Wer einmal lügt - Harlan Coben - E-Book

Wer einmal lügt E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Ihr Leben scheint perfekt, doch ihre Vergangenheit ist eine Lüge – und ein Mörder kennt die Wahrheit …

Ein großes, elegantes Haus in einem reichen Wohnviertel, ein teures Auto, zwei wohlgeratene Kinder: Megan lebt den perfekten amerikanischen Traum. Und nicht einmal ihr Ehemann ahnt, wer Megan wirklich ist. Denn einst verdiente sie sich ihr Geld als Stripperin in einem der übelsten Läden der ganzen Ostküste. Bis etwas Schreckliches geschah und die junge Frau in einer Nacht voller Blut und Grausamkeit die Flucht in ein anderes Leben ergriff. Siebzehn lange Jahre vermochte sie alle um sich herum zu täuschen – doch dann geschieht an ihrer alten Arbeitsstätte ein neuer Mord, ein einsamer Detective rollt einen alten Fall auf, und Megans heile Welt zerbirst in tausend scharfe Splitter ...

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Seitenzahl: 548

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HARLAN COBEN

WER EINMAL LÜGT

THRILLER

DEUTSCH VON GUNNAR KWISINSKI

PAGE &

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Stay Close« bei Dutton, a member of Penguin Group USA (Inc.), New York.

Page & Turner Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Copyright © der Originalausgabe 2012

by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Vera Thielenhaus

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotiv: © Winfried Wisniewski/Corbis und FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-09705-9 V005

www.goldmann-verlag.de

Dieses Buch ist für Tante Diane und Onkel Norman Reiter sowie für Tante Ilene und Onkel Marty Kronberg.

Well now everything dies, baby that’s a fact. But maybe everything that dies, someday comes back.

Bruce Springsteen, Atlantic City

EINS

In diesem Sekundenbruchteil, wenn er auf den Auslöser drückte und die Welt im grellen Blitzlicht verschwand, sah Ray Levine manchmal das Blut. Er wusste natürlich, dass er es nur vor seinem inneren Auge sah, aber gelegentlich – wie jetzt gerade – war die Vorstellung so real, dass er die Kamera senken und eine Weile auf den Boden starren musste. Dieser fürchterliche Moment – der Moment, in dem sich Rays Leben für immer verändert hatte, in dem er sich von einem Mann mit klaren Zielen und einer äußerst vielversprechenden Zukunft in den totalen Loser verwandelt hatte, der er jetzt war – überkam ihn nie in seinen Träumen oder wenn er allein in der Dunkelheit lag. Diese erschütternden Visionen warteten auf Situationen, in denen er hellwach, unter Menschen und mit etwas beschäftigt war, was manche Leute etwas sarkastisch vielleicht als Arbeit bezeichnet hätten.

Gnädigerweise verblasste das Bild, als Ray fortfuhr, den Bar-Mizwa-Jungen zu fotografieren.

»Guck mal hierher, Ira«, rief Ray hinter dem Objektiv. »Mit wem hast du was? Ist es wahr, dass Jen und Angelina immer noch deinetwegen im Clinch liegen?«

Ray bekam einen Tritt gegen’s Schienbein. Jemand stieß ihn zur Seite. Ray schoss dennoch weiter Fotos von Ira.

»Wo ist nachher die Party, Ira? Welches glückliche Mädchen bekommt den ersten Tanz?«

Ira Edelstein runzelte die Stirn und versuchte sein Gesicht vor der Kamera abzuschirmen. Unerschrocken sprang Ray weiter vor und schoss aus jedem Winkel Fotos. »Aus dem Weg!«, rief jemand. Wieder wurde Ray zur Seite gestoßen. Er versuchte, sich auf den Beinen zu halten.

Klick, klick, klick.

»Verdammte Paparazzi!«, rief Ira. »Kann man denn nie seine Ruhe haben?«

Ray rollte die Augen. Er wich nicht zurück. Wieder erschien das Blut vor seinem inneren Auge. Er versuchte, es wegzublinzeln, was aber nicht funktionierte. Ray ließ den Finger auf dem Auslöser. Ira, der Bar-Mizwa-Junge, flackerte jetzt in zeitlupenhaften, stroboskopartigen Bewegungen.

»Ihr Parasiten«, schrie Ira.

Ray fragte sich, ob man noch tiefer sinken konnte.

Ein weiterer Tritt gegen’s Schienbein beantwortete die Frage: Nein.

Iras »Leibwächter« – ein riesiger Kerl mit kahlrasiertem Schädel namens Fester – wischte Ray mit seinem baumdicken Unterarm zur Seite. Er tat das mit etwas zu großer Begeisterung, so dass Ray fast gestürzt wäre. Ray sah Fester mit einem »Was soll der Scheiß?«-Blick an. Fester entschuldigte sich lautlos.

Fester war Rays Chef und Freund und der Besitzer von Celeb Experience: Paparazzi for Hire – und die Firma tat genau das, was der Name besagte. Ray legte sich nicht etwa wie ein echter Paparazzo auf die Lauer, um kompromittierende Fotos von Prominenten zu machen und sie an die Boulevardpresse zu verkaufen. Nein, Ray stand noch weit darunter – wie Beatlemania zu den Beatles –, indem er Möchtegern-Prominenten anbot, sich ein paar Stunden lang wie echte Prominente zu fühlen. Gegen Bezahlung. Seine – häufig extrem selbstgefälligen und vermutlich von Erektionsschwierigkeiten geplagten – Kunden bestellten sich ein paar Loser, die ihnen folgten und Fotos schossen, um ihnen damit, wie es in der Broschüre hieß, »das ultimative Prominenten-Erlebnis mit ihren eigenen, exklusiven Paparazzi« zu ermöglichen.

Natürlich wusste Ray, dass er durchaus noch tiefer hätte sinken können. Er ging jedoch davon aus, dass es dazu eines Akts höherer Gewalt bedurft hätte.

Die Edelsteins hatten das Megapaket von der A-Liste bestellt – zwei Stunden mit drei Paparazzi, einem Leibwächter, einem Journalisten und einem Typen mit Mikrofonangel, die dem »Prominenten« die ganze Zeit folgten und Fotos schossen, als wäre er Charlie Sheen, der sich heimlich in ein Kloster schleicht. Zum Megapaket der A-Liste gehörte außerdem eine Gratis-DVD mit den Fotos und eines dieser kitschigen gefälschten Klatschmagazine mit dem eigenen Gesicht auf dem Titel und einer passenden Schlagzeile.

Der Preis für das Megapaket von der A-Liste?

Vier Riesen.

Um die unvermeidliche Frage zu beantworten: Ja, Ray hasste sich dafür.

Ira schob sich an ihm vorbei und verschwand im Tanzsaal. Ray ließ die Kamera sinken und sah seine beiden Paparazzi-Kollegen an. Keiner von beiden hatte das Loser-L auf die Stirn tätowiert, weil das, ehrlich gesagt, schlicht unnötig gewesen wäre.

Ray sah auf die Uhr. »Mist«, sagte er.

»Was ist?«

»Wir haben noch eine Viertelstunde.«

Seine Kollegen – kaum klug genug, ihre Namen mit dem Finger in den Dreck zu schreiben – grunzten. Noch eine Viertelstunde. Das bedeutete, dass sie reingehen und auch während der Aufnahmeprozedur weiterarbeiten mussten. Ray hasste das.

Die Bar-Mizwa fand im Wingfield Manor statt, einem absurd protzigen Bankettsaal, den man, wenn man ihn etwas zurückgebaut hätte, für einen von Saddam Husseins Palästen hätte halten können. Er war voller Kronleuchter, Spiegel, falschem Elfenbein, Holzschnitzereien und viel glänzender Goldfarbe.

Wieder hatte er das Blut vor Augen. Er blinzelte es weg.

Bei der Feier herrschte Smokingpflicht. Die Männer waren reich und abgespannt, die Frauen gut gepflegt und chirurgisch optimiert. Ray drängte sich in Jeans, einem verknitterten grauen Blazer und schwarzen Chuck-Taylor-Basketballschuhen durch die Menge. Ein paar Gäste sahen ihn an, als hätte er sich auf ihre Salatgabel erleichtert.

Auf der Bühne befanden sich eine achtzehnköpfige Band und ein Animateur, dessen Aufgabe es war, die Gäste in einen Zustand fröhlicher Ausgelassenheit zu versetzen. Er hatte frappierende Ähnlichkeit mit einem schlechten Gameshow-Moderator – oder auch mit dem guten Robert aus der Sesamstraße. Dieser Animateur griff nun zum Mikrofon und sagte im Tonfall eines Boxkampf-Ansagers: »Ladys and Gentlemen, hier ist er, heißen Sie ihn willkommen. Zum ersten Mal, seit er aus der Tora gelesen hat und damit zu einem Mann geworden ist, begrüßen Sie ihn mit einem großen Applaus, den einmaligen und einzigen … Ira Edelstein!«

Ira erschien mit zwei … Ray wusste nicht, wie man sie angemessen bezeichnete, am ehesten aber wohl als Edelstripperinnen. Als die beiden heißen Bräute ihn in den Raum geleiteten, befand sich der Kopf des Jungen auf Höhe ihrer Dekolletés. Ray machte die Kamera bereit und drängte sich kopfschüttelnd weiter vor. Der Typ war dreizehn. Wenn ihm in dem Alter solche Frauen so nahe gekommen wären, wäre er eine ganze Woche mit einem Ständer rumgelaufen.

