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Mit Vollgas ab ins Glück! Der humorvolle Frauenroman »Wer braucht ein Ziel, um anzukommen?« von Irene Zimmermann jetzt als eBook bei dotbooks. An einem herrlichen Sonntagmorgen in die Schweiz fahren und nebenher einen Tausender verdienen – hört sich doch toll an! Karola, Energiebündel und Chaos-Magnet, und ihre beiden besten Freundinnen sollen ein Auto von Zürich nach Deutschland überführen. Voller Unternehmungslust stürzen sie sich auf diese Gelegenheit, mal wieder einen Mädels-Urlaub zu machen. Mit den 1,5 Millionen Euro im Kofferraum des Autos haben sie allerdings nicht gerechnet … Und nun sollen sie das schöne Geld zurückgeben? Ausgeschlossen! Also beschließen die drei, bei Karolas Tante auf dem Land unterzutauchen und ein neues Leben anzufangen. Dabei wirbeln sie nicht nur das Dorfleben, sondern auch einige Männerherzen gehörig durcheinander … Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Wer braucht ein Ziel, um anzukommen?« von Irene Zimmermann, eine wunderbare Komödie und humorvoller Roadtrip-Roman. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 459
Über dieses Buch:
An einem herrlichen Sonntagmorgen in die Schweiz fahren und nebenher einen Tausender verdienen – hört sich doch toll an! Karola, Energiebündel und Chaos-Magnet, und ihre beiden besten Freundinnen sollen ein Auto von Zürich nach Deutschland überführen. Voller Unternehmungslust stürzen sie sich auf diese Gelegenheit, mal wieder einen Mädels-Urlaub zu machen. Mit den 1,5 Millionen Euro im Kofferraum des Autos haben sie allerdings nicht gerechnet … Und nun sollen sie das schöne Geld zurückgeben? Ausgeschlossen! Also beschließen die drei, bei Karolas Tante auf dem Land unterzutauchen und ein neues Leben anzufangen. Dabei wirbeln sie nicht nur das Dorfleben, sondern auch einige Männerherzen gehörig durcheinander …
Über die Autorin:
Irene Zimmermann wurde in Ravensburg geboren, studierte Germanistik und Politikwissenschaften in Freiburg und arbeitete als Lehrerin. Besonders bekannt ist die SPIEGEL-Bestsellerautorin für ihre Kinder- und Jugendbücher. Viele ihrer Bücher wurden übersetzt.
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eBook-Neuausgabe Januar 2020
Dieses Buch erschien bereits 2016 unter dem Titel »Geradeaus ist keine Himmelsrichtung« im Diana Verlag, München
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/rSnapshotPhotos, Pawel Kazmierczak und Adobe Stock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-96148-792-9
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Irene Zimmermann
Wer braucht ein Ziel, um anzukommen?
Roman
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»Tausend? Haben Sie wirklich tausend Euro gesagt?« Ich presse das Telefon ans Ohr und richte mich im Bett auf, blinzle in das grelle Morgenlicht. Wie es aussieht, habe ich wieder mal vergessen, die Vorhänge vorzuziehen. Kein Wunder, es war ja auch ziemlich spät gestern. Mühsam schaffe ich es, nach dem Radiowecker zu tasten, der komischerweise auf dem Boden steht. Fünf Uhr zwanzig! Und das am Sonntagmorgen! Ich lasse mich zurück in die Kissen sinken. Eigentlich ist fünf Uhr zwanzig nicht unbedingt die Zeit, zu der man geweckt werden will. Aber das ist jetzt egal. Wichtig ist nur ...
»Also noch mal langsam. Fünfhundert direkt und fünfhundert, wenn Sie zurück sind. Macht zusammen tausend«, sagt der junge Mann.
Ich vermute mal, dass es sich um einen jungen Mann handelt; seine Stimme klingt jedenfalls so, wie sie sich bei den meisten jungen Leuten anhört, wenn sie Älteren etwas erklären (da ich über vierzig bin, muss ich mich wohl dazurechnen). Ist schon in Ordnung, inzwischen habe ich kapiert, wie viel ich bei diesem absolut lockeren Job verdienen werde. Ein Auto in der Schweiz abholen, gemütlich über die Autobahn zurückfahren (ein Kaffeepäuschen wird wohl drin sein) und es dann hier in Mannheim abstellen – das mache ich doch mit links. Ein netter Sonntagsausflug sozusagen, dazu leicht verdientes Geld. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass sich so schnell jemand auf meine Kleinanzeige im Wochenblatt meldet.
Patente Sie erledigt alles zu Ihrer prompten Zufriedenheit. Rufen Sie mich an. Jederzeit!
»Plus Fahrkarte erster Klasse nach Zürich«, fügt er hinzu. »Sie sollten allerdings in einer halben Stunde schon hier sein und in zwei Stunden am Bahnhof. Und spätestens um zwanzig Uhr muss das Auto bei uns in der Garage stehen. Bei Logisoftware in der Prinznauerstraße 15. Wenn Sie über die Marienthalerallee kommen, folgen Sie der –«
»Ich weiß schon, ich kenne mich aus«, unterbreche ich ihn. Flüchtig überlege ich, ob es ein gutes Zeichen ist, dass mich mein erster Auftrag in die Prinznauerstraße 15 führt. Denn prompt tauchen die Erinnerungen wieder auf, an die alte Villa auf dem Nachbargrundstück von Nummer 15, wo Heiner seine Kanzlei hatte und ich vor über zwei Jahren den ersten Termin bei ihm wegen einer dummen Verkehrssache – Rotlichtverstoß oder so ähnlich nannte sich das. Ein Blitzer hatte mich erwischt, was Heiner später, als wir schon fast ein Paar waren, zu kühner Sprachakrobatik verleitete. Dich traf ein Blitzer, da sahst du Rot, mich traf ein Blitz, da sah ich dich, schrieb er in einer seiner unzähligen verliebten Mails.
Doch bevor ich mich in Sentimentalitäten verliere (ungünstig für Singles, besonders an einsamen Sonntagen), rufe ich ins Telefon: »Bin schon so gut wie unterwegs!«
Was natürlich übertrieben ist. Mein Kopf beginnt gerade erst aufzuwachen, zumindest pocht es an den Schläfen schon mal heftig, bestimmt kommt das vom süffigen Rotwein, den Regine beim Preisausschreiben im Getränkemarkt gegenüber gewonnen hat, vielleicht auch von den vier DVDs, die wir uns hintereinander reingezogen haben. Romantische Liebesfilme natürlich, wie sich das für zwei Freundinnen gehört, die allem Anschein nach ein Dauerabo auf ein Singledasein haben, von kurzen Unterbrechungen mal abgesehen. Heiner war eine davon und auch wieder einmal der Grund, weshalb ich gestern viel zu viel Rotwein getrunken habe und vom zweiten Film an hemmungslos heulen musste. Vielleicht tue ich aber dem Rotwein unrecht, und das Kopfweh kommt davon, dass ich von Heiner geträumt habe. Ihm ist alles zuzutrauen, er schleicht sich immer noch in meine Träume.
Ich riskiere einen weiteren Blick – fünf Uhr fünfunddreißig ist es inzwischen – und beschließe heldenhaft, gegen mein naheliegendes Interesse zu handeln, nämlich mich umzudrehen und einfach weiterzuschlafen. Schließlich bin ich eine starke Frau, unerschrocken werde ich aus dem Bett springen, zwei Kopfschmerztabletten einwerfen, und dann nichts wie los. Für diesen Job würde man auch nachts um drei aufstehen, rein theoretisch. Aber vielleicht wäre es doch besser, bei meiner nächsten Anzeige jederzeit rauszunehmen. Vorsichtshalber.
Ich gähne, gönne mir doch noch drei klitzekleine Minuten – fünf Uhr achtunddreißig –, dann komme ich schlagartig in die Gänge. Und beweise wieder einmal, dass ich absolut multitaskingfähig bin: Mit der linken Hand gieße ich das Kaffeewasser auf, mit der rechten öffne ich die große Dose Katzenfutter (sonntags gibt es immer Lachs und Gemüse), die ich mir zwischen die Oberschenkel klemme, und mit den Zehen streichle ich Cäsar, der beim Geräusch des elektrischen Dosenöffners natürlich sofort zur Stelle ist.
»Du musst mal einen Tag allein bleiben, mein Süßer. Aber ich bringe dir auch was Schönes mit. Schweizer Katzenleckerli. Versprochen.
