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Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Wenn du nicht weißt, wer du bist – woher sollst du wissen, wem dein Herz gehört? Bewegender New-Adult-Liebesroman um Selbstfindung und queere Liebe Leo ist Lenas erste große Liebe: Sie waren das Traumpaar ihres Abi-Jahrgangs und wohnen seitdem zusammen in ihrem Heimatdorf. Trotzdem ist Lena nicht glücklich. Was ist aus ihren Träumen geworden? Und wer ist sie, ohne Leo? Da taucht nach fünf Jahren Funkstille ihre ehemals beste Freundin Kate wieder auf, zu der sie seit einem Vorfall in der Nacht des Abi-Balls keinen Kontakt mehr hatte. Kate ist mittlerweile ein international erfolgreiches Model und bittet Lena, sie als Fotografin auf eine dreiwöchige Reise zu begleiten. Bald ist Lena hin und hergerissen zwischen diesem ganz anderen, aufregenden Leben und ihrer Angst, nicht gut genug zu sein. Und zwischen Leo und Kate ... Band 1 der romantischen Young-Romance-Dilogie »Wer, wenn nicht« von Alicia Zett Wie es mit der jungen Fotografin Lena weitergeht, erfährst du im zweiten Liebesroman der Reihe: »Wer, wenn nicht du«. Die queeren Romances mit Tiefgang sind perfekt für Leser*innen von Colleen Hoover, Becky Albertalli oder Casey McQuiston. Entdecke auch Alicia Zetts queere New-Adult-Bücher »Not Your Type«, »Maybe Not Tonight« und »No Place For Us«.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 530
Alicia Zett
Roman
Knaur eBooks
Leo ist Lenas erste große Liebe: Sie waren das Traumpaar ihres Abi-Jahrgangs und wohnen seitdem zusammen in ihrem Heimatdorf. Trotzdem ist Lena nicht glücklich. Was ist aus ihren Träumen geworden? Und wer ist sie, ohne Leo? Da taucht nach fünf Jahren Funkstille ihre ehemals beste Freundin Kate wieder auf, zu der sie seit einem Vorfall in der Nacht des Abi-Balls keinen Kontakt mehr hatte. Kate ist mittlerweile ein international erfolgreiches Model und bittet Lena, sie als Fotografin auf eine dreiwöchige Reise zu begleiten. Bald ist Lena hin- und hergerissen zwischen diesem ganz anderen, aufregenden Leben und ihrer Angst, nicht gut genug zu sein. Und zwischen Leo und Kate ...
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Playlist
Prolog
Unter der Haube
Dorfkind
Weitgereist
In den Sonnenaufgang
Zu zweit allein
Das Jahrgangstreffen
Fata Morgana
Pyjamaparty
Alte Bekannte
Freundin in Not
Familienbande
Lahme Veranstaltung
Emo-Tussi und blasse Prinzessin
Mister Golden Retriever
Zu Gast beim Traumpaar
Zeitreise in die Vergangenheit
Mehr als Freundschaft?
Durch die Linse
Ein fancy Cafébesuch
Das rosa Zimmer
Was ist Liebe?
Haut auf Haut
Das Quiz
Die Leiden des jungen Leo
Schnitzeljagd
Ein Abschied auf Zeit
Moin Moin
Der Wunschbrunnen
Große Pläne
Von Ängsten und Chancen
Selmas fünf Fragen
Urlaub zu zweit
Just One Bed
Paris calling
Schokolade, Gemälde und Leichtigkeit
Coming-out
Nightlife
Bonjour, mon amour
Point of no return
Das Haus am Meer
Ihr seid kein Paar?
Das Leben ist schön
Can I have this dance?
Abiball
How to say I love you
Blaulicht in der Nacht
Die Wahrheit kommt ans Licht
Die Lösung der Gleichung
Schlaflos in Portugal
Heimwärts
Ja oder nein?
Die Ruhe vor dem Sturm
Was ist das mit uns?
Epilog – gebrochene Herzen
Disclaimer
Danksagung
Für H, J, J, K, L, M, M, M & S.
Danke fürs Auffangen, Zuhören, Dasein.
Ihr habt mit mir gemeinsam die Achterbahnfahrt dieser Dilogie durchlebt und seid auch in den steilsten Kurven nicht ausgestiegen. Ich bin unendlich dankbar, euch während dieser Lebensphase an meiner Seite gehabt zu haben.
Für all meine bi+-Herzen dort draußen. Ganz besonders für diejenigen, die sich lange nach ihrer Pubertät geoutet haben oder gerade noch im inneren Coming-out-Prozess stecken.
Ihr seid nicht allein.