Ach, die Jugendzeit …

Stürmischer Beifall brandete auf. Ira begrüßte die Menge mit einem majestätischen Winken.

»Ira!«, rief Ray. »Sind das deine neuen Angebeteten? Stimmt es, dass du noch eine dritte zu deinem Harem hinzufügen könntest?«

»Bitte«, sagte Ira mit routinierter Weinerlichkeit. »Auch ich habe ein Recht auf meine Privatsphäre.«

Es gelang Ray, sich nicht zu übergeben. »Aber das interessiert die Leute.«

Fester, der Leibwächter mit der Sonnenbrille, legte Ray eine große Hand auf die Schulter, so dass Ira an ihm vorbeigehen konnte. Ray drückte den Auslöser und achtete darauf, dass das Blitzlicht seinen Zauber entfachte. Die Band donnerte los – wann hatte das angefangen, dass bei Hochzeiten und Bar-Mizwas die Musik unbedingt in Stadionlautstärke gespielt werden musste? Es war die neue Feier-Hymne, Club Can’t Handle Me. Ira führte mit seinen zwei bezahlten Helferinnen einen anzüglichen Tanz auf. Dann stürmten seine dreizehnjährigen Freunde die Tanzfläche und sprangen einfach senkrecht in die Luft wie beim Pogo. Ray »kämpfte« sich an Fester vorbei, machte noch ein paar Fotos und sah auf die Uhr.

Noch eine Minute.

»Paparazzi-Schwein!«

Wieder ein Tritt gegen’s Schienbein von einem der kleinen Kretins.

»Au, Scheiße, das tat weh!«

Der Kretin huschte davon. Notieren, dachte Ray: Schienbeinschützer besorgen. Er sah Fester mit einem Blick an, der um Gnade flehte. Fester ließ ihn los und forderte ihn mit einem kurzen Kopfnicken auf, ihm in die Ecke des Saales zu folgen. Weil es dort zu laut war, gingen sie nach draußen.

Fester deutete mit seinem riesigen Daumen auf den Ballsaal. »Er hat seine Haftara-Abschnitte wirklich toll gelesen, findest du nicht auch?«

Ray starrte ihn wortlos an.

»Ich hab morgen einen Job für dich«, wechselte Fester das Thema.

»Groovy. Was denn?«

Fester wandte den Blick ab.

Das gefiel Ray nicht. »Uh-oh?«

»George Queller.«

»Du meine Güte.«

»Ja. Das Übliche.«

Ray seufzte. George Queller versuchte seine Partnerinnen bei der ersten Verabredung zu beeindrucken, indem er sie komplett überwältigte – und damit in Angst und Schrecken versetzte. Er bestellte Celeb Experience, um ihn und sein Date zu umschwärmen, während er mit ihr in ein kleines, romantisches Bistro ging. Vor einem Monat war eine Frau namens Nancy an der Reihe gewesen. Kaum saß sie, wurde ihr – unglaublich, aber wahr – eine eigene Speisekarte überreicht, auf der »Georges und Nancys erstes von vielen, vielen Dates« stand. Darunter waren die Adresse, der Tag, der Monat und das Jahr angegeben. Beim Verlassen des Restaurants wurden sie von den Miet-Paparazzi erwartet, die anfingen, Fotos zu machen, und erzählten, wie George das Wochenende auf den Turks- und Caicosinseln für die liebreizende und zu diesem Zeitpunkt bereits zu Tode erschrockene Nancy abgesagt hatte.

George hielt solche »romantischen« Tricks für das Vorspiel zu einem glücklichen und zufriedenen gemeinsamen Leben. Nancy und ihresgleichen hielten diese »romantischen« Tricks für ein Vorspiel zu Ballknebeln und Fesseln in einem abgelegenen Lagerraum.

George war noch nie weiter als bis zum ersten Date gekommen.

Fester nahm die Sonnenbrille ab. »Du sollst bei dem Job die Führung übernehmen.«

»Erster Paparazzo«, sagte Ray. »Ich muss meine Mutter anrufen, damit sie in ihrer Mah-Jongg-Gruppe damit angeben kann.«

Fester gluckste. »Ich liebe dich, das weißt du doch?«

»Sind wir hier fertig?«

»Ja.«

Ray nahm das Objektiv vom Kameragehäuse, packte beides sorgfältig ein und hängte sich die Tasche über die Schulter. Er hinkte zur Tür, nicht wegen der Tritte, sondern aufgrund des Schrapnellsplitters in seiner Hüfte – der Splitter war der Anfang seines Abstiegs gewesen. Aber nein, das war zu einfach. Der Schrapnellsplitter war nur eine Ausrede. Es hatte schließlich einmal eine Zeit in seinem jämmerlichen Leben gegeben, in dem Ray fast unerschöpfliches Potenzial besaß. Er hatte seinen Abschluss an der Columbia University School of Journalism gemacht, wo ihm ein Professor ein »fast übernatürliches Talent« im Bereich Fotojournalismus bescheinigt hatte – das jetzt brachlag. Aber im Endeffekt hatte dieses Leben für ihn nicht funktioniert. Manche Menschen wurden vom Ärger geradezu angezogen. Manche Menschen, ganz egal, wie einfach und gut erkennbar der Weg ist, den sie im Leben beschreiten sollten, fanden immer eine Möglichkeit, alles zu vermasseln.

Ray Levine war einer dieser Menschen.

Es war dunkel draußen. Ray überlegte, ob er einfach nach Hause fahren und sich ins Bett legen oder noch in eine Bar gehen sollte, die so schmierig war, dass sie Tetanus hieß. Schwierige Entscheidung, wenn einem so viele Möglichkeiten offenstanden.

Wieder dachte er an die Leiche.

Die Visionen ereilten ihn jetzt immer häufiger und unvermittelter. Das war wohl nur zu verständlich. Heute war immerhin das Jubiläum des Tages, an dem das alles zu Ende ging, des Tages, an dem jede Hoffnung auf ein glückliches Weiterleben dahinstarb wie … Na ja, eine logische Metapher würde jetzt auf die Visionen in seinem Kopf Bezug nehmen, oder?

Er runzelte die Stirn. Hey, Ray, ist das nicht alles ein bisschen übertrieben melodramatisch?

Er hatte gehofft, dass der alberne heutige Job ihn davon ablenken würde. Das hatte aber nicht funktioniert. Stattdessen musste er nun an seine eigene Bar-Mizwa denken, an den Moment auf der Kanzel, als sein Vater sich zu ihm heruntergebeugt und ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte. Er erinnerte sich noch, dass sein Vater nach Old Spice roch, als er seine Hand ganz sanft um Rays Ohr legte und mit Tränen in den Augen sagte: »Ich liebe dich so sehr.«

Ray schob den Gedanken beiseite. Es tat weniger weh, wenn er an die Leiche dachte.

Da der Parkservice bei der Ankunft Geld von ihm verlangt hatte – so etwas wie professionelles Entgegenkommen gab es da wohl nicht –, war Ray wieder gefahren und hatte in einer Seitenstraße drei Blocks entfernt einen Parkplatz gefunden. Als er um die Ecke bog, sah er seinen beschissenen, zwölf Jahre alten Honda Civic, bei dem eine Stoßstange fehlte und ein Seitenfenster mit Klebeband befestigt war. Ray rieb sich das Kinn. Unrasiert. Unrasiert, vierzig Jahre alt, Scheißwagen, Kellerwohnung, die, wenn sie ordentlich renoviert werden würde, gerade noch als Drecksloch durchgehen könnte, keine Zukunft, Trinker. Er wäre vor Selbstmitleid vergangen, wenn es ihm nicht so gleichgültig gewesen wäre.

Ray wollte gerade den Autoschlüssel aus der Tasche ziehen, als er einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf bekam.

Was zum …?

Er sank auf ein Knie. Die Welt wurde dunkel. Ein Kribbeln lief über seine Kopfhaut. Er drohte die Orientierung zu verlieren und versuchte, den Kopf zu schütteln, um ihn wieder klar zu bekommen.

Ein weiterer Schlag landete neben seiner Schläfe.

Etwas in seinem Kopf explodierte in weißem Licht. Rays Körper sackte lang ausgestreckt auf die Straße. Vielleicht verlor er kurz das Bewusstsein – er war sich nicht sicher, spürte nur, wie plötzlich etwas an seiner rechten Schulter zog. Einen Moment lang blieb er einfach bewegungslos liegen, konnte oder wollte sich nicht wehren. In seinem Kopf drehte sich alles vor Schmerz. Der primitive Teil seines Gehirns, in dem die Ur-Instinkte beheimatet waren, hatte in den Überlebensmodus geschaltet. Meide weitere Schmerzen, sagte er. Roll dich einfach zusammen und schütze die lebenswichtigen Organe.

Durch ein weiteres, kräftiges Ziehen wäre ihm fast der Arm ausgekugelt worden. Dann ließ es nach und wanderte die Schulter und seinen Arm hinab. Bei der folgenden Erkenntnis riss Ray die Augen auf.

Da klaute jemand seine Kamera.

Die Kamera war eine klassische Leica mit einem kürzlich nachgerüsteten digitalen Übertragungs-Feature. Er spürte, wie sein Arm angehoben und der Riemen hinuntergezogen wurde. In höchstens einer Sekunde wäre die Kamera weg.