Cäsar, der schwergewichtige Tigerkater, reibt sich katzbuckelnd an meinen Beinen und schnurrt mich dabei so gekonnt an, dass ich wieder einmal dahinschmelze. Eine ganze Busladung Katzenleckerli werde ich ihm mitbringen, das hat er verdient, sozusagen als Wiedergutmachung. Denn ich habe damals tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, ihn wegzugeben, natürlich nur in gute Hände, aber trotzdem. Weil der arme Heiner doch plötzlich eine schlimme Katzenallergie entwickelte, rote Augen, Fließschnupfen, heftige Niesanfälle. »Ich oder dieses Vieh«, keuchte er einmal die halbe Nacht lang. Angeblich hatte sein Arzt ihm gesagt, daraus könne sich Asthma entwickeln. Aber ich glaube, das war eher ein Vorwand. Da hatte Heiner nämlich schon den Urlaub mit seiner jungen Kollegin gebucht, genauso sportlich wie er, genauso begeistert von Trekkingtouren und Segeltörns, lauter Dingen, denen ich in einem netten Liebesfilm etwas abgewinnen kann, aber im wirklichen Leben? Auf 3000 Metern Höhe in einem sturmumtosten Zweimannzelt? Seekrank in einer Koje? Nein, eindeutig nichts für mich. Da ziehe ich doch mein kuscheliges Himmelbett vor.
»Du bist mein Allerallerbester«, flüstere ich Cäsar zu. Er haart zwar etwas, ist insgesamt jedoch wesentlich pflegeleichter als jeder Mann – da spreche ich aus Erfahrung. Aber weil ich mich beeilen muss, denke ich lieber nicht weiter über dieses unerfreuliche Thema nach, sondern forsche, während ich mich anziehe und dabei gleichzeitig versuche, mir die Zähne zu putzen, nach dem Hausschlüssel. Ausgerechnet heute hängt er nicht dort, wo er eigentlich hingehört, an dem schicken Designerschlüsselbrett, dem letzten Geburtstagsgeschenk von Heiner (mein Versuch, es nach der Trennung bei eBay zu verscherbeln, war leider erfolglos). Mein erster Gedanke: Der Schlüssel steckt draußen, denn das ist mir schon öfter passiert. Aber die Wohnungstür ist abgeschlossen, da hilft auch kein noch so heftiges Rütteln und lautes Fluchen. Immerhin kann ich nach der ersten Tasse Kaffee schon wieder recht klar denken. Um zwölf vor sechs weiß ich, wo mein Schlüssel nur sein kann: Regine, die allerbeste aller Freundinnen, neigt nach langen Abenden zu einer gewissen Zerstreutheit. Ihr ist zuzutrauen, dass sie heute Nacht – es muss so gegen halb drei gewesen sein, als unser Mädelsabend langsam ausklang – meinen Schlüssel eingesteckt und dann von außen abgeschlossen hat. Automatisch, denn in der Zahnarztpraxis, in der sie arbeitet, ist sie auch immer die Letzte und hat deshalb Schlüsseldienst. Schon greife ich nach dem Telefon. Angeblich hat sie einen sehr leichten Schlaf – heute allerdings nicht; ausgerechnet heute scheint sie sich im absoluten Tiefschlaf zu befinden. Das Telefon am Ohr, spähe ich aus dem Fenster. Nein, nicht einmal für tausend Euro werde ich mich in die Tiefe abseilen; schließlich wohne ich im siebten Stock und erwarte noch etwas vom Leben. Ich bin also schon fast so weit, diesem Job mitsamt seinem leicht verdienten Geld traurig, aber gefasst Nein, es hat nicht sollen sein! und Wer weiß, wozu es gut ist! hinterherzurufen, da nimmt Regine endlich ab.
»Da hast du aber Glück. Ich komme gerade zur Tür rein. Ich war joggen«, verkündet sie fröhlich. »Bei der Gelegenheit habe ich gleich die Karten eingeworfen. Heute ist Einsendeschluss, und der eine Hauptgewinn wäre eine Ballonfahrt und –«
»Ich hab schon einen Hauptgewinn«, unterbreche ich sie und versuche, mir nebenbei rasch eine businessmäßige Steckfrisur zu zaubern. Was nicht ganz einfach ist; meine Haare sind eigenwillig, und immer wieder flutscht mir eine Strähne aus der Hand. Außerdem halte ich das Telefon ans linke Ohr, denn die Lautsprechertaste hat vor einigen Tagen ihren Geist aufgegeben. »Komm sofort hoch und schließ meine Tür auf. Du hast gestern meinen Schlüssel mitgenommen. Beeil dich, es geht um einen Job, der bringt jede Menge Geld und –«
»Job? Schlüssel? Ach du lieber Himmel, warte, das ist mir jetzt aber mehr als peinlich, ich –«
»Aufschließen! Mein Job fängt in fünf Minuten an!«
»Du bist vielleicht witzig. Na gut, ich bin gleich oben.«
Ich nutze die Zeit, um einen sehr kritischen Blick in den Spiegel zu werfen und mich dann noch einmal komplett umzuziehen. Hier geht es nicht ums Wohlfühlen, hier geht es ums Geschäft. Also raus aus der bequemen Jeans, rein in den hellen Hosenanzug, dazu ein zartgelbes tailliertes T-Shirt, das zwar völlig überteuert und ein Frustkauf nach Heiner war, dafür aber toll zu meinen dunklen Haaren passt. Ich greife gerade zu dem bunten Seidenschal, den ich letztes Wochenende auf einem kleinen Flohmarkt am Neckarufer erstanden habe (angeblich soll es ein Glücksbringerschal sein, damit jedenfalls hat der smarte Verkäufer den völlig überhöhten Preis erklärt), da schließt Regine, noch immer im Jogginganzug und mit Laufschuhen, die Wohnungstür auf.
»Sehr schick«, sagt sie und mustert mich anerkennend. »Hast du vielleicht einen Job im Vorstand von 'ner Bank ergattert?« Sie grinst mich an, während sie ihre Brille abnimmt und mit einem Taschentuch sauber reibt.
Ich grinse zurück und stecke noch schnell die Perlenohrringe an, ebenfalls vom Flohmarkt und sehr dezent. »Dann würde ich selbstverständlich Dunkelblau tragen. Und mir ein Taxi leisten. Du, ich muss los.«
Natürlich ist es eine Illusion, dass ich es in fünf Minuten in die Prinznauer schaffe. Aber ist Pünktlichkeit heute überhaupt noch ein Wert? Es geht doch um ganz andere Dinge, Teamfähigkeit zum Beispiel. Darin bin ich große Klasse, inzwischen bin ich nämlich im Team unterwegs. Mit Regine, die zwar schon vierzehn Kilometer hinter sich hat, wie sie mir erzählt, mich aber auf keinen Fall allein in die Prinznauer gehen lassen will. Beste Freundin eben. Und natürlich will sie Genaueres wissen.
»Ich ... habe ... keine ... Ahnung«, keuche ich, während wir die endlos lange Hafenallee entlangjoggen, Regine locker und entspannt, keine einzige Schweißperle im Gesicht, trotz ihres dicken hellblauen Jogginganzugs, und ihre kurzen dunkelblonden Haare sind nur mäßig zerzaust. Ich dagegen: prustend wie ein Walross, der Lippenstift verschmiert, und meine Steckfrisur hat sich auch längst aufgelöst. Trotz der frühen Stunde ist es bereits sommerlich warm, jedenfalls zu warm für sportliche Aktivitäten. Ich spüre, wie mir der Schweiß langsam den Rücken hinunterrinnt. Verkehrte Welt! Dabei ist Regine diejenige, die leichtes Übergewicht hat, ich dagegen bin gertenschlank, aber leider komplett unsportlich. Über Stehblues bin ich nie hinausgekommen, darin war ich allerdings ganz große Klasse. Unauffällig wische ich mir über das Gesicht und versuche, während des Laufens meinen Schal in die Handtasche zu stopfen und das Jackett auszuziehen, während Regine leichtfüßig beschleunigt und dabei sogar noch reden kann.
»Was heißt hier keine Ahnung? Karola, du wirst doch nicht einfach einen Job annehmen, von dem du überhaupt nichts weißt! Stell dir mal vor, du gerätst an einen Mädchenhändler. Na ja, vielleicht nicht gerade das, aber es gibt ja
auch sonst noch einiges Unseriöses. Schlag nur mal die Zeitung auf. Was man da alles liest!«
»Zum ... Glück ... bist ... du ... ja ... dabei.«
»Zum Glück! Das kannst du aber laut sagen!«
Sie meint es völlig ernst. Aber vielleicht hat sie ja auch ein bisschen recht.
