Wer nicht das Dunkel kennt - Sabine Klewe - E-Book

Wer nicht das Dunkel kennt E-Book

Sabine Klewe

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Beschreibung

Kriminalhauptkommissarin Lydia Louis steht unter Schock: Das Unfallopfer, das sie befragen soll, ist der Rechtsanwalt Gregor Kepler – ein Mann, den sie aus der Vergangenheit kennt und dessen Gesicht sie in ihren schlimmsten Albträumen heimsucht ... Unauffällig gibt Lydia den Fall an einen jungen Kollegen ab. Kurz darauf werden sie und ihr Partner Chris Salomon an einen Tatort gerufen: In einem Teich wurde die entstellte Leiche einer Frau gefunden. Ihre Handtasche samt Handy liegt am Ufer. Ihr Name: Silvia Kastinzky. Ihr letzter Anrufer: Gregor Kepler. Diesmal muss Lydia den Fall übernehmen – und riskiert damit nicht nur ihren Job, sondern auch ihr Leben ...

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Buch

Die Kriminalhauptkommissarin Lydia Louis steht unter Schock: Das Unfallopfer, das sie befragen soll, ist der Rechtsanwalt Gregor Kepler – ein Mann, den sie aus der Vergangenheit kennt und dessen Gesicht sie in ihren schlimmsten Albträumen heimsucht … Unauffällig gibt Lydia den Fall an einen jungen Kollegen ab. Wenige Tage später werden sie und ihr Partner Christopher Salomon an einen Tatort gerufen: Im Schwanenspiegel, einem kleinen Teich in der Düsseldorfer Innenstadt, wurde die schwer misshandelte Leiche einer Frau gefunden. Ihr Gesicht ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ihre Handtasche samt Handy liegt am Ufer. Ihr Name: Silvia Kastinzky. Ihr letzter Anrufer: Gregor Kepler. Diesmal muss Lydia den Fall übernehmen – und riskiert damit nicht nur ihren Job, sondern auch ihr Leben …

Mehr Informationen zu Sabine Klewe und ihren Romanen

finden Sie am Ende des Buches.

SABINE KLEWE

Wer nicht

das Dunkel kennt

Thriller

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

1. Auflage

Originalausgabe September 2016

Copyright © 2015 by Sabine Klewe

Copyright © dieser Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagbild: Arcangel/Steve Allsopp

Redaktion: Friederike Arnold

LT · Herstellung: Str.

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-18955-6V001

www.goldmann-verlag.de

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Wahrlich, keiner ist weise,

der nicht das Dunkel kennt.

Hermann Hesse

Dienstag, 5. Juli

07:36 Uhr

Manchen Tagen merkt man schon frühmorgens an, dass sie es auf einen abgesehen haben. Als wäre ein Knistern in der Atmosphäre oder ein fernes Grollen, das ein Gewitter ankündigt.

Lydia spürte es, als sie nach dem Schlüssel griff und aus der Wohnung trat. In ihrem Nacken kribbelte es. Sie fuhr herum, aber da war niemand. Natürlich nicht, was für ein Blödsinn! Sie zog die Tür zu und stopfte den Schlüssel in die Tasche, ohne abzuschließen. Bei dem alten Schloss brachte es ohnehin nichts. Vielleicht sollte sie es endlich mal austauschen lassen. Sie streifte den Parka über, nicht, weil ihr kalt war, sondern damit man das Schulterholster nicht sah. Sie könnte die Dienstwaffe auch über Nacht in ihrem Schließfach im Präsidium deponieren, aber mit der Walther P 99 im Nachttisch schlief sie besser.

Draußen war es noch kühl. Ein Radfahrer raste so dicht an ihr vorbei, dass seine flatternde Jacke ihr gegen den Arm schlug. Erschrocken sprang sie zurück. Idiot! Sie widerstand der Versuchung, dem Kerl hinterherzusprinten. Manchmal verhalf einem der Dienstausweis zu einem kurzen Augenblick des Triumphs. Aber sie hätte das Rennen ohnehin verloren.

Nach wenigen Schritten blieb Lydia abrupt stehen. Ein schwarzer Spießer-BMW hatte sie zugeparkt. War die Welt denn heute voller Hornochsen? Obwohl es nur wenige Minuten von der Bilker Allee zum Präsidium waren, nahm sie immer den Wagen. Sie hing an ihrem alten Toyota. Wenn es irgendwie ging, fuhr sie ihn auch im Dienst.

»Hey, du hässliche Pissfotze, glotz nich’ so!«

Lydia fuhr herum. Doch sie war nicht gemeint. Vier Jungen, nicht älter als zwölf, hatten ein etwa achtjähriges Mädchen zwischen sich genommen.

»Ich hab nicht geguckt!«, verteidigte sich das Mädchen. Sie hatte lange dunkelbraune Zöpfe und trug einen pinkfarbenen Schulranzen auf dem Rücken.

»Kannste ja auch gar nicht, du hirnamputierte Schmeißfliege!« Ein Junge, ein blasses Mondgesicht mit Stoppelfrisur, riss dem Mädchen die Brille von der Nase und schwenkte sie in der Luft. »Weil du nämlich ohne das Glotzgestell blind bist!«

Die anderen lachten und grölten. Einer von ihnen, ein dürrer Wicht, dem die viel zu weite Hose beinahe in den Kniekehlen hing, schloss die Augen und tastete herum, als könne er nichts sehen. »Hilfe, Hilfe, wo bin ich?«, näselte er.