Ray besaß nicht viel. Die Kamera war das Einzige, was ihm wirklich etwas bedeutete. Natürlich war sie zum einen das Werkzeug, das er zu seinem Broterwerb brauchte – außerdem aber war sie die einzige Verbindung zum alten Ray, zu dem Leben, das er vor dem Blut geführt hatte. Er war nicht bereit, das kampflos aufzugeben.

Zu spät.

Der Riemen war nicht mehr an seinem Arm. Er überlegte, ob er noch eine Gelegenheit bekäme, sich zur Wehr zu setzen, ob der Räuber versuchen würde, an die vierzehn Dollar in seinem Portemonnaie heranzukommen, und Ray so eine zweite Chance geben würde. Er brannte darauf, das herauszufinden.

Mit benebeltem Kopf und weichen Knien schrie Ray: »Nein!«, versuchte aufzuspringen und sich auf den Angreifer zu stürzen. Er erwischte etwas, wahrscheinlich die Beine, umschlang sie mit den Armen, und obwohl er sie nicht richtig in den Griff bekam, reichte der Aufprall.

Der Angreifer stürzte. Auch Ray landete wieder auf dem Bauch. Er hörte einen lauten Knall und hoffte inständig, dass er nicht gerade seine eigene Kamera zertrümmert hatte. Er versuchte, die Augen zu öffnen, hatte es nach kurzem Blinzeln auch bis zu zwei schmalen Schlitzen geschafft, durch die er die Kamera etwa ein oder zwei Meter vor sich sah. Er fing an darauf zuzukrabbeln, sah dann aber zwei Dinge, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen.

Das erste war ein Baseballschläger auf dem Asphalt.

Das zweite – und wichtigere – war die behandschuhte Hand, die danach griff.

Rays Versuch, nach oben zu blicken, scheiterte. Die Erinnerung an ein Sommerlager blitzte auf. Sein Vater hatte es geleitet, als Ray noch klein war. Dad – die Jugendlichen hatten ihn Uncle Barry genannt – hatte gerne Staffelläufe veranstaltet, bei denen man sich einen Basketball direkt über den Kopf hielt, ihn ansah und sich so schnell wie möglich drehte. Dann musste man den Ball über das ganze Feld dribbeln und auf der anderen Seite in den Korb werfen. Das Problem bestand darin, dass einem vom Drehen so schwindlig war, dass man in eine Richtung fiel, der Ball aber in die andere rollte. So fühlte Ray sich jetzt – als ob er nach links stürzte, während der Rest der Welt nach rechts schwankte.

Der Kameradieb nahm den Baseballschläger und kam auf ihn zu.

»Hilfe!«, schrie Ray.

Es kam niemand.

Panik ergriff ihn – gefolgt von einer instinktiven Überlebensreaktion. Flucht. Er versuchte aufzustehen, schaffte es aber noch nicht. Ray war schon so ein schwer mitgenommenes Häufchen Elend. Noch ein Schlag, ein harter Treffer mit dem Baseballschläger …

»Hilfe!«

Der Angreifer kam zwei weitere Schritte auf ihn zu. Ray hatte keine Wahl. Auf allen vieren krabbelte er davon wie ein verwundeter Krebs. Prima, so war er bestimmt schnell genug, um dem verdammten Schläger zu entkommen. Der Arsch mit dem Baseballschläger war praktisch über ihm. Er hatte keine Chance.

Ray stieß mit der Schulter gegen etwas. Sein Wagen.

Er sah, wie der Schläger über seinem Kopf angehoben wurde. Noch ein, vielleicht zwei Sekunden, dann würde man ihm den Schädel einschlagen. Er hatte nur eine Chance – also nutzte er sie.

Ray drehte den Kopf zur Seite, legte die Wange auf den Asphalt, machte sich so flach wie möglich und glitt unter den Wagen. »Hilfe!«, rief er wieder. Dann, zum Angreifer: »Behalten Sie die Kamera und hauen Sie ab!«

Und genau das tat der. Ray hörte, wie sich die Schritte auf der Straße entfernten. Er versuchte, unter dem Auto hervorzukriechen. Sein Kopf rebellierte, aber er schaffte es. Dann setzte er sich auf den Gehweg und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Beifahrertür. So blieb er eine Weile sitzen. Wie lange, konnte er nicht sagen. Vielleicht war er zwischendurch sogar wieder kurz bewusstlos.

Als es ihm wieder etwas besser ging, verfluchte Ray die Welt, stand auf, stieg in den Wagen und ließ ihn an.

Eigenartig, dachte er. Das Jubiläum des vielen Bluts – und fast wäre genau da auch der Großteil seines eigenen vergossen worden. Ein Zufall, der ihm beinahe ein Lächeln entlockt hätte. Doch als er losfuhr, verschwand jeder Anflug eines Lächelns aus seinem Gesicht.

Zufall? Ja, es war nur Zufall. Und nicht einmal ein besonders großer, wenn er es recht bedachte. Die blutige Nacht war vor siebzehn Jahren gewesen – es war kein runder Geburtstag oder so etwas. Außerdem war Ray schon öfter ausgeraubt worden. Erst letztes Jahr hatte man ihn ausgenommen, nachdem er um zwei Uhr morgens betrunken aus einem Striptease-Club gekommen war. Die Idioten hatten sein Portemonnaie geklaut und auf diese Weise ganze sieben Dollar und eine Kundenkarte vom CVS-Drogeriemarkt ergattert.

Trotzdem.

Er fand einen Parkplatz auf der Straße vor dem Reihenhaus, das Ray sein Zuhause nannte. Er lebte in der Mietwohnung im Keller. Das Haus selbst gehörte Amir Baloch, einem pakistanischen Immigranten, der mit seiner Frau und vier ziemlich lauten Kindern oben wohnte.

Jetzt nimm doch mal eine Sekunde an – oder auch nur einen Sekundenbruchteil –, dass es kein Zufall war.

Ray stieg aus. Ihm dröhnte immer noch der Kopf. Morgen würde es noch schlimmer sein. Er ging an den Mülltonnen vorbei, die Treppe hinunter zur Kellertür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er zermarterte sein schmerzendes Hirn und versuchte, eine Verbindung herzustellen – eine noch so obskure, vage oder gar abwegige Verbindung – zwischen der tragischen Nacht vor siebzehn Jahren und dem heutigen Überfall.

Nichts.

Das heute war einfach ein ganz banaler Raubüberfall. Man zog einem Typen einen Baseballschläger über den Schädel, schnappte sich seine Kamera und verschwand. Außer, na ja, – würde man ihm nicht auch noch das Portemonnaie klauen? Es sei denn, es war derselbe Täter, der Ray damals vor dem Striplokal ausgenommen hatte und der wusste, dass da nur sieben Dollar drin waren? Scheiße, vielleicht war ja auch das der große Zufall. Vergiss das Timing und das Jubiläum: Es handelte sich einfach um denselben Täter, der Ray vor einem Jahr ausgenommen hatte.

Oje, was für ein Unsinn. Wo zum Teufel waren die Schmerztabletten?

Er schaltete den Fernseher ein und ging ins Bad. Als er den Medizinschrank öffnete, fielen zig Fläschchen und Packungen ins Waschbecken. Er wühlte in dem Haufen herum, bis er die Flasche mit dem Vicodin fand. Er hoffte zumindest, dass es Vicodin war. Er hatte die Tabletten auf dem Schwarzmarkt von jemandem gekauft, der behauptet hatte, sie aus Kanada in die USA geschmuggelt zu haben. Nicht auszuschließen, dass es Vitamintabletten für Kinder waren.

In den Lokalnachrichten wurde ein brennendes Haus aus der Gegend gezeigt, dann befragte man einige Anwohner, was sie über das Feuer dachten, weil das ja immer so wunderbare neue Erkenntnisse brachte. Rays Handy klingelte. Er sah Festers Nummer im Display.

»Was gibt’s?«, fragte Ray und setzte sich auf die Couch.

»Du klingst ja schrecklich.«

»Ich bin auf dem Weg von Iras Bar-Mizwa zum Wagen überfallen worden.«

»Ehrlich?«

»Yep. Hab einen Baseballschläger über den Kopf gekriegt.«

»Haben sie was geklaut?«

»Meine Kamera.«

»Was? Dann sind die Fotos von heute weg?«

»Nein, nein, keine Sorge«, sagte Ray. »Eigentlich ist alles okay.«

»Du weißt schon, innerlich sterbe ich fast vor Sorge. Ich frag nur nach den Fotos, um von meiner Besorgnis abzulenken.«

»Die Fotos hab ich«, sagte Ray.

»Wieso?«

Sein Kopf schmerzte zu sehr, um das zu erklären, außerdem schickte ihn das Vicodin langsam ins Traumland. »Mach dir wegen der Fotos keine Sorgen. Die sind in Sicherheit.«

Vor ein paar Jahren, als Ray sich kurzfristig als »echter« Paparazzo versucht hatte, waren ihm ein paar wunderbar kompromittierende Bilder eines prominenten schwulen Schauspielers bei einem Seitensprung mit – huch! – einer Frau gelungen. Der Leibwächter des Schauspielers hatte Ray daraufhin gewaltsam die Kamera abgenommen und die Speicherkarte zerstört. Kurz darauf hatte Ray einen Wireless-Transmitter in die Kamera einbauen lassen – er funktionierte ganz ähnlich wie das, was die meisten Leute in ihren Foto-Handys hatten –,der neue Fotos von seiner SD-Speicherkarte alle zehn Minuten automatisch per E-Mail verschickte.