Als wir mit einiger Verspätung auf das Gelände von Logisoftware einbiegen, bin ich froh, nicht allein zu sein. Die Jugendstilvilla nebenan, ein Überbleibsel aus früheren Tagen, scheint wie aus der Zeit gefallen zu sein in diesem modernen Büroviertel. Ein kurzer Blick hinüber; die Rollläden der Kanzlei im zweiten Stock sind heruntergelassen, die Thujahecke, die das Grundstück umsäumt, wuchert wild, und in dem hölzernen Pflanztrog am Eingang kümmern ein paar halb verdorrte Petunien vor sich hin. Vielleicht ist Heiner ja schon längst zu seinem Traumsegeltörn aufgebrochen. Höchste Zeit, dass ich ihn endlich aus meinen Gedanken streiche und mich den Tatsachen zuwende. Die sind allerdings auch nicht besonders erfreulich. Das hypermoderne vierstöckige Haus, vor dem wir stehen, scheint menschenleer zu sein. Immerhin habe ich nach längerem Suchen die vier Klingelknöpfe entdeckt, mit den sehr aussagekräftigen Bezeichnungen 1, 2, 3 und 4. Abwechselnd drücke ich die Knöpfe, aber das könnte ich mir vermutlich schenken. Ich überlege gerade, ob ich es ein letztes Mal mit allen gleichzeitig probieren sollte, als Regine leise aufschreit. »Warum fällt mir das jetzt erst ein! Hast du nicht seine Telefonnummer? Los, ruf ihn an und frag ihn, warum er nicht aufmacht, wenn es angeblich so dringend ist.«
Als sie mein Gesicht sieht, verdreht sie nur die Augen. »Du hast dein Handy mal wieder vergessen«, stellt sie fest, und ich nickte schuldbewusst. Vielleicht sollte ich mich wirklich daran gewöhnen, immer erreichbar zu sein, und dazu gehört nun mal das Handy.
»Pech gehabt«, sage ich und kicke ein paar Steinchen von der Fußmatte mit dem verheißungsvollen Aufdruck Welcome. »Na ja, ich gebe zu, ich bin selbst schuld. Ich hab's vermasselt. Der Typ hat extra gesagt, ich soll pünktlich sein.«
»Immerhin bist du endlich mal gejoggt. Das hat dir bestimmt gutgetan, oder?«
Ich kann schon wieder grinsen. »Und wie! In Zukunft bitte jeden Morgen um diese Zeit. Ich habe übrigens mal gelesen, dass Arbeitslose deshalb keinen Job kriegen, weil sie morgens nicht aus dem Bett kommen. Das kann mir ja dann wenigstens nicht passieren.«
»Ach, hör auf.« Regine legt den Arm um mich. Wir stehen noch immer unter dem Vordach des Glasbaus. Hier ist es zumindest schattig. »Du kannst überhaupt nicht mitreden, du bist ja noch nicht mal richtig arbeitslos.«
»Aber schon ziemlich nah dran. Glaub bloß nicht, ich hätte diesen Urlaub freiwillig genommen. Wer kann sich den schon unbezahlt leisten? Heutzutage brauchen die meisten doch eher zwei Jobs gleichzeitig.«
»Ich glaube aber ganz fest daran, dass ein Investor auftaucht und euren Laden übernimmt. Oder du suchst dir was ganz anderes. So wahnsinnig viel Spaß kann es ja auch nicht machen, Kaufhausfenster zu dekorieren. Da könnte ich mir Schöneres vorstellen.«
Ich zucke nur mit den Schultern. Über meine berufliche Situation rede ich nicht gern. Klar, wenn ich fertig studiert hätte, wäre ich heute Innenarchitektin und würde vielleicht teure Hotels auf der ganzen Welt einrichten, aber das hat eben nicht geklappt. Dass man sich von manchen Lebensträumen verabschieden muss, habe ich mittlerweile mitgekriegt. Richtig verstanden habe ich es allerdings immer noch nicht.
»Pst ... Hast du auch gerade ein Geräusch gehört?« Das frage ich nur, um vom Thema abzulenken. Denn manchmal verlaufen unsere Gespräche wie bei einem alten Ehepaar: Ich weiß genau, was als Nächstes kommt. Regine ist gelernte Zahnarzthelferin – seit Kurzem sogar Prophylaxeassistentin – und findet, das wäre doch auch was für mich. Was ich völlig anders sehe, ehrlich gesagt, mich graust es bei der Vorstellung, tagein, tagaus in aufgerissene Münder zu starren. Da drapiere ich doch lieber wunderschöne Stoffe um reglose Schaufensterpuppen, verteile jedes Jahr zur Sommersaison Rosenblätter auf grünem Teppichboden und sprühe zum SALE im Januar Eiskristalle an die Fenster. Gut, ist vielleicht nicht sehr aufregend, aber was ist schon aufregend im Leben? Auf Anhieb könnte ich zehn Jobs aufzählen, die noch um einiges langweiliger sind.
Ich stoße Regine an, denn inzwischen bin ich wirklich sicher, etwas gehört zu haben. »Du, da ist doch jemand. Ich glaube ...« Weiter komme ich nicht. Ich stehe mit offenem Mund da, Regine übrigens ebenfalls, und starre auf den Mann, der die Tür öffnet und uns fragend anschaut. Er sagt etwas, aber ich kann nicht antworten. Ich bin vollauf mit Scannen beschäftigt:
Dunkelhaarig.
Ende dreißig vielleicht.
Braun gebrannt.
Unglaublich blaue Augen.
Kantiges Kinn.
Ein weißes T-Shirt, das über seinem muskulösen Oberkörper spannt.
Jeans.
Mit einem Mal wird mir schwummerig, und das liegt jetzt nicht, daran, dass ich mindestens fünf Kilometer auf nüchternen Magen gejoggt bin. Das liegt daran, dass dieser Mann genau in mein Beuteschema passt. Leider!
»Wow? Ist der echt?«, flüstert Regine, fängt sich dann aber gleich wieder. »Guten Morgen! Wir sind hier wegen des Jobs. Also genauer gesagt, meine Freundin, ich bin nur mitgekommen, weil ...«
»Ja, weil ...«, fahre ich fort. »Weil ...« Es ist leider offensichtlich, meine Gedanken wollen gerade nicht in geregelten Bahnen verlaufen. Aber da ich schon immer Privates strikt von Geschäftlichem getrennt habe, reiße ich mich zusammen (eine Ausnahme war lediglich die kurze Beziehung mit dem Abteilungsleiter in der Damenoberbekleidung, und die Sache ging auch ziemlich unerfreulich aus, für ihn zumindest; er sitzt jetzt nämlich im Untergeschoss bei den Haushaltswaren, und die laufen bei uns überhaupt nicht). »Ja, weil ich heute Morgen einen Anruf bekommen habe. Wegen der Überführung. Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen gesprochen habe?«
»Großartig, dass Sie doch so schnell gekommen sind.« Mister Blue Eyes mustert mich, macht einen Schritt auf uns zu, und mit ihm weht eine Wolke eines markanten Rasierwassers herüber; fast ein bisschen zu viel für meinen Geschmack und diesen frühen Morgen, aber ich will ja nicht kleinlich sein. Lächelnd schüttelt er meine Hand und zieht mich ein Stück zu sich heran, legt dann wie zufällig seine Hand auf meinen Unterarm – was prompt zu einer kleinen, wohligen Gänsehaut bei mir führt – und sagt: »Ganz im Vertrauen, es gab bei uns ein familiäres Problem. Meine Mutter hat letzte Woche in Zürich beim Ausparken einen Blechschaden verursacht. Oder war's eher beim Einparken? Jedenfalls hat sie das in aller Diskretion beheben lassen, denn sie möchte keinesfalls, dass Vater davon erfährt. Wenn er heute Abend aus dem Ausland zurückkommt, sollte das Fahrzeug natürlich wieder in der Garage stehen. Deshalb ... Meinen Sie, dass Sie das zeitlich schaffen? Bis zwanzig Uhr?« Er lächelt mich noch immer an, und erst als er seine Hand von meinem Arm nimmt, kann ich wieder klar denken.
»Selbstverständlich, das ist überhaupt kein Problem«, murmle ich und mache einen Schritt zurück. Ich hoffe bloß, dass mein Deo nicht versagt hat. Wie hätte ich auch ahnen können, dass ich meinem Auftraggeber so nahe kommen würde! Von der Seite nehme ich Regine wahr, die wie beim Tennis abwechselnd ihn und mich anstarrt.
