Wer einmal aus dem Blechnapf frisst - Hans Fallada - E-Book

Wer einmal aus dem Blechnapf frisst E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe Es sind die 1920er in Deutschland, das Land befindet sich in einem permanenten Umbruch. Willi Kufalt wird nach fünf Jahren Gefängnis in die Freiheit entlassen. Vom ersten Tag an tut er sich schwer, wieder seinen Platz in der Welt zu finden. Er schmiedet Pläne, will sich mit der Gesellschaft arrangieren, ja, sogar heiraten. Aber alle sehen in ihm weiterhin nur den Gefallenen, den Gescheiterten; überall begegnet er Misstrauen. Fallada weiß um Kufats Schicksal aus eigener Erfahrung, saß er doch selbst lange Jahre im Gefängnis. Glaubwürdig und in allen Farben schildert er das Milieu der Gescheiterten und Ausgestoßenen. Der Jargon, der "Zungenschlag" entführt in eine Parallelwelt von Gewalt und Hierarchien, in der selbst das ärmste Schwein noch jemanden findet, den er unterdrücken und ausbeuten kann. Der Leser weiß, dass diese Geschichte "echt" ist. Und am Ende scheint es, als ob Kufalt längst schon nur noch in der geordneten Welt hinter "Schwedischen Gardinen" existieren kann und will. Null Papier Verlag

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Hans Fallada

Wer einmal aus dem Blechnapf frisst

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Hans Fallada

Wer einmal aus dem Blechnapf frisst

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Rowohlt Verlag, Berlin, 1934 (509 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-23-9

null-papier.de/569

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort des Ver­fas­sers

ERSTES KAPITEL – Reif zur Ent­las­sung

ZWEITES KAPITEL – Die Ent­las­sung

DRITTES KAPITEL – Frie­dens­heim

VIERTES KAPITEL – Der Weg ins Freie

FÜNFTES KAPITEL – Schreib­stu­be Cito-Pre­sto

SECHSTES KAPITEL – Selbst ist der Mann

SIEBTES KAPITEL – Der Zu­sam­men­bruch

ACHTES KAPITEL – Ein Ding wird ge­dreht

NEUNTES KAPITEL – Reif zur Ver­haf­tung

ZEHNTES KAPITEL – Nord, Ost, Süd, West – to Hus best

Nach­wort des Au­tors

Dan­ke

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Vorwort des Verfassers

Ei­ne der ers­ten Ta­ten der Na­zis war es, dass sie die­ses Buch vom Blech­napf auf die schwar­ze Lis­te setz­ten. Eine der ers­ten Ta­ten des neu­en de­mo­kra­ti­schen Deutsch­lands ist es, die­ses Buch wie­der zu dru­cken. Dies scheint mir bei­na­he sym­bo­lisch: Jede Zei­le in die­sem Ro­man wi­der­strei­tet der Auf­fas­sung, die von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten über den Ver­bre­cher ge­hegt und durch­ge­führt wur­de an ih­nen. Jetzt ist wie­der Platz für Hu­ma­ni­tät, für eine Hu­ma­ni­tät, die wohl frei ist von je­der Ge­fühls­du­se­lei, die aber des Sat­zes ein­ge­denk bleibt: Ihr lasst den Ar­men schul­dig wer­den …

Ich habe bei die­sem Neu­druck kei­ne Zei­le ge­än­dert der ers­ten Auf­la­ge ge­gen­über. Vi­el­leicht den­ke ich heu­te in man­chen Din­gen an­ders als da­mals vor elf Jah­ren, als ich die­ses Buch schrieb. Um so mehr ein Grund, nichts zu än­dern. Wir kön­nen un­se­re Bü­cher nicht in je­der Le­ben­s­pha­se um­schrei­ben. Und im großen Gan­zen hat für mein Ge­fühl noch Gül­tig­keit, was ich da­mals schrieb.

So gehe denn hin­aus, Buch, in die Welt. Ich hof­fe, dass auch du für dein Teil ein we­ni­ges bei­trägst zur Hu­ma­ni­sie­rung der Men­schen – nach zwölf Jah­ren der Ver­ro­hung.

Ber­lin, am 1. De­zem­ber 1945

H. F.

ERSTES KAPITEL – Reif zur Entlassung

1

Der Straf­ge­fan­ge­ne Wil­li Ku­falt geht in sei­ner Zel­le auf und ab. Fünf Schrit­te hin, fünf Schrit­te her. Wie­der fünf Schrit­te hin.

Ei­nen Au­gen­blick bleibt er un­ter dem Fens­ter ste­hen. Es ist schräg auf­ge­stellt, so­weit die ei­ser­nen Blen­den das zu­las­sen, und her­ein dringt das Schar­ren vie­ler Füße, auch ein­mal der Ruf ei­nes Wacht­meis­ters: »Ab­stand hal­ten! Fünf Schrit­te Ab­stand!«

Sta­ti­on C 4 hat Frei­stun­de, eine hal­be Stun­de ge­hen sie dort im Kreis, an der fri­schen Luft.

»Nichts ha­ben Sie zu re­den! Ver­stan­den?!« ruft der Wacht­meis­ter drau­ßen, und die Füße schar­ren wei­ter.

Der Ge­fan­ge­ne geht ge­gen die Tür, nun bleibt er dort ste­hen und lauscht in den Bau, der still ist.

Wenn Wer­ner heu­te nicht schreibt, denkt er, muss ich zum Pfaf­fen ge­hen und bet­teln, dass sie mich in das Heim auf­neh­men. Wo­hin soll ich sonst? Über drei­hun­dert Mark macht mein Ar­beits­ver­dienst si­cher nicht. Die sind bald alle.

Er lauscht im­mer noch. In zwan­zig Mi­nu­ten ist die Frei­stun­de vor­bei. Dann kom­men wir run­ter. Se­hen, dass ich vor­her noch was Ta­bak kramp­fe. Ich kann doch nicht die letz­ten zwei Tage ohne Ta­bak sein.

Er öff­net das Schränk­chen. Sieht hin­ein. Aber na­tür­lich ist kein Ta­bak da. Die Ess­schüs­sel muss ich auch noch wie­nern, sonst kotzt Rusch mich an. Putz­po­ma­de …? Be­sorgt mir Ernst.

Auf den Tisch legt er Ja­cke, Müt­ze, Hals­tuch. Wenn drau­ßen auch ein strah­len­der, war­mer Mai­tag ist, Hals­tuch und Müt­ze sind Vor­schrift.

In zwei Ta­gen ist es ja über­stan­den. Dann kann ich mich an­zie­hen, wie ich mag.

Er ver­sucht sich vor­zu­stel­len, wie sein Le­ben dann sein wird, aber er kann es nicht. Da gehe ich also die Stra­ße lang, und da ist eine Knei­pe, und ich ma­che ein­fach die Tür auf und sage: Ober, ein Glas Bier …

Drau­ßen, in der Zen­tra­le, der Haupt­wacht­meis­ter Rusch schlägt mit dem Schlüs­sel ge­gen das Ei­sen­git­ter. Es hallt durch den gan­zen Bau, in sechs­hun­dert­vier­zig Zel­len ist es zu hö­ren.

Schwein das, mit sei­ner ewi­gen Krach­ma­che­rei, murrt Ku­falt. Stimmt wie­der was nicht, Ru­sche­ken? Wenn ich nur wüss­te, was ich an­fan­ge, wenn ich raus­kom­me! Die wer­den mich doch fra­gen, wo­hin ich ent­las­sen wer­den will … Und wenn ich kei­ne Ar­beit weiß, wird mein Ver­dienst von hier an die Wohl­fahrt über­wie­sen, und ich darf mir alle Wo­chen ein biss­chen ho­len. Euch hust ich was! Lie­ber dreh ich noch mit Batz­ke ein großes Ding …!

Er schaut ge­dan­ken­ver­lo­ren auf sei­ne Ja­cke, de­ren blau­er Är­mel mit drei wei­ßen Strei­fen Wä­sche­band ge­ziert ist. Was be­deu­tet, dass er »drit­te Stu­fe« ist, ein Ge­fan­ge­ner also, des­sen Füh­rung auf »nach­hal­ti­ge Bes­se­rung und Wohl­ver­hal­ten in der Frei­heit« schlie­ßen lässt.

Hab ich krie­chen müs­sen, um die zu krie­gen! Und hat es ge­lohnt? Das biss­chen Ta­bak und eine hal­be Frei­stun­de mehr und Ra­dio ein­mal in der Wo­che abends und dass sie die Zel­le nicht ab­schlie­ßen tags­über …

Das ist so: Ku­falts Zel­len­tür ist nicht ab­ge­schlos­sen, die Zel­len­tü­ren der drit­ten Stu­fe wer­den nicht ab­ge­schlos­sen, son­dern nur an­ge­lehnt. Aber es ist das eine selt­sa­me Art Ver­güns­ti­gung: Bei­lei­be darf er die Tür nicht auf­sto­ßen, auf den Gang tre­ten und auch nur zwei Schritt dort ma­chen! Das ist ver­bo­ten. Wenn er das tut, wird ihm die drit­te Stu­fe wie­der ent­zo­gen. Sie ist eben of­fen, die Tür, dass er das weiß, das ist Vor­be­rei­tung auf das Le­ben drau­ßen, wo ja auch die Tü­ren nicht ab­ge­schlos­sen sind … eine all­mäh­li­che Ak­kli­ma­ti­sie­rung, er­dacht von ei­nem Ge­heim­rats­hirn.

Der Ge­fan­ge­ne steht wie­der un­ter dem Fens­ter und über­legt einen Au­gen­blick, ob er hoch­klet­tern soll und hin­aus­se­hen. Vi­el­leicht sieht er jen­seits der Mau­ern eine Frau …?

Nee, lie­ber nicht, spa­ren wir uns auf bis Mitt­woch.

Ru­he­los nimmt er das Netz in die Hand und strickt sechs, acht, zehn Ma­schen. Da­bei fällt ihm ein, dass er so­wohl Putz­po­ma­de wie Ta­bak beim Net­ze­kal­fak­tor schnor­ren kann – und er lässt die Holz­na­del wie­der fal­len und geht ge­gen die Tür.

Ei­nen Au­gen­blick steht er und über­legt, ob er es wa­gen soll. Dann fällt ihm was ein, er knöpft schnell die Ho­sen ab, geht auf den Kü­bel und legt sein Mor­ge­nei. Er kippt einen Schuss Was­ser dar­über, schließt den De­ckel, knöpft die Ho­sen wie­der an und nimmt den Kü­bel in bei­de Hän­de.

Wenn er mich schnappt, sag ich, die ha­ben heu­te früh ver­ges­sen, bei mir zu kü­beln, über­legt er und drückt mit dem Ell­bo­gen die an­ge­lehn­te Tür auf.

2

Er wirft über die Schul­ter einen Blick ge­gen den Glas­kas­ten der Zen­tra­le, wo, wie eine Spin­ne in ih­rem Netz, sonst der Haupt­wacht­meis­ter Rusch sitzt und alle Gän­ge, alle Zel­len­tü­ren über­schaut. Aber Ku­falt hat Du­sel: Der Haupt­wacht­meis­ter ist fort. Statt sei­ner sitzt ein Ober­wacht­meis­ter da, den der gan­ze Krem­pel lang­weilt: Er liest Zei­tung.

Ku­falt geht mög­lichst lei­se über den Gang zum Spül­raum. Da­bei kommt er an der Zel­le des Net­ze­kal­fak­tors vor­bei und zö­gert einen Au­gen­blick: Da strei­ten zwei drin. Die eine Stim­me kennt er, die ist ölig: Das ist der Net­ze­meis­ter. Aber die an­de­re …

Er steht und lauscht. Dann geht er wei­ter.

In der Spül­zel­le ist Hoch­be­trieb. Die Kal­fak­to­ren von C 2 und C 4 ha­ben sich her­auf­ge­schli­chen, eine sto­ßen.

Und noch je­mand ist hier.

