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"Oh, wie schön ist Panama", Tigerente, der kleine Bär und der kleine Tiger — Janosch ist der bekannteste deutsche Kinderbuchautor. Doch über ihn selbst weiß man bislang nur wenig. Dank dieser ersten umfassenden Biographie bietet uns Angela Bajorek einen spannenden Einblick in das Leben des preisgekrönten Künstlers und sympathischen Eigenbrötlers.
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Das Buch
Seit Jahrzehnten begeistert Janosch Kinder und Eltern in aller Welt. Seine über 300 Bücher sind in 40 Sprachen übersetzt worden, die Tigerente und der kleine Bär und der kleine Tiger bezauberten mehrere Generationen. Doch Janosch, geboren 1931 als Horst Eckert im oberschlesischen Hindenburg (heute Zabrze), hat selbst eine alles andere als schöne Kindheit: Der prügelnde Vater, die gefühlskalte Mutter, die sadistischen Pfarrer und die Hitlerjugend-Kameraden machen ihm das Leben zur Hölle. Einen Neuanfang gibt es nach Kriegsende in Norddeutschland, wo Janosch eine Lehre zum Textilzeichner macht und schnell merkt, dass er viel mehr will. Also geht er nach München und bewirbt sich an der Akademie der Bildenden Künste – und scheitert. Doch zum Glück gibt Janosch nicht auf: Er macht sich allein auf den beschwerlichen Weg, Künstler zu werden.
Angela Bajorek erzählt einfühlsam von den Schwierigkeiten und Erfolgen, die Janosch zum weltbekannten Kinderbuchauto-ren und lllustrator machten und ihn schließlich in seine Hängematte auf Teneriffa verschlagen haben. Sie zeigt uns den faszinierenden Künstler in all seinen Facetten und somit auch als ungewöhnlichen, durch Krankheiten gezeichneten Menschen, der dennoch optimistisch bleibt.
Die Autorin
Angela Bajorek ist Germanistin und lehrt am Neuphilologischen Institut der Pädagogischen Universität Krakau. Für ihre Habilitationsschrift über Janosch begann sie an den Originalschauplätzen und in Archiven zu forschen. Schließlich tauschte sie über tausend E-Mails mit dem Künstler aus, besuchte ihn auf Teneriffa und erfuhr dadurch so viel über sein Leben wie nie jemand zuvor.
Angela Bajorek
Wer fast nichts braucht, hat alles
Die Biographie
Aus dem Polnischen übertragenund für die deutsche Ausgabe ergänztvon Paulina Schulz
Ullstein
Die Originalausgabe erschien 2015unter dem Titel Heretyk z familoka. Biografia Janoschabei Wydawnictwo Znak, Krakau
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ISBN: 978-3-8437-1323-8
© Angela Bajorek© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Diese Übersetzung wird publiziert nach Vereinbarung mit Społeczny Instytut Wydawniczy Znak Sp. z o.o., Krakau, Polen.Umschlaggestaltung: Rudolf Linn nach einer Vorlage von © Paweł Panczakiewicz / PANCZAKIEWICZ ART.DESIGNUmschlagfoto: Roland Weihrauch, PAP / dpaGutachter: Prof. Dr. Hans-Heino Ewers
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Für meine Familie
Über das Buch und die Autorin
Titelseite
Impressum
Widmung
Prolog
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 1
I
II
III
IV
V
VI
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 2
I
II
III
IV
V
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 3
I
II
III
IV
V
VI
VII
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 4
I
II
III
IV
V
VI
VII
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 5
I
II
III
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 6
I
II
III
IV
V
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 7
I
II
III
IV
V
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 8
I
II
III
IV
V
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 9
I
II
III
IV
V
VI
VII
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 10
I
II
III
IV
V
VI
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 11
I
II
III
Anmerkungen zum Kapitel
Kapitel 12
Das Gespräch mit Janosch
Frommer Ketzer und Anarchist oder zurück nach Zabrze – Janosch im Gespräch mit Angela Bajorek
Anmerkungen zum Kapitel
ANHANG
Familienstammbaum
Bibliographie der deutschen Ausgaben
Verzeichnis der Abbildungen
Anmerkungen
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Das Leben in der Hängematte, oder wie ich Janosch kennenlernte
Die meiste Zeit verbringt er in einer Hängematte aus gelbgestreiftem Leinen, die er »Elisabeth« nennt. Wenn er sich daraus erheben will, greift er munter mit beiden Händen nach den Seilen, hievt sich hoch – und plötzlich steht vor mir ein fast zwei Meter großer, rüstiger Mann jenseits der achtzig, mit gütigem Gesicht, dichtem Haar und grauem Schnurrbart. Das Lächeln verlässt nur selten sein Gesicht.
»Ein Weinchen vielleicht, selbstgemacht?«, schlägt er vor und geht in den Keller, um mit einer mächtigen Flasche aus dickem Glas zurückzukehren. Der trockene Weißwein ist stark und gut, gekeltert aus Trauben, die seine Ehefrau Ines gepflanzt hat.
Zum Alkohol pflegte Janosch über Jahre eine enge, doch schwierige Beziehung: Seine bekanntesten Kinderbücher soll er angeblich im Zustand permanenter Trunkenheit geschrieben haben, und als er »Cholonek oder Der liebe Gott aus Lehm« verfasste, hatte er vierzig Flaschen Gin benötigt, um die bösen Geister seiner Kindheit zu vertreiben. Der Wodka hatte ihm wohl auch das Leben gerettet, als er in einem Güterzug voller Vertriebener aus Schlesien schwer erkrankt war – und ihn dann auch beinahe getötet. Der Schmerz wollte ihn über lange Jahre nicht verlassen.
Heute trinkt er nur ab und zu Wein zum Mittagessen.
»Vom Alkohol wird man im Kopf verdreht. In Polen saufen die Leute Spiritus mit Wasser verdünnt, sagt man, deswegen hat Polen noch nie einen Krieg gewonnen«, meint er. »Mein Lieblingswein ist der rote. Habe ich aber keinen, kommt es zu keiner Trauer, dann trinke ich weißen. Habe ich keinen weißen, trinke ich Wasser. Habe ich auch kein Wasser, vergesse ich den Durst. Das sind so die Kunststücke meiner Seligkeit.«1
Trotz seines hohen Alters ist Janosch vergnügt und jugendlich. In seiner Kindheit war er ein schmächtiger asthmatischer Junge, der von seinen Schulkameraden tyrannisiert wurde, in seiner Jugend ein ewiger Pechvogel, von den Kunstakademien abgelehnt und von Mädchen ignoriert, schließlich ein Schriftsteller, der lange Jahre damit verbrachte, gegen das Leid anzukämpfen, das ihm diverse Machtinstitutionen angetan haben: die Familie, der Staat, die Kirche, die Verlage.