»Hier im Umschlag finden Sie alles Wichtige. Wo das Fahrzeug steht, selbstverständlich den Schlüssel, Ihr Bahnticket, eine Telefonnummer für Notfälle und natürlich den Vorschuss.«
Der Briefumschlag wechselt den Besitzer. Was an sich schon mal ganz erfreulich ist. Noch erfreulicher allerdings finde ich den Blick von Mister Blue Eyes dazu, und dann natürlich die Frage, die er jetzt stellt: »Würden Sie wohl heute Abend eine Kleinigkeit mit mir essen gehen? Ich meine, nur falls Sie dann noch Zeit haben. Als zusätzliches Dankeschön.«
»Darüber lässt sich reden«, entgegne ich und setze mein Ich-bin-ja-so-beschäftigt-Gesicht auf. »Aber im Moment habe ich meinen Terminkalender leider nicht im Kopf.«
»Ich glaube nicht, dass du heute Abend schon was vorhast.« Das kommt von Regine und ist mal wieder typisch. Seitdem sie zufällig ihren Chef mit ihrer Cousine zusammengebracht hat und unseren Hausmeister mit der Verkäuferin aus dem Backshop gegenüber, denkt sie darüber nach, ob sie nicht als Nebenjob eine Singlebörse aufmachen sollte. »Außerdem ... Seit wann hast du einen Terminkalender?«
»Ja dann ...« Mister Blue Eyes steht da und reibt sich unschlüssig die Hände. »Natürlich, wir können das ja später entscheiden. Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen? Ich habe noch einiges zu erledigen. Ach ja, und wenn Sie heute Abend mit dem Auto kommen, hupen Sie doch einfach. Die Klingel funktioniert manchmal nicht.«
Ein letztes Lächeln, dann hat er sich schon umgedreht, und Sekunden später fällt die Tür hinter ihm ins Schloss. Ich zerre Regine auf die Straße. »Sag mal, musstest du mir in den Rücken fallen?«
Irritiert sieht sie mich an. »Wovon redest du? Ach so, weil ich gesagt habe, dass du ... Warum willst du denn nicht mit ihm essen gehen? Ich kenne einige, die würden das sofort für dich übernehmen.« Kichernd deutet sie auf sich. »Du weißt, ich bin wählerisch. Aber bei diesem Mann würde ich nicht Nein sagen.«
»Hab ich ein Wort davon gesagt, dass ich nicht will?« Ich hake mich bei ihr ein. »Der sieht so erfolgsverwöhnt aus, der kann ruhig noch ein bisschen zappeln. Das verkraftet er bestimmt. Meine Güte, war das ein irrer Typ!«
Regine seufzt. »Das kannst du aber laut sagen! Wenn ich nicht deine beste Freundin wäre, würde ich glatt neidisch werden. Wie er dich angelächelt hat. Und diese Zähne ... Ich wüsste zu gern, ob die alle echt sind oder ...« Sie schüttelt sich. »Ja, ich weiß, das ist 'ne bescheuerte Berufskrankheit. Und wahrscheinlich der Grund, weshalb ich Single bin. Das erträgt kein Mann, wenn du beim ersten Date die ganze Zeit nur auf sein Gebiss starrst. Lass uns lieber von was anderem reden. Wie geht es jetzt weiter?«
Ich habe inzwischen den Umschlag aufgerissen und das Geld gezählt. Traumtyp hin oder her, aber Geschäft ist Geschäft, da kenne ich nichts.
»Lass sehen.« Regine fischt den Fahrschein heraus und schiebt ihre Brille hoch. »Erster Klasse. Nobel, nobel. Dein Zug fährt übrigens sieben Uhr achtundfünfzig. Bis dahin ist ja noch über eine Stunde Zeit.«
»Ehm ... Sag mal, was hast du heute vor?«
»Was ich vorhabe? Ich müsste endlich mal Vokabeln für den Italienischkurs lernen, sonst kann ich mir den schenken. Außerdem Haare färben, ich finde, mein Blond könnte ruhig ein bisschen heller sein, ich hab mir neulich was gekauft, was angeblich die perfekten Strähnchen zaubert. Und bügeln sollte ich auch noch. Oder den Korb mit der Bügelwäsche verstecken, er quillt schon wieder über. Ein normaler Mensch kann sich überhaupt nicht vorstellen, wie viel in einem Ein-Personen-Haushalt anfällt.«
Natürlich kann ich mir das vorstellen. Denn Regine gehört zu den 3,5 Prozent der Frauen (ich habe die Zahl mal irgendwo gelesen, keine Ahnung, ob sie stimmt), die alles bügeln: Bettwäsche sowieso, Handtücher, Unterwäsche, sogar Staubtücher (besitze ich gar nicht), einfach alles, was ihr in die Hände fällt. Aber ich erspare mir jeden Kommentar; bei diesem Thema ist Regine uneinsichtig. Seit ich sie kenne, liebt sie es, über das Zuviel an Bügelwäsche zu jammern. Dieses Vergnügen will ich ihr nicht nehmen.
»Ich hab neulich mal über ein Dampfbügelcenter nachgedacht«, gesteht sie. »Weißt du, dieses schicke Teil aus der Werbung. Eigentlich bin ich ja nicht die Superhausfrau, aber das reizt mich schon. Falls du mal ein Preisausschreiben entdeckst, wo's ein Dampfbügelcenter als Gewinn gibt, sag mir sofort Bescheid. Jetzt schau mich nicht so an, früher hätte ich das Teil auch spießig gefunden, aber inzwischen bin ich dreiundvierzig, und da kann man schon mal –«
»Nein, ist doch 'ne tolle Idee«, unterbreche ich sie. »Aber falls das mit dem Bügeln noch Zeit hat, könntest du vielleicht mitfahren. Wir versuchen einfach, das Erster-Klasse-Ticket in zwei Fahrkarten zweiter Klasse umzutauschen. Und dann machen wir uns in Zürich so einen richtig tollen Weibertag.«
»Du meinst, ich sollte ...« Sie zieht ihr Joggingoberteil zurecht. »Weißt du was? Ich bin dabei.«
Noch schöner wäre es natürlich, wenn Muttis missglücktes Aus- oder Einparkmanöver in Paris stattgefunden hätte. Ich stelle mir die Seine im Sonnenlicht vor und den Eiffelturm, einen Café au lait im Straßencafé, charmante Franzosen, Baguette und Rotwein, das alles hätte besser zu meiner inzwischen beschwingten Stimmung gepasst als Zürich. Aber schlecht ist Zürich natürlich auch nicht. Wenn man mal davon absieht, dass die Schweiz schrecklich teuer ist. Zwar bin ich schon jetzt um fünfhundert Euro reicher als noch vor wenigen Stunden, doch das Geld ist bereits fest verplant, eigentlich schon fast ausgegeben. Ich spare nämlich für das wahnsinnig schicke knallrote Cabrio, das auf dem Hof eines schwer übergewichtigen Autohändlers in der Margarethenstraße steht. Noch zwei solcher Jobs wie heute, dann ist es endlich meins. Seit drei Monaten beobachte ich die Preisentwicklung auf dem Schild, das an der Windschutzscheibe angebracht ist. Der Trend geht vorsichtig nach unten; ich bin also optimistisch. Vorausgesetzt natürlich, ich bekomme noch mehr solche Jobs. Wovon ich ausgehe, denn ich scheine gerade eine Glückssträhne zu haben.
Alles läuft wie am Schnürchen, was nicht zuletzt an Regine liegt. Sie ist das reinste Organisationstalent.
»Duschen, umziehen, am besten Zwiebellook. Wer weiß, wie das Wetter in Zürich ist«, sagt sie, als wir einige Zeit später zu Hause vor dem Aufzug warten. »Wichtig sind bequeme Schuhe. Personalausweis nicht vergessen, und nimm bloß nicht alles Geld mit. Böse Buben gibt es nämlich überall.«
Ich verdrehe die Augen. Fehlen bloß noch Brustbeutel, Gürteltasche, Birkenstocks und beige Steppweste, und auf geht's zur Kaffeefahrt.
»Mir fällt gerade ein, du könntest meinen Brustbeutel ...« Zum Glück kommt in diesem Moment der Aufzug, und Regine schenkt sich den Rest des Satzes. »Also, bis in zwanzig Minuten«, sagt sie, als sie aussteigt. »Dann geht's ab ins Abenteuer.« Sie grinst. »Ich meine natürlich, nach Zürich.«
Zürich klingt nicht unbedingt nach Abenteuer, aber ein bisschen aufregend ist es für mich doch. Mein erster Job in meinem neuen Leben als Fast-Unternehmerin, das ist schon was, finde ich. Während ich in Windeseile dusche, überlege ich, wie ich mein Ein-Frau-Unternehmen nennen könnte (Dienstleistungen aller Art klingt mir etwas zu zweideutig), aber weil die zündende Idee nicht kommen will, verschiebe ich das erst einmal – hat ja auch noch Zeit – und kümmere mich stattdessen um Cäsar, der eine bunte Mischung von Trockenfutter bekommt. Verhungern wird er damit garantiert nicht. Ich schiebe den Kratzbaum in die Sonne, stelle das Katzengras aufs Fensterbrett und kuschle mich schließlich zu meinem Allerliebsten aufs Sofa, wo ich ihm so lange den Kopf kraule, bis er zufrieden schnurrt. Was allerdings länger als sonst dauert. Vielleicht spürt er ja, dass ich mit meinen Gedanken nicht ganz bei ihm bin. Immer wieder taucht dieser Wahnsinnsmann vor meinem geistigen Auge auf. Dieser Typ macht jede Frau nervös, keine Frage. Aber bei mir war es mehr, das fühle ich ganz deutlich. Wie er mich angeschaut hat! So, als wüsste er ganz genau, was in mir vorgeht. Wieder läuft mir ein Schauder über den Rücken, als ich mich an seine Hand auf meinem Unterarm erinnere. Zärtlich? Ein bisschen fordernd?