»Gott, Emil, Jun­ge, Bruhn, sieht man dich wirk­lich mal wie­der?! Du musst doch dei­nen Knast auch bald ab­ge­ris­sen ha­ben?!« Da­bei kippt Ku­falt sei­nen Kü­bel in das Spül­be­cken.

»Saue­rei! Wo wir hier rau­chen!« schimpft ein Kal­fak­tor.

Ku­falt gibt an. »Du hältst dein Maul, Stub­ben! Seit wann bist du denn über­haupt im Bun­ker? Ein hal­b­es Jahr? Und so was reißt hier die Fres­se auf von we­gen Saue­rei?! Hät­test ja drau­ßen blei­ben kön­nen, wenn du Was­ser­spü­lung ge­wöhnt bist! Ach, halt die Klap­pe! Ich bin drit­te Stu­fe! – Hat ei­ner von euch Ta­bak für mich?«

»Hier, Wil­li«, sagt der klei­ne Emil Bruhn und gibt ihm ein gan­zes Pa­ket Flag­gen­stolz und Blätt­chen. »Kannst du be­hal­ten. Ich hab bis Mitt­woch stief.«

»Mitt­woch? Kommst du Mitt­woch raus? Ich auch!«

Bruhn fragt: »Sag mal, Wil­li, bleibst du ei­gent­lich hier im Kaff?«

»Aus­ge­schlos­sen! Hier, wo lau­ter Wacht­meis­ter rum­lau­fen! Ich fah­re nach Ham­burg.«

»Hast du denn da Ar­beit?«

»Nee, noch nicht. Aber ich krieg si­cher was. Ich den­ke, mei­ne Ver­wand­ten … Oder der Pfaf­fe … Ich kom­me im­mer durch!« Und Ku­falt lä­chelt, aber et­was küm­mer­lich.

»Ich habe schon was. Ich fan­ge hier in der Holz­fa­brik an. Fal­len­nes­ter im Ak­kord. Ich kom­me min­des­tens auf fünf­zig Mark die Wo­che, hat mir der Meis­ter ge­sagt.«

»Das schaffst du«, be­stä­tigt Ku­falt. »Das kannst du. Das hast du ja nun neun Jah­re ge­macht.«

»Zehn­ein­halb«, sagt der klei­ne blon­de Bruhn und blin­zelt mit sei­nen was­ser­blau­en Au­gen. Er hat einen See­hunds­kopf, kug­lig, gut­mü­tig. »Elf Jah­re wa­ren’s. Ein hal­b­es ha­ben sie mir ge­schenkt auf Be­wäh­rung.«

»Mensch, Emil, das hät­te ich doch nicht an­ge­nom­men! Ein hal­b­es Jahr ge­schenkt – und wie lan­ge sollst du dich be­wäh­ren?«

»Drei Jah­re.«

»Schön dumm bist du. Und wenn du ’ne Klei­nig­keit machst, wenn du nur ’ne Schei­be ein­schmeißt in der Be­sof­fen­heit oder Krach schlägst auf der Stra­ße, schon musst du dein hal­b­es Jahr ab­rei­ßen. Das hät­te ich doch noch gleich mit run­ter­ge­ris­sen.«

»Na, Wil­li, wenn man zehn­ein­halb Jahr Knast ge­scho­ben hat …«

»Mir ha­ben sie ewig ge­sagt, der Di­rek­tor und der Leh­rer und der Pfaf­fe, alle: Ich soll ein Ge­such auf Be­wäh­rung ma­chen. Aber ich bin nicht so dumm. Wenn ich Mitt­woch raus­kom­me, dann hab ich freie Bahn …«

Ein Kal­fak­tor mischt sich ein: »Ich den­ke, dir ha­ben sie dein Ge­such ab­ge­lehnt?«

»Ab­ge­lehnt? Gar keins ge­macht habe ich, hast du Dreck in den Ohren?«

»Mir hat’s aber der Haus­va­ter­kal­fak­tor er­zählt.«

»Der? Was der weiß! Die dün­ken sich was, die vom Haus­va­ter! Weißt du, was das für ei­ner ist? Klei­ne Kin­der stößt der vor den Hin­tern und nimmt ih­nen die Mark weg, die ih­nen ihre Mut­ti für Be­sor­gun­gen ge­ge­ben hat. Von so ei­nem lässt du dir Ge­schich­ten er­zäh­len! – Hast du Putz­po­ma­de?«

»Der Ka­lie­be hat aber auch ge­sagt …«

»Quatsch! Ob du Putz­po­ma­de hast? Zeig mal her. Gut, die hab ich. Kriegst du nicht wie­der. Ich muss noch wie­nern. Red hier bloß kei­ne Töne, Mensch. Au­ßer­dem hab ich bei mei­nen Sa­chen ein großes Stück Toi­let­ten­sei­fe, das geb ich dir da­für. Komm Mitt­woch zur Ab­gangs­zel­le. Soll ich dir auch einen Brief mit raus­neh­men? Gut, ge­macht. Mitt­woch­mor­gen Ab­gangs­zel­le.«

Der Kal­fak­tor von C 2 lässt sich ver­neh­men: »Der gibt ja heu­te an, noch und noch. Rich­tig durch­ge­dreht, weil er über­mor­gen raus­kommt.«

Aber Ku­falt plötz­lich stock­wü­tend: »Ich und durch­ge­dreht we­gen Raus­kom­men? Du spinnst ja. Mir ist das so Schei­ße, ob ich noch ein paar Wo­chen hier blei­be oder nicht. 260 Wo­chen ab­ge­ris­sen – 1825 Tage – da stauns­te: – und ich soll an­ge­ben we­gen Raus­kom­men?!«

Dann wen­det er sich ru­hi­ger zum klei­nen Bruhn: »Also, hör mal, Emil – ach, willst du dich ver­drücken? Frei­stun­de muss gleich alle sein. Sieh doch, dass du dich heu­te Mit­tag in die drit­te Stu­fe mo­gelst …«

»Das kann an­ge­hen. Bei uns auf F hat Pe­trow Dienst. Der macht es.«

»Schön. Ich möcht noch was mit dir re­den. Also, hau jetzt ab.«

»Wie­der­se­hen, Wil­li.«

»Wie­der­se­hen, Emil.«

»Da will ich auch gleich …«, sagt Ku­falt und nimmt sei­nen ge­leer­ten Kü­bel. »Ach so! Weiß ei­ner, was mit dem Net­ze­kal­fak­tor los ist?«

»Den hat wer in die Pfan­ne ge­hau­en. Der schiebt Ar­rest.«

»Ei wei! Wie­so denn?«

»Hat Brie­fe durch­ge­schmug­gelt mit der schmut­zi­gen Wä­sche an eine im Wei­ber­ge­fäng­nis.«

»An wel­che?«

»Weiß ich auch nicht. Eine klei­ne Schwar­ze soll es sein.«

»Kenn ich«, sagt Ku­falt: »Die ist aus Al­to­na. Das ist die Räu­ber­braut. Die hat ein halb Dut­zend Jun­gens für sich auf Bruch ge­hen las­sen, und sie hat die Sore … Wer ist denn jetzt Kal­fak­tor?«

»Den kenn ich noch nicht. Der ist neu, der ist ’ne Schie­bung vom Net­ze­meis­ter. So ein di­cker Jude, eine fau­le Plei­te soll er ge­macht ha­ben …«

»Nee?« sagt Ku­falt, und ihm fällt ein Wort­fet­zen ein, den er vor­hin hör­te, als er mit sei­nem Kü­bel an der Zel­len­tür vor­bei­kam. »So ist das also. Na, den schlei­mi­gen Net­ze­on­kel habe ich lan­ge auf dem Strich, den will ich jetzt mal in Salz le­gen. – Kneis­te mal, du Neu­er, ob die Luft rein ist. – O Gott!« ruft er ver­zwei­felt, »was für Säug­lin­ge schi­cken die uns hier in den Bau! Reißt die Tür auf, dass der gan­ze Bun­ker zu­sam­men­fällt! Kneis­ten sollst du! – Ist der Rusch in sei­nem Glas­kas­ten? Nicht? Na, dann will ich mal die Net­ze­on­kels be­su­chen. Mor­gen.«

Er nimmt sei­nen Kü­bel und tritt den Rück­weg zur Zel­le an.

3

Auf sei­nem Rück­marsch hat Ku­falt einen Blick zum Glas­kas­ten ge­wor­fen: Dort ist die Lage un­ver­än­dert, Ober­wacht­meis­ter Suhr stu­diert den »Stadt- und Land­bo­ten«.

Vor der Zel­le des Net­ze­kal­fak­tors tritt Ku­falt einen Schritt seit­lich, drückt sich fest in die fla­che Tür­ni­sche und lauscht.

Da steht er nun, in blau­er Bei­der­wand­ho­se1 und ge­streif­tem An­stalts­hemd, die Füße in Schlap­pen, mit spit­zer, gelb­li­cher Nase, blass, ma­ge­re Glie­der, aber ein Bauch. Etwa acht­und­zwan­zig Jah­re. Ei­gent­lich hat er freund­li­che brau­ne Au­gen, nur spu­ken sie, irr­lich­te­rie­ren, ver­wei­len nir­gends. Sein Haar ist auch braun. Er steht so da, horcht, ver­sucht zu ver­ste­hen, was sie da re­den. Den Kü­bel hält er noch im­mer mit bei­den Hän­den vor dem Bauch.

Ei­ner sagt drin­nen er­regt: »Und Sie wer­den mir die zehn Mark ge­ben! Wozu schickt Ih­nen mei­ne Frau stän­dig Geld?«

Und die öli­ge, sach­te Stim­me des Net­ze­meis­ters: »Ich tu ja für Sie, was ich kann. Dass ich Sie beim Ar­beits­in­spek­tor zum Net­ze­kal­fak­tor durch­ge­drückt habe, das kön­nen Sie mir nicht ge­nug dan­ken!«

»Ach was, dan­ken!« sagt der an­de­re böse. »Viel lie­ber wäre ich zu den Tü­ten ge­kom­men. Hier an dem Bind­fa­den reißt man sich die gan­zen Hän­de blu­tig.«

»Das ist nur die ers­ten Wo­chen«, trös­tet der Net­ze­meis­ter. »Das wer­den Sie ge­wöhnt. Bei den Tü­ten ist es viel schlech­ter. Die wol­len alle zu mir, die Tü­ten kle­ben.«

»Eine Haut­sche­re müs­sen Sie mir auch be­sor­gen, über­all krie­ge ich Reiß­nä­gel …«

»Da müs­sen Sie sich am Mitt­woch zum Haus­va­ter vor­mel­den. Der hat eine Haut­sche­re. Da wer­den Sie vor­ge­führt und kön­nen sich die Reiß­nä­gel ab­schnei­den.«

»Wann wer­de ich denn da vor­ge­führt?«

»Wie der Haus­va­ter Zeit hat. Sonn­abend oder Mon­tag, viel­leicht auch schon Frei­tag.«

»Me­schug­ge sind Sie!« schreit der an­de­re. »Nächs­ten Mon­tag, und mei­ne Hän­de blu­ten schon jetzt! Das gan­ze Netz ist blu­tig, se­hen Sie!«

Er schreit im­mer lau­ter.

Ku­falt vor der Tür grinst. Er kennt das, wie es ist, wenn die Hän­de von dem schar­fen Si­sal­garn zu blu­ten an­fan­gen, und mor­gens zie­hen sich die fei­nen, har­ten Fä­ser­chen durch die Ris­se. Frei­lich, ihm hat nie­mand ge­sagt, dass der Haus­va­ter eine Haut­sche­re hat, er hat sich die Reiß­nä­gel mit zwei Scher­ben ab­ge­klemmt.