»Gib sie mir wieder!« Dem Mädchen standen die Tränen in den Augen.

»Hol sie dir doch!« Die Jungen warfen sich die Brille gegenseitig zu.

Das Mädchen reckte die Arme in die Luft. Aber sie hatte keine Chance, ihre Peiniger waren fast doppelt so groß.

In der Ferne ertönte ein schrilles Klingeln.

»Meine Bahn!«, rief die Kleine. »Ich muss die Bahn kriegen!«

»Lauf doch, du dämliche Fickmilbe.« Das Mondgesicht schubste sie in Richtung Straße.

Schlabberhose streckte das Bein aus, sodass sie darüber stolperte und auf die Bordsteinkante fiel. Sie begann zu weinen.

Lydia hatte genug gesehen. Sie baute sich vor den Jungen auf. »Das reicht, ihr kleinen Pisser. Ihr habt euren Spaß gehabt. Jetzt ist Schluss. Ab in die Schule!«

»Du hast uns gar nichts zu sagen, du hässliche alte Oma.«

»Ich warne euch nur einmal.«

»Und was dann? Besorgst du es uns?« Mondgesicht machte eine eindeutige Handbewegung.

Lydia packte seinen Arm und drehte ihn auf den Rücken. So, dass es wehtat.

»Au! Das dürfen Sie nicht!«

»Ich darf das. Ich bin nämlich von der Polizei.« Lydia fingerte ihren Dienstausweis aus der Parkatasche und hielt ihn den drei anderen Jungen hin. »Ihr verschwindet auf der Stelle. Sonst nehme ich euch mit aufs Präsidium. Und dann gibt’s richtig Ärger. Also haut lieber ab. Beim nächsten Mal kommt ihr nicht so glimpflich davon, das verspreche ich euch. Wenn ich euch je wiedersehe, seid ihr dran. Verstanden?«

Mondgesicht wimmerte. Die drei anderen glotzten sie mit großen Augen an.

»Verstanden?«, wiederholte Lydia und drehte den Arm ein Stück weiter nach oben.

»Verstanden«, keuchte das Mondgesicht.

»Meine Brille!«, wimmerte das Mädchen. Es hockte noch immer auf der Bordsteinkante.

Die Straßenbahn ratterte vorbei.

Schlabberhose reichte dem Mädchen wortlos die Brille.

Sie griff danach, und die Jungen stürmten davon.

»Danke«, murmelte das Mädchen, setzte die Brille auf und rannte zur Haltestelle, wo die Straßenbahn gerade zum Stehen gekommen war.

Als Lydia sich abwandte, war ihr Toyota nicht mehr zugeparkt. Sie stopfte den Ausweis zurück in die Tasche und holte den Schlüssel hervor. Bevor sie den Wagen aufschloss, drehte sie sich noch einmal um. Das Mädchen stand am hinteren Fenster der Straßenbahn und blickte in ihre Richtung.

Der Schatten einer Erinnerung streifte Lydia mit seinen kalten schwarzen Flügeln. Schnell schaute sie weg.

13:26 Uhr

Er stand wieder dort und konnte sich nicht rühren. Klaus Halverstett sah zu, wie die Menschen aus dem Foyer des Schauspielhauses über die Treppen nach oben strömten, doch er selbst stand wie festgewachsen an seinem Platz. Mitten in der Menge bewegte sich eine schlanke Gestalt die Stufen hinauf. Veronika. Jetzt wandte sie sich um, sah ihn an.

Dieser Blick! Obwohl er darauf gefasst gewesen war, obwohl er ihn schon unzählige Male gesehen hatte, zuckte er auch diesmal wieder zusammen. In Veronikas Augen erkannte er Enttäuschung. Missbilligung. Kälte.

Er schluckte hart und umfasste das Prosecco-Glas fester.

In diesem Augenblick trat der fremde Mann an ihre Seite. Richard Weidenrath. Der Kunstliebhaber. Das Arschloch.

Halverstett wollte ihm das Glas an den Kopf schleudern, doch sein Arm war eingefroren. Hilflos beobachtete er, wie seine Frau an Weidenraths Seite aus seinem Blickfeld verschwand. Da endlich löste sich die Erstarrung. Das Glas fiel zu Boden und zersprang. Der Krach war ohrenbetäubend.

Schweißgebadet schreckte Halverstett hoch. Sein Puls raste. Verdammter Albtraum! Der Nachhall des Klirrens sirrte noch in seinen Ohren. Viel zu laut für ein Prosecco-Glas. Und viel zu real. Im gleichen Moment registrierte er, dass jemand schrie. Draußen vor dem Haus.

Halverstett rappelte sich vom Sofa auf und stürzte zum Fenster. Fast genau unter ihm lag ein Mann mit gekrümmtem Körper auf der Straße. Gegenüber stand ein Mädchen auf dem Bürgersteig und kreischte, die Hände auf die Ohren gepresst. Der Schatten eines dunklen Wagens verschwand um die Ecke.

Halverstett war sofort hellwach. Er schnappte sein Handy und stieg in seine Schuhe. Mit einem kurzen Blick in den Spiegel im Flur versicherte er sich, dass er halbwegs angezogen war. Jogginghose und T-Shirt. Das musste genügen. Während er das Treppenhaus hinunterstürmte, rief er zuerst den Notarzt und dann die Kollegen an.