Das helle Dingdong der Türklingel holt mich aus diesem sehr aufregenden Tagtraum zurück.
»Was? Du bist noch nicht fertig?« Regine, in beiger Dreiviertelhose, olivfarbenem T-Shirt und leichter Jeansjacke, ihren braunen Lederrucksack lässig über der rechten Schulter, rauscht an mir vorbei ins Schlafzimmer. Seit wir vor einigen Tagen eine stundenlange Modenschau veranstaltet haben, kennt sie sich in meinem Kleiderschrank aus.
»Wie wär's damit?«, fragt sie, bevor ich mich mal wieder nicht entscheiden kann, und hält mir eine helle Leinenhose, ein schwarzes Shirt und den grob gestrickten Cardigan hin. »Damit bist du perfekt angezogen.« Ich zögere. Eigentlich würde ich rein stimmungsmäßig lieber etwas Romantisches anziehen, aber Regine hat vermutlich recht. Während sie laut überlegt, was ich abends zum Essen tragen könnte – das schulterfreie rote Kleid, das sie gerade aus dem Schrank nimmt, findet sie zu sexy –, krame ich die Sonnenbrille heraus, die ich bei meinem letzten Streifzug über die Flohmärkte ergattert habe, eine Schmetterlingsbrille im Stil der Fünfzigerjahre.
»Weißt du was?«, höre ich Regine sagen, während sie das rote Kleid wieder zurückhängt. »Wenn ich tatsächlich die zehntausend Euro beim Preisausschreiben von der Bank gewinne, machen wir zwei die ultimative Einkaufstour.«
Eindeutig, heute ist ein guter Tag, denn am Bahnhof geht es genauso weiter. Insgeheim hatte ich befürchtet, der Umtausch des Erste-Klasse-Tickets könnte schwierig werden. Doch dann stellte sich heraus, dass der Mann am Schalter regelmäßig in die Donnerstagabend-Sprechstunde für Zahnarztsensible kommt (seit Anfang des Jahres bietet Regines Chef diesen Service an), und Regine schon weiß Gott wie oft seine schweißnasse Hand gehalten und beruhigend auf ihn eingeredet hat.
Ein Blick und eine lässig hingeworfene Bemerkung: »Nein, dass wir uns hier wiedersehen! Was macht denn die böse Zahnarztphobie?«, und schon hatten wir zwei Tickets nach Zürich in der Tasche, ohne leidige Diskussion und vor allem ohne den Aufpreis, der fällig gewesen wäre. Eigentlich wäre also alles paletti gewesen, wie man so sagt, wenn nicht plötzlich eine übergewichtige Frau mit roter Lockenmähne aufgetaucht wäre.
Ihr buntes Sommerkleid mit Blümchenmuster flattert, als sie den Bahnsteig entlangstöckelt, und sie keucht heftig, denn an ihrer voluminösen Tasche, ebenfalls mit Blümchenmuster, hat sie anscheinend schwer zu schleppen.
»Ach du Schande«, murmelt Regine und zieht mich am Arm. »Giulia. Das hat gerade noch gefehlt. Lass uns in Deckung gehen.«
Das können wir aber vergessen. Zum einen fährt gerade unser ICE ein, zum anderen hat Giulia uns natürlich längst erspäht. Was nicht weiter schwierig ist, denn um diese Zeit – gerade mal acht – ist die Zahl der Reisenden recht übersichtlich. Außer einem älteren Ehepaar mit einer Unzahl von Koffern und ein paar englischen Backpackern mit Bierflaschen in der Hand steht niemand auf dem Bahnsteig.
»Ach du Schande«, wiederholt Regine, dieses Mal im Flüsterton. Denn da ist ihr Giulia bereits um den Hals gefallen, und ich werde bei der Gelegenheit auch gleich umarmt, obwohl wir uns nur vom Hörensagen kennen. Von Regine weiß ich, dass Giulia Italienerin ist, in Deutschland aufgewachsen und vermutlich die Einzige außer Regine im Italienischkurs, die tatsächlich die Sprache lernen will. Alle anderen, behauptet Regine, sind nur dort, weil sie hoffen, den Mann fürs Leben kennenzulernen. Was schwierig werden dürfte – der Männeranteil im Kurs liegt bei ungefähr fünf Prozent.
»Ciao ragazze, toll, euch zu treffen!«, ruft Giulia. »Ihr seid ja echte Frühaufsteher. Wohin fahrt ihr?« Stimmgewaltig! Mühelos übertönt sie die Lautsprecherdurchsage. Was kein Wunder ist, Giulia hat die Statur einer Opernsängerin und arbeitet halbtags bei einem Hörakustiker, sie hat es also hauptsächlich mit Schwerhörigen zu tun.
»Nach Zürich!«, brülle ich zurück.
»Zürich?«
Lieber Himmel, sie selbst scheint auch schlecht zu hören. »Ja, Zürich!«, brülle ich erneut, dieses Mal aus Leibeskräften.
»Was schreist du so? Ich wollte mich nur vergewissern«, gibt sie zurück. »Also los, worauf wartet ihr? Rein mit euch! Presto! Der Zug hält schließlich nicht ewig.«
Wir sind kaum eingestiegen, da habe ich schon erfahren, dass Giulia seit zwei Jahren geschieden ist. Ihr Ex hatte nichts anderes zu tun, als sofort seine neue Freundin zu schwängern, und das, so Giulia, habe sie ihm besonders übel genommen, denn eigentlich hätte sie selbst gern einen Stall voller Kinder gehabt, aber das habe ja leider nicht geklappt. Und deshalb sei es auch nur gerecht, dass sie ihrem Ex eine schöne Stange Geld aus den Rippen geleiert habe und das Leben genieße, in vollen Zügen, wie sie lachend hinzufügt. »Weil Wochenenden für Alleinstehende in meinem Alter die wahre Pest sind, habe ich mir eine BahnCard 100 geleistet. Und jetzt bin ich ständig auf Achse, kreuz und quer. Man trifft immer so nette Leute. Wie zum Beispiel euch. Allora, das müssen wir aber feiern! Wo fahrt ihr hin? Zürich? Ich bin dabei.«
Meinen Einwand, dass ihre Bahncard in der Schweiz doch gar nicht gelten würde, lacht sie vergnügt weg. »Mach dir deshalb keine Sorgen. Ich habe letzte Woche den Swiss Travel Pass gewonnen und kann damit –«
»Gewonnen?«, unterbricht Regine sie interessiert. »Bei einem Preisausschreiben? Hast du zufällig ein bestimmtes System? Es gibt Leute, die schwören drauf, die Karten zu verzieren. Ich hab auch schon überlegt, ob ich mir nicht eine Zackenschere zulegen soll, angeblich erhöht das die Chance, dass man bei der Verlosung gezogen wird.«
Giulia schüttelt den Kopf. Sie hat lediglich ihre Nachbarin bekocht, erfahren wir, und als Dank ein Los bekommen. »Und mit diesem Los habe ich den Swiss Travel Pass gewonnen. Wie heißt es so schön? Das Glück ist mit dem Tüchtigen. Und heute genießen wir Zürich.« Sie zwinkert mir zu. »Rückfahrt nicht vor vierundzwanzig Uhr, dass das schon mal klar ist.«
Unwillkürlich zwinkere ich zurück, bis mir einfällt, dass ich ja nicht auf Vergnügungstour bin. Ich bin dafür engagiert, ein Auto zu überführen. Ist es dann in Ordnung, wenn Regine und Giulia einfach mitfahren? Auf keinen Fall will ich mir bei meinem ersten Job gleich Ärger einhandeln. Also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mit meinem Auftraggeber zu reden. Ich krame das Handy und mit leichtem Bauchgrimmen die Notfallnummer heraus, die er mir mitgegeben hat.