Är­ge­re dich nur, Freund­chen, denkt er. Hof­fent­lich schiebst du einen lan­gen Knast, dass du al­les auch rich­tig lernst. – Mein Kü­bel stinkt aber wie­der mal ge­mein. Muss ich noch mit Salz­säu­re rein­ma­chen. Wenn ich heu­te vor den Arzt kom­me, muss mir der La­za­rett­kal­fak­tor wel­che aus­spu­cken …

»Und nun ge­ben Sie mir end­lich die zehn Mark. Ich las­se mich nicht dumm re­den von Ih­nen. Mein ei­gen Geld wer­de ich doch noch krie­gen kön­nen.«

»Ma­chen Sie sich und mich nicht un­glück­lich, Herr Ro­sen­thal«, sagt der Meis­ter bit­tend. »Was wol­len Sie mit Geld im Bau? Ich be­sor­ge Ih­nen doch al­les, was Sie wol­len. Ich kauf Ih­nen auch ’ne Haut­sche­re, aber Bar­geld im Bau – das kann ja Kopp und Kra­gen kos­ten.«

»Stel­len Sie sich nur nicht so an«, sagt der Ge­fan­ge­ne Ro­sen­thal. »Sie sind ja gar kein Be­am­ter, Sie sind doch nicht ver­ei­digt. Sie sind hier bloß von der Net­ze­fir­ma, um die Ar­beit aus­zu­ge­ben. Gar nichts kann Ih­nen pas­sie­ren.«

»Was wol­len Sie bloß mit Bar­geld? Das müs­sen Sie mir we­nigs­tens sa­gen!«

»Ta­bak will ich mir kau­fen.«

»Das ist be­stimmt nicht wahr, Herr Ro­sen­thal. Ta­bak kön­nen Sie doch von mir krie­gen. Wozu wol­len Sie das Geld?«

Der an­de­re schweigt.

»Wenn Sie es mir sa­gen, so sol­len Sie es krie­gen. Aber ich will wis­sen, wer es kriegt und wo­für. Man­che sind, die sind stie­kum, da kann man es ma­chen.«

»Stie­kum?«

»Die ma­chen kei­ne Lam­pen, Herr Ro­sen­thal, die hau­en uns nicht in die Pfan­ne, die schei­ßen uns nicht an, die ver­pfei­fen uns nicht – die ver­ra­ten uns nicht. So heißt das hier.«

»Ich will Ih­nen sa­gen«, flüs­tert der an­de­re – und Ku­falt muss sein Ohr ganz dicht an den Tür­spalt le­gen, um zu ver­ste­hen –, »aber Sie dür­fen nichts ver­ra­ten. Da ist ein großer Schwar­zer, ein Ge­walt­tä­ti­ger, sage ich Ih­nen, der schlägt mich tot, wenn ich ihn ver­ra­te, hat er mir ge­sagt. In der Hei­zung ist er, er hat sich an mich her­an­ge­macht, in der Frei­stun­de …«

»Der Batz­ke«, sagt der Meis­ter. »Da ha­ben Sie den rich­ti­gen Ga­no­ven ge­fasst.«

»Er hat mir ver­spro­chen, wenn ich ihm zehn Mark gebe – Meis­ter, Sie ver­ra­ten uns nicht, nein? Gera­de ge­gen­über von mei­nem Fens­ter, auf der an­de­ren Sei­te von der Stra­ße, jen­seits der Mau­er, steht ein Haus.« Der Ro­sen­thal schluckt, holt tief Atem. Dann: »Ich kann ge­ra­de in die Fens­ter rein­se­hen. Und zwei­mal habe ich dort ’ne Frau ge­se­hen. Und der Schwar­ze hat mir ge­schwo­ren, wenn ich ihm die zehn Mark gebe, so steht sie mor­gen früh um fünf am Fens­ter, ganz nackt, und ich darf sie se­hen. Ach, Meis­ter, ge­ben Sie die zehn Mark! Ich kom­me hier um, ich bin schon halb ver­rückt! Meis­ter, Sie müs­sen!«

»Die­se Jun­gen«, sagt der Net­ze­meis­ter be­wun­dernd und stolz, »was die für Din­ger dre­hen! Aber wenn der Batz­ke es Ih­nen sagt, der macht es! Und der ver­pfeift uns auch nicht. Hier ha­ben Sie …«

Ku­falt zwängt den Fuß in den Spalt, drückt die Tür auf, ist mit ei­nem Schritt drin, sagt halb­laut: »Kip­pe oder Lam­pen!« und steht ab­war­tend.

Die star­ren ver­don­nert. Der Meis­ter mit sei­nen vor­quel­len­den Fischau­gen, dem run­den Ge­sicht, dem Wal­ross­bart, hat sei­ne Brief­ta­sche in der Hand. Er glotzt. Un­term Fens­ter, bleich, ge­dun­sen, schwarz, et­was fett, steht der neue Net­ze­kal­fak­tor Ro­sen­thal und hat Angst.

Ku­falt setzt mit ei­nem Ruck den Kü­bel ab.

»Kei­ne lan­gen Ge­schich­ten, Meis­ter, oder ich ver­pfeif dich, dass du sel­ber Knast schiebst. Hier von we­gen dem al­ten Net­ze­kal­fak­tor Ar­rest be­sor­gen und den Speck­jä­ger ins Fett set­zen. – Hab doch kei­ne Angst, du dum­mes Schwein, es kos­tet ja bloß dein Geld! Ich bin mor­gen früh um fünf sel­ber am Fens­ter. Also raus, Meis­ter, mit der Ma­rie! Kip­pe? Tei­len kön­nen wir nicht, ich weiß ja nicht, wie viel du ge­kriegt hast. Ich bin bil­lig: hun­dert Mark!«

»Da ist nichts zu ma­chen, Ro­sen­thal«, sagt der Meis­ter gott­er­ge­ben. »Das Geld müs­sen wir aus­spu­cken, wenn Sie nicht min­des­tens acht Wo­chen Ar­rest schie­ben wol­len. Der Ku­falt ist so.«

»Kalt ist es da, Jung­chen«, grinst Ku­falt. »Lieg du mal erst drei Tage auf der Stein­prit­sche, da wird dir das Mark in den Kno­chen zu Eis. Also, wie wird’s?«

»Sa­gen Sie ja, Herr Ro­sen­thal«, drängt der Meis­ter.

Zwei Glo­cken­schlä­ge hal­len durchs Haus. Auf der gan­zen Sta­ti­on rührt es sich, Rie­gel knal­len …

»Nu aber fix – oder ich bin in ei­ner Mi­nu­te beim Haupt­wacht­meis­ter!«

»Sa­gen Sie doch ja, Herr Ro­sen­thal!«

»Ich het­ze den Batz­ke auf dich, du dickes Schwein, der ist mein Kum­pel. Der beißt dir die Nase ab.«

»Bit­te, sa­gen Sie ja, Herr Ro­sen­thal!«

»Also ge­ben Sie ihm … aber ich tra­ge den Scha­den nicht al­lein, Meis­ter!«

»Hand­geld«, sagt Ku­falt und spuckt auf den Hun­der­ter. »Über­mor­gen bin ich drau­ßen, Di­cker, da den­ke ich bei den klei­nen Mäd­chen an dich. – Du, Meis­ter, stell mir den Kü­bel auf die Zel­le wäh­rend der Frei­stun­de. Und Salz­säu­re stellst du da­ne­ben, sonst don­ner­t’s! Mor­gen!«

Ku­falt huscht über den Gang in sei­ne Zel­le.

gro­be Ar­beits­ho­se  <<<

4

Lär­mend, klap­pernd, schwat­zend sind acht­zig Ge­fan­ge­ne die vier Ei­sen­trep­pen hin­un­ter­ge­schus­selt zum Erd­ge­schoss. Nun, am Tor zum Freihof, ste­hen zwei Wacht­meis­ter und wie­der­ho­len wie die Au­to­ma­ten: »Ab­stand neh­men! Es wird nicht ge­spro­chen. Neh­men Sie Ab­stand! Wer spricht, kriegt eine An­zei­ge.«

Die Ge­fan­ge­nen schwat­zen doch. Nur in nächs­ter Nähe der Wacht­meis­ter wer­den sie stumm, aber kaum vor­bei, un­ter­hal­ten sie sich schon wie­der in je­nem lau­ten Flüs­ter­ton, der ge­ra­de über fünf Schrit­te Ab­stand reicht und bei dem nur der Mund nicht be­wegt wer­den darf, denn das ist Grund zu ei­ner An­zei­ge.

Ku­falt ist hoch in Form. Er un­ter­hält sich gleich­zei­tig mit Vor­der- und Hin­ter­mann, die von ihm, dem Dritt­stuf­ler, Neu­es hö­ren wol­len.

»Das ist eine Scheiß­hauspa­ro­le, dass die zwei­te Stu­fe jetzt auch zum Ra­dio darf. Glaub doch so was nicht, Mensch!«

»Ja, über­mor­gen komm ich raus. – Weiß ich noch nicht. Vi­el­leicht dreh ich ein Ding, viel­leicht geh ich auch zu mei­nem Schwa­ger aufs Büro.«

»Wie sol­len die denn hun­dert­fünf­und­zwan­zig Mann aus der zwei­ten Stu­fe in dem Schul­zim­mer un­ter­brin­gen?! Da ha­ben doch höchs­tens fünf­zig Platz! Du bist ja doof, Mensch. Je­den Dreck glaubst du!«

»Mein Schwa­ger? Möchs­te wis­sen, glaub ich. – Der hat ein Filz­lat­schen­berg­werk, wenn du’s wis­sen willst. Da kannst du auch ’nen Pos­ten krie­gen.«

»Hal­ten Sie den Mund, Ku­falt«, sagt der Wacht­meis­ter. »Im­mer die Her­ren von der drit­ten Stu­fe, die auf­fal­len.«

»Ich hab nicht ge­re­det, Herr Wacht­meis­ter, ich hab nur tief ge­at­met.«

»Den Mund sol­len Sie hal­ten, sonst ist ’ne An­zei­ge fäl­lig.«

»Mei­ne Sa­chen hab ich beim Haus­va­ter. Al­les tipp­topp, Frack auf Sei­de, Lackstie­fel – Mensch, wird das ei­nem vor­kom­men nach den fünf Jah­ren!«

»Ach, lass doch den Af­fen von Wacht­meis­ter quat­schen! Wenn der was will, ver­pfeif ich ihn. Der hat sich heim­lich von mir ein Ein­hol­netz und eine Hän­ge­mat­te stri­cken las­sen.«

»Ich hab ja nur eine Angst … Wie lan­ge bist du drin? Drei Mo­na­te? Sag mal, tra­gen die Wei­ber noch so kur­ze Rö­cke? Mir ist er­zählt, sie tra­gen jetzt wie­der lan­ge Rö­cke …«

»Das kann ich ihm nicht be­wei­sen? Das kann ich ihm doch be­wei­sen! Ich sag ein­fach zum Di­rek­tor: In der vier­ten Rei­he vom Ein­hol­netz ist eine Ma­sche dop­pelt ge­strickt, und schon ist er drin!«

»Na, Gott sei Dank! Ist das so, kann man die gan­zen Schin­ken se­hen, wenn sie sich set­zen? Und beim Ra­deln das blo­ße Fleisch?«

»Tre­ten Sie raus, Ku­falt, Sie sind ja heu­te rein ver­rückt! Wol­len Sie die letz­ten Tage noch Ar­rest schie­ben? Ge­hen Sie hier an der Mau­er, Son­der­lo­ge für die Her­ren von der drit­ten Stu­fe.«

Ku­falt geht solo. Die im Kreis ver­spot­ten ihn: »Na­tür­lich die drit­te Grup­pe! – Die Speck­jä­ger! Die Ra­dio­her­ren! Bis­te stolz auf dei­ne drei Strei­fen, Ar­schle­cker?«

»Ihr könnt mir alle …« Und er denkt: Hun­dert Mark. Fein! Nun habe ich schon min­des­tens vier­hun­dert Mark, und wenn Wer­ner Pau­se heu­te schreibt und Geld schickt … »Sie, Herr Wacht­meis­ter Stei­nitz, was kos­tet ei­gent­lich die Fahrt Drit­ter bis Ham­burg?«

»Wol­len Sie sich jetzt mit mir un­ter­hal­ten? Sei­en Sie ru­hig, oder ich las­se Sie auf die Zel­le ab­füh­ren.«

»Herr Wacht­meis­ter, Herr Wacht­meis­ter! Ich hät­te heu­te so schön Zeit, Ih­nen noch ’ne Ein­hol­ta­sche zu stri­cken.«

»Frech willst du wer­den?! War­te, Jung­chen, ich schla­ge dir die Schlüs­sel über den Schä­del! Machst du, dass du …«

»Ich hät­te heu­te wirk­lich Zeit, Herr Wacht­meis­ter! Und das Pfund Mar­ga­ri­ne, das Sie mir für die Hän­ge­mat­te ver­spro­chen ha­ben, ist auch noch nicht über­ge­kom­men.«

»Schwei­ne­kerl! Er­pres­ser! Jetzt willst du Lam­pen ma­chen, was? Letz­ten Tag? Fei­ges Aas! – Ach was, tritt da rein. Werd ich mich noch mit dir är­gern! – Fünf Schrit­te Ab­stand – und dass Sie den Mund hal­ten, Ku­falt!«

»Ich bin stie­kum, Herr Wacht­meis­ter, ich rede kei­nen Ton!«

Es ist Mai, der Him­mel ist blau, jen­seits der Mau­er, über sie hin, blü­hen die Kas­ta­ni­en. Das Rund, das die Ge­fan­ge­nen um­krei­sen, hat der Gärt­ner mit Wru­ken be­pflanzt, die ge­ra­de an­ge­gan­gen sind, ein spär­li­ches Gelb­grün in die­sen trau­ri­gen, fah­len Far­ben von Schla­cke, pulv­ri­ger Erde, Ze­ment.

