängen bleibt. Selbst sein Gang wirkt neben den anderen so natürlich, so unverfälscht. So echt.
»Wer war das?«, frage ich Anne ohne sie anzusehen und hoffe, etwas mehr von ihr zu erfahren als nur seinen Namen.
»Wer? Nick?«, entgegnet sie, als sie meinem Blick folgt. Dann macht sie ein nachdenkliches Gesicht. »Puh, was soll ich sagen … Das ist eben Nick. Ziemlich beliebt unter den Jungs. Bei den Mädchen … unwichtig, würde ich sagen. Ist auch in der Elften, falls du das wissen willst.«
So skeptisch wie Anne mich ansieht, ist sie kurz davor, falsche Schlüsse zu ziehen, was mein Interesse an Nick betrifft. Also zucke ich nur mit den Schultern und schnappe mir meinen Rucksack, um meine inzwischen leere Brotdose wieder darin zu verstauen. Dabei zerre ich gleich meinen Kursplan hervor.
»Ich habe jetzt noch eine Doppelstunde Biologie«, stelle ich fest und schaue in die Runde. »Muss jemand in die gleiche Richtung?«
Zu meiner Erleichterung funktioniert mein Ablenkungsmanöver und anstatt weiter über die Jungs zu schwärmen, bekomme ich eine zusätzliche Unterrichtseinheit zum Thema Who-is-who: Das Lehrpersonal.
Meine erste Woche verlief alles in allem nicht schlecht. Ich schaffte es, mich nicht allzu oft zu verlaufen, machte mit einem Titanschloss aus meinem Spind einen einbruchsicheren Tresor und konnte überraschenderweise schon am dritten Tag den wichtigsten Gesichtern die passenden Namen zuordnen. Ich fand meinen Platz in Englisch, Geschichte, Geografie und was ich sonst noch so belegte. Und zu meinem großen Glück blieb mir mein Horrorfach Sport aufgrund von Krankheit der Lehrerin zunächst erspart.
Dafür machte ich eine andere großartige Entdeckung: Es gibt an dieser Schule eine Theater-AG, die sich einmal pro Woche unter der Leitung von Frau Schreiber trifft und … Na gut, was genau sie tun, weiß ich noch nicht. Keine von Annes Freundinnen ist Mitglied und ich habe mich auch nicht weiter umgehört, sondern entschieden, es einfach selbst herauszufinden.
Genau aus diesem Grund stehe ich jetzt, an einem sonnigen Freitagnachmittag, an dem alle anderen bereits ins wohlverdiente Wochenende gestartet sind, vor der verschlossenen Tür der Aula.
Noch einmal rüttle ich an der Klinke und klopfe gleich darauf, doch niemand reagiert. Ich kann auch keine Geräusche aus dem Inneren hören, die nur annähernd auf die Anwesenheit irgendwelcher Menschen hindeuten.
»Ach, das ist doch scheiße«, murmle ich und trete gegen das Holz, das mir den Zugang versperrt.
»Eigentlich ist das eine Tür.«
Erschrocken fahre ich herum. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich nicht allein bin. Vielleicht bin ich zu früh und die anderen kommen jetzt erst. Wenn Frau Schreiber meinen kleinen Angriff auf die Tür gesehen hat, gibt es bestimmt Ärger.
Als ich erkenne, wer mir da den Unterschied zwischen Fäkalien und einem Durchlass in der Wand näherbringen will, verschlucke ich mich beinahe an der erklärenden Verteidigung, die ich mir schon für die Lehrerin zurechtgelegt habe. Vor mir steht Nick, seinen Rucksack locker über eine Schulter geworfen und die Hände in den Hosentaschen vergraben. Er betrachtet mich mit einem schiefen Lächeln, von dem ich nicht deuten kann, ob er sich über mich amüsiert oder über seinen eigenen Spruch.