Als er nach draußen trat, hatten sich bereits einige Schaulustige an der Unfallstelle versammelt. Halverstett beschleunigte seine Schritte. Sein Polizistenhirn speicherte automatisch jeden ab; den Anzugträger, der verstohlen Fotos mit dem Smartphone machte; die zwei jungen Männer mit Schlabberjeans und Gelfrisur, die sich über das Unfallopfer beugten und versuchten, Erste Hilfe zu leisten; die ältere Dame, die sich um das Mädchen kümmerte, das jetzt nicht mehr schrie.

Als er die Unfallstelle erreichte, hielt er inne. Von rechts hörte er bereits das Martinshorn. Die Feuerwache auf der Hüttenstraße war nur zwei Querstraßen entfernt. Trotzdem zweifelte er daran, dass der Notarzt rechtzeitig eintreffen würde. Der Mann auf der Fahrbahn bewegte die Lippen, doch statt Worten quoll Blut aus seinem Mund.

15:08 Uhr

Die Sonne ließ jedes Staubkorn klar hervortreten, jeden Kratzer, den Schlamm an den Seitentüren und den Vogeldreck auf dem Dach. Lydia blickte von ihrem alten Toyota zu dem frisch gewaschenen, knallrot glänzenden VW Beetle, aus dem gerade ihr Kollege Chris Salomon stieg. Verspätete Mittagspause mit seiner Freundin Sonja. Ein Dreivierteljahr war es her, dass er seine alte Klassenkameradin im Krankenhaus wiedergetroffen hatte. Und kein Ende in Sicht. Schien was Ernstes zu sein.

Lydia grinste, als Salomon sie entdeckte und erstaunt die Brauen hob. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie ihren Partner auch erst seit vergangenem September kannte. Gerade mal zwei Wochen länger als Sonja. Es fühlte sich anders an. Wie ein halbes Leben.

Der Beetle rauschte davon. Wieder hatte Lydia nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf die Fahrerin erhaschen können. Obwohl Salomon ständig betonte, dass sie Sonja unbedingt kennenlernen müsse, ließ er jede Gelegenheit, seinen Worten Taten folgen zu lassen, ungenutzt verstreichen. Er schien die Begegnung zu fürchten. Nicht ganz ohne Grund.

Er schlenderte auf sie zu. »Hast du mich vermisst?«

»Spar dir dein Filmstarlächeln. Es gibt Arbeit.«

Sie stiegen ein. Lydia lenkte den Toyota vom Parkplatz. »Ein Autounfall, bei dem etwas nicht zu stimmen scheint«, erklärte sie, während sie in den Fürstenwall bog. »Mehr weiß ich nicht.«

Er sah auf die Uhr. »Also wird nichts aus dem pünktlichen Feierabend.«

»Ich kann auch Köster mitnehmen. Oder Ingo Wirtz.«

Salomon antwortete nicht.

Lydia betrachtete ihn von der Seite, während sie auf der Elisabethstraße Gas gab. Sein Paul-Newman-Gesicht hatte einen angespannten Zug um den Mund. Stress mit Sonja? Lydia blickte zurück auf die Straße. Nicht ihre Baustelle.

Fünf Minuten später erreichten sie das Gelände der Universitätsklinik, und Lydia stellte den Wagen im Halteverbot vor dem ZOMII ab. Die riesige Glasfront des neuen Operationszentrums glänzte in der Sonne. Doch der Wind war kühl. Lydia fröstelte. Ihr Parka hing über ihrem Stuhl im Büro. Sie hatte nur ein T-Shirt an, hatte sich von dem stahlblauen Himmel täuschen lassen.

Sie fragten sich zur Intensivstation durch. Ein Kollege in Uniform stand vor der Zimmertür.

»Und?«, fragte Lydia, nachdem sie ihm ihren Ausweis gezeigt hatte.

»Der Kerl hatte offenbar Glück. Nur Knochenbrüche und Schürfwunden. Keine inneren Verletzungen. Dabei sah es erst schlimm aus, weil er aus dem Mund blutete. Er hat sich aber nur auf die Zunge gebissen.«

»Was ist passiert?« Salomon nahm die Hände aus den Taschen der Lederjacke, die er immer trug.

»Er wurde irgendwo in der Nähe des Fürstenplatzes angefahren. Fahrerflucht. Es gibt eine Zeugin, die gesehen haben will, wie der Wagen beschleunigte, bevor er das Opfer erfasste.« Er zog einen Block hervor. »Sibel Yildrim. Ein türkisches Mädchen.«

»Wie alt?«

»Keine Ahnung.«

»Name des Opfers?«

»Gregor Kepler. Anwalt.«

Gregor Kepler. Der Name erwischte Lydia mit der Wucht eines Dreißigtonners.

Gregor Kepler. Scheiße! Sie krümmte sich, keuchte vor Schmerzen, als hätte ihr jemand in den Magen geboxt. Ob es mehr als einen Menschen gab, der mit diesem Namen herumlief? Unwahrscheinlich. Sie richtete sich auf, japste nach Luft und presste die Hände auf den Unterleib.

Die beiden Männer starrten sie an.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Salomon. Er streckte die Hand aus, wohl um sie an der Schulter zu berühren, ließ sie aber wieder sinken.