»Deshalb ruf ich an«, sagte Fester. »Ich brauch die Fotos sofort. Such fünf aus und schick sie mir noch heute Nacht. Iras Dad will unseren neuen Bar-Mizwa-Briefbeschwererwürfel schon morgen haben.«

In den Fernsehnachrichten schwenkte die Kamera langsam über die »Meteorologin«, eine üppig gebaute, junge Frau in einem engen roten Pullover. Ein echter Quotenköder. Als die heiße Braut mit der Erläuterung des Satellitenfotos fertig war und wieder an den zu gut frisierten Sprecher übergab, fielen Ray die Augen zu.

»Ray?«

»Fünf Fotos für einen Briefbeschwererwürfel.«

»Genau.«

»Ein Würfel hat sechs Seiten«, sagte Ray.

»Hey, nicht übel, bist ja ein echtes Mathe-Genie. Auf die sechste Seite kommen der Name, das Datum und ein Davidsstern.«

»Okay.«

»Ich brauch es sofort.«

»Geht klar.«

»Dann ist ja alles bestens«, sagte Fester. »Außer, na ja, du kannst morgen nicht ohne Kamera zu George Queller. Aber keine Sorge, ich find schon was für dich.«

»Also kann ich jetzt in Ruhe schlafen?«

»Du bist schon ein komischer Kerl, Ray. Schick mir die Fotos. Und dann hau dich hin.«

»Ich bin echt gerührt, wie herzlich du dich um mich kümmerst, Fester.«

Sie legten auf. Ray sank wieder auf die Couch. Die Tablette wirkte wunderbar. Beinah hätte er gelächelt. Im Fernsehen verkündete der Nachrichtensprecher mit Grabesstimme: »Der ortsansässige Carlton Flynn wird vermisst. Sein Auto wurde verlassen mit geöffneter Tür in der Nähe des Piers …«

Ray öffnete ein Auge und spähte auf den Fernseher. Dort erschien das Foto eines gerade erwachsen gewordenen Jugendlichen mit einem Kreolen-Ohrring und hochgegelten kurzen Haaren mit blonden Strähnen, der die Lippen zu einem Kussmund gespitzt hatte und direkt in die Kamera sah. Unter dem Bild stand »Vermisst«, wobei »Schwachkopf« es vermutlich besser getroffen hätte. Ray runzelte die Stirn, weil ein vages Gefühl in seinem Hinterkopf nagte, das er aber nicht zuordnen konnte. Sein ganzer Körper sehnte sich nach Schlaf, aber wenn er die fünf Fotos nicht schickte, würde Fester noch einmal anrufen, und das konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. Unter größter Anstrengung rappelte Ray sich auf, taumelte zum Küchentisch, fuhr den Laptop hoch und sah nach, ob die Fotos wirklich auf seinem Computer angekommen waren.

Das waren sie.

Das beunruhigende Gefühl nagte immer noch in seinem Hinterkopf, aber Ray wusste nicht, was es bedeutete. Vielleicht störte ihn nur irgendeine Kleinigkeit. Vielleicht erinnerte er sich aber auch an etwas wirklich Wichtiges. Oder vielleicht waren durch den Schlag mit dem Baseballschläger auch nur ein paar Fragmente vom Knochen abgesplittert, die jetzt in seinem Gehirn herumscheuerten.

Die Bar-Mizwa-Fotos erschienen in umgekehrter Reihenfolge – das zuletzt gemachte zuerst. Ray sah schnell die Thumbnails durch und entschied sich für ein Tanzfoto, ein Familienfoto, eins mit der Tora, eins mit dem Rabbi und eins, auf dem Ira einen Wangenkuss von seiner Großmutter bekam.

Das waren fünf. Er schickte eine ansonsten leere E-Mail mit diesen Fotos im Anhang, gab Festers Adresse ein und klickte auf Senden. Erledigt.

Ray war so müde, dass er nicht wusste, ob er vom Stuhl hochkommen und es bis ins Bett schaffen würde. Er überlegte, ob er den Kopf einfach auf den Küchentisch legen und in der Haltung schlafen sollte, als ihm die anderen Fotos auf der Speicherkarte einfielen. Die Fotos, die er vor der Bar-Mizwa gemacht hatte.

Überwältigende Trauer breitete sich in seiner Brust aus.

Ray war wieder einmal in dem verdammten Park gewesen und hatte Fotos gemacht. Idiotisch, aber er machte es jedes Jahr. Warum, konnte er nicht sagen. Oder vielleicht hätte er es doch sagen können, aber das würde es nur noch schlimmer machen. Der Blick durch das Kameraobjektiv schaffte etwas Distanz, setzte alles in Perspektive und gab ihm so eine relative Sicherheit. Vielleicht war es das? Vielleicht half es ihm, diesen furchtbaren Ort aus einem eigenartig beruhigenden Blickwinkel zu sehen – vielleicht änderte sich dadurch etwas, das natürlich eigentlich nicht zu ändern war.

Als Ray sich auf dem Laptop die Fotos ansah, die er vor der Bar-Mizwa gemacht hatte, fiel ihm noch etwas anderes ein.

Ein Mann mit Kreolen-Ohrring und blondierten Strähnen.

Nach zwei Minuten fand er das Gesuchte. Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als ihm etwas bewusst wurde.

Der Angreifer hatte es nicht auf die Kamera abgesehen. Er hatte es auf ein Foto abgesehen.

Auf dieses Foto.

ZWEI

Megan Pierce lebte den ultimativen Vorstadt-Mutter-Traum – und sie hasste es.

Sie schloss den Sub-Zero-Designerkühlschrank und betrachtete ihre beiden Kinder durch die Erkerfenster der Frühstücksnische. Die Fenster ließen, wie der Architekt es formuliert hatte, »das unentbehrliche Morgenlicht herein«. Die frisch renovierte Küche war zudem mit einem Viking-Herd, Miele-Geräten und einer Marmor-Kücheninsel ausgestattet, außerdem konnte man von hier durch eine breite Passage ins zum Kinosaal umgestaltete Wohnzimmer gehen, das dank Großbildfernseher, Fernsehsesseln mit Getränkehaltern und genug Lautsprechern auch für ein The-Who-Konzert keine Wünsche offen ließ.

Hinten im Garten ärgerte Kaylie, ihre fünfzehnjährige Tochter, ihren jüngeren Bruder Jordan. Megan seufzte und öffnete das Fenster. »Lass das, Kaylie.«

»Ich mach doch gar nichts.«

»Ich habe hier direkt am Fenster gestanden und euch beobachtet.«

Kaylie stemmte die Hände in die Hüften. Fünfzehn Jahre – dieser quälende Wendepunkt zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein, bei dem Körper und Hormone so richtig in Wallung gerieten. Megan erinnerte sich noch gut daran. »Und was hast du da gesehen?«, fragte Kaylie trotzig.

»Ich habe gesehen, wie du deinen Bruder geärgert hast.«

»Du bist da drinnen. Du hast doch gar nichts gehört. Woher willst du denn wissen, ob ich nicht gesagt habe ›Ich hab dich so lieb, Jordan‹.«

»Hat sie nicht!«, rief Jordan.

»Ich weiß«, sagte Megan.

»Sie hat mich einen Loser genannt und behauptet, dass ich keine Freunde habe!«

Megan seufzte: »Kaylie …«

»Hab ich nicht!«

Megan sah sie nur mit gerunzelter Stirn an.

»Jetzt steht sein Wort gegen meins«, protestierte Kaylie. »Warum bist du immer auf seiner Seite?«

Jedes Kind, dachte Megan, ist ein gekränkter Anwalt, der nach Schlupflöchern sucht, Beweise nicht so einfach unbesehen gelten lässt und selbst die unbedeutendsten Details noch in Frage stellt.

»Du hast heute Abend noch Training«, sagte Megan zu Kaylie.

Kaylies Kopf sank herab, und ihr ganzer Körper erschlaffte. »Muss ich da hin?«

»Mit dem Beitritt in diese Mannschaft bist du eine Verpflichtung eingegangen, junge Dame.«

Noch während Megan das sagte – und obwohl sie ähnliche Sätze schon millionenfach gesagt hatte –, fand sie es unglaublich, dass so etwas aus ihrem Mund kam.

»Aber ich will da nicht hin«, quengelte Kaylie. »Ich bin voll müde. Außerdem will ich doch hinterher noch mit Ginger weggehen, weißt du, weil wir …«

Wahrscheinlich redete Kaylie noch weiter, doch Megan wandte sich ab. Sie hatte das Interesse verloren. Ihr Mann Dave lag im grauen Sweatshirt im Fernsehzimmer. Er sah sich ein geschmackloses Interview mit einem erst kürzlich in Ungnade gefallenen Filmschauspieler an, der prahlte, mit wie vielen Frauen er im Bett gewesen wäre und dass er sich jahrelang in Striptease-Clubs herumgetrieben habe. Der Schauspieler sprach hektisch und hatte stark geweitete Pupillen, was darauf hindeutete, dass er irgendwas geschluckt hatte, für das man einen Arzt mit sehr locker sitzendem Verschreibungsblock brauchte.