»Willst du bei der Theater-AG mitmachen?«, fragt jetzt das Mädchen, das neben ihm steht. Ich überlege kurz, ob ich sie kenne: schlank, langes schwarzes Haar mit einem kurzen, rund geföhnten Pony und eine große dunkle Brille – ziemlich hübsch. Und wie erwachsen sie wirkt … Nein, sie ist in keinem meiner Kurse, da bin ich sicher. Vielleicht eine aus der Zwölften?
Der nächste Gedanke, der mir durch den Kopf geht, ist die Frage, ob sie wohl Nicks Freundin ist. Warum sonst sollte er nach Schulschluss mit ihr zusammen hier rumlungern?
Stopp, ermahne ich mich selbst, als ich merke, wie sich mein Magen ein klein wenig zusammenzieht. Nicks Beziehungsstatus ist vollkommen uninteressant. Wichtiger wäre es, dem Mädchen zu antworten!
Die sieht das anscheinend genauso. »Willst du zu der Schauspielgruppe von Frau Schreiber?«, wiederholt sie ihre Frage und schaut mich mit hochgezogenen Brauen an.
»Ich … ja … genau«, stammle ich. »Ich habe auf der Schulhomepage gelesen, dass sie sich immer freitags in der Aula trifft, aber … « Ich greife hinter mich und rüttle noch mal demonstrativ an der Tür.
Nun grinst das Mädchen. »Normalerweise üben wir hier, das stimmt. Aber die Aula wird gerade renoviert, sodass wir in ein Klassenzimmer ausweichen müssen.« Sie deutet auf eine Tür ein Stück den Gang nach unten.
Wie süß, Nick bringt seine Freundin also zu ihrer AG, denke ich und selbst in meinem Kopf höre ich den bissigen Unterton.
»Ich bin übrigens Svenja«, stellt sich die Schwarzhaarige vor. »Das ist Nick. Und du bist?«
»Becca«, antwortet Nick an meiner Stelle. Vermutlich befürchtet er, ich würde mit jeder Antwort so lange brauchen wie mit der letzten und will das Gespräch etwas abkürzen.
Ich bin allerdings überrascht, dass er meinen Namen kennt. Zu meinem Bedauern haben wir nicht einen einzigen Kurs zusammen und bisher auch keine andere Gelegenheit gehabt, einander kennenzulernen – mal abgesehen von dem kurzen Blickkontakt an meinem ersten Schultag. Andererseits lässt die moderne Technik einem auch keine Chance, jemanden nicht zu kennen. Alleine auf Facebook habe ich mich in den letzten Tagen mit so vielen neuen Menschen angefreundet, dass er in seiner Timeline zwangsweise über mich stolpern musste – vorausgesetzt, er ist überhaupt in einem Social Network. Ich bin ihm dort zumindest noch nicht begegnet – nicht, dass ich aktiv nach ihm gesucht hätte! Also … nicht intensiv …
Oh oh – habe ich was verpasst? Svenja sieht mich schon wieder so an, als würde sie auf eine Reaktion warten?! Ich nicke einfach, das kann schon nicht ganz verkehrt sein.
»Na, dann komm«, sagt Svenja, dreht sich um und geht auf die Tür zu, auf die sie vorhin gedeutet hat.
Die Schauspielgruppe ist größer, als ich erwartet habe. Gut zwanzig Schüler und Schülerinnen aus verschiedenen Jahrgängen haben sich in dem Raum versammelt, in dem alle Tische und Stühle an den Rand geschoben wurden, um genug Spielfläche zu schaffen.
Trotzdem freut sich Frau Schreiber über mein Interesse, vor allem, als ich erzähle, dass ich an meiner alten Schule schon mehrere Jahre Theater gespielt habe.