»Ich muss mir den Magen verdorben haben«, stieß Lydia hervor. »Mir ist schon die ganze Zeit übel.« Das war sie also, die Scheiße, die sie schon seit heute Morgen heranfliegen sah. Verdammt, wenn sie geahnt hätte …

»Willst du dich setzen? Ich kann auch allein mit dem Unfallopfer sprechen.«

Nein. Keinesfalls. Sie war darüber hinweg. Gregor Kepler hatte keine Macht mehr über sie. »Kein Problem. Es geht mir schon besser.«

»Du bist weiß wie ein Laken.«

Lydia fixierte ihn. »Ich gehe mit rein.«

Er hob die Hände. »Meinetwegen.«

Gregor Kepler trug einen Verband um den Kopf. Sein rechter Arm war eingegipst und sein linkes Bein vom Oberschenkel bis zum Knöchel verbunden und in einem Gestell über dem Bett fixiert. Er trug einen Bart, und obwohl das Gesicht von Schürfwunden und Hämatomen entstellt war, hätte Lydia seine blauen Augen überall wiedererkannt.

Er reagierte nicht, als Salomon sie beide vorstellte, doch er musterte sie aufmerksam.

»Fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?« Salomon zog einen Stuhl heran.

Lydia blieb hinter ihm stehen, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr war so kalt wie noch nie in ihrem Leben. Nein. Falsch. Ein einziges Mal war ihr kälter gewesen. Sie schob die Erinnerung beiseite.

»Fragen Sie«, sagte Kepler. Seine Stimme war warm und tief. Anders, als Lydia sie in Erinnerung hatte.

»Können Sie uns sagen, was geschehen ist?«

Keplers Blick schoss zu Lydia, doch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann sah er Salomon an. »Ich wollte die Straße überqueren. Ich war in Eile, habe wohl nicht aufgepasst.«

»Laut Aussage einer Zeugin hat der Wagen absichtlich auf Sie zugehalten.«

Kepler riss die Augen auf. »Unsinn! Der Fahrer hatte keine Chance zu bremsen. Ich bin dem einfach reingelaufen. Echt idiotisch von mir.« Er machte ein zerknirschtes Gesicht.

Lydia krallte sich an Salomons Stuhllehne fest. Sie musste die innere Lähmung abschütteln, etwas sagen, ihren Teil zur Befragung beisteuern. Aber sie traute ihrer Stimme nicht. »Konnten Sie den Fahrer erkennen?«, krächzte sie.

»Das ging alles zu schnell.«

»Und den Wagen? Vielleicht die Farbe?«

»Nichts.« Er schloss die Augen.

Salomon beugte sich vor. »Und Sie sind ganz sicher, dass der Fahrer versucht hat zu bremsen?«

»Absolut. Ich habe das Quietschen noch im Ohr. Ich werde es vermutlich für den Rest meines Lebens hören.« Kepler öffnete die Augen und sah Lydia an. »Es gibt Dinge, die vergisst man nicht.«

Lydia drehte erschrocken den Kopf weg und hasste sich dafür. Scheißkerl! Wie durch eine unsichtbare Wand hörte sie, wie Salomon sich bedankte und verabschiedete. Unsicher wankte sie hinter ihm nach draußen. Als sie vor dem Gebäude standen, legte er ihr wortlos seine Jacke über die Schultern. Eine Weile standen sie so in der Sonne.

»Was hältst du von der Sache?«, fragte Salomon schließlich.

»Unfall mit Fahrerflucht, kein Zweifel. Nichts für uns. Ingo Wirtz soll das gemeinsam mit dem Verkehrsdezernat regeln. Vermutlich hat der Fahrer einen Schock erlitten und ist abgehauen. Bestimmt bereut er es längst. Kommt vor.«

»Und die Zeugin?«

»Ein kleines Mädchen mit zu viel Fantasie.«

Salomon antwortete nicht.

»Lass uns abhauen.« Lydia warf einen Blick auf das Krankenhaus und fuhr sich über die Arme. Sie hatte eine Gänsehaut.

»Du solltest nach Hause fahren und dich ins Bett legen.«

»Ich brauche keine Krankenschwester.«

»Dein Glück. Ich bin nämlich keine.«

16:48 Uhr

Chris Salomon blickte an der Fassade hoch. Wuchtige graue Steinquader. Eher eine Festung als eine Schule. Er schritt durch das Tor und erreichte einen überraschend großen, sonnigen Hof. Der Trakt der Nachmittagsbetreuung war am Lärm auszumachen. Er zog die Tür auf. Im Inneren des Gebäudes roch es nach Bohnerwachs, Turnschuhen und Angst. Genau wie zu seiner eigenen Schulzeit. Chris schüttelte sich. In einer Gruppe Mädchen, die alle gleichzeitig redeten, entdeckte er eine junge Frau und marschierte auf sie zu.

»Sie wollen jemanden abholen?«, fragte die Frau und löste sich aus der Gruppe.

