Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod - Knud Romer - E-Book

Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod E-Book

Knud Romer

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Beschreibung

Im dänischen Nykøbing ist der Zweite Weltkrieg in den sechziger Jahren noch lange nicht vorbei: Ein »deutsches Schwein« ist Knud für seine Mitschüler, wegen seiner Lederhosen, der Pausenbrote und vor allem wegen seiner geliebten Mutter, die aus Deutschland stammt. Daß ihr erster Verlobter als Mitglied der »Roten Kapelle« von den Nazis hingerichtet wurde, das interessiert die Einwohner der Kleinstadt herzlich wenig. Heftig diskutiert, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in über 10 Sprachen übersetztn: Knud Romers Debütroman befaßt sich mit einem Tabuthema europäischer Geschichte. Todernst und komisch zugleich erzählt er vom Schicksal seiner Familie – quer durch Deutschland und Dänemark, über drei Generationen hinweg, jetzt im Taschenbuch.

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Seitenzahl: 244

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Knud Romer

Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod

Roman

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Suhrkamp

Für Andrea

Ich hatte immer Angst vor meinem Großvater, nichts als Angst. Ich kannte ihn nur als Papa Schneider. Wie er sonst hieß oder ob er auch einen Vornamen hatte, wußte ich nicht, und eigentlich war es auch egal, denn mir wäre es nie in den Sinn gekommen, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen. Er war kein Mann, den man mit dem Vornamen ansprach.

Papa Schneider hatte kilometerlange Narben im Gesicht, alle auf der linken Wange. Es waren Mensurschmisse aus dem vorigen Jahrhundert, er war in einer schlagenden Verbindung gewesen, einem »Schlägerverein«, wie meine Mutter es nannte. Die stellten sich auf und verteidigten ihre Ehre, indem sie mit Säbeln auf ihre Gesichter einschlugen – ohne eine Miene zu verziehen, den linken Arm auf dem Rücken.

Er hatte schwarzgraues, zurückgekämmtes Haar und hohe Schläfen, und es genügte, ihm in die Augen zu schauen, um ihn herauszufordern: »Sie haben mich fixiert, mein Herr.« Sein Blick ging nur in eine Richtung, stur geradeaus, und ich weiß nicht, ob es überhaupt jemanden gab, der ungeschoren davonkam, wenn er diesem Blick begegnete. Mit Ausnahme von Großmutter. Es war das Großartige an ihr, daß sie Papa Schneider als einzige in die Augen sehen konnte – meine Mutter tat es nicht –, meine Großmutter war seine schwache Stelle, die er vor allen verbarg, der Rest von ihm war hart und undurchdringlich.

Zu Hause bei Mutter und Vater regierte er souverän am Ende des Eßzimmertisches, dort hing sein Bild an der Wand. Es hatte einen Goldrahmen und zeigte eine Lichtung in einer Waldlandschaft. Papa Schneider sitzt mit einem Buch im Gras und schaut vor sich hin, daneben Großmutter mit einem Säugling im Arm, und meine Mutter ist noch jung und hält ihren Jagdhund Bello an der Leine. Das Buch, das Kind und der Hund, so waren die Rollen verteilt – Papa Schneider vertrat Geist und Kultur, die Frau war fürs Gebären zuständig, und Kinder waren eher die Natur und mußten wie Hunde abgerichtet werden.

Wenn wir aßen, saß ich kerzengerade auf meinem Stuhl, beide Hände auf dem Tisch und die Serviette unter dem Kinn, als würde Papa Schneider mit am Tisch sitzen und mich im Auge behalten. Wenn ich etwas falsch machte und eine Kartoffel mit dem Messer zerteilte oder redete, ohne gefragt zu sein, würde er mir mit einer Gabel in die Hand stechen, da war ich sicher.

Papa Schneider war der strengste Mensch, den ich kannte, der Inbegriff von allem, was unnachsichtig und hart war oder weh tat. Er war der oberste Knopf des Hemdes. Er war der Zinken des Kammes, wenn man mit Wasser gekämmt wurde. Er war das aufgeschlagene Knie und die Angst, zu spät zu kommen. Ich nannte ihn nicht beim Vornamen, und es gab auch sonst niemanden, der es tat.