Sie ge­hen im Krei­se und flüs­tern. Sie ge­hen und flüs­tern. Sie ge­hen und flüs­tern.

5

Zu­rück in sei­ner Zel­le, fällt Wil­li Ku­falt zu­sam­men. So geht’s ihm im­mer. Wenn er mit an­de­ren zu­sam­men ist, re­det er, er­zählt er, gibt an, ist der große Ga­no­ve und all­be­fah­re­ne Knast­schie­ber, aber al­lein mit sich ist er sehr al­lein, wird klein und ver­zagt.

Hät­te nicht so sein sol­len zu Wacht­meis­ter Stei­nitz, denkt er. Ge­mein war das. Bloß da­mit die grü­nen Jun­gens, die Stub­ben, se­hen, dass ich ihn in der Ta­sche habe. Es lohnt nicht, al­les ma­che ich ver­kehrt – wie wird’s drau­ßen ge­hen?

Wenn der Schwa­ger doch erst schrie­be …! Aber so … da ist die Welt drau­ßen, all die­se Städ­te und die Zim­mer, von de­nen man ei­nes mie­ten muss, und die Ar­beits­stel­len und das Geld, das viel zu schnell alle wird – und was dann?

Er starrt vor sich hin. Kei­ne achtund­vier­zig Stun­den tren­nen ihn vom Ent­las­sungs­ter­min, den er so heiß her­bei­ge­sehnt hat seit fünf Jah­ren. Nun ist ihm angst. Hier ist er gern ge­we­sen, er hat sich rasch ge­fun­den in den Ton und die Art, er hat schnell ge­lernt, wo man de­mü­tig sein muss und wo man frech wer­den kann. Sei­ne Zel­le ist im­mer blank ge­wie­nert ge­we­sen, sein Kü­bel­de­ckel hat stets ge­glänzt wie ein Spie­gel, und den Ze­ment­bo­den sei­ner Zel­le hat er zwei­mal die Wo­che mit Gra­fit und Ter­pen­tin ge­putzt, dass er ge­schim­mert hat wie ein Af­fe­narsch.

Sein Pen­sum hat er im­mer ge­strickt, oft zwei, manch­mal so­gar drei, er hat sich Zu­satz­le­bens­mit­tel kau­fen kön­nen und Ta­bak. Er ist in die zwei­te Stu­fe ge­kom­men und in die drit­te, ein ver­trau­ens­wür­di­ger Mus­ter­ge­fan­ge­ner, in des­sen Zel­le die Kom­mis­sio­nen ge­führt wur­den und der stets an­ge­mes­sen und be­schei­den geant­wor­tet hat.

»Ja, ich füh­le mich sehr wohl hier, Herr Ge­heim­rat.«

»Nein, ich mer­ke, es tut mir gut, Herr Ober­staats­an­walt.«

»Nein, ich habe über nichts zu kla­gen, Herr Prä­si­dent.«

Aber manch­mal – jetzt grinst er, er denkt dar­an, wie er den klei­nen Stu­den­tin­nen, die Wohl­fahrts­für­sor­ge­rin­nen wer­den woll­ten und ihn so gie­rig nach sei­ner Straf­tat frag­ten, wie er de­nen de­mü­tig statt Un­ter­schla­gung und Ur­kun­den­fäl­schung geant­wor­tet hat: »Blutschan­de. Hab mit mei­ner Schwes­ter ge­schla­fen. Lei­der.«

Er denkt an das ent­zückt über die­sen Witz grin­sen­de Ge­sicht des Po­li­zei­in­spek­tors und an die eine Stu­den­tin, die ihm mit flam­men­dem Blick im­mer dich­ter auf den Leib rück­te. Net­tes Mäd­chen, hat ihm gu­ten Stoff für man­ches Ein­schla­fen ge­lie­fert.

Und die fei­ne Zeit, als er beim ka­tho­li­schen Pfaf­fen im­mer den Al­tar rüs­ten muss­te, trotz­dem der sich hef­tig ge­gen einen »Evan­ge­li­schen« ge­wehrt hat­te. Aber es gab »kei­ne ver­trau­ens­wür­di­gen Ka­tho­li­ken« im Bau, das war ein Hieb der evan­ge­li­schen Be­am­ten ge­gen den ka­tho­li­schen Pfar­rer.

Wie er da hin­ter der Or­gel ge­stan­den und Luft in die Bäl­ge ge­pus­tet hat­te, und der Kan­tor gab ihm je­des Mal eine Zi­gar­re, und ein­mal war der ka­tho­li­sche Kir­chen­chor oben, und die Mä­dels schenk­ten ihm Scho­ko­la­de und fei­ne Toi­let­ten­sei­fe. Hin­ter­her nahm sie ihm frei­lich der Haupt­wacht­meis­ter Rusch wie­der ab. »Puff! Puff!« hat­te er in Ku­falts Zel­le ge­schnup­pert, »riecht hier wie Puff.« Und hat­te so lan­ge ge­sucht, bis er sie ge­fun­den hat­te und die olle So­da­sei­fe wie­der Trumpf war.

Nein, eine gute Zeit hat­te er ge­habt, al­les in al­lem, ei­gent­lich kam die Ent­las­sung et­was Hals über Kopf. So recht vor­be­rei­tet war nichts, er wür­de ganz ger­ne noch so sechs oder acht Wo­chen blei­ben, sich auf die Ent­las­sung rüs­ten. Oder war es, dass er auch schon me­schug­ge war, zu spin­nen an­fing …? Er hat­te es ja hun­dert­mal er­lebt, die Ver­nünf­tigs­ten, die Ru­higs­ten wur­den kurz vor der Ent­las­sung durch­ge­dreht, fin­gen an zu spin­nen. War er auch so­weit?

Vi­el­leicht ja, das mit dem Net­ze­meis­ter und dem di­cken Ju­den, da so ein­fach in die Zel­le, das hät­te er frü­her nicht ris­kiert, und das mit Wacht­meis­ter Stei­nitz auch nicht.

Wenn nur erst der Schwa­ger schrie­be! Hat­te der Haupt­wacht­meis­ter heu­te schon die Post ver­teilt? Schwein das, auf den konn­te man sich auch nie ver­las­sen, hat­te er kei­ne Lust, gab er drei Tage kei­ne Post aus!

Ku­falt macht ein paar Schrit­te und stutzt. Er hat doch die Wasch­schüs­sel stets so auf dem Schränk­chen ste­hen, dass ihr Rand mil­li­me­ter­ge­nau mit der Schrank­kan­te ab­schnei­det? Und jetzt steht sie min­des­tens einen Zen­ti­me­ter zu­rück?

Er öff­net die Schrank­tür.

Kie­ke da, der hat mei­ne Zel­le durch­ge­filzt, das olle Stiel­au­ge, der Net­ze­meis­ter! Hat die Hoff­nung noch nicht auf­ge­ge­ben auf sei­nen Hun­der­ter! Na, war­te, mein Jun­ge, wenn du dich da man nicht schnei­dest!

Ku­falt wirft einen arg­wöh­ni­schen Blick ge­gen den Spi­on und greift dann rasch an sein Hals­tuch. Es knit­tert be­ru­hi­gend dar­in. Aber nun fällt ihm ein, dass in spä­tes­tens ei­ner hal­b­en Stun­de Vor­füh­rung beim Arzt ist, und da muss er sich aus­zie­hen und darf also den Hun­der­ter nicht bei sich ha­ben. Das weiß der Net­ze­meis­ter auch, dann wird er die Zel­le noch mal fil­zen …

Ku­falt zieht grü­belnd die Stir­ne in Fal­ten. Er weiß na­tür­lich, dass es in der Zel­le kein Ver­steck gibt, das die Be­am­ten nicht ken­nen. Die ha­ben da vor­ne eine Lis­te, ein Wacht­meis­ter hat es ihm mal er­zählt; zwei­hun­der­telf Mög­lich­kei­ten gibt es, in dem Dreck­ding von Zel­le was zu ver­ste­cken.

Aber für ihn han­delt es sich jetzt nur dar­um, ein Ver­steck zu fin­den, das an­dert­halb Stun­den vor­hält. Län­ger dau­ert die Vor­füh­rung beim Arzt nicht, und län­ger hat der also auch kei­ne Zeit zu su­chen.

Im Rücken vom Ge­sang­buch? Nein, das ist schlecht. In der Ka­pok­ma­trat­ze? Das wäre nicht dumm, aber da­für ist die Zeit jetzt zu kurz, er kann nicht auf­tren­nen und zunä­hen in der hal­b­en Stun­de bis zur Vor­füh­rung. Au­ßer­dem müss­te er sich erst das pas­sen­de Garn von den Satt­lern be­sor­gen.

Nun zeigt es sich, dass es dumm war, den Kü­bel zu lee­ren, an­dert­halb Stun­den in dem Dreck auf dem Bo­den zu lie­gen, das hät­te dem Hun­der­ter nichts ge­scha­det, das wäre wie­der raus­zu­krie­gen ge­we­sen, aber nun war der Kü­bel leer.

Un­ter den Tisch kle­ben?

Am bes­ten un­ter den Tisch mit Brot­kru­men fest­kle­ben!

Er dreht schon an den Kü­gel­chen, aber dann lässt er es wie­der: Es ist zu be­kannt, und ein Blick ge­nügt. Lie­ber nicht.

Ku­falt wird ner­vös. Es klin­gelt schon zum Schluss der letz­ten Frei­stun­de, in ei­ner Vier­tel­stun­de geht die Vor­füh­rung los. Ob er den Schein doch mit zum Arzt nimmt? Er könn­te ihn ganz fest zu­sam­men­rol­len und sich hin­ten rein­ste­cken. Aber viel­leicht gibt der Net­ze­meis­ter dem Haupt­bul­len vom La­za­rett einen Wink, und dann wird er so ge­filzt – die sind im­stan­de und un­ter­su­chen ihn auf Mast­darm­krebs!

Er ist rat­los. Es ist ge­nau, wie wenn er raus­kom­men wird. Da sind auch so vie­le Mög­lich­kei­ten, und bei al­len ist ein »Aber« da­bei. Man muss sich ent­schei­den kön­nen, aber das eben kann er nicht. Wie soll er auch? Die ha­ben ihm doch hier fünf Jah­re lang jede Ent­schei­dung ab­ge­nom­men. Die ha­ben ge­sagt: »Friss!«, und da hat er ge­fres­sen. Die ha­ben ge­sagt: »Geh durch die Tür!«, und da ist er durch­ge­gan­gen, und: »Schreib heu­te!«, und da hat er heu­te sei­nen Brief ge­schrie­ben.