Chris schluckte. In einem anderen Leben. »Ich suche Sibel Yildrim.« Er hielt ihr seinen Dienstausweis hin. »Christopher Salomon. Kriminalpolizei.«

»Ach, du meine Güte. Dann stimmt es also?«

»Was stimmt?«

»Sibel hat behauptet, dass sie heute Mittag Zeugin eines Mordversuchs wurde. Wir haben ihr nicht geglaubt. Sibel erzählt immer sehr verrückte Geschichten, wissen Sie? Wir konnten ja nicht ahnen …«

Chris hatte nicht vor, der Frau ihre unausgesprochenen Fragen zu beantworten. »Könnte ich kurz mit Sibel sprechen?«

Jetzt kam es drauf an. Eigentlich müsste ein Erziehungsberechtigter dabei sein. Eventuell sogar ein Psychologe. Aber er hatte die Sache nicht unnötig aufbauschen wollen. Zumal er ohne Lydias Wissen hier war. Sie hatte alles offiziell ans Verkehrsdezernat übergeben und ihn nach Hause geschickt. Aber er konnte nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, ohne wenigstens mit der Zeugin gesprochen und sich selbst ein Bild gemacht zu haben.

»Kommen Sie.« Die Betreuerin schien keine Bedenken zu haben. »Ich glaube, sie ist noch da.« Sie sah auf die Uhr. »Sie geht immer um fünf.«

Chris folgte ihr. In dem Raum saßen drei Mädchen an einem Tisch und spielten mit ihren Smartphones herum. Sie waren höchstens acht, doch ihre Finger flogen über den Touchscreen, als würden sie den ganzen Tag nichts anderes tun. Zwei Jungen packten gerade ihre Taschen und bewarfen sich dabei mit dem Inhalt eines Turnbeutels, den sie offenbar einem dritten Jungen entwendet hatten. Die Betreuerin ignorierte ihr Gejohle und ging auf ein dünnes Mädchen mit langen dunklen Zöpfen und Brille zu, das allein an einem Tisch saß und etwas in ein Heft schrieb. Sie war vollkommen vertieft in ihre Arbeit. Die Betreuerin räusperte sich. »Sibel? Dieser Mann ist von der Polizei und möchte mit dir sprechen.«

Sibel blickte auf. Sie wirkte nicht überrascht. »Na endlich.«

Er setzte sich zu ihr. »Ich bin Chris.«

Sibel betrachtete ihn interessiert durch die Brillengläser. Sein Herz schlug schneller, aber nicht wegen des Falls.

»Haste einen Ausweis?«, fragte sie schließlich.

Er legte ihn vor sie auf den Tisch.

Aufmerksam las sie den Namen, verglich das Foto und schob ihn dann zurück.

Chris steckte den Ausweis ein und blickte hoch zu der Betreuerin, die den Wink verstand und sie allein ließ.

»Wie alt bist du, Sibel?«, fragte er, als die Frau außer Hörweite war.

»Acht. Aber im August werde ich neun.«

Sein Herz stolperte. Genauso alt wie Anna. Sie wäre in zwei Wochen neun geworden.

»Du warst heute Mittag allein unterwegs?«, fragte er mit belegter Stimme.

»Ich musste zum Arzt. Zahnspange.« Sie tippte auf ihre Schneidezähne, die mit einem silbernen Draht versehen waren.

»Und niemand hat dich begleitet?«

»Ich gehe immer allein. Der guckt ja nur nach.«

»Und danach bist du in die Schule zurückgekehrt?«

Sie nickte.

»Erzähl mir von dem Unfall.«

»Der Mann ist über die Straße gegangen. Aber falsch.« Sibel schob ihre Brille hoch.

»Falsch? Du meinst, nicht an einer Ampel?«

»Nein. So schräg.« Sie legte den Unterarm diagonal auf den Tisch, um zu demonstrieren, was sie meinte.

»Verstehe. Und dann kam das Auto.«

»Ein Golf. Aber ein alter.«

»Du kennst dich gut mit Autos aus.«

»Einen Golf kennt doch jeder.« Sie verzog das Gesicht.

Er musste lächeln. »Aber nicht jeder schaut so aufmerksam hin. Was hat der Golf gemacht?«

»Er kam ganz schnell angefahren, und als der Mann mitten auf der Straße war, wurde er noch schneller.«

»Bist du da sicher?«

Sie verschränkte die Arme. »Ich bin doch nicht blöd.«

»Der Fahrer hat nicht versucht zu bremsen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Und dann ist der Mann durch die Luft geflogen und …« Sie verstummte abrupt.

»Das war bestimmt ein schrecklicher Anblick.«

Sie biss sich auf die Lippe.

»Konntest du den Fahrer erkennen?«

Wieder ein Kopfschütteln.

Er sollte abbrechen. Das Mädchen war traumatisiert. Sie brauchte psychologische Betreuung, keinen Polizisten, der sie zwang, alles noch einmal zu durchleben.

»Eins, zwei, drei«, sagte Sibel kaum hörbar.

»Wie bitte?«

»Die Zahlen auf dem Schild.«

»Du hast dir das Kennzeichen gemerkt? Hast du das den Kollegen an der Unfallstelle gesagt?« Wieder schlug sein Herz schneller, doch diesmal war es der Jagdinstinkt.

»Der Mann hat gesagt, dass er sich das aufschreibt. Aber er hat gar nichts geschrieben. Und dann hat die Frau mich in die Schule gebracht.«

Chris stieß Luft aus. Die Kollegen hatten das Mädchen nicht ernst genommen. »Eins, zwei, drei? Das waren die Ziffern?«

»Aber irgendwie verdreht.«

»Verdreht? In einer anderen Reihenfolge?«

Sie nickte.

Okay. Drei Ziffern in beliebiger Reihenfolge. Das half nicht viel. Vielleicht hatten die Kollegen die Lage doch korrekt eingeschätzt. »Sonst noch was?«

»Ist der Mann tot?« Ihre Stimme war kaum zu hören.