Heute ist dieser selbsternannte Anhänger der Janosch-eigenen Art des Buddhismus, abgehärtet durch Yoga und von der spanischen Sonne gewärmt, ein glücklicher Mensch. Sein Rezept für ein gutes Leben hat er mehrmals in Büchern und Interviews verraten: »Je weniger du brauchst, desto mehr hast du«, wiederholt er. Und er behauptet, seine größten Freuden im Leben seien »das Essen und das Herumketzern«. Das sind keine leeren Worte. Nachdem er im Restaurant seine ordentliche Portion Fleisch aufgegessen hat, bedient er sich noch freimütig an meiner Paella, ohne sich um Konventionen zu scheren.
Er ist kein einfacher Gesprächspartner, und an seiner Einsiedler-Natur und dem Hang zu Streichen hat sich schon mancher Journalist die Zähne ausgebissen. Janosch kann die Medien nicht ausstehen – deswegen, unter anderem, lebt er schon so lange auf einer Insel – und wenn er schon mit jemandem reden muss, verdreht er oft bewusst die Fakten oder erzählt aus dem Stegreif erfundene Geschichten.
Obwohl seine Bücher meist auf persönlichen Erlebnissen basieren, war er niemals daran interessiert, sich Biographen anzuvertrauen. Aus dem ganz einfachen Grund: Er traute ihnen nicht. In der Erzählung »Magischer Lebenslauf« schrieb er, das menschliche Leben bestünde aus dem Verfassen regelmäßiger Biogramme: geboren dann und dann, dort und dort, Schulbesuch dann und dort, etc. »Aber solche Lebensläufe sind so langweilig wie altes Brot«2, meint er.
Abb. 1 – Janosch an seinem Lieblingsort: in der Hängematte.
Auch war er nicht besonders gewillt, Korrespondenz zu führen. Mein erster Brief an Janosch (den ich ihm noch als Germanistik-Studentin schickte, fasziniert von dem sonderbaren Original, das den Kleinen Tiger und den Kleinen Bären erschaffen hatte) landete im Papierkorb. Hatte mein Brief das wöchentliche Limit überschritten? Damals klopfte jeden Montag der Briefträger an Janoschs Tür, und wenn sich herausstellte, dass es mehr als dreißig Briefe waren, landeten alle ungelesen im Altpapier.
»Ging ich denn auf diese Insel, um dort bis zum Lebensende Post zu lesen? Mir schreibt inzwischen jeder auf dieser Welt, habe ich das Gefühl, zwanzig, dreißig Briefe täglich, eher mehr; ich ging weg von dort, um meine Beine hier auszustrecken – Hängematte!«3, erzählt Janosch in seinem Buch »Gastmahl auf Gomera«.
Doch irgendwann änderte der Einsiedler von Teneriffa seine Meinung. Fünfzehn Jahre nach meiner ersten Kontaktaufnahme traute ich mich noch mal, da eine Konferenz an der Universität bevorstand, für die ich ein Referat über Janoschs Begegnungen mit Schlesien und Krakau vorbereitete.
Ich fuhr nach Zabrze (ehemals Hindenburg/Oberschlesien), wo 1931 in einem sogenannten Grubenhaus im Ciupkaweg ein gewisser Horst Eckert geboren wurde – der spätere Janosch. Ich ging an die Quellen: besuchte die städtischen Archive, Bibliotheken, die Kirchen, in denen der »fromme Ketzer« (wie Janosch sich selbst gerne nennt) getauft und dann gefirmt wurde, lernte Menschen kennen, die ihn damals kannten, und jene, die ihn heute bewundern. Ich erfuhr Dinge, die Janosch selbst nicht bewusst waren. Schließlich schickte ich ihm eine höfliche E-Mail mit der Information, was ich über ihn erfahren hatte, und bat ihn, mich zu kontaktieren. Dem Brief fügte ich ein Zitat aus dem »Magischen Lebenslauf« bei.
Und Janosch schrieb zurück. Sehr herzlich, sehr interessiert. Offenbar hatte er seine Meinung über Biographien geändert. Jetzt glaubte er an die Notwendigkeit solcher Zusammenfassungen und beharrte darauf, dass er nicht der wäre, der er heute ist, wenn nicht der Ort und die Umstände seiner Geburt gewesen wären.
»Es spielt eine sehr große Rolle, wo man geboren ist. Ich glaube, mein Denken wäre sehr anders, wäre ich woanders geboren. Ein polnischer Mensch ist eine andere Sorte Mensch. Ich halte mich im Kopf und in der Seele für polnisch. Wobei das keine Wertung ist. Ein Rabe und eine Taube sind beide Vögel wie alle Vögel, aber jeder ist anders. Alles, was ich tue, ist anders, als ein Westmensch es tun würde«, schrieb er mir. »Am besten wird es sein, wenn Sie mir Fragen stellen und ich sie beantworte.«
Bald verwandelte sich die Freundlichkeit zu meinem Erstaunen in überschwängliche Vertraulichkeit. Wir schrieben uns jeden Tag, führten die »Rozmowanki mit Janoszek«, wie er es in seinem einzigartigen Polnisch nennt (also so viel wie »Plaudereichen«). Meine Fragen erweckten alte Geschichten zum Leben, doch sie rissen auch nie verheilte Wunden aus der verfluchten Kindheit auf.
Der introvertierte Einsiedler vertraute mir offenbar, und das in einem Maße, dass er mir außer der täglichen E-Mail seine allwöchentliche »Sonntagspredigt« schickte: Fotos seines neuen künstlichen Gebisses, Kochrezepte, Bilder. Oft vertraute er mir sehr private Dinge an. Um den Titel eines seiner Bücher zu paraphrasieren: Ich kann von dem Glück sprechen, Janosch gekannt zu haben. Wie es das Schicksal wollte, trug die erste unserer mittlerweile beinahe tausend E-Mails den Betreff »Glück«.