»Geschäftlich«, murmle ich, als Giulia mich fragend ansieht. »Ich will meinem Auftraggeber vorsichtshalber sagen, dass wir zu dritt sind.«
»Sag ihm, dass er dreifach zahlen muss«, kichert sie. »Drei kompetente Damen ...«
»Pst«, zischt Regine.
Ich atme tief durch und tippe die Nummer ein. Beim ersten Klingeln schon wird abgenommen; fast könnte man meinen, er habe auf meinen Anruf gewartet.
»Robert Neumann.«
»Hallo, hier ist Karola«, sage ich. »Ich möchte nur etwas abklären –«
»Was ist passiert?«, unterbricht er mich. »Wo sind Sie?«
Täusche ich mich, oder klingt er beunruhigt? Weil er weiche Knie bekommt, wenn er meine Stimme hört? Oder eher, weil er Probleme befürchtet? Ehrlich gesagt, die erste Möglichkeit gefällt mir wesentlich besser.
»Ich bin im Zug, und passiert ist überhaupt nichts«, versichere ich und packe ein bisschen Schmelz in den nächsten Satz: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn zwei Freundinnen mit mir zurückfahren.«
Giulia behauptete hinterher, ich hätte gegurrt wie eine liebestolle Taube, da müsse jeder Mann schwach werden, aber von Robert Neumann kommt erst einmal: nichts.
Ich presse das Handy ans Ohr.
Schweigen.
»Hallo?«, frage ich. »Sind Sie noch dran?«
Robert Neumann schweigt beharrlich, und das ist, finde ich, gar kein gutes Zeichen.
»Und?«, flüstert Regine, und auch Giulia beugt sich vor.
Ich zucke mit den Schultern, um gleich darauf leise aufzuschreien. Funkloch! Natürlich, die Verbindung ist unterbrochen, wir sind in einem Funkloch. Das ist ja nichts Neues; wie oft war das, was ich Heiner während seiner Dienstreisen mit dem Zug ins Telefon geflüstert habe, im Nirwana verschwunden! Wer weiß, vielleicht wäre alles anders gekommen mit uns, wenn die Telekommunikation in Deutschland zuverlässiger wäre. Aber weil es müßig ist, über vergangene Zeiten nachzudenken, lege ich lieber schnell auf. Um gleich darauf wieder ans Handy zu gehen, denn jetzt ruft Robert Neumann zurück. Dieses Mal allerdings mit unterdrückter Nummer. Was vermutlich bedeutet, dass er zwei Handys benutzt (erfolgreicher Geschäftsmann eben).
»Wir wurden unterbrochen. Habe ich Sie richtig verstanden? Zwei Freundinnen begleiten Sie?«
»Ja, wir haben uns zufällig am Bahnhof getroffen. Die beiden sind schon etwas älter ...«
Giulia rollt mit den Augen. Hoffentlich reißt sie sich zusammen, während ich versuche, Robert Neumann von unserer Seriosität zu überzeugen. Nicht dass er glaubt, es handele sich um überdrehte, kreischende Freundinnen, die Autositze mit Eis verkleckern und Kaugummis in den Aschenbecher kleben.
»Etwas älter ...« Er scheint zu überlegen. »Ja, warum eigentlich nicht. Ist denn sonst noch was?«
»Nein, alles läuft bestens«, flöte ich. »Wir sind pünktlich um zwanzig Uhr bei Ihnen.« Hastig lege ich auf.
Denn wer weiß, was Giulia gleich von sich gibt. Aber sie lacht nur und meint, das müssten wir doch feiern, und was wir von einem kleinen Brunch halten würden. Sie habe natürlich alles dabei.
Zum Glück sitzen wir allein im Abteil. Denn jetzt packt sie aus. »Ich habe immer vier Tassen, vier Teller, vier Gläser und auch genügend Besteck dabei. Selbstverständlich aus Plastik, alles andere wäre zu schwer«, sagt sie und breitet eine geblümte Tischdecke über einem der Sitze aus. »Neulich war ich unterwegs nach Hamburg, da hätte ich glatt das Doppelte gebraucht. Wir mussten uns dann irgendwie behelfen, geht ja auch mal. Wo habe ich die Servietten gelassen? Allora ... Den Prosecco mit O-Saft oder lieber ohne?«
»Ohne«, sage ich.
»Ohne«, echot Regine.
Nach dem dritten Prosecco finde ich Giulias Stimme schon gar nicht mehr so unangenehm. Und auch die Ankündigung, dass sie den ganzen Tag selbstverständlich mit uns verbringen wird, stört mich kaum. »Ich kann euch doch nicht allein lassen. Und jetzt greift zu, Mädels!«, dröhnt sie und öffnet die erste von drei Tupperschüsseln mit leckeren Antipasti, natürlich nichts Gekauftes, sondern alles selbst gemacht, wie sie stolz verkündet.
Könnte sein, dass ich heute Abend einen leichten Hörschaden habe. Verhungern werde ich aber bestimmt nicht.
Bei strahlendem Sonnenschein kommen wir in Zürich an. Nach einem entspannten Spaziergang durch die Innenstadt überlegen wir gerade, ob eher Kultur, also Museum, oder lieber gleich eines der vielen verlockenden Straßencafés, als mein Handy klingelt. Die Notfallnummer! Robert Neumann. Mit Herzklopfen gehe ich dran. Was die Anzahl unserer Telefonate angeht, sieht es schon mal nach einer intensiven Beziehung aus.
»Sind Sie gut angekommen?«, erkundigt er sich.
»Natürlich, und auch schon auf dem Weg zum Auto«, behaupte ich und winke ärgerlich ab, weil Giulia etwas dazwischenrufen will.
»Dann könnten Sie also auch früher zurück sein?«
»Früher? Ehm ... Eher ungern.« Ich merke selbst, das klingt nicht sonderlich professionell, ist aber die reine Wahrheit. Ich fürchte zum einen, die Einladung zum Essen verflüchtigt sich, wenn ich das Auto bereits am Nachmittag zurückbringe, zum anderen haben wir ein paar nette Stunden in Zürich eingeplant, und außerdem weiß ich nicht, wie lange sich der heftige Knoblauchduft von Giulias grandiosen Antipasti hält.
»Meiner Mutter ist es sehr wichtig, dass das Auto rechtzeitig da ist. Wir legen gern noch mal fünfhundert drauf. Meine liebe Karola, ich bin sicher, das schaffen Sie. Sagen wir, um neunzehn Uhr?«
»Natürlich!« Das klingt jetzt doch sehr professionell und kommt wie aus der Pistole geschossen (wobei die fünfhundert und meine liebe Karola eine nicht unwesentliche Rolle spielen). Nachdem ich aufgelegt habe und die fünfhundert Euro extra schon fast in meiner Tasche spüre, glaube ich, einer Zukunft jenseits meines Jobs als Raumgestalterin der Kaufhauskette Regelwalder mit einem gewissen Optimismus entgegensehen zu können.
»Ich lade euch ein«, sage ich zu Regine und Giulia und deute auf eines dieser entzückenden Altstadtcafés mit grünweiß gestreifter Markise und dunklen Holzstühlen. Gegenüber plätschert ein Brunnen, üppige rote und weiße Geranien zieren die Blumenkästen der umliegenden Häuser, fast dörflich ist der Charakter dieser kleinen Straße, idyllisch, wunderschön, und das mitten in der Großstadt.
Wir sitzen in der Sonne, trinken aus großen Tassen Milchkaffee und studieren das dicke Veranstaltungsprogramm, das Regine an der Theke entliehen hat. Ein bisschen Kultur muss sein, da sind wir uns einig.
»Kino?«, schlägt Regine vor. Ich schüttle den Kopf, und auch Giulia findet, dass man sich bei diesem wunderschönen Wetter doch nicht in einen miefigen Kinosaal setzen könne. Tanztee sei dagegen eine tolle Sache, meint sie und zuckt dann mit den Achseln, als weder Regine noch ich uns dafür begeistern.
»Ich schau mal nach Ausstellungen«, sage ich und blättere das Veranstaltungsprogramm durch. Flämische Malerei des 15. Jahrhunderts ... Muss nicht unbedingt sein. Videoinstallationen einer jungen ukrainischen Künstlerin? Weniger. Dann vielleicht doch eher die Fotoausstellung von Tom Delaney – wer auch immer das sein mag –, mit Porträts aus drei Jahrzehnten, eine Hommage an die Schönheit ... Ich schaue die Seite gerade genauer an, als mir jemand auf die Schulter tippt. Ein junger Mann mit Rastalocken deutet auf das Veranstaltungsprogramm. »Only one moment«, nuschelt er. Ich blicke ihm hinterher, als er mit dem dicken Heft in der Hand abzieht.