Ich glaube nicht, daß überhaupt irgend jemand wußte oder auch nur darüber nachdachte, wie er hieß. Mein Großvater blieb allein damit, wie mit einem fürchterlichen Geheimnis – und mit dem höchsten Einsatz. Denn würde er eines Tages hören, daß ihn jemand beim Vornamen riefe, wüßte er, wer es wäre. Denn abgesehen von ihm kannte nur einer seinen Vornamen, und das war Gott. Meine Großmutter explodierte während des Krieges in einem Keller voller Waschbenzin. Sie hieß Damaris Dora Renata Matthes und war eine der schönsten Frauen Deutschlands. Schön wie eine griechische Statue, sagte Mutter immer, und die Photographien, die wir uns von ihr anschauten, sahen aus wie Postkarten aus dem Museum. Ihr erster Mann und ihre große Liebe, Heinrich Voll, starb während einer Blinddarmoperation und ließ sie allein mit ihrer Tochter zurück. 1924 war keine günstige Zeit für eine alleinstehende Mutter, und sie hatte es ihrem Aussehen zu verdanken, daß Papa Schneider sie heiratete.

Nun war seine schöne Frau zerfetzt und verbrannt, und was noch von ihr vorhanden war, lebte weiter in der Hölle der Kriegschirurgie. Aus Hautfetzen wurde sie zusammengeflickt und mit Lebertran eingerieben, da der Arzt die wahnwitzige Idee hatte, daß Lebertran die Wundheilung fördere und gut gegen das Austrocknen der Haut sei. Meine Großmutter durchlitt Folterqualen, sie ging ans Elbufer, um sich vor Schmerz zu ertränken, und immer wieder schrie sie: »Mein Gott, warum läßt du mich nicht sterben?« Zweimal versuchte sie, Selbstmord zu begehen und diesen Rest, der noch von ihr übrig war, umzubringen, doch es war ihm nicht beizukommen, und schließlich hängte sie sich einen Schleier vors Gesicht, nahm Schmerzen und Scham auf sich und setzte ihr Leben als ein zerstörtes Ding fort.

Ich habe mich nie darüber gewundert, wie Großmutter aussah, weil ich sie nie mit anderen Großmüttern verglich. Im Gegenteil, ich verglich die anderen mit ihr – und fand, daß sie mit ihren großen Ohren und großen Nasen merkwürdig aussahen. Wenn Mutter und Vater mich ins Museum mitnahmen oder wir mit der Klasse einen Ausflug in die Glyptothek machten, sah ich meine Großmutter auf den Podesten stehen, ohne Nase, ohne Ohren, ohne Hände, ohne Beine. Für mich war sie die klassische Schönheit, und genau wie bei den Statuen war ihr Gesicht erstarrt in einem lippenlosen Lächeln.

Großmutter kamen schnell die Tränen, sie weinte, wenn wir sie besuchten, und sie weinte und winkte mit ihrem Taschentuch, wenn wir mit dem Auto wieder davonfuhren; und jedesmal, wenn sie von etwas ergriffen wurde, von Feiertagen oder sentimentalen Filmen, liefen ihr die Tränen, und sie sagte: »Ich bin so gerührt.« Im Sommer saßen wir in unserem Garten, und ich las ihr Eichendorff und Keyserling vor oder Robert Walser, romantische Bücher. »Ach, wie schön«, sagte sie, wenn die Geschichte zu Ende war und ihr die Tränen über die Wangen liefen. Ich habe meine Großmutter geliebt und empfand eine grenzenlose Zärtlichkeit für sie, ich hätte ihr die Sterne vom Himmel geholt, wenn ich gekonnt hätte, und eines Tages tat ich es auch.

Ich bin fünfzehn Kilometer bis zum Moor im Wald von Hannenov mit dem Fahrrad gefahren, zwischen den Bäumen begann es bereits dunkel zu werden. Das Wasser war schwarz und unheimlich, und dann, ganz plötzlich, konnte ich sie im Gebüsch sehen: Glühwürmchen! Ich nahm sie mit nach Hause, und als alles vorbereitet war, sagte ich zu Großmutter, sie solle ans Fenster kommen und in den Garten schauen. Die Glühwürmchen leuchteten in der Dunkelheit, wie Sterne funkelten sie auf dem Rasen und bildeten ein Sternbild, Orion. Lange standen wir da und sahen es uns an, die Glühwürmchen krochen weiter, und das Sternbild löste sich langsam auf, es wurde schwächer und verschwand. Ich schaute Großmutter an und wartete gespannt, denn das Schönste, was ich kannte, war sie sagen zu hören: »Ich bin so gerührt.« Es war typisch für den Optimismus meines dänischen Großvaters, daß er eine Buslinie in einer Stadt eröffnete, die dafür zu klein war, noch dazu in einer Zeit, in der die Leute kein Geld hatten. Und so dauerte es nicht lange, bis das Interesse an dieser neuen Errungenschaft verschwand und der Bus leer blieb. Er verlegte die Haltestellen, stellte zusätzliche Schilder auf, änderte die Fahrzeiten und senkte den Fahrpreis, doch es half alles nichts. Es ging stetig bergab, und jeden Morgen stand mein Großvater auf und erlebte die Demütigung, sich mit der Mütze auf dem Kopf hinters Steuer setzen zu müssen und ohne einen einzigen Passagier in der Stadt umherzufahren.