Auf der Couch schüttelte Dave angewidert den Kopf. »In was für einer Welt leben wir bloß?«, sagte er und deutete auf den Bildschirm. »Der Idiot ist einfach unglaublich. Was für eine Pfeife!«

Megan nickte und verkniff sich ein Lächeln. Vor Jahren hatte sie diese Pfeife ziemlich gut gekannt. Ihn sogar im biblischen Sinne erkannt. Diese Pfeife war eigentlich ein ziemlich netter Kerl, der gutes Trinkgeld gab, Spaß an flotten Dreiern hatte und wie ein Baby weinte, wenn er zu viel getrunken hatte.

Das war lange her.

Dave drehte sich um und lächelte ihr breit zu. »Hey, Babe.«

»Hey.«

Dave machte das immer noch: Er lächelte ihr zu, als sähe er sie zum ersten Mal, und sie wusste wieder, dass sie doch eigentlich Glück hatte, dass sie dankbar sein sollte. Das war jetzt Megans Leben. Das alte Leben – das niemand in diesem glücklichen Vorstadt-Wunderland aus Wohnstraßen, guten Schulen und übergroßen Ziegelhäusern kannte – hatte sie um die Ecke gebracht und in einem flachen Graben verscharrt.

»Soll ich Kaylie zum Fußball fahren?«, fragte Dave.

»Ich mach das schon.«

»Bist du sicher?«

Megan nickte. Nicht einmal Dave kannte die Wahrheit über die Frau, mit der er seit sechzehn Jahren das Bett teilte. Dave wusste nicht einmal, dass Megans richtiger Name eigenartigerweise Maygin lautete. Man sprach ihn genauso aus, aber Computer und Ausweise kannten nur Schreibweisen. Sie hätte ihre Mutter gefragt, wieso sie den Namen so seltsam geschrieben hatte, aber ihre Mutter war gestorben, bevor Megan sprechen konnte. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, sie wusste nicht einmal, wer er war. Sie war jung Waise geworden, hatte eine harte Kindheit durchlebt und war dann als Stripperin zuerst in Las Vegas und dann in Atlantic City gelandet – dann war sie noch einen Schritt weitergegangen und hatte dieses Leben geliebt. Ja, sie hatte es wirklich geliebt. Es war aufregend, unterhaltsam und faszinierend gewesen, weil immer etwas passierte. Stets hatten Gefahr, Leidenschaft und unerschöpfliche Möglichkeiten in der Luft gelegen.

»Mom?«

Es war Jordan. »Ja, Schatz?«

»Mrs Freedman sagt, dass du die Genehmigung für den Klassenausflug nicht unterschrieben hast.«

»Ich schicke ihr eine E-Mail.«

»Sie sagt, sie hätte am Freitag da sein müssen.«

»Mach dir darüber keine Sorgen, Schatz, okay?«

Jordan brauchte noch einen Moment, beruhigte sich dann jedoch wieder.

Megan wusste, dass sie wirklich dankbar sein sollte. In ihrem alten Leben starben die Frauen jung. In jener Welt waren jede Gefühlsregung, jede Sekunde fast schon zu intensiv – das Leben hoch zehn –, und das stand einer langen Lebenserwartung definitiv im Wege. Man brannte aus. So ein Leben hatte etwas Berauschendes, aber es war auch gefährlich. Und als es plötzlich außer Kontrolle geriet und Megans Leben bedroht war, hatte sie nicht nur einen Ausweg gefunden, es war ihr sogar gelungen, einen kompletten Neuanfang hinzulegen – sie war praktisch wiedergeboren worden, und das an der Seite eines liebenden Ehemanns mit wunderbaren Kindern, einem Haus mit vier Schlafzimmern und einem Swimmingpool im Garten.

Fast zufällig war Megan Pierce irgendwie aus den Tiefen von etwas, das viele Leute als einen Sündenpfuhl bezeichneten, in den ultimativen amerikanischen Traum hineingestolpert. Um sich selbst zu retten, hatte sie sich kopfüber in ihr neues Leben gestürzt und sich beinahe schon selbst überzeugt, dass es sich dabei um die beste aller möglichen Welten handelte. Und warum auch nicht? Ihr ganzes Leben lang war Megan, genau wie wir alle, in Filmen und im Fernsehen unablässig mit Bildern bombardiert worden, die behaupteten, ihr altes Leben wäre falsch, unmoralisch und würde nicht lange währen – wohingegen das typische Familienleben mit Haus und Palisadenzaun gut und erstrebenswert wäre und fast schon heilige Züge hätte.

Die Wahrheit sah anders aus: Megan vermisste ihr altes Leben. Das sollte sie eigentlich nicht. Sie hätte dankbar und begeistert sein müssen, dass sie als Einzige von all ihren damaligen Bekannten, die denselben zerstörerischen Weg wie sie eingeschlagen hatten, bekommen hatte, wovon alle kleinen Mädchen träumten. Die Wahrheit jedoch – eine Wahrheit, die sie sich selbst erst nach vielen Jahren eingestanden hatte – war, dass sie sich immer noch nach den dunklen Clubs sehnte, nach den wollüstigen, hungrigen Blicken von Fremden, der hämmernden, pulsierenden Musik, der aufreizenden Beleuchtung, den Adrenalinschüben.

Und was sollte sie jetzt machen?

Dave zappte die Kanäle durch. »Dann stört es dich nicht, wenn du sie fährst? Weil die Jets nämlich gleich spielen.«

Kaylie wühlte in ihrer Sporttasche herum: »Mom, wo ist mein Trikot? Hast du es gewaschen, wie ich dich gebeten hatte?«

Jordan öffnete den Kühlschrank: »Machst du mir im Sandwichmaker ein Käse-Sandwich? Aber nicht mit Vollkorntoast.«

Sie liebte sie. Wirklich. Aber an manchen Tagen, so wie heute, wurde ihr klar, dass sie sich jetzt, nachdem sie in der Jugend auf dünnem Eis herumgeschlittert war, auf das typisch häusliche Gleis unendlicher Eintönigkeit begeben hatte, wo sie Tag für Tag die gleichen Nummern mit den gleichen Partnern abziehen musste wie am Vortag – außer dass diese Partner jeweils einen Tag älter waren. Megan fragte sich, warum das so sein musste, warum man gezwungen war, sich für ein Leben zu entscheiden. Warum bestanden wir darauf, dass es nur ein »ich« geben durfte, das unsere Identität bestimmte? Und warum mussten wir ein Leben zerstören, um ein anderes zu schaffen? Angeblich sehnen wir uns doch nach dem »vollkommenen Glück« und danach, unsere vielfältigen Talente zur Geltung zu bringen – die tatsächlichen Veränderungen waren jedoch nur reine Kosmetik. In Wirklichkeit versuchen wir mit allen Mitteln, uns anzupassen, uns nur als eine, als die wünschenswerte Person zu definieren.

Dave schaltete zurück auf den in Ungnade geratenen Filmstar. »Was für eine Type«, sagte Dave kopfschüttelnd. Doch allein der Klang der berühmten, manischen Stimme brachte die Vergangenheit zurück – als er seine Hand um ihren Stringtanga geschlungen hatte und sein unrasiertes, tränennasses Gesicht auf ihren Rücken gepresst hatte.

»Du bist die Einzige, die mich versteht, Cassie …«

Ja, sie vermisste dieses Leben. War das wirklich so verwerflich?

Nein, das fand sie nicht, und das Thema ließ sie nicht los. Hatte sie einen Fehler gemacht? Die Erinnerungen an Cassies Leben – in jener Welt benutzt niemand seinen richtigen Namen – hatte sie all die Jahre lang in einem kleinen, gut verriegelten Hinterstübchen in ihrem Kopf aufbewahrt. Und dann, vor ein paar Tagen, hatte sie die Tür entriegelt und einen winzigen Spaltbreit geöffnet. Sie hatte sie schnell wieder zugeknallt und den Riegel wieder vorgeschoben. Aber dieser Spalt, der es Cassie ermöglicht hatte, einen kurzen Blick auf ihr neues Leben zu werfen – warum war sie so überzeugt, dass das noch Auswirkungen haben würde?

Dave rollte sich von der Couch und ging mit der Zeitung unterm Arm ins Bad. Megan wärmte den Sandwichmaker vor und suchte das Weißbrot. Als sie die Schublade öffnete, fing das Telefon an zu zirpen. Kaylie stand direkt daneben, beachtete es aber nicht, sondern tippte weiter eine SMS in ihr Handy.

»Könntest du da mal eben rangehen?«, fragte Megan.

»Das ist nicht für mich.«

Ihr eigenes Handy konnte Kaylie in einem Tempo aus der Tasche ziehen, einschalten und sich melden, dass Wyatt Earp angst und bange geworden wäre, aber wenn das Festnetztelefon klingelte und eine der Teenager-Community unbekannte Nummer angezeigt wurde, interessierte sie sich absolut nicht dafür.

»Geh bitte ran.«

»Was soll das bringen? Ich muss es dann ja doch nur dir geben.«

Jordan, der im zarten Alter von elf Jahren noch auf Frieden erpicht war, griff danach. »Hallo?«

Er hörte einen Moment lang zu und sagte dann: »Sie müssen sich verwählt haben.« Und bei seinen nächsten Worten gefror Megan fast das Blut in den Adern: »Hier wohnt keine Cassie.«

Mit der kurzen Ausrede, dass die Lieferdienste immer ihren Namen missverstanden – und in dem Wissen, dass ihre Kinder so wunderbar egozentrisch waren, dass es sie sowieso nicht interessierte –, nahm Megan ihrem Sohn das Telefon ab und verschwand damit im Nebenraum.