Verdammt! Warum hatte er nicht daran gedacht, ihr das sofort zu sagen? Er legte seine Hand auf ihre. Sie war so klein und weich. Seine Brust zog sich zusammen. »Er hat Glück gehabt und nur ein paar gebrochene Knochen. Er wird wieder ganz gesund.«

Sibel strahlte. Ihre Augen leuchteten hinter den Brillengläsern. »Du bist ein netter Polizist.«

Chris zog die Hand weg. Oh, mein Gott! Warum, verdammt, tat es noch immer so weh? Er presste die Hände gegen die Schläfen.

Sibel legte den Kopf schief. »Bist du krank?«

»Nur ein bisschen traurig.«

»Wegen dem Mann?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte eine Tochter«, flüsterte er. »Sie wäre heute so alt wie du. Aber sie ist gestorben.« Er hatte es noch nie ausgesprochen. Anna war verschwunden. Nicht gestorben. Nicht tot.

»Ist sie auch überfahren worden?«

»Nein, sie ist im Meer ertrunken.« Tränen brannten in seinen Augen.

Sibel stand auf und schlang ihre mageren Arme um ihn.

Er schluchzte hemmungslos, und er hörte auch nicht auf, als es in dem Klassenraum plötzlich unwirklich still wurde und sich hinter ihm jemand räusperte.

19:27 Uhr

»Jetzt mach dich doch nicht verrückt.« Maren Lahnstein griff nach dem Weinglas. »Du hast getan, was du konntest. Warum erwartest du von dir selbst mehr als von allen anderen?«

Halverstett mied ihren Blick. Er befürchtete, dass sie ihm ansehen könnte, dass er von Veronika geträumt hatte, als der Unfall ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Er wusste nicht, warum er ständig von diesem Abend im Schauspielhaus träumte. Warum sich von den vielen unangenehmen Momenten seiner Ehe ausgerechnet dieser so tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Nein, falsch, wenn er ehrlich zu sich selbst war, wusste er es. Es war der Moment gewesen, in dem er erkannt hatte, dass Veronika nicht einfach wartete, bis er eine Entscheidung traf. Dass nicht nur er sich von ihr entfernt hatte, sondern sie sich auch von ihm. Die Erkenntnis hatte ihn zutiefst in seiner Männlichkeit verletzt. Und ihm zugleich klargemacht, was für ein arrogantes Arschloch er gewesen war.

Vier Monate später hatte Veronika noch eins draufgesetzt und ihm zwei Koffer gepackt. Er wäre beinahe darüber gestolpert, als er eines Abends von der Arbeit nach Hause kam. »Hast du vor zu verreisen?«

»Die Koffer sind für dich.«

»Du willst, dass ich gehe?«

»Du bist doch schon längst weg.«

»Ich weiß gar nicht …«

»Aber ich weiß es.« Sie hatte freudlos gelacht. »Sag Bescheid, falls etwas fehlt.« Mit diesen Worten war sie im Wohnzimmer verschwunden. Drei Jahrzehnte Ehe, mit einem Lachen weggefegt.

Nicht er hatte sie verlassen. Sie hatte ihn rausgeschmissen. Mit diesem Makel, mit dieser Niederlage würde er für den Rest seines Lebens klarkommen müssen.

Er war in ein Hotel in der Nähe des Präsidiums gezogen und hatte versucht, eine kleine Wohnung zu finden. Ohne Erfolg. Kein Wunder. Er wusste überhaupt nicht, was er wollte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie eine Wohnung, die er ganz für sich allein hatte, aussehen sollte. Oder in welchem Stadtteil er gern leben würde. Er hatte zeit seines Lebens in Gruiten auf dem Land gewohnt. Die Stadt war sein Arbeitsplatz gewesen, nicht sein Zuhause.

Maren hatte seinem Elend schließlich ein Ende gemacht und ihn zu sich geholt. Vorübergehend, wie sie betont hatte. Zu dem Zeitpunkt war er noch immer nicht sicher gewesen, in welche Richtung sich ihre zaghafte Freundschaft bewegte. Und er hatte Angst gehabt vor dem, was Maren von ihm erwartete. Trotz aller Schwierigkeiten war er Veronika immer treu gewesen. Allein die Vorstellung, Maren zu küssen, ihren Körper mit seinen Händen zu erkunden, hatte eine fiebrige Mischung aus Herzflattern und Magenschmerzen ausgelöst. Und er war prompt krank geworden.

»Woran denkst du?« Maren blickte ihn über ihr Weinglas hinweg an.