Mein Großvater war nur schwer unterzukriegen, doch statt aus seinen Fehlern zu lernen, wollte er seinen Einsatz retten, indem er ihn verdoppelte. Es konnte überhaupt keine Rede davon sein, das Geschäft zu schließen, im Gegenteil, jetzt mußte gehandelt werden. Er erweiterte den Fuhrpark und den Fahrplan – die Fahrstrecke war nun nicht mehr viel zu kurz, sie war ganz einfach zu lang, und vor allem lag die letzte Haltestelle in einem Ort, in den niemand wollte: Marielyst.

Es war das Las Vegas meines Großvaters, nur war er der einzige, der daran glaubte, daß Marielyst zu einem neuen Skagen, zu einem Kur- und Urlaubsort werden würde – die Gäste würden herbeiströmen, aus Kopenhagen, aus Deutschland, und alle müßten doch transportiert werden, wartet’s nur ab! Doch dort gab es nichts als bankrotte Höfe mit sandigen Feldern, zugige Deiche und einen einsamen Badesteg an einer Pension, die den größten Teil des Jahres leerstand – mein Großvater eröffnete seine große Buslinie ins Nichts.

»Heute kommen sie«, sagte er, legte den Gang ein und fuhr nach Marielyst; und wenn er abends nach Hause kam, ohne einen einzigen Fahrschein verkauft zu haben, sagte er: »Morgen.« Beim Abendessen redete er sich den Kopf heiß und schwadronierte über die Schönheit der Natur, versprach das Blaue vom Himmel und Badegäste, die im Ausland nur darauf warteten, doch aus dem »Heute« wurde ein »in diesem Jahr«, und aus dem »Morgen« »nächstes oder übernächstes Jahr«, und je weniger auf den Tisch kam, desto mehr redete er.

Hin und wieder gab es Lichtblicke, und Großvater sah an einer Haltestelle auf der Landstraße Leute stehen, dann trat er aufs Gaspedal, doch sobald er ankam, hatte es sich erledigt. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er zum ersten Mal die Türen öffnete und seine Mütze bei der Frage »Einzel- oder Rückfahrschein?« zog – und sie feixten und reichten ihm ein paar Kisten mit Hühnern und sagten »Einzel«. In den Dörfern und auf den Höfen an der Strecke wurde es – vor allem für die Kinder – zu einem kostenlosen Vergnügen, sich an den Haltestellen aufzustellen und den Bus anzuhalten. Sie wollten nie irgendwohin.

Schließlich hielt Großvater nicht mehr an und fuhr nur noch aus Gewohnheit hin und zurück, nur um sich irgendwie zu beschäftigen; und abends setzte er sich dann an den Tisch und sprach kurz über die Freiluftbewegung, die auf dem Vormarsch sei, und über den großen Andrang, der unmittelbar bevorstehe, aber eigentlich glaubte er selbst schon nicht mehr richtig daran und wußte im Grunde weder ein noch aus. Die Gläubiger rannten ihm die Türen ein, er konnte die Familie nicht ernähren, die ohnehin mehr als genügsam lebte, und so sprach er eines Morgens den Satz aus, den alle die ganze Zeit über gesagt hatten: »Die kommen nicht« – und setzte sich ein letztes Mal in den Bus.

