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Wer bin ich? Diese Frage stellt sich in jedem Lebensalter neu. Viele Menschen beantworten sie nicht mit dem, was sie im Innersten ausmacht, sondern mit den Rollen, die sie in Familie, Beruf und Gesellschaft einnehmen. Wenn Selbstwerdung aber bedeutet, eine immer bessere Version dieser Rollen zu werden, gerät sie zur Selbstoptimierung. Anselm Grün und Hsin-Ju Wu ermutigen in diesem Buch dazu, sich den eigenen Schattenseiten zu stellen und sie zu integrieren. Es geht nicht darum, die Schwachstellen am eigenen Ich wegzutrainieren, sondern sich selbst mit allen Stärken und Schwächen anzunehmen und lieben zu lernen. Das eröffnet den unverletzlichen, heiligen Raum des wahren Selbst. »Selbstwerdung führt nicht zum Optimum, sondern ist ein Weg zur Ganzheit, zum Frieden mit sich selbst und mit den Menschen, zur Gelassenheit und Dankbarkeit, zur Freiheit und zur Lebendigkeit.«
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Seitenzahl: 159
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0570-4
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0633-6
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Antonie Hertlein
Covergestaltung: wunderlichundweigand
Covermotiv: Phatthanit/shutterstock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Anselm Grün und Hsin-Ju Wu
WER BIN ICH?
Selbstwerdung statt Selbstoptimierung
Vier-Türme-Verlag
ERKENNE DICH SELBST UND WERDE, WER DU BIST
Die Frage nach der eigenen Identität bewegt heute viele Menschen in verschiedenen Lebensphasen. »Werde du selbst und liebe dich selbst« – dieser Appell entspricht dem heutigen Mainstream. Doch es gibt auch kritische Fragen zu dieser Tendenz: Wie kann ich selbst werden, ohne meine Beziehungsfähigkeit einzubüßen? Oder wie kann ich selbst werden und gleichzeitig beliebt sein? Wie kann ich authentisch bleiben und zugleich psychische und soziale Resilienz entwickeln? Besonders in kollektiv orientierten Gesellschaften wie in Asien geraten Menschen in den Zwiespalt zwischen selbst werden und in Beziehung bleiben. Gerade in Asien gilt der Wunsch, ich selbst zu bleiben, oft als Egoismus.
Eine andere Tendenz ist zu beobachten: Junge Menschen benutzen heutzutage den Begriff Selbstfindung oft als Vorwand für ihre Weigerung, Verantwortung zu übernehmen für sich selbst und für die Gemeinschaft. Gerade im Alter zwischen 18 und 24 Jahren kreisen sie um die Frage: Wer bin ich? In der Familie und während der Schulzeit war die Rolle, die sie spielten, einigermaßen klar. Doch wenn sie ein Studium beginnen oder eine Arbeitsstelle finden, müssen sie sich neu definieren. Wer ist die Person, die sie nun darstellen?
Selbstoptimierung ist ein großes Thema, nicht nur bei Jugendlichen. In den sozialen Medien geht es ständig darum, alles immer noch besser zu machen, immer höher hinauszukommen. Der Politiker Wolfgang Thierse sagt, Selbstwerdung und Authentizität seien heute zum Zauberwort geworden: »Man sollte mit sich selbst identisch sein! Das ist der Anspruch. Und die Aufforderung heißt: Sei besonders, unterscheide dich, finde dich selbst, lebe deine Individualität, sei dein eigenes Projekt!« (Thierse, 12). Doch diese Tendenz kann auch zum Selbstoptimierungswahn werden, der die Menschen überfordert. Sie möchten alles kontrollieren, auch sich selbst. Jeder möchte etwas Besonderes sein. Die Verantwortung für andere tritt hinter diesem Anspruch zurück.
In der Lebensmitte taucht die Frage erneut auf: Wer bin ich? Bin ich der, der in seinem Beruf erfolgreich ist, der eine Familie gegründet hat und den Lebensunterhalt verdient? Bin ich nur die Aufgabe, die ich erfülle, oder die Rolle, die ich einnehme? Wer bin ich eigentlich? Und im Alter verwandelt sich die Frage aufs Neue: Wer bin ich, wenn ich mich nicht mehr über meinen Beruf definieren kann? Wenn ich einfach nur ich bin? Habe ich wirklich alles richtig gemacht oder an mir selbst vorbeigelebt? Was ist das Wesentliche meiner Person? Was ist mein wahres Selbst?