»An das, was du gesagt hast. Vielleicht bin ich wirklich zu streng mit mir selbst. Aber wenn ich nicht auf dem Sofa eingenickt wäre, hätte ich den Unfallwagen vielleicht noch gesehen.«

»Du bist krank.«

Ein Grund mehr, sich erbärmlich zu fühlen. »Es geht mir schon viel besser. Ich sollte wieder arbeiten gehen.«

»Ich habe gesehen, wie du dich an den Tisch geschleppt hast. Und gegessen hast du auch fast nichts.«

Er sah sie zerknirscht an. »Dabei hast du so wunderbar gekocht.«

Sie winkte ab. »Marsch, zurück ins Bett. Und keine Widerrede, ich bin Ärztin.«

»Rechtsmedizinerin.« Er stand auf. »Deine Patienten sind alle tot. Aber ich bin noch sehr lebendig.«

Sie erhob sich ebenfalls, kam um den Tisch herum zu ihm und umfasste sein Gesicht mit den Händen. »Du bist so ein Sturkopf, Klaus Halverstett.«

Er nahm ihre Hände und hielt sie fest. »Danke, dass du mir trotzdem Asyl gewährst.«

»Ich hoffe, es ist ein bisschen mehr als Asyl.«

Sein Herzschlag setzte aus. »Das hoffe ich auch«, murmelte er.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und berührte mit den Lippen seine Wange. »Du hast keine Ahnung, wie lange ich schon darauf warte.«

Die Berührung elektrisierte ihn. Er taumelte, zugleich hellwach und wie in Trance. »Ich bin noch etwas wackelig auf den Beinen«, wisperte er in ihr Haar.

»Ich halte dich fest.«

23:24 Uhr

Lydia warf die Flasche auf den Beifahrersitz und schüttelte sich. Zum ersten Mal seit Jahren war sie von ihrer eisernen Regel abgewichen und hatte am Kiosk billigen Wodka gekauft. Das Zeug schmeckte genauso ekelhaft, wie sie sich fühlte. Um die Erinnerung an Gregor Kepler wegzuspülen das einzig Richtige. Johnny Walker wäre dafür viel zu schade.

Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Lippen und starrte durch die Windschutzscheibe. Ein Klub im Hafen. Nicht ihr übliches Revier und eigentlich zu nah an ihrer Wohnung. Aber heute war eben alles anders. Hauptsache, es wirkte.

Sie war noch immer jung und blond genug, um am Eingang durchgewunken zu werden. Die Musik hämmerte ätzend und war viel zu laut. Die Kids bewegten sich nicht nur seltsam gleichförmig zu den Rhythmen, sie sahen auch alle gleich aus. Als wären sie geklont. Lydia hatte darauf spekuliert, dass mitten in der Woche wenig los war. Ein Irrtum. Immerhin gab es eine Bar, an der ein paar Männer in ihrem Alter sich die Beine in den Bauch standen und gierig auf die Tanzfläche gafften. Das war schon eher ihre Klientel.

Lydia bestellte einen Gin Tonic und hielt nach einem geeigneten Kandidaten Ausschau. Sie war nie besonders wählerisch, und heute war es ihr fast völlig egal, wen sie abschleppte. Hauptsache, irgendwer hielt das rasende Gedankenkarussell an und tötete alle Gefühle in ihr ab. Und die Erinnerungen.

Ein Typ schlenderte auf sie zu. Cowboystiefel, Vollbart, das Haar klebte am Kopf. Er sah aus wie Javier Bardem nach drei Monaten Guantanamo.

»Na, ganz allein?«

»Jetzt nicht mehr.«

Er grinste siegessicher. »Willste noch ’nen Drink?«

»Ich hatte eher an etwas Handfesteres gedacht.« Sie ließ den Blick unmissverständlich an seinem Oberkörper hinuntergleiten und in seinem Schritt verharren.

»Du kommst wohl gern schnell zur Sache?« Er trat auf sie zu und fuhr mit den Fingern über ihren Hals und ihre Brüste.

Ihr Atem ging schneller. »Das Leben ist zu kurz für lange Vorreden«, presste sie hervor und stellte ihr halb volles Glas auf der Theke ab. »Komm mit!«

Beim Rausgehen fiel Lydias Blick auf einen Mann, der halb hinter einer Säule versteckt in ihre Richtung starrte. Er war im Schummerlicht nicht richtig zu erkennen. Irgendetwas an seinem Grinsen kam ihr bekannt vor, aber sie war zu benebelt, um sich zu erinnern, wo sie es schon einmal gesehen hatte. Und es war ihr auch egal.

Mittwoch, 6. Juli

06:56 Uhr

Lydia zitterte am ganzen Körper. Vor ihr erhob sich das Scheunentor. Gewaltig. Furcht einflößend. Sie starrte das verwitterte Holz an, unfähig, sich zu rühren.

Plötzlich setzte sich das Tor in Bewegung. Wie von Geisterhand gezogen, schwangen die beiden riesigen Flügel auf. Dahinter gähnte absolute Finsternis. Lydia hörte ein Rufen. Sie wusste nicht, ob die Stimme aus der Scheune oder aus ihrem Inneren kam. Sie spürte einen Sog, der sie nach vorne zog, als wolle die Finsternis sie einsaugen. Mit aller Kraft stemmte sie sich dagegen, doch sie schaffte es kaum, sich auf den Beinen zu halten.

Hilfe suchend blickte sie sich um und entdeckte Salomon, der einige Meter hinter ihr stand und die Hand ausstreckte. Sie reckte sich, versuchte, seine Hand zu greifen, doch er war zu weit weg.

Der Sog der Finsternis wurde immer stärker. Panik überrollte Lydia. Sie hatte keine Ahnung, was sie in der Scheune erwartete, doch sie wusste, dass es grauenvoll war.

Ihre Kräfte ließen nach. Langsam bewegte sie sich auf das Scheunentor zu. Die Finsternis riss an ihren Kleidern, zerrte an ihrem Körper. Ein letztes Mal drehte Lydia sich um, doch Salomon war nur noch ein winziger Punkt am Horizont.