Zum Einstieg beginnen alle mit ein paar Improvisationsübungen. Das ist eine klassische Aufwärmübung bei Theaterproben und nichts Neues. Die Spielenden sind jedoch Fremde für mich und ich bin neugierig, was sie so drauf haben. Gespannt beobachte ich, wie Frau Schreiber die anderen paarweise aufteilt und ihnen Aufgaben gibt, sobald sie an der Reihe sind. Teilweise sind es Banalitäten, die dargestellt werden sollen, wie zum Beispiel der Verkauf einer Waschmaschine ohne Wasseranschluss oder die Rückgabe eines Bibliotheksbuches nach über einem Jahr. Manche Darbietungsvorgaben sind aber auch ziemlich emotional, wie die Begegnung mit dem Geist der toten Tante oder der Abschied von der besten Freundin vor einem Umzug.
Letzteres könnte ich mit Bravour spielen, habe ich das doch gerade erst hinter mir. Allerdings würde das wohl in Tränen enden, denn ich merke, wie sich schon beim Zusehen ein dicker Kloß in meinem Hals bildet.
Dieser rutscht in meinen Magen, als Frau Schreiber plötzlich Nick nach vorn bittet. Ich war überzeugt, er wäre nur als Zuschauer geblieben. Dass er selbst mitmachen könnte, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen. Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finde.
Er bekommt einen pummeligen Sechstklässler als Partner zugeteilt. Sie sollen eine Szene umsetzen, in der die Tochter dem Vater beichtet, dass sie einen Klassentadel bekommen hat – wobei Nick das Mädchen verkörpert.
Als er mit piepsiger Stimme seine Verteidigung beginnt, kann ich mir das Lachen kaum verkneifen. Das Ganze endet noch witziger, indem der Vater seiner Tochter erklärt, dass die Ursache für den Tadel ein Fluch sei, der die Mitglieder seiner Familie zu Schulrowdies macht. Kreativ gelöst von den beiden, das muss ich zugeben.
Als alle durch sind, sieht mich Frau Schreiber erwartungsvoll an. »Da du ja einige Erfahrung mitbringst«, erklärt sie, »kannst du auch gleich mitmachen, Becca.«
Das kommt unerwartet! Eigentlich dachte ich, heute wäre erst mal nur zusehen angesagt. Aber ich freue mich riesig darauf, endlich mal wieder in die Rolle einer anderen Person zu schlüpfen. Meine Haut beginnt zu prickeln. Nervös bin ich nicht, mit den Leistungen der anderen kann ich locker mithalten. Ich hoffe nur, dass Frau Schreiber gnädig mit mir ist und nicht irgendein extrem absurdes Thema für mich auswählt.
»Wir beginnen mit etwas Einfachem«, sagt sie da zu meiner Erleichterung. »Du sollst die Einladung für ein Date ausschlagen. Dafür brauchen wir einen etwas penetranten Partner … Mal sehen … « Sie sieht in die Runde und jetzt werde ich doch unruhig.
Was, wenn sie …
»Nick, würdest du noch einmal, bitte?«
Schlagartig kippt meine Vorfreude in dezente Panik. Warum zum Geier nimmt sie gerade ihn? Hier gibt es doch noch drei weitere Jungs, wenn auch jünger, und genügend Mädchen, mit denen ich das genauso gut spielen könnte.
Schicksal, manchmal bist du ein Arschloch!
Nick steht bereits von seinem Stuhl auf und mir bleibt nichts weiter übrig, als es ihm gleichzutun.
Keine zwei Sekunden später stehen wir auch schon auf der provisorischen Bühne. Mein Herz klopft schneller als sonst und meine Hände werden feucht. Habe ich Lampenfieber?
Nein, meine Nervosität hat eindeutig andere Gründe, wie mir bewusst wird, als ich Nick kurz in die Augen sehe und meine Kehle trocken wird.
Wieder frage ich mich: Warum er?
Da legt Nick auch schon los. »Heyyy, Becca«, sagt er gedehnt und fährt sich auf eine Art durchs Haar, die mich an Jay erinnert. Ob er ihn tatsächlich imitiert? Oder sehe nur ich die Parallele?
»Hast du Bock, mit mir ein Eis essen zu gehen?«
»Ja!«, kommt es mir prompt über die Lippen, obwohl ich eine Sekunde vorher noch gezweifelt habe, ob ich überhaupt einen Ton hervorbringe.