Er fuhr auf der Landstraße nach Gedser, durch Væggerløse und am Bahnhof vorbei, und dort stand ein junger Mann an der Haltestelle, wie schon so häufig zuvor. Mein Großvater hielt nicht an, warum auch? Doch diesmal war es anders, der Mann lief hinter dem Bus her und rief und winkte mit seinem Hut, er wollte mit! Großvater öffnete die Türen, und der junge Mann stieg ein, sagte auf deutsch »Guten Tag«, löste einen Einzelfahrschein und stieg an der Pension aus – »Ostseebad Marielyst«, sagte Großvater auch auf deutsch und wünschte ihm »einen guten Aufenthalt«. Jahrelang hatte er es geübt, und nun, da er Gebrauch davon machen konnte, war es natürlich zu spät.

Mein Großvater wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte, er schaute auf die mit Strandhafer bewachsenen Deiche und den weißen Sand, auf den grünen Streifen Wasser und den blauen Himmel. Er sah den Strand, bevölkert von Tausenden Touristen, die badeten und im Sand spielten, und die Ostsee lief über in seinem Blick. Dann wendete er und fuhr zurück und lieferte den Bus in der Stadt ab – das war’s. Er setzte sich auf die Bank am Bahnhof, hier blieb er sitzen und sah den Zügen nach, die vorbeifuhren und sein Leben mit sich nahmen. Es war der Sommer 1914, und Carl Christian Johannes hatte aufgegeben.

Eigentlich lag Falster unter der Meeresoberfläche und existierte im Bewußtsein der Menschen nur, weil sie sich weigerten, an etwas anderes zu glauben. Wenn sie sich aber nicht länger aufrecht halten konnten und schlafen gingen, dann stieg das Wasser ganz leise und überflutete die Deiche und Felder, die Wälder und Städte und holte der Ostsee das Land zurück. Ich hielt mich wach und sah es kommen, ich schaute aus dem Fenster auf das schwarze Wasser, das den Garten füllte – Fische schwammen zwischen den Häusern und Bäumen –, und in weiter Ferne segelte Nykøbing wie ein Kreuzfahrtschiff durch die Nacht. Der Himmel war voller Seesterne, und ich zählte mich in den Schlaf. Gegen Morgen setzte die Ebbe ein, und das Wasser fiel und zog sich zurück, wenn die Menschen in ihren Betten erwachten und aufstanden, um einen weiteren Tag damit zuzubringen, einander davon zu überzeugen, daß sie existierten, daß Falster existierte und alles auf der Landkarte verzeichnet war. Die Stadt duftete nach Meer und Fisch – in den Straßen lagen Tang und gestrandete Quallen –, und manchmal fand ich eine Muschel oder einen versteinerten Seeigel und legte ihn zusammen mit meinen anderen Beweisen für Atlantis in die Schublade.

Unser Haus hatte ein Loch, und legte man ein Ohr daran, hörte man Stimmen und Musik. Es war das Transistorradio. Es stand in der Küche und war fettig vom Bratendunst, die Antenne wurde von einem Klebestreifen zusammengehalten, und wenn Vater im Büro war, ließ meine Mutter es den ganzen Tag laufen. Außer mir war das Radio ihre einzige Gesellschaft, sie wusch ab zum Wunschkonzert und kochte zum Hörspiel, sie putzte Silber zum Ratespiel und saugte mit einem Zigarillo im Mund und Wodka im Glas beim Mittagskonzert Staub. Sie spielten Beethoven, Brahms und Tschaikowsky zu den Tönen eines Nilfisk-Saugers, der die Musik mit einem rhythmischen Brummen durchfuhr, mit langen Passagen im Flur und kurzen, kräftigen Stößen im Eßzimmer, wo der Teppich besonders sorgfältig gereinigt werden mußte. Wenn alles wieder still und sauber war, wurde ich mit der Staubsaugertüte in die Garage geschickt, und all die Musik und das Husten und die Stimmen und der Beifall landeten im Mülleimer. Ich hob den Deckel und blickte hinein – ein paar Takte der Pastorale entschlüpften und rochen nach Schimmel und vergorenen Äpfeln. Ich schlug den Deckel zu, und nicht ein Ton blieb zurück, mein Vater mochte keine Musik. Manchmal wurde es richtig kalt im Winter, dann wußte ich, daß die Reise nach Deutschland anstand. Wir hatten Tante Ida, die Stiefschwester meiner Mutter, ihren Mann Onkel Hermann und deren drei Söhne, Alexander, Werner und Peter, zu besuchen. Mutter und Vater packten warme Kleidung, Koffer und Geschenke ins Auto, und ich setzte mich auf den Rücksitz hinter Mutter, die Butterbrote für unterwegs geschmiert hatte. Vater kontrollierte noch einmal die Haustür, dann schloß er das Gartentor und guckte ein letztes Mal in den Kofferraum, alles lag an seinem Platz. Mit Hut und Autohandschuhen klemmte er sich hinters Steuer – seine Beine waren zu lang, um bequem sitzen zu können –, stellte den Rückspiegel ein und kontrollierte Benzinuhr und Kilometerzähler. Er steht bei exakt 9874,5 Kilometern, sagte er und notierte Zahl und Uhrzeit in seinem Kalender, wir hatten zwei Minuten Verspätung bis zur Abfahrt der Fähre. »Paß, Penunzen, Papiere«, riefen wir im Chor, dann drehte Vater den Schlüssel um, und Mutter zündete sich ein Zigarillo an, schaltete das Radio ein, um die Verkehrsmeldungen zu hören, und wir bogen in die Hans Ditlevsensgade, fuhren um die Ecke und weit zurück in der Zeit.