In dem Moment, als sie vom Schlund der Finsternis verschluckt wurde, wachte sie auf.

Sie öffnete die Augen. Registrierte erleichtert die vertrauten Gegenstände ihres Schlafzimmers. Den Schrank, die Kommode, die halb offene Tür zum Bad. Ihr Körper war klatschnass, ihre Muskeln verkrampft. Ihr Schädel hämmerte – was wohl eher von dem billigen Wodka als von dem Albtraum herrührte.

Allmählich ließ die Benommenheit nach. Sie stand auf und stellte sich unter die Dusche. Ihre Schulter brannte, als das heiße Wasser daraufprasselte. Sie erinnerte sich dunkel, dass der bärtige Javier sie im Eifer des Gefechts gebissen hatte. Auch das noch!

Zwanzig Minuten später parkte sie den Toyota auf dem Hof des Präsidiums. Winfried Weynrath, ihr Chef, erwartete sie bereits, als sie den Korridor des KK 11 betrat.

»Was war das gestern für eine Scheiße, Louis?« Weynrath war ein Stück kleiner als Lydia. Wütend funkelte er sie von unten an.

»Was für eine Scheiße?« Wollte er ihr etwa Ärger machen, weil sie den Autounfall so schnell ans Verkehrsdezernat zurückgegeben hatte?

»Salomon. Eben hat eine vollkommen hysterische Schulleiterin bei mir angerufen und sich beschwert. Ihr Partner hat die kleine Unfallzeugin befragt und dabei einen Heulkrampf gekriegt.«

»Er hat was?« Lydia presste die Finger gegen die Schläfen, die Tabletten hatten den Kopfschmerz eingedämmt, aber nicht besiegt. Seine hässliche Fratze schien sie triumphierend anzugrinsen.

Weynrath drückte ihr einen Zettel in die Hand. »Das ist ihre Telefonnummer. Sie bringen das in Ordnung. Sofort.« Bevor Lydia etwas erwidern konnte, war der Giftzwerg verschwunden.

Genervt schloss Lydia ihr Büro auf. Salomon war noch nicht da. Natürlich nicht. Er wusste genau, was er angerichtet hatte. Lydia warf ihren Schlüssel auf den Schreibtisch. Warum sollte ausgerechnet sie Salomons Entgleisung ausbügeln? Das konnte er schön selbst erledigen.

Als sie Weynrath zehn Minuten später auf dem Korridor herumzetern hörte, griff sie zähneknirschend zum Hörer. Sie legte gerade wieder auf, als Salomon ins Zimmer kam.

»Schön, dass du dich auch mal blicken lässt«, begrüßte sie ihn.

»Ist was passiert?«

»Das fragst du?«

Er senkte den Blick. »Verdammt.«

»Ich habe gerade mit der Schulleiterin gesprochen und ihr erklärt, dass deine Befragungsmethoden zwar ungewöhnlich sind, aber durchaus vom Gesetz abgedeckt. Du hast angeblich eine spezielle Schulung, das ist für Außenstehende manchmal schwer nachvollziehbar, aber es hat alles seine Richtigkeit.«

»Und diesen Blödsinn hat sie dir abgekauft?«

»Scheint so.«

»Es tut mir wirklich leid.« Er zog seine Jacke aus, blieb aber an der Tür stehen.

»Du musst das in den Griff kriegen, ich kann dir nicht ständig den Rücken decken. Es geht nicht, dass du in jedem Mädchen Anna siehst!«

»Das war es diesmal gar nicht«, erwiderte er. »Es war nur …«

»Was?«

»Sie hat mich gefragt, warum ich so traurig bin, und da ist es passiert.«

»Und wieso hast du die Zeugin befragt, obwohl wir den Fall abgegeben haben?«

Er sah sie nicht an. »Ich hatte das Gefühl, dass du vorschnell entschieden hast. Und ich …«

Lydia war sicher, dass das nur die halbe Erklärung war. Irgendwas schwelte zwischen Sonja und ihm. Und er drückte sich davor, das Problem in Angriff zu nehmen. Unternahm lieber dämliche Alleingänge, als sich mit seiner Freundin auszusprechen. »Verpiss dich.«

»Wie bitte?«

»Verschwinde! Nimm dir den Tag frei, und kläre, was auch immer du zu klären hast. Und morgen bist du wieder voll einsatzbereit.«

Er starrte sie an.

»Du kannst stattdessen auch einen Bericht darüber schreiben, was gestern vorgefallen ist.« Sie deutete auf seinen Schreibtisch. »Nur zu.«

Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. »Okay«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Wie du meinst.«

Nachdem er die Tür hinter sich zugeknallt hatte, versuchte Lydia, sich auf die Aktenberge auf ihrem Schreibtisch zu konzentrieren. Aber es fiel ihr schwer. Immer wieder sah sie Gregor Keplers selbstgefälliges Gesicht vor sich.

Das Scheunentor aus ihrem Albtraum.

Und Salomon, der die Hand nach ihr ausstreckte und doch unerreichbar blieb.

23:52 Uhr

Der Korridor des Hotels war dunkel, nur das Notlicht brannte. Lautlos zog Helmut Kastinzky die Tür hinter sich zu. Der Teppich schluckte seine Schritte. Er nahm die Treppe, weil er aus Erfahrung wusste, wie viel Lärm ein Aufzug in einem stillen Gebäude machte. Die Rezeption war verlassen.