»Erkenne dich selbst – gnothi seauton«, so lautet die Inschrift am Tempel des Apoll in Delphi, und sie meint etwas anderes als Selbstoptimierung. Der erste Schritt besteht darin, mich kennenzulernen mit allen Höhen und Tiefen, mit allen Stärken und Schwächen, mich in meinem Wesen zu erkennen. Zum Erkennen gehört dann auch das Werden. So ergänzt der griechische Dichter Pindar diese Forderung mit seinem Rat: »Werde, der du bist.«
Gnothi seauton – man kann diese beiden Wörter unterschiedlich auslegen. Zum einen beinhalten sie, dass wir alles erkennen sollen, was an Gedanken und Gefühlen in uns ist. Wir sollen auch unseren Leib und seine Reaktionen auf unsere Erfahrungen mit uns selbst und mit anderen Menschen kennenlernen. Die frühen Mönche verstanden unter Selbsterkenntnis, dass man sich mit all den Leidenschaften vertraut macht, mit den »Dämonen«, die einen davon abhalten wollen, zum innersten Kern vorzustoßen.
Diese Selbsterkenntnis, so sagt der Mönch Evagrius Ponticus, ist die Voraussetzung, dass wir Gott kennenlernen: »Willst du Gott erkennen, lerne vorher dich selbst kennen« (Evagrius, PG 40, 1268C). Ohne Selbsterkenntnis würden wir nur all das Unbekannte und Unbewusste in uns auf Gott projizieren. Daher ist die Frage nach dem wahren Selbst auch von entscheidender Bedeutung für unsere Beziehung zu Gott, für unsere Gottesliebe.
Selbsterkenntnis bedeutet aber auch, meine eigene Identität zu erkennen: Wer bin ich wirklich? Was macht mich aus? Was ist das Geheimnis meiner Person? Was ist mein wahres Selbst? Für die stoische Philosophie ist autos das innere Heiligtum des Menschen, sein wahres Selbst, frei von äußeren Einflüssen. Das griechische Wort gignoskein meint nicht nur Erkennen, sondern vor allem auch Verstehen, und es steht auch für Vertrautsein mit etwas. Selbsterkenntnis ist also nicht rein intellektuell, sondern bedeutet auch die innige und liebevolle Beziehung des Menschen zu seinem Selbst, zu seinem innersten Personkern.
Wenn ich diesen Personkern, das wahre Selbst, erkannt habe, dann gilt der Rat Pindars: »Werde, der du bist!« (Pindar, Oden, aus der 2. Pythische Ode). Es genügt nicht, mich zu erkennen. Ich soll auch den Mut aufbringen, der zu werden, der ich von meinem Wesen her bin. Ich soll mich nicht nach den Erwartungen der anderen richten, sondern nach dem ursprünglichen und unverfälschten Bild, das Gott in mich hineingelegt hat. Pindars Spruch hat viele Philosophen und Dichter inspiriert. Friedrich Nietzsche verwendete ihn mehrmals und übersetzte ihn unter anderem so: »Du sollst der werden, der du bist« (Nietzsche, III, 270). Wir würden diese Forderung lieber mit dem Bild der Lebensspur ausdrücken: Grabe deine persönliche Lebensspur in diese Welt ein! Lebe so, dass die Menschen deine ganz persönliche Lebensspur erkennen.
Hier taucht vielleicht die Frage auf: Wie kann ich unterscheiden zwischen dem Kreisen um mich selbst und einer echten Selbstwerdung? Führt Selbstwerdung zu Egoismus? Die Psychologie unterscheidet zwischen Ich, Ego und Selbst. Das Ich ist nach C. G. Jung der bewusste Personkern, meine Identität. Das Ego bezeichnet dagegen das egoistische Kreisen um mein Ich. Jung spricht von Egoismus und Egozentrismus als Merkmale einer negativen Einstellung. Man könnte auch sagen, das Ich als bewusster Personkern ist in sich gut, während das Ego den negativen Aspekt des Ich beschreibt, das bewusste Festhalten am eigenen Ich.
Wenn in diesem Buch von Ego die Rede ist, meint es immer den negativen Aspekt des Ich. Das Ego besteht aus Bildern, die ich von mir habe. Es ist auch von außen beeinflusst. Das Selbst ist dagegen das innere Spüren, wer ich in Wirklichkeit bin. Das Ego muss sich aufblähen. Es ist oft mit Minderwertigkeitsgefühlen verbunden. Das Selbst ist die innerste Mitte. Allerdings gibt es in der Psychologie verschiedene Vorstellungen von Ich, Ego und Selbst. Wir halten uns hier an das Verständnis von C. G. Jung.