Wenn der Grenzbeamte uns kontrollierte, erstarrten wir und glichen den Photographien in unseren Pässen aufs Haar – und lächelten für einen Augenblick schwarzweiß. Dann war es überstanden, und die Autobahn lag vor uns. Mutter trank Zollfreies aus der Schraubverschlußflasche – wir lachten und sangen –, und Vater bat sie, das Radio leiser zu stellen und nicht soviel Wodka zu trinken, ist genug jetzt! Vor zwanzig Jahren hatte sie Deutschland wegen meines Vaters verlassen, und nun saß sie da mit ihren Erinnerungen, schaute auf die Häuser, Felder und Höfe, die vorbeisausten, und alles blinzelte zurück und erwiderte ihren Blick. Leise las sie die Städtenamen auf den Schildern, an denen wir vorbeifuhren, und verfolgte die Reise mit dem Zeigefinger im Michelinatlas – Hamburg, Hannover, Göttingen, Frankfurt am Main –, wie eine Träne lief die Route über die Karte und endete in Oberfranken.

An der Autobahn tauchten jetzt immer mehr Tannen auf, die Hügel wurden höher und schließlich zu Bergen, und als wir die Autobahn verließen und das letzte, dunkle Stück bis Schwarzenbach auf der Landstraße fuhren, fiel Schnee in schweren weißen Flocken. Mutter stieß mich an und flüsterte: »Wir sind da«, und ich erwachte zwischen Hunderten von Kilometern Bonbonpapier, sah aus dem Fenster und wischte mit dem Ärmel über die beschlagene Scheibe. Wir fuhren durch das Gittertor, und die Scheinwerfer des Wagens erleuchteten die Einfahrt bis zu dem großen Haus. Es lag ganz oben auf einem Hügel und sah mit seinem Turm, dem Park und den alten Bäumen aus wie eine Burg, und hier, mitten in dieser Winterlandschaft, wohnten sie: Familie Wagemeier.

Tante Ida und Onkel Hermann kamen die Haupttreppe hinunter und winkten uns zu, und die Söhne standen mit kurzen blonden Haaren und Bügelfalten in Reih und Glied, sie verbeugten sich, grüßten und gaben uns die Hand, als wären sie aufgezogen – »Grüß Gott, Tante Hilde, grüß Gott, Onkel Knut, grüß dich, Vetter Knüdchen!« Tante Ida gab mir einen spitzen Kuß auf die Wange und sagte: »Na, kleiner Knud, fröhliche Weihnachten«, und ihre Stimme zerbrach die Weihnachtswünsche in kleine schrille Splitter. Sie begrüßte Vater und wandte sich schließlich Mutter zu: »Schau mal einer an, das Hildemäuschen.« Und Mutter brach in ein »Ach Idamäuschen!« aus – und dann fielen sie einander in die Arme und haßten sich inniglich.

Der einzige, den ich mochte, war Onkel Hermann, ein kleiner, rundlicher Mann, der vornübergebeugt ging, weil er Rückenschmerzen hatte. Er hatte grüne Augen und trug eine Brille – und ich hatte das Gefühl, daß er direkt durch mich hindurchsehen und mein Skelett und meine Organe inspizieren konnte, wenn er mir in die Wange kniff und in den Bauch piekste, um mich auf Kommando zum Lachen zu bringen, als würde ein Arzt darum bitten zu husten. Ich lachte und lachte und spürte bereits, wie sich eine Erkältung ankündigte, und Onkel Hermann hörte mich ab und dachte nach, dann stellte er die Diagnose und steckte mir ein Bonbon aus seiner Hosentasche zu. Es schmeckt nach Kampfer und hilft gegen das allermeiste, sagte er, und wir folgten ihnen ins Haus.