Als Nick eine Augenbraue nach oben zieht und mich abwartend ansieht, fällt mir wieder ein, dass mein Übungsauftrag eigentlich lautete, seine Einladung auszuschlagen. Verdammt, wie komme ich da jetzt wieder raus?
»Ich würde liebend gern ein Eis mit dir essen … Lass uns gleich einen Termin ausmachen, ja?« Ich habe meiner Stimme einen höheren Ton gegeben und lege eine ganze Portion Arroganz hinein. »Mhhh … mal sehen«, überlege ich laut und tippe mir mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe, als würde ich ernsthaft nachdenken. »Ich glaube, wir sollten uns an dem Tag treffen, an dem Schweine fliegen können.« Ich schenke ihm ein herablassendes Grinsen und werfe mir mit einer schwungvollen Kopfbewegung das imaginäre Haar über die Schulter. Zufrieden bin ich mit dieser Antwort nicht, aber auf die Schnelle fällt mir nichts Besseres ein. Ich kann nur hoffen, dass die Art, wie ich es gesagt habe, das Was ein wenig ausgleicht.
Nick zieht einen Mundwinkel nach oben. »Baby, für ein Date mit dir würde ich sogar Giraffen zum Tanzen bringen. Wie wäre es gleich morgen?«
Ich kann nur schwer ein erleichtertes Seufzen unterdrücken. Mit seiner Antwort gibt er mir die Möglichkeit, neu anzufangen. Die Sache mit den Tieren gefällt mir und ich beschließe, dabei zu bleiben. »Ach, es geht um ein Date – nicht um ein Eis? Na, dann komme ich gerne mit. Morgen ist nur ganz schlecht, da muss ich meinen Goldfisch waschen.«
Wir werfen uns noch ein paar tierische Wortspiele an den Kopf, wobei ich mich immer mehr in die Rolle der arroganten Tussi hineinfühle. Gerade, als ich richtig in Fahrt komme, beendet Frau Schreiber unseren Auftritt.
»Gar nicht schlecht«, meint sie und wir ernten zurückhaltenden Applaus. »Man merkt, dass du bereits Erfahrung hast. Ich denke, du wirst eine Bereicherung für unsere Gruppe sein.«
Wir dürfen abgehen.
Ich schenke Nick ein schüchternes Grinsen, als ich wieder auf meinem Stuhl sitze, das er verschmitzt erwidert.
Dann startet die eigentliche Probe, bei der ich wieder nur Zuschauerin bin. Mir reicht es aber auch für heute. Selbst wenn Frau Schreiber mich gelobt hat, fand ich meine Leistung eher mittelmäßig, geradezu laienhaft. Hoffentlich finde ich zu meiner alten Form zurück, wenn ich die anderen etwas besser kennengelernt habe.
Als ich langsam durch das Foyer der Schule schlendere, hänge ich in Gedanken noch immer der Probe nach. Ich habe mich noch mit Frau Schreiber unterhalten, nachdem alle anderen gegangen waren, und sie ist bereit, mich in die Gruppe aufzunehmen – sie war sogar richtig euphorisch.
Ich glaube allerdings, sie ist einfach nur erleichtert, die letzte freie Rolle in ihrem aktuellen Stück besetzen zu können. Die Premiere ist bereits in gut zwei Monaten und ohne mich hätte sie den Charakter streichen müssen.
Mir ist schleierhaft, wie sie das hätte anstellen wollen – Bruder Tuck ist ziemlich wichtig in ›Robin Hood‹, soweit ich mich erinnere.
Es ist bestimmt nicht meine Traumrolle. Aber hey – ich bin drin! Das ist doch schon mal was.
Die restliche Besetzung ist, nach dem, was ich heute beobachten konnte, ziemlich gut gewählt. Sie haben eine Szene im Wald geprobt, wo sowohl die Banditen, als auch Robin – Nick – und seine Maid Marian – Svenja – zum Einsatz kamen.