Die Luft­klap­pe ist auch nicht schlecht. Nur zu be­kannt, viel zu be­kannt. In dem einen Bett­brett ist ein Riss – aber wenn ei­ner zu­fäl­lig hin­sieht, sieht er so­fort den Schim­mer vom Pa­pier. Er könn­te den Sche­mel auf den Tisch stel­len und das Dings auf den Schirm der De­cken­lam­pe le­gen, aber das ma­chen alle, und au­ßer­dem kann ge­ra­de ei­ner durch den Spi­on lin­sen, wenn er auf dem Tisch steht.

Ku­falt dreht sich rasch um und sieht nach dem Spi­on. Rich­tig, er hat’s ge­fühlt, da ist ein Glotz­au­ge, das ist dem sei­nes, das Fisch­au­ge!

Und in ge­spiel­ter Wut springt er ge­gen die Tür, bal­lert dar­an und brüllt: »Willst du weg vom Spi­on, Kal­fak­tor, ver­damm­ter!«

Es geht knall­bums, die Tür fliegt auf, und in ihr steht der Haupt­wacht­meis­ter Rusch.

Nun heißt es thea­tern, denn Rusch liebt nur die ei­ge­nen Spä­ße. Bei Haupt­wacht­meis­ter Rusch muss man de­mü­tig sein, und so ist Ku­falt ganz hübsch be­tre­ten, als er stot­tert: »O Ver­zei­hung, Herr Haupt­wacht­meis­ter! Herr Haupt­wacht­meis­ter ver­zei­hen, ich dach­te, es wäre das Biest von Kal­fak­tor, der kneis­tet im­mer, wo ich mei­nen Ta­bak las­se.«

»Wat denn? Wat denn? Krach gib­t’s nicht. Der Lack geht von der Türe.«

Ku­falt schmei­chelt: »Herr Haupt­wacht­meis­ter wis­sen doch, bei mir ist im­mer al­les in But­ter, kein Krat­zer im Lack.«

Der Haupt­wacht­meis­ter, ein et­was stopp­li­ger Na­po­le­on, der wah­re Herr­scher über das Ge­fäng­nis, wort­karg, stets vol­ler Über­ra­schun­gen, er­bit­ter­ter Feind je­der Neue­rung, des Stu­fen­straf­voll­zugs, des Di­rek­tors, der Be­am­ten, je­des Ge­fan­ge­nen – der Haupt­wacht­meis­ter Rusch ant­wor­tet nicht, son­dern geht zum Schränk­chen, an dem die Per­so­na­li­en- und Ver­güns­ti­gungs­ta­fel hängt.

»Was ist mit Vö­geln?« fragt er.

»Mit Vö­geln?« fragt Ku­falt, halb ver­wirrt, halb grin­send.

»Vö­geln! Vö­geln!« knarrt der De­spot är­ger­lich und tippt mit dem Fin­ger auf die Ver­güns­ti­gungs­ta­fel. »Hier steht: zwei Ka­na­ri­en­vö­gel. Wo sind die? Ver­scho­ben, was?«

»Aber, Herr Haupt­wacht­meis­ter«, sagt Ku­falt vor­wurfs­voll und denkt da­bei voll Angst an den Hun­der­ter, der im­mer noch in sei­nem Hals­tuch steckt. »Die gel­ben Spat­zen sind doch drauf­ge­gan­gen, als im Win­ter die Zen­tral­hei­zung ka­putt war. Ich hab’s Ihren doch noch ge­sagt!«

»Ge­lo­gen. Ge­lo­gen. Er­stun­ken. Ge­lo­gen. Der Schus­ter, der Maaß, hat zweie zu viel. Das sind dei­ne. Ver­scho­ben!«

»Aber, Herr Haupt­wacht­meis­ter, ich habe es Ih­nen doch ge­sagt, dass sie kre­piert sind! Ich bin im Glas­kas­ten bei Ih­nen ge­we­sen und habe es Ih­nen ge­mel­det.«

Der Haupt­wacht­meis­ter steht un­term Fens­ter. Er dreht dem Ge­fan­ge­nen den Rücken, der sieht nur die di­cken wei­ßen Hän­de, die mit den Schlüs­seln spie­len.

Wenn er doch gin­ge! fleht Ku­falt. Je­den Au­gen­blick kommt die Vor­füh­rung zum Arzt und ich mit dem Schein im Hals­tuch! Ich bin ja ge­platzt! Ich kom­me gleich wie­der in Un­ter­su­chungs­haft!!

»Die drit­te Stu­fe!« knurrt das Haupt. »Im­mer die drit­te Stu­fe. Alle Un­ord­nung im Bau. Ihr Geld, Ihre Ar­beits­be­loh­nung …«

»Ja …?« fragt Ku­falt, als nichts mehr kommt.

»Aufs Wohl­fahrt­samt. Da kannst du dir jede Wo­che fünf Mark ho­len.«

»Herr Haupt­wacht­meis­ter«, fleht Ku­falt, »das wer­den Sie doch nicht tun, wo ich mei­ne Zel­le im­mer so fein ge­wie­nert habe!«

»Wat denn! Tu ich. Mach ich. Mir ganz egal. Wie­nern …? Ord­nung mit Vö­geln – ha­ha­ha!«

»Haha«, lä­chelt auch Ku­falt ge­hor­sam.

»Was ist«, fragt der Haupt­wacht­meis­ter und kann plötz­lich Deutsch, »mit dem Net­ze­meis­ter und dem neu­en Net­ze­kal­fak­tor?«

»Neu­er Net­ze­kal­fak­tor?« fragt Ku­falt. »Ist denn ein neu­er da? Den hab ich noch gar nicht ge­se­hen.«

»Fio­le! Scheiß die an­de­ren an! Zehn Mi­nu­ten warst du bei de­nen in der Zel­le!«

»Aber nein, Herr Haupt­wacht­meis­ter, ich war heu­te über­haupt nur zur Frei­stun­de aus mei­ner Zel­le!«

Der Haupt­wacht­meis­ter streicht mit dem Fin­ger nach­denk­lich über das Schrank­dach. Er be­sieht den Fin­ger, nicht un­be­frie­digt, dann be­riecht er ihn. Nein: Es hat auch nicht eine Spur von Staub auf dem Schrank ge­le­gen. Er be­sinnt sich und geht ge­gen die Tür. »Also Ar­beits­be­loh­nung durch Wohl­fahrt.«

Ku­falt über­legt fie­ber­haft: Sag ich jetzt nichts, so geht er und ich kann den Hun­der­ter ver­ste­cken, aber hän­ge ewig bei der Wohl­fahrt. Hau ich die aber in die Pfan­ne, bin ich zwar den Hun­der­ter los, krie­ge aber über­mor­gen mei­ne Ar­beits­be­loh­nung hier bar aus­be­zahlt. Aber auch nur viel­leicht.

»Herr Haupt­wacht­meis­ter …«

»He …?«

»Ich war in der Zel­le – bei de­nen.«

Der war­tet. Schließ­lich: »Was ist …?«

»Der kriegt für den di­cken Ju­den Brie­fe. Da müs­sen Sie mal fil­zen ge­hen.«

»Nur Brie­fe?«

»Er wird’s ja nicht tun für die schö­ne Nase von dem.«

»Weißt du was?«

»Fil­zen müs­sen Sie, Herr Haupt­wacht­meis­ter. Heu­te noch, gleich – da fin­den Sie was.«

Die Tür geht auf. »Ku­falt zum Arzt!«

Ku­falt sieht auf den Haupt­wacht­meis­ter.

»Los!« sagt der gnä­dig. »Vö­gel kre­pie­ren hier alle im Bau.«

Dem Aas, dem Net­ze­meis­ter, habe ich das fein be­sorgt, denkt Ku­falt, als er die Trep­pe hin­un­ter­schlurrt. Nun hat er kei­ne Zeit, in mei­ner Zel­le zu su­chen. Ach Gott, das wäre ja jetzt auch egal! Nun habe ich den Schein doch noch bei mir, ver­dammt!

6

Der Wacht­meis­ter sieht Ku­falt über das Ge­län­der weg nach. »Ein biss­chen dal­li, Ku­falt! Tut, als wüss­te er nicht Be­scheid. Bist doch wahr­haf­tig ge­nug zum Arzt ge­lau­fen!«

Ist ja gar nicht wahr, denkt Ku­falt. Seit der mich da­mals an­ge­zeigt hat we­gen Si­mu­lie­ren, als ich den Dau­men ver­knackst hat­te und nicht stri­cken konn­te, bin ich kei­ne drei­mal mehr bei ihm ge­we­sen. Und ich hat­te nicht Fio­le ge­scho­ben, ich hat­te den Dau­men wirk­lich ver­knackst!

Nein, es sind schlech­te Aus­sich­ten, den Schein noch ir­gend­wie los­zu­wer­den. Auf al­len Gän­gen ist Hoch­be­trieb. Vor­füh­rung zum Di­rek­tor, zum Po­li­zei­in­spek­tor, zum Ar­beits­in­spek­tor, zum Arzt, zum Pas­tor, zum Leh­rer – auf al­len Sta­tio­nen knal­len die Rie­gel, knacken die Sch­lös­ser, lau­fen Be­am­te mit Lis­ten, schie­ben sich Ge­fan­ge­ne in ih­ren blau­en Schlot­ter­ho­sen lang.

Mir geht eben al­les schief. Wenn ich ein­mal wirk­lich kess bin und schnei­de mir eine Schei­be ab – ein rich­ti­ger Ga­no­ve wer­de ich doch nie …

Un­ten be­grüßt ihn Ober­wacht­meis­ter Pe­trow, ein ol­ler Po­se­ner, schon in der Vor­kriegs­zeit Kitt­chen­hengst ge­we­sen, Lie­be al­ler Ge­fan­ge­nen.

»Na, Ku­falt, ol­les Haus, is sich Zeit rum? Siehst du, is ge­we­sen ein Blitz! Wa­rum hat Haupt­wacht­meis­ter dir Zel­le ge­ge­ben? Hät­test du ma­chen kön­nen auf der Trep­pe ab das klei­ne End­chen Knast! – Wie lan­ge? Fünf Jah­re? Mensch, Ku­falt, Zeit läuft sich wie Auto; was sich klei­nes Mäd­chen freu­en wird, dass du al­les hast auf­ge­spart für sie.«

Der di­cke Pe­trow schnauft strah­lend, und die Ge­fan­ge­nen grin­sen bei­fäl­lig.

»Nein, stell dich dort­hin, Ku­falt, Haus. Nich zu Batz­ke, denn ihr schwatzt und der Olle kuckt aus Glas­kas­ten, kuckt, kuckt! – Siehst du, hier, und drei Schrit­te Ab­stand. – Komm her, du Neu­er mit Bril­le, willst du zu Fuß ge­hen auf Ham­burg …? Bleib hier, mein Söhn­chen, mach ein biss­chen halt hier bei uns, Lieb­ling … Geh nicht mehr wei­ter.«

An die drei­ßig Ge­fan­ge­ne ste­hen schon da, war­tend auf die Arzt­vi­si­te, und noch kom­men im­mer mehr von al­len Sta­tio­nen dazu. Ku­falt hat den klei­nen Tisch­ler, den Emil Bruhn, ent­deckt und winkt ihm aus der Fer­ne zu.

»Das wird ja heu­te wie­der end­los«, stöhnt er zu sei­nem Vor­der­mann, »tod­si­cher ist der Fraß eis­kalt, wenn wir auf die Zel­le kom­men. Und heu­te gib­t’s Erb­sen.«

Der vor ihm dreht sich um. Er ist ein lan­ges Reff1 in ei­ner un­glaub­li­chen Kle­da­ge,2 Röh­ren aus lau­ter hell- und dun­kelblau­en Fli­cken, eine Wes­te, die so kurz ist, dass zwi­schen Ho­sen- und Wes­ten­rand eine Hand­breit Hemd her­vor­sieht, und eine Ja­cke mit Är­meln nur bis an die Ell­bo­gen. Dar­über ein klei­ner, blas­ser, bö­ser Kopf.