Onkel Hermann war Röntgenarzt und verbrachte seine Tage damit, von den Leuten Bilder zu machen und ihnen zu erzählen, ob sie leben oder sterben würden. Er kam mittags nach Hause und trank einen Schnaps, dann ging er zurück und photographierte weiter, die ganze Stadt durchlief seine Klinik: Fremde und Bekannte, Freunde und Familie – früher oder später kamen alle dran. Es rieb ihn auf, und der Blitz, der ihm die Dinge in ihrem wahren Licht zeigte, ließ ihn immer bleicher werden, seine Rückenschmerzen wurden schlimmer, und er hustete und schrumpfte mehr und mehr zusammen. Nach der Arbeit und dem Abendessen zog er sich still zurück, trottete mit einer Flasche Wein die Treppe hinauf, schloß die Tür seines Dachzimmers und studierte, wie es hieß. Niemand wußte, was, es waren Geheimwissenschaften.

Onkel Hermann glaubte an Geister, und er hatte allen Grund dazu. Als Siebzehnjährigen hatte man ihn an die Ostfront geschickt und nach Stalingrad marschieren lassen, zwei Millionen Tote später war er durch den russischen Winter wieder zurückmarschiert und hatte drei Zehen und seinen Verstand verloren. Er hatte gesehen, wie seine Vorväter im Jenseits ihre Hand über ihn hielten und vor Kugeln und Kälte schützten, und obwohl er lebendig zurückkehrte, kam er nie wirklich nach Hause. Er lebte mit seiner Familie in der Vergangenheit und verkehrte mit Gespenstern, die nur er sehen konnte, und die Halluzination seines vorherigen Lebens war das einzige, was ihm nach dem Krieg geblieben war.

Im Laufe der Jahre sammelte Onkel Hermann Erbstücke und Antiquitäten, und all diese Fundstücke, die einmal der Familie gehört hatten, stellte er in die Ecken und auf Kommoden oder hängte sie an die Wände und richtete so das ganze Haus als Familienmausoleum ein. Es war voller Reliquien von Großeltern, Urgroßeltern und Ururgroßeltern, bis hin zu der Rüstung, die am Ende der Treppe stand und nachts rasselte, wenn Onkel Hermann schlafwandelte und noch immer durch den ewigen Winter marschierte. Seinen Söhnen schenkte er zur Konfirmation einen Siegelring, der der Familie gehört hatte; so erhielten sie ihren Platz zwischen den Porträts, den Rüstungen und dem Tafelsilber, und dort standen sie nun und hatten keine Chance zu entkommen, ihr Schicksal war mit Wappen und rotem Lack besiegelt.

Ich war neidisch auf sie und fühlte mich um meinen Teil der Geschichte betrogen, doch an einem der Tage vor Weihnachten sagte Onkel Hermann, ich solle ihn nach dem Abendessen oben in seinem Zimmer besuchen, dort würde er mir etwas schenken, das besser wäre als ein Ring, und er zwinkerte mir zu. Die Zeit verging unendlich langsam, sie aßen einfach nicht auf, und der Nachtisch zog sich hin und schmolz auf den Tellern, bis Onkel Hermann endlich »Mahlzeit« sagte, seine Serviette hinlegte, den Stuhl zurückschob und sich vom Tisch erhob. Er nahm seinen Wein, ging die Treppe hinauf und schloß die Tür. Sofort stand ich davor, und es war wohl mein Herz, das anklopfte, so heftig schlug es. Ich dachte, ich sterbe, als Onkel Hermann öffnete und »Guten Abend« sagte.

Der Raum ertrank in Papieren und Büchern, überall standen Regale, und er begann von den Dingen im Zimmer zu erzählen – einem Samuraischwert, das er aus Japan mitgebracht hatte, indischen Gebetsglocken, den Geweihen an der Wand. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, auf dem Kirchenbücher und alte Photographien lagen. Hier saß er nachts und studierte und zeichnete Stammbäume mit immer phantastischeren Verzweigungen, während er langsam die Flasche austrank. Gerahmt und unter Glas hing über dem Schreibtisch ein Haarkranz, der mit einer schwarzen Schleife gebunden war, und er erklärte mir, es sei ein Zopf, der seiner Großmutter abgeschnitten wurde, als sie 1894 starb; zur Erinnerung an sie habe er im Wohnzimmer seiner Eltern gehangen. Onkel Hermann hustete, verstummte und sah mir in die Augen, und als er die Schublade aufzog, wußte ich, daß es jetzt soweit war.