Sie hielt es ans Ohr, sagte »Hallo«, und eine Stimme, die sie seit siebzehn Jahren nicht mehr gehört hatte, sagte: »Tut mir leid, dass ich dich anrufen muss, aber ich denke, wir sollten uns treffen.«

Megan setzte Kaylie beim Fußballtraining ab.

Dafür, dass der Anruf wie eine Bombe eingeschlagen hatte, war sie ziemlich ruhig und gelassen. Sie stellte den Automatikhebel in die Parkposition und sah ihre Tochter mit feuchten Augen an.

Kaylie sagte: »Was ist?«

»Nichts. Bis wann geht das Training?«

»Weiß ich nicht. Ich geh hinterher vielleicht noch mit Gabi und Chuckie weg.«

Vielleicht hieß hier auf jeden Fall. »Wohin?«

Achselzucken. »In die Stadt.«

Eine perfekte, vage Teenager-Antwort. »Wohin in der Stadt?«

»Ich weiß nicht, Mom«, sagte sie mit einem Anflug von Verärgerung. Kaylie wollte das möglichst schnell hinter sich bringen, allerdings ohne ihre Mutter zu verärgern und sich womöglich ein Verbot einzuhandeln. »Wir wollen nur ein bisschen abhängen, okay?«

»Hast du deine Hausaufgaben fertig?«

In dem Moment, als sie die Frage stellte, hasste Megan sich. Es war so mütterlich. Sie hob die Hand und sagte zu ihrer Tochter: »Vergiss das. Geht einfach. Viel Spaß.«

Kaylie sah ihre Mutter an, als wäre ihr gerade ein Horn aus der Stirn gewachsen. Dann zuckte sie die Achseln, stieg aus und lief los. Megan sah ihr nach. Wie immer. Es spielte keine Rolle, dass sie alt genug war, um allein aufs Feld zu gehen. Megan musste warten und zusehen, bis klar war, dass ihre Tochter in Sicherheit war.

Zehn Minuten später hielt Megan auf dem Parkplatz hinter dem Starbucks. Sie sah auf die Uhr. Eine Viertelstunde noch.

Sie holte sich einen Caffè Latte und setzte sich hinten an einen Tisch. Zu ihrer Linken plapperte eine Gruppe junger Mütter – unausgeschlafen, fleckige Kleidung, wahnsinnig glücklich, alle mit einem Baby im Schlepptau. Sie unterhielten sich über die besten neuen Kinderwagen, diskutierten, welches Kinderreisebett sich am einfachsten zusammenfalten ließ und wie lange man dem Baby die Brust geben sollte. Sie sprachen über Holz-Klettergerüste auf Spielplätzen und Reifenmulch, in welchem Alter man mit dem Schnuller und den sichereren Kindersitzen aufhören sollte, über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Schlingentechniken und Positionen vor und neben dem Körper mit einem Babytragetuch. Eine prahlte, ihr Sohn Toddy sei »so unglaublich sensibel für die Bedürfnisse anderer Kinder, obwohl er doch erst achtzehn Monate alt ist«.

Megan lächelte und wünschte sich, wieder eine von ihnen sein zu können. Sie hatte die Zeit als junge Mutter geliebt, aber wie bei so vielen anderen Lebensphasen fragte man sich rückblickend, wann der Hirnschaden wieder behoben worden war. Sie wusste, was bei diesen Müttern als Nächstes anstand: die Auswahl der richtigen Vorschule – eine Entscheidung, die so bedeutsam erschien, als ginge es um Leben und Tod –, das Warten in der Autoschlange beim Abholen der Kinder von der Schule, wo auch die Kontakte für die Verabredungen ihrer Kinder geknüpft wurden. Kinderturnen, Karate-Kurse, Lacrosse-Training, zweisprachiger Schulunterricht und die ewigen Fahrgemeinschaften. Das Glück verwandelte sich in Hetze, und die Hetze wurde zur Routine. Der einst verständnisvolle Ehemann wurde langsam mürrisch, weil man immer noch nicht wieder so viel Sex wollte wie vor dem Baby. Ihr als Paar, ihr, die ihr euch so oft wie nur möglich weggeschlichen habt, um es an jedem nur möglichen Ort zu treiben, seht euch kaum noch an, wenn ihr nackt voreinander steht. Du denkst zwar, das macht nichts aus – es war natürlich und unvermeidbar –, aber ihr entfernt euch immer weiter voneinander. Auf eine gewisse Art liebt ihr euch mehr denn je, aber die Distanz wird größer, und entweder kämpft ihr nicht dagegen an oder ihr merkt es gar nicht richtig. Ihr werdet zu Kinderbetreuern, eure Welt schrumpft auf die Grenzen der Lebenswelten eures Nachwuchses, und alles ist so unglaublich höflich, eng verbunden und herzlich – und dabei betäubt und erstickt es alles andere und treibt einen allmählich in den Wahnsinn.

»Na, sieh mal einer an.«

Als sie die wohlbekannte Stimme hörte, fing Megan unwillkürlich an zu lächeln. Das etwas rauchige Knarzen von Whiskey, Zigaretten und langen Nächten war noch deutlich zu hören und verlieh jeder Äußerung einen ironischen oder leicht zweideutigen Ton.

»Hi, Lorraine.«

Lorraine sah sie mit ihrem schiefen Lächeln an. Ihre Haare waren schlecht blondiert und zu hoch toupiert. Lorraine war groß, korpulent und üppig gebaut und wollte, dass man diese Kurven auch sah. Ihre Kleidung schien immer zwei Nummern zu klein zu sein, was ihr allerdings gut stand. Auch nach all den Jahren war Lorraine eine eindrucksvolle Erscheinung. Selbst die Mamis unterbrachen ihr Gespräch, um sie mit angemessenem Abscheu anzustarren. Lorraine warf ihnen einen vielsagenden Blick zu, der ihnen verriet, dass sie ihre Gedanken kannte und wohin sie sie sich stecken konnten. Die Mamis wandten sich ab.

»Du siehst gut aus, Mädchen«, sagte Lorraine.

Sie nahm Platz, was eine komplexe Choreographie erforderte. Es war tatsächlich siebzehn Jahre her, dass Megan sie zum letzten Mal gesehen hatte. Lorraine war damals Hostess/Managerin/Cocktail-Kellnerin/Barkeeperin gewesen. Sie hatte dieses Leben in vollen Zügen und ohne irgendwelche Rechtfertigungen gelebt.

»Ich hab dich vermisst«, sagte Megan.

»Ja, das dachte ich mir schon – wegen der vielen Postkarten und so.«

»Es tut mir leid.«

Lorraine wischte die Entschuldigung mit einer kurzen Geste beiseite, als ärgerte sie sich über die Sentimentalität. Sie wühlte in ihrer Handtasche herum und zog eine Zigarette heraus. Die Mamis, die zwei Tische entfernt saßen, schnappten nach Luft, als hätte sie eine Pistole gezogen. »Mann, ich hätte nicht übel Lust, die anzustecken, um zu sehen, wie sie fliehen.«

Megan beugte sich vor. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich das frage, aber wie hast du mich gefunden?«

Das schräge Lächeln breitete sich wieder in Lorraines Gesicht aus. »Ach, komm schon, Schatz. Ich hab die ganze Zeit gewusst, wo du warst. Ich habe meine Augen überall, das weißt du doch.«

Megan wollte nachhaken, aber etwas in Lorraines Tonfall sagte ihr, dass sie sich das besser verkneifen sollte.

»Jetzt guck dich doch nur mal an«, sagte Lorraine. »Verheiratet, Kinder, großes Haus. Da stehen jede Menge weiße Cadillac Escalades auf dem Parkplatz. Gehört einer davon dir?«

»Nein. Meiner ist der schwarze GMC Acadia.«

Lorraine nickte, als läge in der Antwort tiefere Bedeutung. »Ich freu mich, dass du hier was gefunden hast, aber wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich immer dachte, du würdest lebenslänglich dabeibleiben, so wie ich.« Sie gluckste kurz und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß«, sagte Megan. »Ich war von mir selbst auch ziemlich überrascht.«

»Allerdings sind auch nicht alle, die wieder auf den Pfad der Tugend geraten sind, aus freiem Willen dort gelandet.« Lorraine sah zur Seite, als ob das nur eine beiläufige Bemerkung wäre. Aber beide Frauen wussten, dass das nicht stimmte. »Wir hatten doch viel Spaß zusammen, stimmt’s?«

»Auf jeden Fall.«

»Ich hab das immer noch«, sagte Lorraine. »Das da …«, sie blickte kurz zu den Mamis, »… also, ich bewundere das. Ehrlich. Aber ich weiß nicht. Das wäre nichts für mich.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht bin ich zu selbstsüchtig. Manchmal komm ich mir vor, als ob ich ADHS hätte oder so was. Ich brauche immer irgendwas, das mich stimuliert.«

»Kinder können einen schon stimulieren, das kannst du mir glauben.«

»Ja?«, sagte sie, offensichtlich ohne es zu glauben. »Na ja, freut mich, das zu hören.«

Megan wusste nicht, wie sie das Gespräch fortsetzen sollte. »Dann arbeitest du immer noch im La Crème?«

»Yep. Vor allem hinter der Bar.«

»Und warum der plötzliche Anruf?«

Lorraine fuchtelte mit der unangezündeten Zigarette herum. Die Mamis plapperten wieder geistlos, wenn auch deutlich weniger enthusiastisch. Immer wieder musterten sie Lorraine mit verstohlenen Blicken, als wäre sie ein Virus, der irgendwie die Barrieren ihrer Vorort-Lebensform durchbrochen hatte und sie vernichten wollte.