Vielleicht, wenn das Schicksal gerade eine andere Laune gehabt hätte, würde sich Janosch heute so nennen, wie es in seinem Pass steht: Horst Eckert. Wäre er nach dem Krieg in Schlesien geblieben, hätte man seinen Namen zu dem heimisch klingenden Henryk polonisiert (und dies mit einem Rechtschreibfehler eines deutschen Beamten bei der Eintragung erklärt).
Er wäre womöglich Schlosser geworden, in einem der vielen Betriebe in Zabrze, würde jeden Sonntag Roulade mit Klößen essen, dazu Bier der Marke »Tyskie« trinken, das Regionalfernsehen schauen und in seiner Freizeit die schlesischen Mädels, Halden und Kirchen malen. Vielleicht hätte er sogar an einer Gruppenausstellung der lokalen Amateur-Künstler im Kulturhaus teilgenommen.
Wahrscheinlich hätte er den Ruf eines Exzentrikers, aber davon gab es in Schlesien viele.
Doch es ist anders gekommen. Der Junge aus Hindenburg-Poremba schrieb Dutzende von Büchern, die von Kindern auf der ganzen Welt geliebt werden, und wurde ein wohlhabender Mann. Und zum Schluss zeigte er der Verlagswelt den Stinkefinger, pfiff auf den Ruhm und zog nach Teneriffa.
Doch um zu erfahren, wie es dazu kam, müssen wir an den Anfang zurückgehen. Zum Blecheimer.
1. Janosch: »Von dem Glück, als Herr Janosch überlebt zu haben«, Gifkendorf: Merlin Verlag 1994, S. 32
2. Janosch: »Magischer Lebenslauf«, in: »Der Musikant in der Luft und andere Geschichten«, Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg 1992, S. 51
3. Janosch: »Gastmahl auf Gomera«, München: Goldmann Verlag 1997, S. 9
In einem Eimer geboren
»Nie war das Leben so in Ordnung wie dort. Wenn man nichts anderes kennt,will man nichts anderes haben. Und es gab einen Ofen im Winter.«
Die Hebamme hieß Frau Rassmann und wohnte in Mathesdorf, fünf Straßenbahnstationen vom Haus der Eckerts entfernt. Die Geburt, einschließlich der zwei mal dreißig Pfennig für die Hin- und Rückfahrt, kostete elf Reichsmark.
»Die Zahl konnte ich damals und werde sie bis an mein Lebensende nie vergessen, meine Mutter rechnete sie immer wieder auf bis zum Ende«1, erzählt Janosch.
Die Stube war dunkel, denn der Strom (dessen Kosten in der Miete enthalten waren) reichte gerade mal für ein winziges Lämpchen. In der Stube stand ein Vertiko und darauf eine Jesus-Figur aus Gips mit einer Girlande aus Papierrosen und einem Heiligenschein aus Katzengold. Daneben standen der Herd mit einem speziellen Behälter zum Wassererhitzen sowie ein abgenutzter Blecheimer. Alle Bewohner der Grubenhäuser hatten ähnliche Eimer.2
Und in genau so einem Blecheimer wurde Horst, der Sohn der Hausfrau Hildegard Godny und des Reisevertreters Johann Valentin Eckert, geboren. Nach Janoschs eigenem Bericht soll er imponierende fünfeinhalb Kilo gewogen haben, »so wie eine gut gefütterte Gans«.3
Er kam in dem Jahr zur Welt, in dem das Luftschiff »Graf Zeppelin« über Schlesien geflogen war, Bela Lugosi Graf Dracula spielte und in New York das Empire State Building eröffnet wurde. An jenem Tag stand die Sonne im Zeichen der Fische. Wer in diesem Tierzeichen geboren wird, so wird Janosch später sagen, wird sich an alles erinnern, was er je erlebt hatte. Der 11.3.1931: die Einsen und die Dreien wurden zu seiner Lebensformel. Du befindest dich noch nicht ganz in der Welt, und schon ist alles festgelegt und du bist ausgeliefert.
Abb. 2 – Der kleine Horst wurde Chlopek oder Totek genannt.
Sein Vater war bei der Geburt nicht anwesend. Zu jener Zeit saß er eine dreimonatige Haftstrafe wegen Schmuggels ab – er hatte Feuersteine in den Hosentaschen nach Polen geschmuggelt. Für so einen Stein konnte man von einem Polen zehn Eier bekommen. Diese waren damals bettelarm und trugen Schuhe mit Löchern, hatten aber genug Hühner und Eier. Johann dachte, die Zöllner an der Grenze würden seine Taschen nicht durchsuchen, und falls doch, hatte er die Feuersteine schlau in ein schmutziges Taschentuch geknotet, denn:
»So einen dreckigen Fetzen werden Zöllner doch nicht anfassen wollen. Die Zöllner gehören doch zu den besseren Leuten, sind Beamte sozusagen. Die fassen nicht alles an. Der Vater trug nichts in der Hand, um nicht in Verdacht zu geraten, etwas zu schmuggeln. Und genau diese auffällige Unauffälligkeit fiel ihnen auf. Denn wer geht schon nach Polen ohne Gepäck? Wenigstens eine alte Aktentasche hätte er dabei haben müssen«, erzählte Janosch später.
Johann Eckert landete im Gefängnis. Doch schon bald wurde er zu einem unbescholtenen Bürger: »Später gelang es ihm dann, die Vorstrafe aus seinen Papieren entfernen zu lassen. Er kannte einen bei der Behörde. Das hat zwar einiges Geld gekostet, aber als Vorbestraftem würden dir auf Lebenszeit alle Türen verschlossen bleiben.«4 Vor allem die der NSDAP.
Janosch wird später in seinem ersten schlesischen Roman »Cholonek oder Der liebe Gott aus Lehm« eine Szene beschreiben, die an die Begebenheiten bei seiner Geburt erinnert:
»Bloß mit dem Stanik (Stanisław Cholonek) war das eine Qual. In Mickels schwerster Stunde saß der Lump beim Kapitza in der Kneipe, hielt große Vorträge über seinen Sohn, den er heute oder morgen gebären würde. (…) Und Mickel Cholonek, die Mutter, saß bei ihrer Mama in der Wohnung auf der Chaiselongue allein, verlassen von der ganzen Welt, mit dem Kind in ihrem Bauch, verheiratet mit einem (…), der sich einen Scheißdreck kümmerte.«5
Das Kind wurde zehn Tage später in der neuen Kirche St. Hedwig in Hindenburg getauft. Eine gemauerte Kirche wäre wegen der durch den Bergbau entstandenen Bodenschäden wohl eingestürzt, also baute man eine Kirche aus Holz, eine mächtige, zeltartige Kirche, die von vier Seiten mit Türmen flankiert war. Die Pateneltern des kleinen Horst waren die Tante Emma Eckert (die Frau von Johanns Bruder Ludwig) und Vaters Saufkumpan Viktor Sachnik. Dieser stank nach Mäusegift und Tabak, und seine Augen waren immer rot vom Suff, wie bei einem Auerhahn.