Ein Wort wie Rückzug gab es nicht bei der deutschen Wehrmacht, sagte er – und legte ein kleines Stück Metall auf den Tisch. Onkel Hermann zeigte mir die Narbe am Unterarm und erzählte von der Schlacht, aus der sie stammte, und vom Rückweg durch Rußland. Wenn sie Nachschub wollten, mußten sie eine Vorhut losschicken, um die SS auszuschalten, die die Depots gegen die eigenen Soldaten verteidigte. Sie hielten die Stellung genau so lange, wie die Kompanie brauchte, um anzurücken und Lebensmittel, Kleider und Munition zu fassen, dann marschierten sie auf ihrer Flucht vor dem Untergang weiter nach Westen. Onkel Hermann seufzte, rollte den Hemdsärmel herunter und reichte mir das Metallstück. Es war ein Teil einer russischen Handgranate, und es war meins.

Onkel Hermann war voller Granatsplitter, die in regelmäßigen Abständen aus ihm austraten, und jedesmal, wenn wir uns trafen, gab er mir ein neues Stück und erzählte weiter vom Krieg; Splitter für Splitter stückelte ich die Geschichten zusammen. Sie handelten vom Überleben, doch am Ende gab es immer eine Leiche, und er konnte nichts anderes tun, als es so lange wie möglich hinauszuzögern. Manchmal kam er überhaupt nicht weiter und verlor sich in Details, dann beschrieb er eine Landschaft oder eine Uniformjacke, an der er die Knöpfe zählte. Wenn ich fragte, wem die Jacke gehört habe, antwortete er, der ist gefallen, gab mir einen Splitter und hatte dieses Mal seine Geschichte beendet.

Außer mir gab es kaum jemanden, der Onkel Hermann mochte. Oder nein, Mutter mochte ihn, und Vater wahrscheinlich auch, aber seine Frau und seine Kinder mochten ihn nicht. Das intensivste Gefühl, das sie für ihn hegten, war Furcht, im Haus herrschte eine gedrückte Stimmung. Tante Ida hatte ihn wegen des Geldes geheiratet und weil er einer der wenigen Männer war, die man nach dem Krieg noch heiraten konnte; die Söhne schlichen herum wie geprügelte Hunde und redeten ihm nach dem Mund. Alles an ihnen war unnatürlich, und wenn sie sich einschmeichelten und ihm zur Hand gingen oder artig am Tisch saßen und aßen, konnte ich bei ihren Bewegungen die Zahnräder sehen und war überzeugt, daß es sich um mechanische Puppen handelte, aufgezogen von Angst, Ohrfeigen und Stubenarrest. Den größten Teil der Zeit verbrachte ich allein.

Es war eine Erlösung, wenn Weihnachten vorbei war und wir nach Hause fuhren; ich konnte es kaum erwarten, den Gespenstern in diesem kalten Haus zu entkommen, in dem man eine Erkältung bekam, sobald man in die Tür trat. Mutter und Vater packten das Auto, wir verabschiedeten und bedankten uns und stellten uns ein letztes Mal draußen auf der Terrasse auf. Es schneite, und Onkel Hermann winkte mit der Hand und bat uns, enger zusammenzurücken: Tante Ida, Alexander, Werner und Peter, Mutter, Vater und ich. Dann sagten wir cheese, und er hielt die Kamera vors Auge und drückte auf den Auslöser, und ich schrie und schrie und schrie, aber es war zu spät. Das Bild war gemacht, und ich wußte, daß Onkel Hermann darauf sehen konnte, wer von uns sterben würde.

Es war jedesmal dasselbe, wenn wir einkaufen gehen wollten. Mutter seufzte, nahm die Einkaufstasche und zog den Pelzmantel an – gelb war er, mit schwarzen Flecken, ein Ozelot, und Vater hatte gesagt, er werde auf sie aufpassen. Ich stellte mir vor, daß jeder, der ihr zu nahe kam, gefressen würde. Mutter setzte eine passende Pelzmütze auf den Kopf, dann griff sie nach meiner Hand, lächelte traurig und sagte: »So, Knüdchen, jetzt gehen wir einkaufen.« Und wir nahmen all unseren Mut zusammen, atmeten tief durch und gingen in die Stadt.