»Dich ha­ben sie ja beim Haus­va­ter fein in der Ma­che ge­habt«, sagt Ku­falt. »Hast ihn wohl ge­är­gert. – Wie lan­ge reißt du ab?«

»Spre­chen Sie mit mir?« fragt das Reff. »Darf man denn hier spre­chen?«

»Nee. Aber du darfst ru­hig du zu mir sa­gen, uns­re Kü­bel wer­den doch alle zu­sam­men aus­ge­schüt­tet. – Wie viel musst du ab­rei­ßen?«

»Ich bin zu zwei Jah­ren Ge­fäng­nis­haft ver­ur­teilt. Aber ich bin un­schul­dig, zwei Zeu­gen ha­ben einen Mein­eid ge­schwo­ren. Ich habe schon An­zei­ge bei der Staats­an­walt­schaft er­stat­tet.«

»Das mit dem Mein­eid sa­gen wir alle, wenn wir rein­kom­men«, trös­tet Ku­falt. »Das gibt sich. – Was hat auf dei­nem Schild über der Zel­le ge­stan­den, vor der Ver­hand­lung?«

»Schild …? Wie mei­nen Sie das? Ach so! Un­ter­su­chungs­ge­fan­ge­ner, also ein ›U‹.«

»Quatsch, das ›U‹ heißt doch nicht Un­ter­su­chungs­ge­fan­ge­ner, das heißt Un­schul­di­ger. Und was hängt jetzt an dei­ner Zel­le?«

»Straf­ge­fan­ge­ner. ›S‹.«

»Wie­der Quatsch. Schul­di­ger! Das ist al­les ganz ein­fach. Wenn du ver­knackt bist, bist du auch schul­dig, da hilft kein Re­den. Ur­teil ist Ur­teil. Rede hier bloß kei­nen Stuss von we­gen Mein­eids­an­zei­gen, auf die süße Tour fal­len wir hier nicht rein. Da sind ’ne gan­ze Men­ge, die neh­men das ge­wal­tig sau­er, wenn du so da­her­re­dest.«

»Na, er­lau­ben Sie mal, ich bin un­schul­dig, mei­ne Frau und mein Pro­ku­rist wer­den ein paar Jah­re Zucht­haus we­gen Mein­eid krie­gen. Hö­ren Sie mal zu, ich wer­de Ih­nen das er­zäh­len …«

Aber er kommt nicht mehr zum Er­zäh­len. Vom Glas­kas­ten her klingt hef­ti­ges Schlüs­sel­ge­klop­fe. »Herr Pe­trow, pas­sen Sie ge­fäl­ligst auf! Der Lan­ge da, der Men­zel, schwatzt im­mer­zu mit dem Ku­falt.«

Pe­trow stürzt sich wut­ent­brannt auf den »Un­schul­di­gen«. »Soll ich dir Gift­zahn aus­rei­ßen, Las­ter, lan­ges, ge­kleb­tes? Bist du in Ju­den­schu­le, denkst du? Glaubst du? Marsch, marsch, marsch, Lin­ken, Rech­ten, Lin­ken, Rech­ten, in Ar­rest­zel­le, kannst du re­den mit Ei­sen, bis Arzt kommt, Schwät­zi­ges, du!«

Knack, knack, die Zel­len­tür fliegt zu, der ganz ver­stör­te Lan­ge ist ver­schwun­den, und im Vor­bei­ge­hen flüs­tert Pe­trow strah­lend dem Ku­falt zu: »Hat er Schiss ge­kriegt, der Neue? Bin ich schreck­lich wü­tend? Söhn­chen, mach mit dem nicht Kum­pe­la­ge, im­mer ist das bei Di­rek­tor und In­spek­tor und schwätzt al­les, was es hört.«

Und Pe­trow ist schon zehn Schrit­te wei­ter. Da ste­hen iso­liert zwei Brau­ne, schmu­cke Zucht­haus­husa­ren, si­cher auf Trans­port hier. Und die bei­den Iso­lier­ten hat­ten drei Schrit­te vor­wärts ge­macht, vom Lin­ole­um her­un­ter auf den ge­wachs­ten Ze­ment­bo­den, wohl um et­was An­schluss zu fin­den bei den an­de­ren Ge­fan­ge­nen, viel­leicht we­gen Ta­bak …

»Bleibt sich hier die Her­ren, auf dem brau­nen Li­no­lei, im­mer auf dem Li­no­lei! Hier, die Her­ren!«

Die Zucht­häus­ler se­hen nicht auf, sie se­hen starr vor sich in die Luft, hö­ren nichts, rüh­ren sich nicht. Ku­falt stellt wie­der fest, dass Zucht­häus­ler eine ganz an­de­re Art ha­ben, mit Be­am­ten um­zu­ge­hen. Ge­fäng­nis­ge­fan­ge­ne schmu­sen sich an, su­chen auf Du und Du zu kom­men, der Zucht­häus­ler hat nie einen Be­am­ten ge­se­hen, die sind alle Luft für ihn.

Pe­trow em­pört sich ernst­lich: »Auf den Li­no­lei! Auf den Li­no­lei!«

Die bei­den hö­ren nichts, se­hen nichts. Nur wie zu­fäl­lig ma­chen sie ge­ra­de jetzt einen Schritt, zwei Schrit­te, drei Schrit­te – und ste­hen wie­der auf dem Lin­ole­um. Den Be­am­ten ha­ben sie gar nicht ge­se­hen.

Die Tür zum La­za­rett tut sich auf. In sei­nem wei­ßen Man­tel er­scheint der La­za­rett­haupt­wacht­meis­ter. »Vor­füh­rung zum Arzt!«

»Paar­wei­se an­tre­ten!« schreit Pe­trow. »Ein­rücken ins La­za­rett!«

Und im sel­ben Au­gen­blick bricht die sorg­fäl­tig be­wahr­te Ruhe und Ord­nung zu­sam­men. An die fünf­zig Ge­fan­ge­ne rücken mit Ge­lärm und Ge­schwätz durch die enge Schlucht ei­nes Gan­ges über eine Trep­pe ins La­za­rett. Pe­trow ver­sucht, we­nigs­tens die bei­den Zucht­häus­ler im Auge zu be­hal­ten, aber so­fort sind die un­ter­ge­taucht zwi­schen den an­de­ren, tau­schen Wor­te, ihre Hän­de fas­sen zu.

»Na, war­tet! Wer­de ich fil­zen euch auf Ta­bak, Schwei­ne, mi­se­ra­b­li­ge! – Na, lass sie! – Stellt euch hier­hin, ihr bei­de!«

»Al­les in zwei Glie­dern auf­stel­len, die Ge­sich­ter zur Wand, die Rücken ge­gen­ein­an­der. Schu­he und Pan­tof­feln aus­zie­hen und vor sich stel­len!« kom­man­diert der La­za­rett­haupt­wacht­meis­ter.

Es ge­schieht, ein Name wird auf­ge­ru­fen, und der Ge­fan­ge­ne ver­schwin­det im Arzt­zim­mer, der Haupt­wacht­meis­ter hin­ter­her.

»Das wird heu­te wie­der end­los dau­ern«, haucht Ku­falt zum klei­nen Bruhn, der ne­ben ihm steht.

»Weiß man nicht, Wil­li«, flüs­tert Bruhn. »Manch­mal macht er sech­zig in ei­ner hal­b­en Stun­de fer­tig. Siehst du, geht der Krach schon los.«

Aus dem Arzt­zim­mer tönt Ge­schimp­fe, Ge­schrei, der Ge­fan­ge­ne er­scheint, wut­rot. »Aber ich bin wirk­lich krank, ich be­schwe­re mich beim Straf­voll­zug­samt, das las­se ich mir nicht ge­fal­len!«

»Ge­hen Sie schon, ge­hen Sie«, drän­gelt der Haupt­wacht­meis­ter.

»Si­mu­lan­ten­ge­sin­del«, hört man den Arzt schrei­en. »Ich be­sor­g’s euch! Der nächs­te!«

»Riecht heu­te sau­er«, sagt Batz­ke auf der an­de­ren Sei­te von Ku­falt. »Wenn er schon beim Ers­ten so an­fängt …«

»We­nigs­tens kom­men wir dann schnel­ler dran. Ich will noch zum Fuß­ball. Du doch auch?«

»Weiß noch nicht. Mein Af­fen­fett ist alle, ich muss erst noch mal auf die An­schaf­fe.«

»Müs­sen wir uns ei­gent­lich ganz aus­zie­hen« fragt Ku­falt.

Und Batz­ke: »In Fuhls­büt­tel muss­ten wir’s. Wie’s hier bei den Preu­ßen ist, weiß ich nicht.«

»Un­sinn«, flüs­tert Bruhn von der an­de­ren Sei­te. »Gar nichts wird ge­macht. Der sieht uns gar nicht an.«

»Glaub ich nicht«, sagt wie­der Ku­falt. »In der Straf­voll­zugs­ord­nung steht doch, dass die Ge­fan­ge­nen vor ih­rer Ent­las­sung gründ­lich auf Ge­sund­heit und Ar­beits­fä­hig­keit zu un­ter­su­chen sind.«

»Da steht viel.«

»Also du meinst, wir brau­chen uns nicht aus­zu­zie­hen?«

Batz­ke flüs­tert: »Na, was für hei­ße Sore hast du denn in dei­nen Lum­pen, Ku­falt? Ma­chen wir Kip­pe oder …?«

»Stil­le seid ihr, Klatsch­tan­ten«, ruft Pe­trow. »Mit Schlüs­sel in Ge­nick schlag ich!«

»Ach, Herr Ober­wacht­meis­ter, darf ich nicht mal aus­tre­ten? Herr Ober­wacht­meis­ter, es zieht mir ja so durch den Bauch! Ich hab ja so ’ne Angst vor dem Arzt!« grinst Ku­falt.

»Na, geh schei­ßen, al­tes Haus. Drü­ben in Spül­zel­le. Dass du aber kei­ne drin­nen stößt, sonst al­les Qualm und Dok­tor schimpft.«

»Be­stimmt nicht, Herr Ober­wacht­meis­ter.«

Und Ku­falt ver­schwin­det in der Spül­zel­le, de­ren Tür er an­lehnt. Der Si­cher­heit hal­ber zieht er die Ho­sen run­ter, aber dann stellt er sich mit dem Rücken ge­gen den Spi­on, nimmt has­tig den Schein aus dem Hals­tuch, schiebt ihn tief in die So­cken (so, Batz­ke, Kip­pe is nich), macht sich zu­recht, lässt einen Au­gen­blick die Was­ser­lei­tung lau­fen und stellt sich wie­der in Reih und Glied.

Pe­trow steckt den Kopf prü­fend in die Spül­zel­le und zieht ihn be­frie­digt zu­rück. »Nicht ge­raucht, kei­ne ge­sto­ßen, bra­ver Kerl, Ku­falt.«

Und Ku­falt fühlt sich ob die­ses Lo­bes rich­tig ge­rührt.

Doch Batz­ke flüs­tert: »Na, Mensch, Ku­falt, wie is …? Kommst du rü­ber mit der Sore oder soll ich …?«

Und Ku­falt da­ge­gen: »Und was ist mit dem di­cken Jud und der nack­ten Schick­se? Mensch, hau bloß ab, bei mir im­mer Fehl­mel­dung!«

»Na also«, grinst Batz­ke. »Hast du den Stub­ben auch hoch­ge­nom­men? Sau­ber! Sau­ber!«

Aus der Ecke grollt eine dro­hen­de Stim­me: »Wie lan­ge sol­len wir hier noch in So­cken auf dem kal­ten Fuß­bo­den ste­hen? Eine Schwei­ne­rei ist das! Be­schwe­ren wer­de ich mich!«

Pe­trow grinst. »Die Her­ren aus dem Zucht­haus? Hat sich Me­di­zi­nal­rat so an­ge­ord­net. Kann ich nichts ma­chen, Her­ren. Be­schwe­ren sich bei Me­di­zi­nal­rat.«

»Möch­te ich auch wis­sen«, sagt Ku­falt lei­se zu Bruhn, »warum die­se Schwei­ne­rei ist. Zehn­mal habe ich mir schon den Hus­ten bei die­ser Ste­he­rei auf dem kal­ten Fuß­bo­den ge­holt.«

»Dass wir den Her­ren La­za­rett­kal­fak­to­ren ihr Lin­ole­um nicht zer­krat­zen«, meint Batz­ke.