Theologisch könnte man sagen: Gott hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen. Dieses ursprüngliche Bild, das Gott sich von jedem Menschen macht, ist das wahre Selbst. Das Ich braucht der Mensch, weil er begrenzt ist. Das Baby muss seine Ansprüche stellen, sonst würde es nicht überleben. So ist das Ich – nach C. G. Jung – in der ersten Lebenshälfte wichtig, damit ein Mensch seinen Stand im Leben findet. Doch in der zweiten Lebenshälfte geht es darum, das Ich und vor allem das Ego mit seinen egoistischen Ansprüchen loszulassen und mehr und mehr mit dem Selbst in Berührung zu kommen. Wenn das Ego alles kontrollieren und auch die Menschen um sich herum beherrschen will, wird es problematisch. Im biblischen Zusammenhang verwendet man dafür das Wort Sünde. Die Bibel nennt die Ursünde: sein wollen wie Gott. Das Ego möchte wie Gott alles beherrschen. An sich ist das Ich nicht schlecht, aber wenn es zum Ego wird, kann es zu Narzissmus führen. Dann wird es zur Gefahr für mich selbst und für andere Menschen.
Unser wahres Selbst wird oft verdunkelt durch negative Selbstbilder, entweder durch Bilder, die uns klein machen, oder aber durch Bilder, die uns übermäßig erhöhen. In der geistlichen Begleitung erleben wir, dass das Selbstbild eines Menschen immer auch mit seinem Gottesbild korrespondiert. Beide beeinflussen sich gegenseitig: Ein negatives Gottesbild führt zu einem negativen Selbstbild und umgekehrt. Der erste Schritt zur Verwandlung besteht darin, krankmachende Selbst- und Gottesbilder durch gesündere zu ersetzen. Im zweiten Schritt geht es darum, alle Bilder loszulassen. Denn sowohl Gott als auch das Selbst sind jenseits aller Bilder.
Jesus spricht nicht nur von Selbsterkenntnis, sondern darüber hinaus von Selbstliebe. Es genügt nicht, sich selbst zu erkennen, wir sollen auch liebevoll mit uns umgehen. Sich selbst zu lieben bedeutet, sich anzunehmen, die eigenen menschlichen Mängel zu akzeptieren und wohlwollend auf sich zu schauen. Diese Selbstliebe ist kein narzisstisches Kreisen um sich selbst, sondern sie ist echt, wenn sie verbunden ist mit der Liebe zum Nächsten und mit der Liebe zu Gott. Das wird deutlich in der Antwort, die Jesus auf die Frage eines Schriftgelehrten nach dem wichtigsten Gebot gibt: »Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden« (Markus 12,29–31).
Über diese Beziehungen zwischen dem wahren Selbst, dem Ich und dem Ego, zwischen Selbstbildern und Gottesbildern, zwischen Selbsterkenntnis und Selbstliebe, zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe und über die Gottesliebe als Grundlage aller Liebe wollen wir in diesem Buch miteinander nachdenken. Wir beziehen uns dabei immer wieder auf Fragen von Kursteilnehmenden und von engagierten Christinnen und Christen. Viele von ihnen äußern Bedenken, ob Selbsterkenntnis und Selbstliebe nicht egoistisch seien und dem Gebot Jesu widersprechen, dass wir uns selbst verleugnen sollen. Und wir wollen vor allem auch auf die Fragen junger Menschen antworten, die auf der Suche sind nach ihrem wahren Selbst. Dieses Anliegen ist vor allem Hsin-Ju wichtig, die nicht nur als Mutter mit ihren eigenen Kindern, sondern auch mit den Fragen vieler junger Menschen in ihrem Umfeld konfrontiert ist.
DIE TENDENZ ZUR SELBSTOPTIMIERUNG
Heute ist es schon fast eine Selbstverständlichkeit, sich selbst zu optimieren. Selbstoptimierung bedeutet, dass ich immer besser werden und das Beste aus meinen Fähigkeiten herausholen muss. Selbstoptimierung kann zum Optimierungswahn werden. Alle Schwachstellen am eigenen Ich sollen wegtrainiert werden. Bei der Arbeit, in der Liebe, bei Sport und Gesundheit, beim Essen, im Alltag – überall möchte man das Optimum erreichen, eine möglichst perfekte Figur abgeben, wegen seiner Leistungen bewundert werden. Bei jungen Menschen gehört die Selbstoptimierung vor allem im Studium und Berufsleben zum ständigen Programm, das viele allerdings überfordert und ermüdet. Wer ständig versucht, seine Gesundheit und sein Wohlbefinden zu optimieren, ist oft häufiger krank als andere, die ganz normal damit umgehen. Andere verlagern ihre Selbstoptimierung auf Sport und Fitness. Sie sind nie zufrieden mit dem, was sie erreichen, denn es gibt immer Menschen, die es noch besser können. Wer sich ständig so unter Druck setzt, erreicht nie einen Zustand von innerem Frieden und Dankbarkeit.