»Ich hab ja, wie gesagt, immer gewusst, wo du bist. Aber ich hätte natürlich nie was verraten. Ist doch klar, oder?«

»Natürlich.«

»Und eigentlich wollte ich dir jetzt auch nicht zur Last fallen. Du hast es geschafft, da rauszukommen. Da will ich dich doch auf keinen Fall wieder hineinziehen.«

»Aber?«

Lorraine sah sie an. »Jemand hat dich gesehen. Also eigentlich Cassie gesehen, um genau zu sein.«

Megan rutschte auf dem Stuhl nach vorn.

»Du bist im La Crème gewesen, stimmt’s?«

Megan sagte nichts.

»Hey, ich hab vollstes Verständnis dafür. Glaub mir. Wenn ich den ganzen Tag mit diesen Sonnenscheinchen herumhängen müsste …«, Lorraine deutete mit dem Daumen auf das mütterliche Plappern, »… würde ich Tiere opfern, um gelegentlich mal für eine Nacht da rauszukommen.«

Megan sah auf ihren Kaffee hinab, als läge darin die richtige Antwort. Sie war tatsächlich im La Crème gewesen – allerdings nur ein einziges Mal. Vor zwei Wochen, kurz vor dem Jahrestag ihrer Flucht, war sie zu einem langweiligen Fortbildungsseminar im Zuge einer Fachmesse nach Atlantic City gefahren. Da die Kinder langsam älter wurden, hatte sie sich bei einem Maklerbüro für Wohnimmobilien beworben. In den letzten Jahren war sie immer auf der Suche nach etwas Neuem gewesen – von persönlichen Fitnesstrainern über Yoga-Kurse und Töpfern bis zu einer Biografie-Schreibgruppe, bei der Megan natürlich reine Fiktion dichtete. All diesen Aktivitäten lag der verzweifelte Versuch zugrunde, jene schwer fassbare »Erfüllung« zu finden, nach der die Menschen, die sonst alles haben, sich so sehr sehnen. Ein Problem dabei war, dass sie immer nach oben blickten – obwohl viele auf der Suche nach ihrer aufgeklärten Spiritualität wohl besser nach unten hätten sehen sollen. Denn Megan ahnte, dass sich die Antwort viel eher dort, in den niederen und primitiveren Gefilden, versteckt hielt.

Auf Nachfrage hätte Megan behauptet, dass sie den Besuch im La Crème nicht geplant hatte. Es sei eine spontane Idee gewesen, keine große Sache, aber am zweiten Abend im Tropicana in Atlantic City, gerade mal zwei Blocks vom La Crème entfernt, hatte sie sich in ihre engsten Klamotten gezwängt und war in den Club gegangen.

»Hast du mich gesehen?«, fragte Megan.

»Nein. Und du bist schließlich auch nicht auf mich zugekommen.«

Lorraine klang verletzt. Megan hatte ihre alte Freundin hinter der Theke gesehen und Abstand gehalten. Der Club war groß und dunkel. Die meisten Menschen wollten darin nicht gesehen werden. Also waren die Clubs so eingerichtet, dass man darin abtauchen konnte.

»Ich wollte nicht …« Megan brach ab. »Wer dann?«

»Ich weiß es nicht. Aber ist das wahr?«

»Nur ein einziges Mal«, sagte Megan.

Lorraine schwieg.

»Ich versteh das nicht. Wo liegt das Problem?«

»Warum bist du zurückgekommen?«

»Ist das wichtig?«

»Für mich nicht«, sagte Lorraine. »Aber dieser Bulle hat es erfahren. Der, der dich schon seit Jahren sucht. Er ist immer noch am Ball.«

»Und du denkst, dass er mich jetzt findet?«

»Gut möglich«, sagte Lorraine. »Ja, ich glaube, er hat eine ziemlich gute Chance, dich zu finden.«

»Also ist dieser Besuch eine Warnung?«

»So etwas in der Art.«

»Was denn noch?«

»Ich weiß nicht, was damals in der Nacht passiert ist«, sagte Lorraine. »Ich will’s auch gar nicht wissen. Ich bin glücklich. Mir gefällt mein Leben. Ich tu, was mir gefällt und mit wem es mir gefällt. Ich misch mich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute ein, wenn du weißt, was ich meine.«

»Ja.«

»Und vielleicht liege ich auch falsch. Also, du kennst den Club ja, es ist ziemlich dunkel darin. Und es ist auch schon verdammt lange her – siebzehn Jahre, oder? Ich kann mich also auch geirrt haben, schließlich war es nur eine Sekunde, aber ich glaube, das war an dem Abend, an dem du auch da warst. Aber wo du plötzlich wieder da warst und jetzt noch jemand anders vermisst wird …«

»Wovon sprichst du, Lorraine? Was hast du gesehen?«

Lorraine blickte auf und schluckte. »Stewart«, sagte sie und fummelte an der unangesteckten Zigarette herum. »Ich glaube, ich habe Stewart Green gesehen.«

DREI

Mit einem tiefen Seufzer ging Detective Broome auf das unglückselige Haus zu und klingelte. Sarah öffnete die Tür, sah ihn kaum an und sagte: »Komm rein.« Broome trat sich verlegen die Füße ab. Er zog den alten Trenchcoat aus und legte ihn über den Arm. Im Haus hatte sich in all den Jahren nichts verändert. Die altmodischen, eingelassenen Lampen, das weiße Ledersofa, der alte Fernsehsessel in der Ecke – es war alles noch wie damals. Nicht einmal die Fotos auf dem Kaminsims hatte Sarah ausgetauscht. Lange Zeit – mindestens fünf Jahre – hatten noch die Hausschuhe ihres Manns neben dem alten Fernsehsessel gestanden. Die Hausschuhe waren jetzt weg, aber der Sessel stand immer noch da. Broome fragte sich, ob ihn je irgendjemand benutzte.

Es war, als weigerte sich sogar das Haus selbst voranzuschreiten in der Zeit, als würden Wände, Böden und Decken nach wie vor trauern und warten. Aber vielleicht war das auch nur eine Projektion. Menschen brauchten Antworten. Sie brauchten einen Abschluss. Die Hoffnung konnte, wie Broome wusste, etwas Wunderbares sein. Andererseits konnte sie auch eine ewige Last sein, die die Menschen zu zerdrücken drohte. Sie konnte das Grausamste sein, was einem Menschen in seinem Leben begegnete.

»Du hast das Jubiläum verpasst«, sagte Sarah.

Broome nickte. Er war noch nicht bereit, ihr zu sagen, woran das lag. »Wie geht’s den Kindern?«

»Gut.«

Sarahs Kinder waren im Prinzip erwachsen. Susie besuchte das vorletzte Jahr des College, und Brandon stand kurz vor dem Highschool-Abschluss. Sie waren fast noch Babys gewesen, als ihr Vater verschwand – plötzlich aus diesem wohlgeordneten Leben gerissen wurde, woraufhin ihn keiner seiner Lieben je wiedergesehen hatte. Broome war es nicht gelungen, den Fall zu lösen. Es war ihm jedoch auch nicht gelungen, ihn loszulassen. Er wusste, dass man sich nicht persönlich in Fälle hineinziehen lassen durfte. Trotzdem hatte er es nicht vermeiden können. Er hatte die Tanzvorführungen der kleinen Susie besucht. Er hatte Brandon gezeigt, wie man einen Baseball warf. Und vor zwölf Jahren hatte er, wie er zu seiner Schande zugeben musste, sogar einmal mit Sarah zusammen zu viel getrunken und, tja, war dann über Nacht geblieben.

»Wie ist der neue Job?«, fragte Broome.

»Gut.«

»Kommt deine Schwester bald zu Besuch?«

Sarah seufzte. »Yep.«

Sarah war immer noch eine attraktive Frau. Sie hatte Krähenfüße um die Augen, und auch die Falten um den Mund herum waren im Lauf der Jahre tiefer geworden. Doch manchen Frauen steht das Älterwerden, und Sarah war eine von ihnen.

Außerdem hatte sie eine Krebserkrankung überlebt. Vor über zwanzig Jahren. Das hatte sie Broome schon bei ihrer ersten Begegnung erzählt. Beide hatten sie in diesem Zimmer gesessen, als er hergekommen war, um der Vermisstenanzeige nachzugehen. Die Krankheit sei diagnostiziert worden, als sie mit Susie schwanger war, hatte Sarah ihm erzählt. Wenn ihr Mann nicht gewesen wäre, erklärte sie, hätte sie niemals überlebt. Das hatte sie Broome sehr deutlich erklärt. Als sie eine schlechte Prognose bekam, als Sarah sich während der Chemotherapie unablässig übergeben musste, als ihr die Haare ausfielen und ihr gutes Aussehen dahinschwand, als ihr Körper zu verfallen begann, als niemand sonst, Sarah eingeschlossen, auch nur noch einen Funken Hoffnung hatte – wieder dieses Wort –,da war er und er allein an ihrer Seite geblieben.

Was wieder einmal zeigte, dass die menschliche Natur in all ihrer Komplexität und Scheinheiligkeit einfach nicht zu erklären war.

Nächtelang hatte er an ihrem Bett gewacht, ihr immer wieder die schweißnasse Stirn abgewischt. Er hatte ihre Medikamente geholt, ihre Wange geküsst, ihren fröstelnden Körper umarmt und ihr so den Eindruck gegeben, geliebt zu werden.