Der Junge bekam einen stolzen Kampfnamen: Horst. Der Vater, der damals mit allen Mitteln versuchte, seine polnische Herkunft zu verschleiern, um sich bei der NSDAP einzuschmeicheln, benannte den Sohn nach dem ein Jahr zuvor erschossenen SA-Sturmführer Horst Wessel, dem von den Nazis stilisierten Märtyrer.
Abb. 3a – Das Kind wurde zehn Tage später in der neuen Kirche St. Hedwig in Hindenburg getauft.
Kaum jemand nannte den kleinen Eckert jedoch beim Vornamen. Die Oma sagte Chopeczek, Chłopek oder Chopek zu ihm, der Opa Chottek, und die Kinder aus der Umgebung Tottek. Der Vater war selten nüchtern, doch wenn es hin und wieder mal vorkam, benutzte er den Taufnamen des Sohnes. Wenn er besonders gut gelaunt war, nannte er das Kind Janek – so wie ihn seine eigene Mutter einst gerufen hatte.
Und obwohl er über so viele Namen verfügte, fühlte sich der kleine Horst wie ein Namenloser. Als er erwachsen wurde, taufte er sich selbst auf den Namen Janosch.
Abb. 3b
Der Junge lebte mit der Familie der Mutter im Grubenhaus Nummer 6 im Ciupkaweg, so benannt nach dem in Hindenburg berühmten Bäcker Philipp Ciupka. Erst einige Jahrzehnte zuvor waren in der Straße Grubenschächte errichtet worden und mit ihnen die neue Siedlung mit Arbeiterhäusern, Kirchen, Schulen und Geschäften. Die Siedlung Hindenburg-Poremba wurde zu einem Arbeiterstädtchen, in das immer mehr neue Bewohner zogen. Der preußische Staat lockte die Bergarbeiter nach der Erschließung der »Königin Luise«- und »Königin Luise Ost«-Steinkohlegruben mit viel besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen als beispielsweise in den Gruben der Grafen Ballestrem und Schaffgotsch im benachbarten Ruda.
Der 81-jährige ehemalige Grubenarbeiter Emanuel Majnusz erinnerte sich in einem Gespräch mit der Zeitung »Przegląd«, dass die Arbeiter der »Königin Luise«-Grube jedes Jahr ein Bergarbeiterfest feiern konnten: »Jeder Kumpel bekam seine Zuteilung – 1 Kilo Wurst, 6 Brötchen, 3 Liter Bier und 5 Zigarren. In den Gruben gab es von abends bis zum nächsten Morgen Bälle, zu denen das Grubenorchester spielte. Der Eintritt war gratis.«6 Das waren mehr als anständige Arbeitsbedingungen.
Für diese Großzügigkeit bedankten sich die Einwohner von Hindenburg mit ihrer Stimme bei der oberschlesischen Volksabstimmung 1921. Ruda, das hinter dem Flüsschen Czarniawka (Scharnafka) gelegen war, fiel an die junge, gerade mal drei Jahre alte Republik Polen, und Hindenburg mit Poremba verblieb bei Deutschland.
Hier konnte man damals sowohl Polnisch, Deutsch als auch Schlesisch hören. Im März 1921 votierten in der Volksabstimmung in Oberschlesien 59,6% der Wähler der Gemeinde Zabrze für den Verbleib bei Deutschland, während 40,4% der Bewohner ihre Zukunft in Polen sahen.
Poremba war eine typische Grubensiedlung. Dort wohnte das Proletariat, die Armen, die kränklichen Bergleute, Invaliden, Hausierer, Straßenfeger, Ablader von Straßenbahnschwellen und Steinen oder einfache Schmuggler. Diese Mischung von Menschen lebte nach bestimmten Regeln und hatte ihre eigenen Gewohnheiten und Rituale. Jahrzehnte später erinnert sich Janosch an die Oberschlesier und die Bewohner der Stadt Hindenburg als eine Mischung der Kulturen und Temperamente voller oft zwielichtiger Charaktere.
Für Janosch war Poremba ein besonderer und einmaliger Ort, fast ein Paradies. Eine andere Welt kannte er nicht.
»Das Leben in Hindenburg war wie ein Leben im Wilden Westen. Die Menschen waren so verschieden wie nirgendwo anders, wie in einer Goldgräberstadt. Manche waren wie Tiere, andere wollten reich und elegant werden. So viele verschiedene Sorten von Menschen habe ich sonst nur im Paris der 70er Jahre gesehen. Der Bruder meines Großvaters Franz Eckert war ein geisteskrank tapferer Mensch. Arm weg, Bein weg, Auge weg. Und meldete sich dennoch freiwillig für den Krieg 1939. Wurde aber abgelehnt. Es gab versteckte Kommunistenführer, die in Zabrze untergetaucht waren, wie den Schlossermeister Sauer. Sehr viele wurden Nazis und extreme Mörder, z.B. als Lagerverwalter in Konzentrationslagern. Menschen morden war ihnen so eine große Freude wie Hühnerschlachten. Ich habe dort wenig gute Menschen gekannt.
Ich war in der Unterschicht geboren worden. Ich kann nur diese Unterschicht beschreiben. Es gab vielleicht noch andere Erfahrungen. Tiere wurden sehr gequält. Ich glaube, dass ein Mensch, der selbst gequält wird, den nächsten quält, über welchen er die Macht hat. Ich habe gesehen, wie Fuhrmänner (konioszki) ihr Pferd blutig prügelten, wenn es die Fuhre mit der Kohle nicht ziehen konnte und umfiel. In meinem 1. Schuljahr gab es einen Jungen, er war 10 Jahre alt, der mit so einem Pferd Kohlen transportierte und das Pferd mit dem dicken Ende der Peitsche blutig prügelte. Er hieß Ballon. Der Kaplan in der Kirche quälte die Kinder bestialisch. Er zog die Haut unter dem Kinn nach unten, bis es blutete und lachte dabei.