»I wo«, er­klärt Bruhn, der al­les weiß. »Das ist schon sechs, acht Jah­re her, da hat mal ein Ge­fan­ge­ner dem Arzt die Lat­schen um den Kopf ge­hau­en. Seit­dem darf kein Ge­fan­ge­ner mehr in Lat­schen zu ihm.«

»Ver­damm­te Schwei­ne­rei«, knurrt Ku­falt. »Wir dür­fen uns hier er­käl­ten, weil …«

»Wir sind eben Vieh«, sagt Batz­ke. »Aber ich will’s de­nen drau­ßen auch fein zei­gen, was ich für ein Vieh bin!«

Die Ge­fan­ge­nen sind da­hin­ge­schmol­zen wie Schnee an der Son­ne, es hat mehr Krach ge­ge­ben, mehr Ge­schrei, em­pör­te Pro­tes­te oder wei­ner­li­ches Ge­win­sel, aber zum Schluss hat im­mer die di­cke Schul­ter des La­za­rett­haupt­wacht­meis­ters die Leu­te aus der Tür ge­kan­tet, Pe­trow hat sie wei­ter­be­för­dert, hat mit­füh­lend ihre Kla­ge an­ge­hört und ist froh ge­we­sen, wenn er sie aus dem La­za­rett raus hat­te. Nun kom­men nur noch die bei­den Zucht­häus­ler und die Ent­las­sun­gen dran.

»Pass auf, jetzt gib­t’s Krach«, rät Ku­falt.

»Glaub ich nicht«, zwei­felt Bruhn. »Soll­te mich wun­dern.«

Und nach fünf Mi­nu­ten er­schei­nen die bei­den wie­der aus dem Arzt­zim­mer, mit den­sel­ben aus­drucks­lo­sen Ge­sich­tern, und dies­mal taucht der Herr Me­di­zi­nal­rat selbst hin­ter ih­nen auf. »Der Haupt­wacht­meis­ter bringt Ih­nen gleich die Me­di­zin rauf. Ja, auch Wat­te. Ja­wohl.«

»Die kön­nen’s bes­ser, die Jun­gen«, be­nei­det sie Ku­falt.

»Ach was«, sagt Bruhn, »fei­ge ist er bloß, der Dok­tor. Das kön­nen doch Le­bens­läng­li­che sein – und was ris­kie­ren die schon, wenn sie ihm in die Fres­se schla­gen? Le­bens­läng­lich bleibt im­mer le­bens­läng­lich. Das weiß der Dok­tor ganz gut.«

»Kehrt! Den Arzt an­schau­en! Das sind die Leu­te, die die­se Wo­che zur Ent­las­sung kom­men, Herr Me­di­zi­nal­rat.«

»Schön.« Der Me­di­zi­nal­rat sieht nicht hoch. »Die Leu­te kön­nen ab­ge­führt wer­den. Alle ge­sund, alle ar­beits­fä­hig, Herr Haupt­wacht­meis­ter.«

»Da­für ha­ben wir hier nun eine Stun­de ge­war­tet«, sagt Bruhn.

»Aber ich schrei­be eine di­cke Be­schwer­de, wenn ich raus bin«, er­klärt Ku­falt.

»Vieh muss wie Vieh be­han­delt wer­den«, grinst Batz­ke. »Recht hat er, der Pflas­ter­kas­ten!«

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7

Als Ku­falt in sei­ne Zel­le kommt, hat er schon wie­der Grund zum Är­ger. Da ha­ben sie un­ter­des­sen Es­sen aus­ge­ge­ben und ihm sei­nen Ess­napf auf den Tisch ge­stellt, aber nur einen Schlag ha­ben sie hin­ein­ge­tan! Hun­de, die ver­damm­ten! Soll er Kohldampf schie­ben noch in den letz­ten Ta­gen? Und ge­ra­de Erb­sen, die er so ger­ne isst!

Aber als Ku­falt dann sitzt und has­tig löf­felt – er muss schlin­gen, denn es kann jede Mi­nu­te klin­geln zur Frei­stun­de der drit­ten Stu­fe –, wi­der­steht ihm das Es­sen plötz­lich. Das hat er ein paar­mal ge­habt in die­sen Jah­ren: Wo­chen­lang, mo­na­te­lang konn­te er den breii­gen Fraß nicht run­ter­brin­gen.

So wühlt er nur ap­pe­tit­los in der Schüs­sel, ob sich viel­leicht ein Stück­chen Schwei­ne­fleisch hin­ein­ver­irrt hat – aber nichts.

Er kippt das Es­sen in den Kü­bel, macht die Schüs­sel sau­ber und schmiert sich einen Kan­ten mit Schmalz. Sein Schmalz schmeckt def­tig, die Schnei­der bra­ten es ihm un­ten auf dem Bü­gel­ofen mit Äp­feln und Zwie­beln aus. Zu ihm sind sie an­stän­dig, bei ihm neh­men sie nicht mehr als ein Vier­tel vom Pfund für ihre »Ar­beit«, an­de­re müs­sen die Hälf­te oder gar drei Vier­tel ge­ben, und wer grün ist, der kriegt über­haupt nichts zu­rück. Da hat es eben der Haupt­wacht­meis­ter be­schlag­nahmt. Die Schnei­der sind noch an­stän­dig ge­we­sen und ha­ben alle Schuld auf sich ge­nom­men. Er­zäh­len die. Mach da schon was!

Ku­falt hockt auf sei­nem Sche­mel und gähnt. Am liebs­ten haute er sich eine Wei­le aufs Bett, aber der Haupt­wacht­meis­ter kann je­den Au­gen­blick an die Glo­cke schla­gen, es wäre schon längst Zeit.

Wie sich die Zeit dehnt, die­se letz­ten Tage und Wo­chen! Sie geht nicht hin, sie geht nicht hin, sie bleibt, sie klebt, sie geht nicht hin. Sonst hat er jede freie Mi­nu­te ge­strickt, aber er mag nicht mehr, nicht eine Ma­sche mehr wird er de­nen stri­cken! Nichts mag er mehr. Auch nicht drau­ßen sein. Si­cher schreibt Wer­ner über­haupt nicht, und dann darf er beim Pfaf­fen um Un­ter­kunft bet­teln.

Das Bes­te wäre ein gu­tes, si­che­res Ein­kom­men, es braucht nur klein zu sein, aber si­cher. Nichts mehr von den Ga­no­ven se­hen, ir­gend­wo ganz un­auf­fäl­lig hau­sen, ein ge­wis­ser, gleich­gül­ti­ger Wil­li Ku­falt, und man hat sein Zim­mer und sitzt warm durch den Win­ter. Vi­el­leicht mal Kino. Und net­te Bü­ro­ar­beit und so wei­ter und so wei­ter. Er wünscht sich nichts Bes­se­res. Amen.

Die Glo­cke schlägt an.

Er fährt hoch, greift nach Müt­ze und Hals­tuch, fühlt noch mal, ob der Schein fest im Strumpf sitzt – da macht schon Stei­nitz die Tür auf. »Frei­stun­de drit­te Stu­fe!«

Un­term Glas­kas­ten sam­meln sie sich, elf Männ­lein von sechs­hun­dert.

»Seid ihr alle?« fragt Pe­trow.

»Nein, Batz­ke fehlt noch.«

»Der pennt, muss ex­tra ge­weckt wer­den.«

»Nein, der will nicht kom­men.«

»Ei­nen fei­nen Be­griff krie­gen die vor­ne. Die wer­den uns rasch wie­der die Ex­traf­rei­stun­de ab­knöp­fen, wenn sie se­hen, dass wir nicht mal hin­ge­hen.«

»Wer hat den Fuß­ball?«

»Ei­nen neu­en brau­chen wir auch wie­der. Den kann man nicht mehr fli­cken.«

»Halt ’s Maul, Schus­ter, gut ist der noch zu fli­cken, sei bloß nicht so faul!«

»Wenn die fei­nen Her­ren über­mor­gen raus­kom­men, kön­nen sie schon mal zehn Mark schmei­ßen von ih­rer Ar­beits­be­loh­nung.«

»Ich brauch mein Geld für mich.«

»Nanu, Herr Ober­wacht­meis­ter, warum ge­hen wir denn heu­te durch den Kel­ler?«

»Is sich nä­her.«

»Und ver­bo­ten ist es auch.«

»Wer ver­bo­ten? Gar nicht ver­bo­ten!«

»Rusch!«

»Was der ver­bie­tet, ich hust in die Ho­sen.«

»Da steht doch wer!«

»Mensch, Bruhn, kommst du mit uns mit?«

»Au fein, Emil, da kön­nen wir schön mit­ein­an­der klö­nen.«

»Pe­trow hat mich raus­ge­schmug­gelt, Rusch ist jetzt nicht im Bau. Fein, was, Wil­li?«

»Das gibt es gar nicht! Der ist noch nicht mal zwei­te Stu­fe! Herr Ober­wacht­meis­ter …!«

»Ich nichts se­hen. Nicht wis­sen, wie Bruhn raus­ge­kom­men.«

»Hältst du den Sab­bel, nei­di­scher Hund! Gönnst das dem Bruhn wohl nicht, dass er ein ein­zi­ges Mal mit uns raus­kommt?«

»Stub­ben, däm­li­cher, wenn ich mal was will, gibst du an, noch und noch.«

»Bei Bruhn ist das an­ders, bei Bruhn sagt kein Wacht­meis­ter was.«

»An­ders – weil er dein Sü­ßer ist, was? So was gib­t’s gar nicht, ich wer­de dir Lam­pen ma­chen!«

»Tu’s doch, wenn du’s wagst! Ich weiß auch was von dir …«

Sie sind drau­ßen. Es ist der Freihof vom Ju­gend­ge­fäng­nis, auf dem sie Fuß­ball spie­len und spa­zie­ren­ge­hen dür­fen, ohne Auf­sicht – Pe­trow hat sich schleu­nigst ge­drückt –, als Vor­be­rei­tung für die Frei­heit, al­ler­dings von ei­ner fünf Me­ter ho­hen Mau­er um­ge­ben.

»Komm, Wil­li, lass ihn doch re­den, ich bin ja jetzt drau­ßen.«

»Ja, komm. Wir ge­hen hier die Mau­er lang, da stö­ren wir sie nicht beim Spiel.«

»Dir muss man eine in die Fres­se schla­gen, du hoch­nä­si­ger Hund, du!«

»Schlag doch, schlag doch, wenn du eine Cou­ra­ge hast!«

»Das will ich dir be­wei­sen, du Priem­maul, du elen­des …!«

»Spie­len wir nun Fuß­ball oder nicht, Schus­ter …?«

»Viel zu elend bist du mir, hau bloß ab mit dei­nem Pu­pen­jun­gen. Aber ich sag es dem Rusch …!«

»Also komm end­lich, Wil­li!«

»Die­ser elen­de Schus­ter, Emil! Ich will dir auch sa­gen, warum er so stän­kert. Mei­ne bei­den gel­ben Spat­zen hab ich ihm ver­kauft für vier Pa­ke­te Ta­bak. Und der Rusch hat es ge­ro­chen. Nun ist er die Vö­gel und den Ta­bak los. Da­rum ist er so gif­tig, nicht dei­net­we­gen.«

»Wann kommt er raus, der Schus­ter? Der spinnt ja schon.«

»Und ob. Drei Jah­re muss er noch ab­rei­ßen. Aber er schmiert sich ja an je­den ran, den Be­am­ten be­sohlt er heim­lich die Schu­he, noch und noch, und jetzt will er ja auch wie­der in die ka­tho­li­sche Kir­che ein­tre­ten, da kriegt er si­cher Be­wäh­rungs­frist!«

»Ja, der kommt im­mer wie­der raus, der ver­steht den Bo­gen.«

Sie ge­hen in der war­men Mai­son­ne im­mer un­ter der Mau­er auf und ab. Grün ist kein Grä­serl, kein Zweig zu se­hen, aber der Him­mel ist schön blau, und nach den trü­ben Zel­len ist die Son­ne dop­pelt hell und warm. Sie wärmt bis in die Kno­chen, die Glie­der wer­den schlaff und läs­sig, die im­mer ge­spann­te, sprung­fer­ti­ge, ab­wehr­be­rei­te Stim­mung ent­spannt sich, die bei­den wer­den weich und ru­hig.