Sie hatte Broome in die Augen gesehen und ihm all das erzählt, weil sie wollte, dass er in dem Fall weiterermittelte und ihren Mann nicht einfach als Aussteiger abtat, sondern sich persönlich darum kümmerte, dass die Liebe ihres Lebens gefunden wurde, weil sie ohne ihn einfach nicht weitermachen konnte.

Siebzehn Jahre später kam Broome immer noch hierher, obwohl er auf viele bittere Wahrheiten gestoßen war. Der Aufenthaltsort von Sarahs Ehemann und der Liebe ihres Lebens war jedoch immer noch ein Geheimnis.

Broome sah sie an. »Das ist gut«, hörte er sich plappern. »Ich meine, dass deine Schwester zu Besuch kommt. Darauf freust du dich doch immer so.«

»Ja, wunderbar«, sagte Sarah absolut ausdruckslos. »Broome?«

»Ja.«

»Du betreibst Smalltalk.«

»Da könnte was dran sein.«

»Was bedeutet das?«

Trotz der hübschen Dekoration – hellgelbe Farbe, frische Blumen – sah Broome im Haus nur Verfall. Die jahrelange Ungewissheit hatte die Familie zerstört. Die Kinder hatten harte Jahre durchlebt. Susie hatte zwei Mal wegen Alkohol am Steuer vor Gericht gestanden. Brandon war wegen Drogenbesitzes festgenommen worden. Broome hatte beiden bei der Bewältigung ihrer Probleme geholfen. Aber das Haus sah immer noch so aus, als wäre ihr Vater erst gestern verschwunden – als wäre die Zeit seit damals stehen geblieben.

Sarahs Augen weiteten sich etwas, als wäre ihr gerade etwas Schmerzliches bewusst geworden. »Habt ihr …?«

»Nein.«

»Was dann?«

»Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten«, sagte Broome.

»Aber?«

Broome setzte sich, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. Er atmete tief durch und sah Sarah in die gepeinigten Augen. »Es ist wieder jemand verschwunden. Vielleicht hast du es in den Nachrichten gesehen. Er heißt Carlton Flynn.«

Sarah sah ihn verwirrt an. »Was heißt ›verschwunden‹?«

»Es war genauso wie bei …« Er brach ab. »Carlton Flynn stand mitten im Leben, und plötzlich war er von einem Moment auf den anderen weg. Verschwunden und nicht wieder auffindbar.«

Sarah versuchte zu verstehen, was er ihr gesagt hatte. »Aber … du hast mir doch vom ersten Tag an immer wieder erklärt, dass Menschen manchmal einfach verschwinden, oder?«

Broome nickte.

»Zum Teil aus eigenem Entschluss«, fuhr Sarah fort. »In anderen Fällen eben nicht. Aber so etwas passiert immer wieder.«

»Richtig.«

»Und jetzt ist siebzehn Jahre nach meinem Ehemann dieser Carlton Flynn verschwunden. Ich sehe da keine Verbindung.«

»Gut möglich, dass es keine gibt«, stimmte Broome zu.

Sie beugte sich vor. »Aber?«

»Aber genau deshalb bin ich am Jubiläum nicht hier gewesen.«

»Was soll das heißen?«

Broome wusste nicht, wie viel er ihr verraten sollte. Er konnte nicht einmal sagen, wie viel er selbst wirklich wusste. Er war dabei, eine Theorie zu entwickeln. Eine Theorie, die ihm auf den Magen schlug und nachts vom Schlafen abhielt – aber bisher war es immer noch nicht mehr als eine Theorie.

»Der Tag, an dem Carlton Flynn verschwunden ist«, sagte er.

»Was ist damit?«

»Deshalb war ich nicht hier. Er ist am Jubiläum verschwunden. Am achtzehnten Februar – auf den Tag genau siebzehn Jahre, nachdem auch dein Mann verschwunden ist.«

Sarah wirkte einen Moment lang perplex. »Auf den Tag genau siebzehn Jahre?«

»Ja.«

»Was hat das zu bedeuten? Siebzehn Jahre? Könnte doch einfach Zufall sein. Wenn es fünf oder zehn Jahre wären … Aber siebzehn?«

Er sagte nichts, ließ sie selbst einen Moment lang darüber nachdenken.

Sarah sagte: »Dann nehme ich mal an, dass du nach anderen vermissten Personen gesucht hast? Um festzustellen, ob es da ein Muster gibt?«

»Das hab ich.«

»Und?«

»Das sind die einzigen beiden, von denen wir sicher wissen, dass sie am achtzehnten Februar verschwunden sind – dein Mann und Carlton Flynn.«

»Von denen wir sicher wissen?«, wiederholte sie.

Broome atmete tief durch. »Am vierzehnten März letzten Jahres wurde Stephen Clarkson, auch ein Mann aus der Gegend, vermisst gemeldet. Am einundzwanzigsten Februar drei Jahre davor wurde schon einmal ein Mann vermisst gemeldet.«

»Und von denen ist keiner gefunden worden?«

»So ist es.«

Sarah schluckte. »Dann ist der genaue Tag vielleicht gar nicht so wichtig. Eventuell verschwinden sie einfach in der Zeit zwischen Ende Februar und Mitte März?«

»Das glaube ich nicht – oder ich habe es bisher zumindest nicht geglaubt, weil die anderen beiden Männer – Peter Berman und Gregg Wagman – deutlich früher verschwunden sein könnten. Berman war ein Herumtreiber, Wagman war LKW-Fahrer. Beide waren Singles und hatten keine nahen Familienangehörigen. Da merkt doch keiner, wenn so ein Mann mal ein paar Tage nicht nach Hause kommt. Bei dir und deinem Mann war das natürlich was anderes. Aber bei einem Single, einem geschiedenen Mann oder einfach jemandem, der dauernd auf Achse ist …«

»Kann es ein paar Tage dauern, bevor er vermisst gemeldet wird«, beendete Sarah den Satz für ihn.

»Oder sogar noch länger.«

»Also könnten die beiden Männer auch am achtzehnten Februar verschwunden sein.«

»So einfach ist das nicht.«

»Wieso nicht?«

»Weil das Muster immer komplexer wird, je länger ich es mir ansehe. Wagman war zum Beispiel aus Buffalo – nicht von hier. Keiner weiß, wann oder wo er verschwunden ist, es ist mir aber gelungen, seine Wege so weit zurückzuverfolgen, dass ich annehme, dass er irgendwann im Februar durch Atlantic City gekommen sein müsste.«

Sarah dachte darüber nach. »Einschließlich Stewart hast du jetzt fünf Männer aus den letzten siebzehn Jahren erwähnt. Gab es noch mehr?«

»Ja und nein. Bisher hab ich fünf Männer gefunden, die irgendwie in dieses Muster hineinpassen könnten. In ein paar Fällen muss man die Grenzen aber schon ziemlich weit ausdehnen.«

»Zum Beispiel?«

»Vor zwei Jahren wurde ein Clyde Horner, der bei seiner Mutter lebte, am siebzehnten Februar vermisst gemeldet.«

»Also geht es nicht um den achtzehnten Februar.«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Vielleicht einfach um den Monat Februar?«

»Möglich. Das ist das Problem mit Theorien und Mustern. Man braucht Zeit, um sie zu begreifen. Ich bin noch in dem Stadium, wo ich Beweise sammle.«

Tränen traten ihr in die Augen. Sie blinzelte. »Ich versteh das nicht. Wie kann man denn übersehen, dass so viele Leute verschwinden?«

»Was denn übersehen?«, sagte Broome. »Verdammt, ich hab immer noch keine Ahnung, was da passiert ist. Irgendwo verschwinden andauernd irgendwelche Männer. Die meisten verlassen Frau und Familie. Viele sind pleite, haben nichts mehr zu verlieren oder gar Gläubiger am Hals – also tauchen sie ab und versuchen, ein neues Leben anzufangen. Oft am anderen Ende des Landes. Manche ändern ihren Namen, andere nicht. Viele von diesen Männern … Na ja, eigentlich sucht sie niemand. Es hätte ja keiner wirklich etwas davon, wenn man sie findet. Eine Frau, mit der ich gesprochen habe, hat mich angefleht, ihren Mann bloß nicht wieder aufzuspüren. Sie hatte drei Kinder mit dem Kerl. Sie glaubte, dass er mit einer – wie sie es formulierte – ›beschissenen Hure‹ abgehauen sei, und das wäre das Beste, was ihr und ihren Kindern je passiert sei.«

Sie schwiegen einen Moment lang.

»Und was war vorher?«, fragte Sarah.

Broome wusste, was sie meinte, fragte aber trotzdem: »Vorher?«

»Vor Stewart. Ist vor meinem Mann auch jemand verschwunden?«

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und hob den Kopf. Sie sahen sich in die Augen. »Ich konnte keinen entdecken«, sagte Broome. »Wenn das ein Muster ist, hat es mit Stewart angefangen.«

VIER

Das Klopfen weckte Ray.

Mühsam öffnete er ein Auge und bereute es sofort. Das Licht stach wie ein Dolch in sein Gehirn. Er presste die Hände von beiden Seiten gegen den Kopf, weil er fürchtete, sein Schädel könnte in zwei Teile zerspringen.

»Mach schon auf, Ray.«

Es war Fester.

»Ray?«