Eng verwandt mit der Selbstoptimierung ist das sogenannte »Enhancement« als Weg der Selbstverbesserung. Das englische Wort enhance bedeutet steigern, erhöhen. Beim Enhancement als einer Sonderform von Selbstoptimierung geht es vor allem um neurowissenschaftliche Methoden, um pharmakologische Mittel, die meine Leistung sowohl im Studium als auch im Sport steigern sollen. Hier ist die Rede nicht nur von Optimierung, sondern von Selbstperfektionierung, vom Überschreiten der Grenzen des eigenen Menschseins. Man will nicht nur sein Gedächtnis verbessern, sondern sich selbst als ganze Person. Man möchte gleichsam einen neuen Menschen schaffen, überschreitet damit aber die eigenen Grenzen und schadet letztlich sich selbst. Der Ethiker Roland Kipke meint, das exzessive Selbstverbesserungsstreben sei eine »gefährliche Ignorierung« der Conditio humana, unserer menschlichen Bedingungen. Es führe nicht zu einem guten Leben, was eigentlich das Ziel unseres Strebens sein sollte, sondern zu »einer Untergrabung der gesellschaftlichen Solidarität« und zur »Oberflächlichkeit eines derart optimierten menschlichen Lebens« (Kipke, 66).
Ein probates Mittel zur Selbstoptimierung ist das Smartphone. Für jeden Bedarf gibt es eigene Apps. Sie registrieren, wie viele Kalorien wir essen und verbrauchen, wie viele Schritte wir machen, wie schnell der Puls schlägt. Sie vermessen und überwachen uns und zeigen, wie wir erfolgreicher und produktiver sein können. Viele Menschen teilen ihre Daten mit anderen, vergleichen sich und setzen sich dann erst recht unter Druck.
Psychologen erkennen bei vielen jungen Menschen, dass sie sich mit den eigenen Erwartungen an sich selbst, an ihre Schönheit, an ihre Ausstrahlung und Fähigkeiten überfordern. Die Folge ist dann oft eine innere Leere, die man durch viele äußere Aktivitäten zu überdecken versucht. Selbstoptimierung erzeugt das Bedürfnis, sich ständig zu kontrollieren. Doch wir können weder das Leben noch uns selbst völlig kontrollieren. Der Volksmund sagt: Wer alles kontrollieren will, dem gerät alles außer Kontrolle.
Der Zwang zur Selbstoptimierung erzeugt in vielen Menschen Überforderung und Burn-out. Viele nehmen sich zu viel vor – im Sport, in Studium und Beruf als auch in ihrem Streben, absolut gesund zu leben. Letztlich drehen sie sich immer um sich selbst und finden nie einen Punkt, an dem sie genügen oder wirklich zufrieden sind. Andere sind immer weiter auf ihrem Weg. So fällt es ihnen schwer, sich selbst anzunehmen. Sie setzen sich ständig unter Druck, noch mehr zu erreichen, sich noch besser darzustellen, andere zu übertreffen. Die sozialen Medien befeuern all das mit perfekten Bildern und sogenannten »Challenges«, bei denen schon Kinder miteinander in Wettbewerb treten und Vorbildern nacheifern. Bei den Erfolgreichen führt dieSelbstoptimierungoft zu Arroganz. Sie stellen sich über die »Durchschnittsmenschen«, schauen auf sie herab und verachten alle, die sich nicht auf den Weg der Selbstoptimierung machen.
Die Selbstwerdung, die C. G. Jung als Ziel des menschlichen Lebens bezeichnet, befreit uns von dem Druck, uns in eine vorgegebene Form hineinzupressen und bestimmte äußere Dinge zu erreichen wie Erfolg, Anerkennung, Gesundheit, Fitness, Perfektion. Es geht nicht mehr darum, etwas zu erreichen, sondern immer mehr ich selbst zu werden. Das wirkt gegen Druck und Überforderung, denn je mehr ich mir selbst entspreche, desto ruhiger und gelassener, desto freier und liebevoller werde ich. Selbstwerdung meint, dem nahezukommen, wie Gott mich gemeint hat, das Bild zu verwirklichen, das Gott sich von mir gemacht hat. Der Weg dahin überfordert nicht, sondern hält uns lebendig und gibt uns den Mut, wirklich authentisch zu sein.