»Du, Wil­li«, sagt der klei­ne Bruhn.

Er ist ein di­cker, mol­li­ger Jun­ge, erst acht­und­zwan­zig, mit sieb­zehn in den Bau ge­kom­men. Mit sei­nen hell­blau­en Au­gen, dem ro­si­gen, vol­len Ge­sicht, dem fast wei­ßen Haar sieht er aus wie ein großes Kind. Auf sei­nem Schild in der Zel­le steht aber »Raub­mord«, und er hat auch die Höchst­stra­fe für Ju­gend­li­che be­kom­men, da­mals noch fünf­zehn Jah­re. Doch nach so was sieht er nicht aus, er ist ein gu­ter Jun­ge, alle im Bau mö­gen ihn. Nie hat er sich an­ge­schmiert, und doch mö­gen sie ihn.

Üb­ri­gens be­haup­tet er, wenn er auf die Sa­che, sehr sel­ten und sehr hilf­los, zu spre­chen kommt, dass er zu Un­recht ver­ur­teilt ist. Es war kein Raub­mord, es war Tot­schlag, in Wut und Verzweif­lung hat er sei­nen Kahn­schif­fer, der den Schiffs­jun­gen Bruhn bis aufs Blut pei­nig­te, er­schla­gen. Dass es ihm dann leid tat, mit dem to­ten Schif­fer die gol­de­ne Uhr ins Was­ser zu wer­fen, das steht sei­ner An­sicht nach auf ei­nem an­de­ren Blatt. Nicht um die Uhr hat er den er­schla­gen.

Da ge­hen die bei­den jun­gen Leu­te, fünf Jah­re und elf Jah­re Knast ha­ben sie hin­ter sich, jetzt sind sie in der Son­ne, und in zwei Ta­gen ist al­les über­stan­den, und al­les wird wie­der gut.

»Du, Wil­li?«, fragt der klei­ne Bruhn.

»Ja, Emil?«

»Ich hab dich schon in der Spül­zel­le ge­fragt: Willst du nicht hier­blei­ben? Hier am Ort, mei­ne ich. Nein, sag noch nichts, ich den­ke mir, wir neh­men uns zu­sam­men ein Zim­mer, das wird bil­li­ger. – Und wenn du nicht gleich Ar­beit kriegst, kochst du und wäschst und machst die Haus­ar­beit. Ich werd gut ver­die­nen. Und abends wer­fen wir uns fein in Scha­le und ge­hen aus.«

»Ich muss doch se­hen, dass ich Ar­beit krie­ge, Emil. Ich kann doch nicht ewig dei­ne Haus­ar­beit ma­chen.«

»Ar­beit kriegst du. Nur so für den An­fang, dach­te ich. Wenn du kräf­ti­ger wärst, wür­de ich dich in der Holz­fa­brik un­ter­brin­gen, aber du musst wohl Schreib­kram ma­chen oder so was … Der Alte mag dich doch ger­ne, der be­sorgt dir si­cher was.«

»Ach, der Di­rek­tor, der kann auch nicht, wie er möch­te. Und dann, Emil, hier das klei­ne Nest, über­all lau­fen die Wacht­meis­ter rum und die blau­en Jun­gens auf Au­ßen­ar­beit, und ewig hast du den Bun­ker vor Au­gen, und nach drei Ta­gen wis­sen die Krim­schen, wo­her du bist. Und dann schwatzt es sich rum, und die Wir­tin er­fähr­t’s, und dir wird ge­kün­digt …«

»Wir ge­hen gleich zu ei­ner, die’s nicht stört.«

»Ach, das sind doch auch wie­der sol­che, die wol­len uns dann gleich hoch­neh­men.«

»Braucht nicht zu sein, Wil­li, glaub mir, braucht nicht zu sein. Es gibt auch an­de­re. – Ich denk im­mer, ich krieg noch mal ein an­stän­di­ges Mä­del, nicht solch Nut­ten­pack, und hei­ra­te und wer­de Meis­ter und hab Kin­der …«

»Wür­dest du’s ihr denn sa­gen?«

»Weiß nicht. Müss­te man mal se­hen. Aber bes­ser nicht.«

»Aber du musst es ihr sa­gen, Emil! Sonst hast du ja im­mer Angst, es kommt raus und sie läuft dir weg.«

Sie ste­hen in der vol­len Son­ne, sie se­hen sich nicht an, sie se­hen vor sich hin in den grau­en Sand, Ku­falt wühlt mit sei­nem Pan­tof­fel dar­in.

Bruhn bit­tet noch ein­mal: »Also, Wil­li, mach, komm mit mir!«

Und Ku­falt: »Nein. Nein. Nein. Das mit dir, Emil, wäre doch auch wie­der Kitt­chen. Wir wür­den im­mer nur vom Bau re­den und vom Knast. Nee, nicht.«

»Nein!« sagt nun auch Bruhn.

»Man hat ja hier al­les mit­ge­macht, und man hat schön mit­ge­scho­ben und be­schis­sen und hat an­de­re in die Pfan­ne ge­hau­en und ist de­nen in den Arsch ge­kro­chen, de­nen vor­ne, aber nun Schluss!«

»Ja«, sagt Bruhn.

»Und dann, we­gen des an­de­ren auch … Weißt du, als ich auf der Pen­ne war, auf der Schu­le, ver­stehst du, da habe ich ’ne Lie­be ge­habt, ganz von Wei­tem, wir ha­ben höchs­tens zwei­mal mit­ein­an­der ge­spro­chen, und ein­mal hab ich ge­se­hen, wie sie ihr Strumpf­band wie­der fest­mach­te in den An­la­gen. Das war da­mals, als die Mäd­chen noch lan­ge Rö­cke tru­gen, weißt du …«

»Ja«, sagt Bruhn.

»Aber das war nichts ge­gen das ers­te Jahr hier, als du mir ge­gen­über auf der an­de­ren Sei­te die Zel­le hat­test, und ich sah dich mor­gens. Du hat­test nur Hemd und Hose an und setz­test den Kü­bel raus und den Was­ser­krug. Und dein Hemd stand of­fen über der Brust. Dann fingst du an, mir zu­zu­lä­cheln, und ich hab im­mer auf das Schlie­ßen ge­war­tet, ob ich dich zu se­hen krieg­te … Und dann schick­test du mir den ers­ten Kas­si­ber …«

»Ja«, sagt Bruhn, »das war da­mals noch durch den lan­gen Kal­fak­tor, den Tiet­jen, der we­gen Raub saß. Der war stie­kum, der mach­te es sel­ber so.«

»Und dann das ers­te Mal, als du im Dusch­raum, wie der Wacht­meis­ter sich um­dreh­te, zu mir un­ter mei­ne Du­sche krochst, und wie du dich im­mer hin­ter dem Schirm ver­steck­test, wenn der lins­te … Gott, es wa­ren doch manch­mal schö­ne Zei­ten hier im al­ten Bau …«

»Ja«, sagt Bruhn, »aber ein Mäd­chen ist doch bes­ser.«

Ku­falt be­sinnt sich. »Siehst du, dar­um hab ich mich dar­an er­in­nert: Wenn wir bei­de zu­sam­men wä­ren, es gin­ge gleich wie­der los wie frü­her …«

»Nein«, sagt Bruhn. »Nicht, wenn Mäd­chen da sind.«

»Doch«, sagt Ku­falt. »Und es soll al­les vor­bei sein. So schön es ge­we­sen ist, es soll al­les vor­bei sein. Jetzt geht es ganz neu los, und ich will ge­nau­so sein wie alle an­de­ren.«

»Also du gehst be­stimmt nach Ham­burg?«

»Nach Ham­burg, ja, da fragt kei­ner nach mir.«

»Na schön, bleib bloß fest in Ham­burg, Wil­li. – Ge­hen wir noch ein Stück?«

»Ja, ge­hen wir, die Son­ne ist schon rich­tig heiß.«

Der klei­ne Bruhn sagt: »Dann wer­de ich also mit Krü­ger zu­sam­men­zie­hen. Der kommt am 16. Mai raus.«

Ku­falt fragt er­schro­cken: »Hast du den jetzt, Emil? Der ist aber nicht gut.«

»Nein, ich weiß. Er klaut uns auch im­mer un­se­ren Ta­bak. Und er hat drei Stra­fen, weil er Ar­beits­kol­le­gen be­maust hat.«

»Na also!«

»Aber was soll ich ma­chen? Ei­nen muss ich ha­ben, ganz al­lein halt ich’s nicht aus. Und die meis­ten wol­len drau­ßen nichts von mir wis­sen, von we­gen Raub­mord, weißt du.«

»Aber nicht ge­ra­de mit Krü­ger!«

»Wer kommt denn schon mit mir! Du hast doch auch nein ge­sagt.«

»Aber doch nicht dar­um, Emil!«

»Und ich muss auch je­man­den ha­ben, der mir hilft, Wil­li. Ich bin doch elf Jah­re im Bun­ker, ich weiß doch von nichts, Mensch. Manch­mal habe ich di­rekt Angst, ich den­ke, ich mach was falsch, und es geht gleich wie­der schief, und ich sitz mein Leb­tag drin.«

»Schon dar­um gin­ge ich nicht mit Krü­ger.«

»Also zieh du zu mir.«

»Nein. Ich kann nicht. Ich will nach Ham­burg.«

»Dann neh­me ich Krü­ger.«

Eine Wei­le ge­hen sie stumm ne­ben­ein­an­der. Dann sagt Bruhn: »Ich muss dich auch noch was fra­gen, Wil­li. Du weißt doch mit sol­chen Sa­chen Be­scheid …«

»Mit was für Sa­chen?«

»Mit Geld. Mit Spar­kas­sen­bü­chern.«

»Ein biss­chen. Vi­el­leicht.«

»Wenn je­mand – also ei­ner hat ein Spar­kas­sen­buch auf mei­nen Na­men, und er hat auch die Mar­ke dazu, kann er da Geld ab­he­ben dar­auf? Nicht wahr, das kann er doch nicht?«

»Meis­tens wird er’s kön­nen, wenn das Spar­buch nicht ge­ra­de ge­sperrt ist, oder es ist Kün­di­gung aus­ge­macht. Meis­tens kann er’s. Hast du ein Spar­buch?«

»Ja. Nein. Es ist eins an­ge­legt wor­den für mich …«

»Vor dei­nem Knast?«

»Nein, hier …«

»Quatsch dich rein aus, Emil, ich halt schon den Sab­bel. Vi­el­leicht kann ich dir was hel­fen?«

»Ich hab doch im­mer in Schup­pen drei ge­ar­bei­tet, erst bei den Mö­bel­tisch­lern und nach­her für die Fir­ma Ste­gu­weit die Ge­flü­gel­stäl­le …«

»Ja?«

»Und dann hat doch Ste­gu­weit auf der Gro­ßen Ge­flü­gel­aus­stel­lung die gol­de­ne Me­dail­le ge­kriegt auf sei­ne Fal­len­nes­ter und muss­te lie­fern noch und noch. Und da­mit wir or­dent­lich was fer­tig­krieg­ten, ha­ben sei­ne Werk­meis­ter uns heim­lich Ta­bak zu­ge­steckt. Das war da­mals, als im Bau über­haupt noch nicht ge­raucht wer­den durf­te.«

»Vor mei­ner Zeit …«