Die Bäckerei lag ein paar Straßen weiter am Enighedsvej, und sobald wir eintraten, wurde es schlagartig still, und die Leute starrten uns an und drehten sich um. Wir standen in einer Schlange, die länger und länger wurde, und wir kamen nie an die Reihe. Meine Mutter sagte »Entschuldigung« und hob vielleicht auch zaghaft die Hand, um auf uns aufmerksam zu machen, doch niemand reagierte, und so ging es weiter, bis die Verkäuferinnen nicht mehr an sich halten konnten und kicherten, mit den anderen Kunden im Laden Blicke tauschten und Mutter fragten, was sie wolle?

Meine Mutter bat um ein helles Weißbrot, ein grobes Vollkornbrot, einen Liter Milch und ein Päckchen Butter. Sie war nervös und ihre Aussprache gebrochen, und sie packten ihr saure Milch, ranzige Butter und altes Brot in die Tüten und gaben ihr zu wenig Wechselgeld heraus; meine Mutter senkte den Kopf und sagte »Vielen Dank« und »Entschuldigung«, und wir machten, daß wir hinauskamen, und gingen dort nicht wieder hin. Wir liefen den Grønsundsvej hinauf zum Metzger Bengtsen an der Ecke, über die Højbro zum Gemüsehändler in der Østergade und zu Kaffee-Jeppesen in der Slotsgade, und in jedem Geschäft passierte dasselbe.

Mutter und ich gingen unsere tägliche Runde durch eine Stadt, die uns den Rücken zugekehrt hatte, wir sahen alles von hinten und begegneten nur Leuten, die sich abwandten oder abwehrend gestikulierten, wenn Mutter auf sie zuging. Sie schauten in eine andere Richtung, die Türen waren verschlossen, die Waren ausverkauft, die Stühle besetzt, und nach dem Kirchgang zu Weihnachten zog der Pastor seine Hand zurück. Wir waren die einzigen Menschen auf der Welt, und meine Mutter hielt mein Leben in ihren Händen und ich ihres, wenn ich mit kleinen Schritten neben ihr herlief und wir zusammen zum Marktplatz und den ganzen Weg zurückgingen.

Wir waren erleichtert, sobald wir die Tür aufschlossen und wieder sicher daheim im Flur standen. Mutter hängte den Ozelot an die Garderobe, ging in die Küche und packte den Einkauf aus. Dann schenkte sie sich ein Glas Wodka ein, ging ins Wohnzimmer und legte eine Platte auf. Sie zündete sich ein Zigarillo an, lehnte sich auf dem Sofa zurück und stieß den Rauch aus – und den Rest des Nachmittags feierte sie mit sich selbst und hörte Zarah Leander, Marlene Dietrich, Heinz Rühmann und all die anderen Schlager aus den Dreißigern, während sie an Berlin dachte.

Meine Mutter war blond und schön, und sie hatte ihr Leben gelebt, bevor die Nazis es ihr nahmen. Sie war 1939 nach Berlin gekommen, um zu studieren, und wohnte in einem vornehmen Heim für junge Mädchen, der Auguste-Viktoria-Studienanstalt. Mit Park, Portier und Zimmermädchen, und die strenge Hausordnung war nur dazu da, nicht eingehalten zu werden. Tagsüber studierte sie an der Universität, und nachts feierte sie. Sie trank Champagner, tanzte zu amerikanischer Musik und alberte mit Hitler-Büsten herum, denen Sektkübel auf den Kopf gestülpt wurden. Obwohl sie nach einem Fliegeralarm manchmal sechs bis sieben Stunden im Keller saßen, feierten sie hinterher weiter und dachten über den Krieg nicht weiter nach, sagte sie. Der Krieg war weit weg, darüber las man in der Zeitung – ihre Freundin Inge Wolf hatte ihr Examen sogar im Wettlauf mit dem russischen Einmarsch bestanden.

Ich sah es vor mir, wie Mutter in den qualmenden Ruinen von Berlin Walzer zu Zarah Leanders Stimme tanzte, die Davon geht die Welt nicht unter