WAS HEISST WAHRES SELBST?
Bevor wir über Selbsterkenntnis und Selbstliebe sprechen, gilt es zu klären, was wir mit »Selbst« meinen. Was ist das wahre Selbst? In Philosophie und Psychologie werden die Begriffe »Ich« und »Selbst« auf sehr verschiedene Weise gebraucht. Wir möchten uns auf das Verständnis des Selbst bei C. G. Jung beschränken.
DIE ANTWORT VON C. G. JUNG
Carl Gustav Jung, der Begründer der analytischen Psychologie, unterscheidet zwischen Ich und Selbst – zwischen dem Ich als dem bewussten Personkern und dem innersten Personkern des Menschen, den er Selbst nennt. Das Selbst verbindet in sich das Bewusste und Unbewusste. Um diese Unterscheidung zu verstehen, ist es hilfreich, sein psychologisches System zu betrachten. Jung sieht im Menschen verschiedene Schichten. Die äußere Schicht ist die »Persona«. Dieser Begriff hat nichts mit unserem gewöhnlichen Wort »Person« zu tun. Persona meint vielmehr die Maske, die wir aufhaben, oder auch die Schutzhaut, die unsere innere Wahrheit vor anderen verbirgt. Die Persona hilft uns, dass wir unsere Rolle in der Gesellschaft und bei der Arbeit gut spielen können, ohne ständig Angst haben zu müssen, dass die anderen in unser tiefstes Inneres hineinschauen. Aber wenn diese Persona zu stark ausgebildet ist, lebt ein Mensch nur noch seine Rolle, zum Beispiel als Polizist, als Unternehmerin, als Professor. Aber sein Wesenskern bleibt unsichtbar. Und je fester die Persona ist, desto stärker ist auch der Schatten, in den dieser Mensch alles Verdrängte hinabschiebt.
Da ist zum Beispiel ein Mann, der sich nach außen sehr sozial engagiert, sich innerhalb seiner Familie jedoch wenig am Wohlergehen der anderen orientiert. In seinem Beruf zeigt er Verständnis für die Menschen, zu Hause aber ist er gefühlskalt und versteht weder seine Frau noch seine Kinder. Was er in seinem Beruf verdrängt, lebt er daheim aus. Oder wenn jemand seine Aggression unterdrückt, um liebevoll zu erscheinen, dann gerät die Aggression in den Schatten und wirkt von dort destruktiv, entweder als Härte in der Haltung anderen gegenüber oder aber als passive Aggression in Form von unangemessener Kritik, Ignoranz, Verachtung, Häme oder auch der Klage, von anderen missverstanden und missachtet zu sein.
Die erste Aufgabe zur Selbstwerdung des Menschen – Jung nennt sie »Individuation« – ist es, von der Persona zum Ich zu finden. C. G. Jung spricht sowohl vom Ich als auch vom Ego. Das Ich ist der Teil unseres Selbst, der uns bewusst ist und uns hilft, unsere Rolle in der Welt zu finden und unser Leben zu organisieren. Ohne Ich gibt es kein Bewusstsein. Wir brauchen den Ehrgeiz, der mit dem Ich verbunden ist, um unsere Aufgaben anzugehen und sie gut zu erfüllen. Aber wenn wir das Ich zu sehr betonen, bleiben wir in ihm gefangen. Wenn es uns nur noch um das eigene Bedürfnis nach Anerkennung und Erfolg geht, übernimmt das Ego bei unserem Ich die Führung.
Das Ego dreht sich immer um sich selbst, es interessiert sich nur für die Bestätigung, die es bei anderen Menschen findet. Manchmal zeigt es sich selbst auf körperlicher Ebene, wenn eine Person vom Ego bestimmt ist: Sie wirft sich in die Brust, nimmt sehr viel Raum ein und stellt sich groß und mächtig dar. Das Selbst hingegen, unser wahrer Wesenskern, wird im Leib erfahrbar, wenn wir in unserer Mitte ruhen, wenn wir einfach da sind, unser Zentrum nicht in der Brust, sondern im Beckenraum haben.