Fast alle Leute waren katholisch. Für Kinder war es eine Sünde, mit evangelischen Kindern zu spielen. Die Evangelischen wurden verachtet. Die Juden wurden gehasst. Der beste Arzt in der Stadt war ein Jude und hieß Kob. In den armen Wohngegenden wohnten bitterarme Leute. Viele waren geistesgestört und gingen in der Hitlerzeit nicht auf die Straße. In der Stadt wohnten reiche Geschäftsleute aus Deutschland. Manche kamen aus Berlin und machten Geschäfte auf. Im Industriegebiet, wo die Leute Geld verdienten. ›Roman Gnott‹ war so ein elegantes Geschäft und ›Palluch‹ und ›Stoszek‹ oder ›Joachimski‹«, berichtete Janosch in einer E-Mail an mich.
Fünfhundert Meter hinter dem Haus der Eckerts verlief der Fluss Scharnafka. Er bildete in den Jahren 1922 bis 1939 die deutsch-polnische Grenze. Die Einwohner verschmutzten ihn mit Abwasser, denn in den Häusern gab es keine Kanalisation. Das Wasser lief in Rinnsteinen auf den Straßen entlang. Der Gestank muss übel gewesen sein.
Abb. 4 – Der Junge lebte mit der Familie der Mutter im Grubenhaus Nummer 6 im Ciupkaweg.
»Es war egal, ob die Scharnafka stank oder nicht, denn sie gehörte bei genauer Betrachtung halb zu den Polacken.« In Notzeiten wurden über den bloß 1,50 Meter tiefen Fluss verschiedene Sachen geschmuggelt. Die deutschen Zöllner töteten die Schmuggler, die sie erwischten, ohne viel Gewese mit einem Kopfschuss. Janosch erinnert sich mit Grauen daran:
»Einmal haben die Zöllner dort einen Schmuggler erschossen, und er blieb mit dem Kopf nach unten im Schlamm stecken. Wir haben ihn aus der Ferne dort stehen sehen, Kopf im Schlamm, Beine nach oben.
Polen war zu Fuß nur eine halbe Stunde entfernt, wenn man durch den Schlagbaum ging. Nachts über die Scharnafka dauerte es länger, jedoch konnte man Schmuggelwaren mitnehmen, so viel man tragen konnte. Aber man musste durchs Wasser und dann mit der nassen Kleidung den ganzen Weg bis zum Ziel zu Fuß gehen.
Fast jeder hatte in Polen Verwandte. Wenn die Zöllner nachts eine Gestalt durch die Scharnafka waten sahen, knallten sie diese manchmal ab, ohne vorher zu rufen. Denn wer durch die Scharnafka ging, konnte nur ein Schmuggler sein. Oder ein Kommunist.«
Auf den Landkarten war in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts das deutsche und das polnische Oberschlesien verzeichnet, doch schon viel früher haben sich polnische Fürsten und böhmische Könige, die Habsburger und die Hohenzollern um dieses Land gestritten. Als die Letzteren unter Friedrich dem Zweiten den Streit gewannen, kamen zahlreiche preußische Siedler in die Gegend.
Als Goethe nach Tarnowskie Góry kam, damals noch Tarnowitz genannt, um die erste Dampfmaschine in Europa zu bewundern, schrieb er ein Gedicht über ein Land, das »fern von gebildeten Menschen, am Ende des Reiches«7 liegt.
Dieses Bild einer rückständigen Region, deren Bewohner »halb verwildert sind, wie kleine, ungezogene Kinder«8, und einen Grenzdialekt sprechen, der weder polnisch noch deutsch ist, den man verächtlich »Wasserpolnisch« nennt, verfestigte sich im Bewusstsein der preußischen Verwalter. Kurz darauf wurden in Oberschlesien reiche Vorkommen an Schwarzkohle und Eisenerzen entdeckt. Die bisher so dörfliche Landschaft wurde urban, geprägt durch Schornsteine der Bergwerke und Hütten.
Das »Ende des Reiches«, die tiefste preußische Provinz, wurde zu einer der modernsten Regionen in Europa, mit der Logistik der industriellen Revolution und deren unaufhaltbaren Folgen: dem schnellen, technologisierten Leben, den wachsenden Städten und dem Kohlestaub, der den Himmel verdeckte.
Nur die Armut der Menschen blieb, wie sie war, auch wenn sie nun keine Bauern, Flößer oder Weber mehr waren, sondern Arbeiter.
Jener Teil von Oberschlesien, in dem Janosch geboren wurde, wurde von einer ethnischen Mischung bewohnt. Er selbst fasst ihre Geschichte am besten in »Von dem Glück, Hrdlak gekannt zu haben« zusammen, einer Erzählung über das Städtchen Klodnica, das an der Grenze zu Polen liegt. Sein Vorbild waren natürlich die Hindenburger Stadtteile Zaborze und Poremba. Zunächst kamen »die Hunnen auf ihren kleinen verdammten Pferden (…) und dann die Franzosen mit den schmucken Goldlamellen, den blauen Uniformen, den vielen Glitzerorden an den Brüsten«9, später Regimente anderer Nationen, schließlich – wie im Wilden Westen – Menschen, die woanders vom Arm des Gesetzes gesucht wurden, um in den Kohlengruben unter der Erde zu verschwinden. »Sie meinten, das sei immer noch besser als die Guillotine oder Zwangsarbeit.«10 Und sie alle hinterließen mehrere Nachkommen, während ihr Land von einer Hand in die andere überging.
So entstand die Gattung der »Grenzmenschen«. Der Lauf der Geschichte und die Launen des Schicksals verlangten ihnen eine elastische Identität ab; denn um zu überleben, stand man lieber auf der Seite jener, die die Karten austeilten.
Mit seinen Landsleuten wird Janosch manches Mal gnadenlos abrechnen. Als er in einem Interview nach den typischen oberschlesischen Eigenschaften gefragt wurde, antwortete er: »Infantile Dummheit. Mangel an Bedürfnissen. Neigung zur Anarchie.« Doch selbst kommt er sich bei alledem kein bisschen besser vor. »Ich hätte meine Art zu denken nicht erschaffen können, wenn ich dieses Schlesien nicht im Blut hätte«, sagte er später.