»Es reicht auch, wenn wir das Wetter genießen«, sage ich. Regine und Giulia nicken, und wir schweigen eine Weile lang wohlig vor uns hin. Am Nebentisch sitzt ein verliebtes Pärchen, Satzfetzen sind zu hören, zuerst sehr leise, dann lauter und drängender. Schließlich stehen die beiden auf, eng umschlungen gehen sie die sonnenbeschienene Straße entlang. Ich lächle ihnen nach, träume mich in meine eigene Welt. Robert Neumann heißt er also. Ein banaler Name, gar nicht zu diesem Mann passend, der ein Feuerwerk an Gefühlen in mir ausgelöst hat. Wie es sich wohl anfühlt, von ihm geküsst zu werden? Sei vorsichtig, warnt die kleine Stimme in meinem Hinterkopf, das ist nicht der Typ von Mann, der eine feste Beziehung mit Sportschau am Samstagabend und Sex zweimal die Woche sucht. Das ist exakt der Typ, der Frauen unglücklich macht. Ach, lass es drauf ankommen, sagt die andere Stimme, die auch in meinem Hinterkopf wohnt, eine aufregende Affäre würde dir mal wieder guttun. Ein Abendessen im Ritschies zum Beispiel, natürlich auf der Dachterrasse mit diesem traumhaften Blick über die Dächer von Mannheim, danach an die Bar, tiefe Blicke, ein Einverständnis, das keiner Worte mehr bedarf ...
Möglich, dass ich leise aufgestöhnt habe, denn Giulia beugt sich zu mir herüber. »Ach ja, so könnte es immer sein«, sagt sie. Erstaunt stelle ich fest, dass sie auch Zimmerlautstärke kann.
Regine streckt sich. »Ja, herrlich. War das übrigens vorhin am Telefon der Typ? Was wollte er?«
Ich sage: »Ja, das war noch mal Robert Neumann«, und fasse kurz unser Gespräch zusammen.
»Und der zahlt dir tatsächlich so viel Knete? Bloß fürs Autofahren?« Giulia schüttelt den Kopf. »Ich finde das merkwürdig. Warum kümmert sich der Kerl nicht selbst darum? Das wäre doch das Natürlichste der Welt. Wozu hat man schließlich Kinder? Also, wenn ich welche hätte, ich würde darauf bestehen, dass sie für mich das Auto holen, und nicht jede Menge Geld zum Fenster rausschmeißen.«
Bevor ich mich aufregen kann – was heißt hier: Geld zum Fenster rausschmeißen? Immerhin landet das Geld ja bei mir! –, mischt sich Regine ein. »Bei manchen Leuten spielt Geld eben keine Rolle.« Sie mustert mich mit gerunzelter Stirn. »Wie läuft das eigentlich? Musst du das versteuern? Wahrscheinlich schon, und er kann es von der Steuer absetzen. Jede Wette, er hat einen cleveren Steuerberater.«
»Per dio!« Giulia lässt den Lippenstift sinken, mit dem sie sich gerade die Lippen nachziehen wollte. »Da könnte ich euch aber eine Geschichte erzählen. Mein Ex hat gewaltigen Ärger mit dem Finanzamt bekommen, und das bloß, weil er der Meinung war, dass er –«
»Das ist jetzt nicht unser Thema.« Ich beende die Diskussion, bevor sie unerfreulich wird. Denn an profane Dinge wie Steuern habe ich überhaupt noch nicht gedacht. Mit der richtig guten Stimmung ist es jetzt allerdings vorbei, und als ich vorschlage, das Auto so langsam zu holen, fällt der Protest auch nur sehr halbherzig aus.
»Also doch kein Museum mehr?«, erkundigt Giulia sich, während sie in ihrer Tasche wühlt.
»Richtig! Kein Museum«, bestätigt Regine und löffelt den letzten Rest Milchschaum aus ihrer Tasse. »Das hast du doch gehört. Wir haben uns eben mal den Luxus gegönnt, zum Kaffeetrinken nach Zürich zu fahren. Was suchst du eigentlich?«
Giulia antwortet nicht. Mit zusammengepressten Lippen kramt sie weiter und packt schließlich aus: eine riesige Tupperschüssel, in der sich wiederum die kleinen Schüsseln, die Plastikteller und Plastiktassen und diverse andere Haushaltsgegenstände wie Dosenöffner, Besteck und die zusammengefaltete Tischdecke befinden. Dann kommen die eher persönlichen Dinge wie Kontaktlinsenbehälter, Schminktäschchen, Haarspray, Deostift, Tampons auf den Tisch. Schließlich eine Plastiktüte, mit Ersatzkleidung, wie wir erfahren, und – im Hochsommer! – zwei dicken Baumwollstrumpfhosen, denn das Wetter könne ja plötzlich umschlagen. Um uns herum werden bereits die Köpfe gereckt. Auf Giulias Stirn haben sich feine Schweißtropfen gebildet, rote Flecken breiten sich auf ihrem Dekolleté aus. Regine und ich werfen uns ratlose Blicke zu. Sollten das die ersten Anzeichen der Wechseljahre sein? Hitzewallungen? Sonderbares Verhalten?
»Merda, Geldbörse geklaut«, krächzt Giulia und sinkt auf ihrem Stuhl zusammen. »Mit allem Drum und Dran. Das war bestimmt vorhin, als wir an der Brücke standen. Erinnert ihr euch an die junge Frau, die gestolpert ist? Ich hab ihr noch die Hand hingehalten, und dann waren da auch gleich jede Menge Leute. Ich hab mich anschließend sogar noch gewundert, warum meine Tasche plötzlich offen war. Aber ich dachte ...« Wütend stopft sie alles wieder zurück. »So ein Pack!«
»Und jetzt?«, frage ich beklommen. Unvermittelt fällt mir ein Urlaub in Kenia ein; von den vierzehn Ferientagen haben Heiner und ich die Hälfte der Nachmittage wartend in verschiedenen Polizeistationen verbracht – ergebnislos – und einen ganzen Tag in der deutschen Botschaft, und das nur, weil Heiner, entgegen aller Ratschläge, seinen Geldbeutel und seinen Reisepass in der Hosentasche mit sich herumschleppte. Leider fällt mir auch ein, dass die Schweizer als eher gemächlich gelten. Keine Ahnung, wie lange es dauern kann, bis Ersatzpapiere da sind. Und dann ist heute auch noch Sonntag, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass alles sehr, sehr langsam geht. So holprig habe ich mir den Start in die Selbstständigkeit nicht vorgestellt. Aber eins weiß ich: Ich werde das Auto rechtzeitig zurückbringen.
»Wir müssen zur Polizei«, dröhnt Giulia, die wieder zu ihrer üblichen Lautstärke zurückgefunden hat. »Zum Glück habe ich ein gutes Gedächtnis. Ich werde denen eine Personenbeschreibung liefern, die sich gewaschen hat. Es wird Zeit, dass man diesen Banditen das Handwerk legt.« Sie scheint wild entschlossen zu sein, ihren Beitrag dazu zu leisten; auf einer Papierserviette macht sie sich bereits Notizen, mit einer weit ausladenden Schrift füllt sie Zeile um Zeile.
»Schreibst du jetzt einen Roman darüber?«, will Regine wissen.
Giulia winkt unwillig ab und zieht eine weitere Serviette aus dem Ständer. »Das kann alles wichtig sein«, murmelt sie und schreibt weiter.
»Das kann sie gefälligst ohne uns machen«, flüstert Regine mir zu.
Ich will schon nicken, da höre ich Giulia leise aufschreien. »Nein, kann ich nicht.« Sorgfältig faltet sie die beiden Servietten. »Erstens seid ihr Zeuginnen, und zweitens könnt ihr mich doch nicht einfach so ...« Ihre Mundwinkel zucken.
Ich senke betreten den Blick, und auch Regine rutscht nervös auf ihrem Stuhl hin und her. »Hör mal, du bist doch eine erwachsene Frau«, sagt sie.
Mit zusammengepressten Lippen steckt Giulia die Servietten in ihre Tasche.
Ich zucke nur mit den Schultern.
Wie es aussieht, lösen sich gerade einige meiner Träume in Luft auf. Das Geld sowieso und vor allem das Abendessen mit Robert und noch einiges mehr. Für die Rückfahrt hatte ich eigentlich vier Stunden eingerechnet, mit Stau eventuell fünf. Ich greife nach meinem Handy. Zumindest muss ich Robert anrufen. Und retten, was vielleicht noch zu retten ist.
Dass wir kurz darauf nicht in einer Polizeistation, sondern im Auto sitzen (kein komfortabler Mercedes, wie wir eigentlich erwartet haben, sondern ein Fiat 500, der bei uns erst einmal für lange Gesichter gesorgt hat), könnte man für ein Wunder halten, hat aber eher damit zu tun, dass Robert nach einer Schrecksekunde – ich konnte förmlich spüren, wie er fieberhaft überlegte – kurzerhand um einen Tausender erhöhte. »Für die Unannehmlichkeiten, die Ihnen dadurch entstehen«, sagte er. »Ihre Freundin soll sich im Hotel einquartieren, diese Kosten übernehmen wir selbstverständlich auch, und sie kann dann morgen in aller Ruhe zur Polizei gehen. Aber bitte beeilen Sie sich. Für meine Mutter wäre es sehr unangenehm, wenn es zeitlich nicht klappt.«
Bevor ich Verständnis und vor allem Zuversicht äußern konnte, hatte er auch schon aufgelegt.
»Was? Ich soll ins Hotel gehen? Bei dem piept's wohl!«
Nicht nur ich fand Giulias Reaktion etwas merkwürdig, auch Regine schüttelte genervt den Kopf. Was allerdings in verständnisvolles Kopfnicken überging, als Giulia erklärte, warum sie auf gar keinen Fall bis morgen in Zürich bleiben könne: Sie habe nämlich, erklärte sie und riss dabei den Mund weit auf und deutete auf ihre Backenzähne unten links, um acht Uhr dreißig einen Termin in der Zahnklinik wegen einer Wurzelbehandlung, und auf diesen habe sie einen ganzen Monat warten müssen. »Noch mal einen Monat halte ich nicht durch. Ich glaube, es geht schon wieder los. Mir wäre jetzt am liebsten, wir würden heimfahren. Dann werde ich eben von Deutschland aus Anzeige erstatten.«
Mittlerweile ist von ihrem Backenzahn allerdings nicht mehr die Rede. Sie hat es sich mit ihrer Tasche auf der Rückbank bequem gemacht – soweit man in einem Auto, das nicht unbedingt auf ihre Maße ausgelegt ist, überhaupt davon reden kann –, ich sitze am Steuer und Regine neben mir, etwas einsilbig, vermutlich, weil sie findet, dass Giulia ein bisschen viel Theater macht. Eine längere Diskussion gab es bereits beim Einsteigen, die beiden konnten sich nicht darüber einigen, wer auf dem Beifahrersitz Platz nehmen sollte. Die Zahnstocher, die Giulia dabeihat, waren die Rettung – für Regine. Pech für Giulia, dass sie den Kürzeren gezogen hat. Doch die Situation hat sich beruhigt, im Radio laufen die größten Hits der 80er-Jahre, die Klimaanlage kühlt den Innenraum auf angenehme zwanzig Grad herunter, der Verkehr rollt, und irgendwann stelle ich erstaunt fest, dass es nur noch dreißig Kilometer bis zur Grenze sind.
Ein Schrei von hinten lässt mich zusammenschrecken. Regine, die den Kopf an die Scheibe gelehnt hatte und wohl eingeschlafen war, zuckt ebenfalls zusammen.
»Mir fällt gerade ein, ich habe doch keine Papiere mehr! Was sagen wir, wenn wir kontrolliert werden? Mache ich mich strafbar, weil ich mich nicht ausweisen kann? Ja, natürlich mache ich mich strafbar!«
Eigentlich dachte ich immer, wer was auf den Rippen hat, besitzt auch eine seelische Speckschicht und ist durch nichts so leicht zu erschüttern. Es gibt aber auch die Theorie, dass die Kilos eine Art Schutzwall gegen die böse Welt sind und sich dahinter oft äußerst ängstliche Menschen verbergen. Bei Giulia scheint das jedenfalls so zu sein. Ohne Papiere an der Grenze erwischt zu werden bedeutet bei ihr anscheinend Handschellen und Gefängniszelle.
»Reg dich wieder ab«, sage ich. Und weil sich ihr Gesicht immer stärker rötet, füge ich hinzu: »Denk lieber an deinen Blutdruck. Einen Abstecher in die Notaufnahme können wir uns zeitlich wirklich nicht leisten!«
Giulia fächelt sich mit beiden Händen Luft zu und atmet hörbar aus. »Du hast ja recht, aber mein Vater war Polizist, Recht und Ordnung, du verstehst ... Von 1960 bis 1965. In Kalabrien. Ich war damals zwar noch nicht auf der Welt, aber das wird garantiert genetisch weitergegeben. Gesetzestreue steckt in mir drin, da kann man nichts machen. Ich trau mich ja noch nicht mal, falsch zu parken oder zu schnell zu fahren. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie mich das belastet. Porca miseria! Wenn ihr wüsstet, wie ich mich gerade fühle!«
»Habe ich das richtig verstanden? Das heißt, du hast noch nie einen Strafzettel ...?« Regine rollt fassungslos mit den Augen. Was ich verstehen kann, denn ihre Strafzettelsammlung ist beachtlich, zwar nur lauter Kleinigkeiten wie die vergessene Parkscheibe oder die drei Kilometer zu schnell in der 30er-Zone, aber es hat sich summiert. So heftig, dass Regine letztes Jahr ihr Auto verkauft hat und seither mit dem Rennrad unterwegs ist. Aber auch da kassiert sie bereits Strafzettel. Falsche Richtung in der Einbahnstraße zum Beispiel. »Giulia, ich bewundere dich«, fügt sie leise seufzend hinzu.
Giulia reagiert nicht.
»Keine Sorge, erstens geht es nicht um Falschparken«, rufe ich aufmunternd in den Rückspiegel, »und natürlich halte ich mich an alle Geschwindigkeitsbegrenzungen! Kein Grund zur Panik also.« Ein erneuter Blick in den Spiegel sagt mir, dass ich mit Logik nicht weiterkomme. »Drittens gibt es eigentlich fast keine Grenzkontrollen mehr, und außerdem wirken wir so was von seriös. Wenn wir dann noch sagen, dass wir einen Sonntagsausflug nach Zürich gemacht haben und wie gut uns die Stadt gefallen hat ...«
Erstaunlich, dass Giulia trotz ihrer Panik sofort die Schwachstelle in meiner Argumentation erkennt. »Also gehst du doch davon aus, dass wir kontrolliert werden!«, ruft sie, und es klingt ein wenig triumphierend.
»Lass uns mal kurz anhalten«, bittet Regine.
Bahnt sich schon die nächste Katastrophe an? Aber ein schneller Blick zum Beifahrersitz beruhigt mich.
»Ich glaube, ich sollte was unternehmen«, flüstert sie mir zu, und ich blinke ordnungsgemäß rechts, bevor ich weniger ordnungsgemäß auf dem Standstreifen anhalte. Aber hier handelt es sich eindeutig um einen Notfall – auf dem Rücksitz wird bereits hyperventiliert. In letzter Sekunde, nachdem sie hastig Giulias Tasche auf den Beifahrersitz gehievt hat, quetscht Regine sich nach hinten.
Als ich wieder losfahre, ist sie bereits damit beschäftigt, das zu tun, was sie jeden Donnerstagabend sehr erfolgreich in der Sprechstunde für Zahnarztsensible macht. Im Rückspiegel sehe ich, dass sie Giulias Hände hält und mit monotoner Stimme auf sie einredet. Hypnose? Schon kurze Zeit später merke ich, wie auch ich immer ruhiger werde. Und leider sehr müde. Aber da sind wir zum Glück schon an der Grenze. Im Schritttempo geht es vorwärts.
»Ich bin ganz ruhig. Ich bin ganz ruhig«, höre ich Giulia immer wieder sagen, und irgendwann herrscht auf dem Rücksitz tatsächlich Ruhe. Das Auto vor uns, ein dunkler BMW mit getönten Scheiben, wird zur Seite gewunken. Na bitte, das klappt doch, zwei Autos hintereinander werden niemals kontrolliert, das ist gegen jede Wahrscheinlichkeit.
An diesem Tag scheint diese Regel allerdings nicht zu gelten. Eine junge Zöllnerin mit langem blondem Zopf gibt mir ein Zeichen, die Scheibe herunterzulassen. Ein prüfender Blick ins Wageninnere und dann sofort die Frage an Giulia: »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Nein ... doch ... doch.«
»Also geht es Ihnen schlecht?«
»Nein, ja ... also ...« Giulia tupft sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
Zu meinem Erstaunen beginnt die junge Frau verständnisvoll zu lächeln. »Meine Mutter hat das auch. Aber seitdem sie ein Sojapräparat nimmt, geht es besser. Das bekommen Sie in jedem Reformhaus. Sie müssen es aber regelmäßig schlucken, sonst wirkt es nicht. Gute Fahrt!«
»Sie sind ein echter Schatz!«, rufe ich, und das meine ich auch so. Noch ein freundliches Winken beiderseits, sie tritt einen Schritt zurück, und ich gebe Gas.
»Madonna mia«