Im Jahr der Volksabstimmung trug die Stadt den Namen Hindenburg (später auf Polnisch Zabrze), zu Ehren des Generalfeldmarschalls, der sich in zahlreichen Schlachten hervorgetan hatte. In Wirklichkeit war der Ort das größte Dorf Europas. Erst ein Jahr später, 1922, wurde ihm das Stadtrecht zuerkannt – und so wurde Hindenburg zur jüngsten Stadt des Deutschen Reiches.
Wie ganz Oberschlesien wurde Hindenburg mit der Schwarzkohle groß. Ihre Entwicklung verdankte die Stadt unmittelbar der Schwerindustrie und den im 18. Jahrhundert entdeckten reichen Steinkohlevorkommen. Es entstanden viele Fabriken sowie die Bergwerke »Königin Luise«, »Concordia« und »Guido« sowie 1850 die Hütte »Donnersmarck«, benannt nach dem Grafen Guido Henckel von Donnersmarck, dem Eigentümer.
Für die Arbeiter wurden Häuser gebaut, zweistöckige sogenannte Grubenhäuser aus rotem Backstein. Am Ciupkaweg werden diese Häuser lange Zeit so stehen, wie sie errichtet wurden: mit rot gestrichenen Fensterläden, einer schlammigen Einfahrt mit einem gepflasterten Durchgang mittendurch – auch dann, als Hindenburg schon Zabrze hieß, der Ciupkaweg ulica Piekarska, als in den Mietshäusern Kanalisation, Toiletten und Bäder angelegt wurden und als neue, nun polnische Bewohner einzogen. Doch irgendwann wurden die Grubenhäuser abgerissen, und an ihrer Stelle entstand eine Schnellstraße, die die Städte Katowice, Chorzów, Świętochłowice, Ruda Śląska, Zabrze und Gliwice verbindet.
Doch zu Zeiten des kleinen Horst lebten dort jene, denen die Wohnungen zugeteilt wurden, so wie sein polnischer Großvater mütterlicherseits Paweł Godny. Dessen Name wurde von einem minderbemittelten Beamten als »Głodny« verzeichnet, und so trug der Großvater Zeit seines Lebens in seinen Dokumenten einen anderen Namen als den, mit dem er unterschrieb. Es gibt auch einen wesentlichen Bedeutungsunterschied: Godny bedeutet würdig, Głodny hingegen hungrig.
Die Wohnung, die jeden Monat zwölf Reichsmark kostete, bekam Paweł Godny als Zuteilung, denn er war Invalide. Er hatte acht Schulklassen abgeschlossen, dann ging er unter Tage.
»Sein Leben lang war er unter der Erde, angefangen mit zwölf Jahren in Bendzin, wo er geboren war. Nur an den Sonntagen sah er die Sonne. Er besaß nicht einmal ein Fahrrad, mit dem er hätte zur Grube fahren können. Zu Fuß hin, dann hinunter in die Erde. Unter Tage als Häuer, immer wieder bei Sprengungen verschüttet, die Beine immer wieder gebrochen, den Brustkorb flachgedrückt. Und Augen wie Gottes Sohn, und nach jedem Unglück, das er überlebte, wurde er heiliger und fröhlicher.«
Als ihm einmal beide Beine verschüttet wurden, musste er operiert werden. Und da er alles fürchtete, was er nicht kannte, damit auch Gott, Teufel und die Narkose, schüttete er vor der Operation einen Liter Schnaps in sich hinein. Was dann passierte, ist nicht überliefert, doch der unselige Paweł konnte nicht mehr in die Grube zurückkehren und verdingte sich als Straßenfeger.
Am Ciupkaweg wohnte er mit seiner Frau Maria, die auf dem Markt Gemüse verkaufte und für die Händlerinnen Gänse und Hühner schlachtete. Janoschs Großmutter brachte drei Töchter zur Welt: Hildegard (Hidelka genannt), Maria (Mikla) und Elżbieta (Elsele) sowie namenlose Zwillinge, die kurz nach der Geburt starben. »Wer weiß, für was das gut war«, pflegte die Großmutter zu sagen.
Ihre Wohnung hatte zwei Räume: ein Schlafzimmer, in dem es nach Machorka-Tabak roch, und eine Küche, die nach Zwiebeln, Kohl und Ichthyol-Salbe stank. Mit dieser schwarzen, teerartigen Mixtur wurden damals Geschwüre und Eiterbeulen behandelt, die durch Unterernährung und Armut entstanden.
Der kleine Horst bekam einen solchen Furunkel kurz nach der Geburt. Die Entzündung tauchte am Kinn auf. Sie wurde mit Lappen verbunden, die zuvor als Putzlappen gedient hatten. Der Junge wurde dermaßen mit Ichthyol eingeschmiert, dass die ganze Stube noch lange nach Teer roch. Die geschwärzten Mullbinden hat man ihm um den Kopf und den Hals gebunden. Sie rochen nach Urin und nach Teer und blieben noch lange als Verbandsstoff in Gebrauch. Die Narbe sollte er Zeit seines Lebens behalten.
Abb. 5 – Janoschs Mutter Hildegard als Kleinkind zusammen mit ihren Eltern Paweł und Maria Godny – Janoschs Großeltern.
In den Grubenhäusern gab es weder fließend Wasser noch ein richtiges Bad. Um seine Notdurft zu verrichten, ging man aufs Feld, und die Abwässer gelangten in den Fluss Scharnafka. Zum Baden benutzte man Blechwannen; am Wochenende wuschen sich die Frauen darin, zwar nicht besonders gründlich, denn sie konnten es nur im Hocken tun, doch immerhin. Hin und wieder entstand in der Wanne ein Loch. Dann kamen die Zigeuner, flickten es mit einem Stück Blech, löteten es zu und fertig – die Wanne war wieder wie neu.
Hildegard Eckerts Sohn wurde in einem Blecheimer geboren, weil die Wanne gerade in Reparatur war.
In manchen Wohnungen drängten sich ein Dutzend Personen auf etwa zwanzig Quadratmetern – in einem Gebäude lebten insgesamt zwölf Mietparteien. Die Tür zum Hausflur war stets offen, und so wusste man immer, was sich beim Nachbarn so tat. Die Bewohner der Grubenhäuser liebten und hassten sich. Die Kinder wurden oft im Treppenhaus oder in der Kohlenkammer gezeugt, denn in den Wohnungen war kein Platz für ein ruhiges Stelldichein. Und wenn ein Mädchen schwanger wurde, wurden die jungen Leute von den Eltern verheiratet.
»Die Leute in so einem ›familok‹ (Grubenhaus) hassten sich gegenseitig. Es gab eine strenge Hierarchie. Meine Großmutter verachtete jene, die um Kartoffelschalen betteln mussten, um daraus Suppe zu kochen. Das waren die ganz unten, man grüßte sie kaum.
Die Schalen wurden gewaschen, in Wasser gekocht, mit Salz gewürzt, und hatte man ein wenig Schweinefett, genügte ein Löffel voll, und die Suppe war ein Festessen. Ganz oben in der Hierarchie stand, wer Fleisch hatte. Und das hatten wir mit den Abfällen vom Geflügel. Wir standen also ganz oben in der Hierarchie. Meine Großmutter öffnete Türen und Fenster, um durch den Geruch unseren Stand kundzutun«, erinnert sich Janosch.
Die Großmutter war somit die wichtigste Person im ganzen Grubenhaus. Damit es auch alle wussten, öffnete sie beim Mittagessen weit die Fenster, um mit dem Geruch nach Hühnerklein die Position ihrer Familie zu unterstreichen. Und obwohl die ganze Straße ohnehin gleich stank, nach Kohlestaub und gekochtem Kohl, konnten sich die jeweiligen Kasten an Gerüchen erkennen.
»Der Geruch gehört zu einer Familie wie das Nationallied zu einem Volke«11, wird später Frau Schwientek im »Cholonek« sagen, die Janoschs Großmutter nachempfunden ist. Das Nationalaroma in ihrem Zuhause roch nach Hühnerresten, Kohl, Ichthyol und Machorka.
Die einzige Ausnahme war der Waschtag, wenn der Geruch nach Seifenlauge durch die Straße zog und der Dampf in den Himmel. Wie im Roman »Cholonek« beschrieben:
»Wenn gewaschen wurde, wuschen alle. Sauberkeit steckt an. Keiner schloss sich aus. Und wer sich ausschloss, von dem wusste man gleich, was er für ein Mensch war.«12
Janosch erinnert sich, dass seine Großmutter, die nach »Kernseife, Teig und Frau« roch, eine starke, fleißige Hausfrau war, der General in der Familie. Flöhe und Wanzen tötete sie von Hand, mit den Fingernägeln, im Bruchteil eines Augenblicks.
Maria Godny arbeitete auf dem Markt, der sich gegenüber von der Grube befand, wo sie fachmännisch Hühner, Enten, Puten und Gänse schlachtete. Sie schaffte zweihundert Stück am Tag, vor allem kurz vor Weihnachten, wenn besonderer Bedarf nach Geflügel war. Außerdem pflegte sie einen alten, mehrmals gelöteten Blecheimer bei sich zu tragen, aus dem sie Gemüse und Blumen aus ihrem winzigen Garten zum Verkauf anbot. Das verdiente Geld band sie sich mit einem Strick an die dicke Unterhose, damit der Großvater es nicht fand, wenn er wieder einmal in die Wirtschaft ging.
Sie stand jeden Morgen um fünf auf, aß etwas Brot und trank Kaffee aus Gerstenkörnern und ging dann zur Arbeit. Wenn sie die Wodkaflasche ihres Mannes fand, nahm sie zum Frühstück einen Schluck Schnaps.
Andere Händlerinnen waren im Schlachten des Geflügels nicht so bewandert: Sie setzten das Messer falsch ein, und das Blut spritzte herum. Maria verdiente sich etwas dazu, indem sie die Frauen bei dieser unseligen Arbeit vertrat. Sie packte das Opfer, platzierte es sich zwischen den Knien, damit es gut fixiert war, und beendete mit einem gekonnten Schnitt sein Leben. So eine Gans oder Pute ohne Kopf rannte dann wie verrückt davon, schneller noch als zu Lebzeiten.
Die Großmutter fing stets das Blut des Vogels auf und vermischte es mit trockenen Brötchen, die sie beim Bäcker bekam. So stellte sie »żymlok« her, eine Art Blutwurst aus Geflügel. Manchmal gelang es ihr, vom Fleischer ein bisschen Schweineblut zu bekommen oder gar etwas Pfeffer zu besorgen (nicht zu oft, denn Pfeffer war teuer). Mit Schweineblut und Pfeffer war »żymlok« noch leckerer.
Abb. 6 – Janoschs Großeltern zur Weihnachtszeit.
Freitags aß man Hering mit Sahne und Kartoffeln, denn Freitag war traditionell Fischtag. An den restlichen Tagen kam das auf den Tisch, was man auf dem Markt ergattern konnte: manchmal Graupen mit Kohl, manchmal Brot mit Schmalz.
Sonntags kochte Maria eine Suppe mit Gänseleber. Dem erstgeborenen Enkel Horst servierte sie diese auf einem besonderen Teller, mit Goldrand – damit er ein goldenes Leben hatte, wie sie zu sagen pflegte.13
Der zweite Enkel Waldemar – der Sohn von Mikla Godny und dem Nachbarn aus demselben Stockwerk, Georg Janoschka – genoss keine solchen Privilegien. Nur der Erstgeborene war Omas Liebling. Waldemar aß also seine Suppe vom normalen Teller, sei es drum.
In jener Zeit war es wichtig, dass man überhaupt etwas zu essen bekam.
In der Schlafstube roch es immerzu nach Machorka. Für Großvater Paweł war das wie die Luft zum Atmen. Wie der alte Schwientek im »Cholonek« stand er üblicherweise schon um vier Uhr auf, wenn es noch finster war, zog sich eine dunkle Hose, Wollsocken, hohe geschnürte Schuhe und einmal die Woche ein frisches Hemd an.
Er setzte sich auf einen Stuhl, kochte sich einen Lindenblüten- oder Königskerzentee, oder einfach einen Tee von Apfelschalen, aß ein Stück Brot mit Zwiebeln und Salz und etwas Schweinefett, und dann steckte er sich seine Machorka-Pfeife an. Diese ging bis zum Abend nicht mehr aus. Manchmal, wenn er im Bett damit einschlief, brannte seine Decke aus Gänsefedern – dann platzte die wütende Maria ins Zimmer, begoss ihren Mann mit einem Eimer kalten Wassers und warf ihn hinaus. Zur Strafe musste er auf einem Stuhl in der Küche nächtigen.
Die beiden redeten miteinander Polnisch, wenn sie denn überhaupt miteinander sprachen. Meistens fluchte sie nur, und er rauchte Machorka und sagte nichts, außer einem gemurmelten »Geh doch weg, alte Moteka« (verdammtes Weib).
Für den Enkel, den er Chottek nannte, hatte er immer Zeit und Geduld. Paweł erlaubte ihm, stundenlang auf seinem Schoss zu sitzen, und empörte sich nicht einmal, wenn der Kleine ihm die einzige Hose vollpinkelte. Immer mal ließ er den Jungen an der Pfeife ziehen. Dem Kleinen gefiel der Machorka so gut, dass er manchmal zu begeistert daran zog und schon mal in der Notaufnahme landete.
»Der Machorka-Mief und seine verpinkelten Hosen waren mein seliger ›Muttergeruch‹. Meine Mutter sah ich in dieser Zeit eher selten, ich weiß nicht, wo sie war. Bis zum heutigen Tag bin ich davon überzeugt, dass ich in den drei ersten Jahren nicht auf dieser Erde, sondern in einer Art Himmel schwebte. Ich ging nicht, sondern flog wie ein Engel und schleifte mit den Füßen über den Boden. Das war meine Trance und ein Seligkeitsgefühl, von dem ich später immer wieder träumte. Und ich war mir nicht sicher, dass es so wirklich und real war. Trance im Machorka-Rausch«,14 wird Janosch später erzählen.
Der Großvater Paweł konnte ohne Machorka und Schnaps nicht leben. Er war ein Verzweiflungstrinker, was womöglich auf einen Schock zurückzuführen war, den er im Ersten Weltkrieg erfahren hatte. Seine Kameraden hatten ihn zum Spaß in einen Teich geworfen, doch da er nicht schwimmen konnte, wurde er panisch und wäre beinahe ertrunken. Diese entsetzliche Angst sollte ihn Zeit seines Lebens begleiten, und er konnte sie nicht in Schach halten. Um irgendwie damit klarzukommen, begann er zu trinken, jeden Tag.
»Alle vier Wochen trank er so viel, dass er regungslos liegenblieb. Man fuhr ihn dann mit einem Handwagen nach Hause, und meine Großmutter prügelte auf ihn ein. Das waren die einzigen Male, wo ich ihn lachen sah. Er lachte sonst nie. Der Alkohol öffnete ihm die Tür in eine andere Dimension. Auf jeden Fall in ein besseres Leben, denn Schlimmeres als das irdische Dasein gab es für ihn wohl nicht.«
Der Wodka, sein Manna vom Himmel und sein einziger Trost, war für Paweł Godny wertvoller als Nahrung.
Beim Straßenfegen verdiente er 80 Reichsmark die Woche. Jeden Freitag, am Zahltag, wartete seine Frau auf ihn und nahm ihm das Geld ab. Für den Schnaps teilte sie ihm immer vier Mark zu. Oft kam er dann nicht nach Hause, versoff alles, was er hatte, und die Frau musste ihn bei Kapitza in der Kneipe abholen. Manchmal wurde er von seinen Kumpanen nach Hause gebracht, und dann wartete Chotteks Großmutter am Anfang des Ciupkawegs mit einer Decke, um den Ehemann schnell damit zu verhüllen. Sie wollte nicht, dass die Leute ihn sahen – und dennoch wusste jeder in der Gegend, dass der alte Godny wieder seinen Lohn versoffen hatte. Wenn er betrunken war, sang er nämlich immer dieselbe Melodie: »Alle Vögel sind schon da, alle Vöööögel, aaaaalleeeee!«
Wenn die Nachbarn Maria ärgern wollten, summten sie manchmal das Lied, damit sie wusste, welche Schande ihr Mann ihr brachte – und dann wurde sie noch wütender als sonst.
Paweł war nur dann fröhlich, wenn er berauscht war. In den Alkohol flüchtete er sich nicht nur vor der Welt und seiner eigenen Angst, sondern auch vor den Fäusten seiner Frau, die ihn immerzu schlug. Die kräftige, reizbare Maria, die jeden Tag erbarmungslos dem Geflügel die Hälse durchschnitt, prügelte ihren schmächtigen Mann oft bewusstlos.
Nach Jahren vermutete Janosch gar, dass seine Mutter Hildegard, vor der Hochzeit gezeugt, das Ergebnis einer Vergewaltigung sein könnte – einer Vergewaltigung Pawełs durch Maria.
Prügel drohten dem Großvater immer dann, wenn er betrunken nach Hause kam. Doch dann schonte Maria ihre Fäuste, denn in diesem Zustand verspürte Paweł keinen Schmerz. Wenn er ihre Besitztümer versoff, sogar die Eheringe und einen schwarzen kunstseidenen Unterrock (den sie nur zu feierlichen Gelegenheiten anzog), versuchte sie stets, ihn mit den bloßen Händen umzubringen. Dann flüchtete Paweł durch ein Loch im Zaun, mit dem letzten bisschen Kleingeld in der Hosentasche. Doch bevor er alles in Schnaps umgesetzt hatte, kaufte er seinem Enkel für fünf Pfennig eine Tüte Nussbonbons.
Wenn der Großvater Godny kein Geld mehr für den Wodka hatte, trank er Spiritus, den er mit etwas Wasser und Himbeersaft streckte. Er schlich sich dann in die Wohnung, noch bevor seine Frau vom Markt nach Hause kam, und bereitete sich, wie er sagte, einen kleinen »himmlischen Wodka« zu. Wenn das Glas leer war, blieb er eine Nacht und einen Tag liegen, berauscht und selig, und ging dann wieder zur Arbeit.
Manchmal ging er mit seinem Enkel spazieren. Dann setzte er ihn in einen Handwagen oder in seinen Kinderwagen aus Wachstuch und ging langsam durch den Ort, bis zu einer Bank vor dem Bahnhof. Dort saß schon Urgroßvater Jacob, der zweite Mann von Horsts Urgroßmutter mütterlicherseits, mit seiner Machorka-Pfeife. Dann saßen sie zusammen, rauchten schweigend, es ging über Stunden. Manchmal blickten sie über die Grenze nach Polen. Und da sagte der Urgroßvater Jacob Piecha:
»Schweine, August, alles Schweine.«
Warum Paweł manchmal August genannt wurde, weiß Janosch nicht, doch er vermutet, dass es von dem Zirkusclown, dem Dummen August, kommen könnte.
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