Grund genug – Madeline Juno
Ex Best Friend – Caroline Kole
Beton – Kayef
Afterlove – Mason Watts
Holding Together – TOMOS, Ana Michell
black and white – Camylio
Shapeshifting – Taylor Acorn
used to you – Grace Davies
28 – Ruth B., Dean Lewis
Dani – Maddie Zahm
She Likes Girls – Metro Station
Want You Like That – Charlotte Sands
Litte Too Much – Mercer Henderson
drunk text – Henry Moodie
kein ja / kein nein – Revelle
Too Well – Reneé Rapp
For The Both Of Us – Zolita
What Do You Call It? – Beth McCarthy
What If I Love You – Gatlin
She – Paige Galdieri
My Therapist Told Me – Xana
Traffic – maryjo
Versprich mir du gehst – Madeline Juno, 1986zig
Pretending – Fletcher
real love, to roommates – everything we do
One Last Time – Broadside
I’ve Loved You For So Long – The Aces
Meant To Be – Ber, Charlie Oriain
Auszug aus dem neuesten Eintrag des Blogs:
Tipps & Bekenntnisse einer anonymen Fotografin
Mai 2024
[…] und genau deshalb liebe ich die Analogfotografie, möchte aber auf meine spiegellose Kamera nicht verzichten. Beides ist auf seine Art und Weise einzigartig. Es betrübt mich, dass es hier immer wieder zu Diskussionen deswegen kommt. Wieso muss es in dieser Sache zwei Lager geben? Wieso können wir nicht anerkennen, dass beide Kameratypen ihre Vor- und Nachteile haben?
Mehr möchte ich dazu nicht mehr schreiben. Tauscht euch gerne in den Kommentaren aus, aber bitte bleibt respektvoll untereinander!
Nun noch etwas in eigener Sache. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob das hierhin gehört, aber da das mein Blog ist und ich seit Jahren meine Fotografietipps mit euch teile, interessiert es euch vielleicht. Und wenn nicht, dann müsst ihr nicht weiterlesen.
Wie viele von euch wissen, hatte ich früher einmal den großen Traum, die Welt zu bereisen und zu fotografieren – eine freiberufliche Fotografin, die die tollsten Orte entdeckt und auf neue Menschen trifft. Irgendwann zwischen Abitur und Erwachsenenleben ist dieser Traum auf der Strecke geblieben. Ich habe meine Ausbildung zur Fotografin nicht wie geplant in Berlin gemacht, sondern in der Nachbarstadt, und statt Fashionshootings und Bildstrecken in Magazinen fotografiere ich Dorfhochzeiten. Was vollkommen fein ist.
Aber gestern Nacht habe ich davon geträumt, wie ich an einem weit entfernten Strand stehe und ein Model fotografiere. Welche Kamera ich benutzte, kann ich euch nicht sagen, das hier wird keine Technik-Auflistung. Nein, es ging viel eher um das Gefühl. Um das Gefühl grenzenloser Freiheit.
In diesem Traum lächelte ich ununterbrochen. Ich war glücklich. Und dann bin ich aufgewacht.
Ich erzähle euch hier oft von meinen Hochzeitsshootings, deshalb wisst ihr, dass mir das ebenfalls Spaß macht, mich aber nie ganz erfüllt. Es ist okay. Ein guter Job für gutes Geld. Die sichere Variante. Das trockene Körnerbrot am Frühstückstisch.
Aber dieser Traum … Dieser Traum war ein ausladendes Buffet voller Obst, buttrigen Pancakes und frischen Säften. Und jetzt frage ich mich, ob es euch auch manchmal so geht. Ob ihr auf euer Leben blickt und euch fragt: Soll das schon alles gewesen sein?
Bitte versteht mich nicht falsch: Mein Leben ist gut. Ich kann mich nicht beklagen. Mir fehlt es an nichts, ich bin gesund, habe wundervolle Menschen um mich herum und verdiene mein Geld mit etwas, das mir Spaß macht. Zumindest meistens.
Es fühlt sich falsch an, das hier zu schreiben, aber die Anonymität erlaubt es mir. Vielleicht sind das auch nur Hirngespinste einer weißen, privilegierten Person. Gedanken, die ein alberner Traum hervorgerufen hat. Aber wenn ich ehrlich bin, dann spuken sie schon länger in meinem Kopf herum.
Wieso kann ich nicht zufrieden sein mit dem, was ich habe? Wieso träume ich von mehr? Es würde mich sehr beruhigen zu hören, dass es manchen von euch da draußen auch so geht.
Okay, genug Gefühlsduselei, hier wollen Rechnungen geschrieben werden. Ich wünsche euch eine tolle Woche und melde mich nächsten Sonntag wieder – mit einer Review des neuen Sigma-Objektivs. So viel kann ich schon einmal verraten: Es ist den Hype nicht wert.
Alles Liebe
Eure L
Seien wir ehrlich: Hochzeiten sind nichts anderes als ausufernde Besäufnisse. Nur dass alle Beteiligten dabei schick angezogen sind und ständig jemand anfängt zu weinen.
Ich schaue durch den Sucher, lasse meinen Blick über die Menge gleiten, auf der Suche nach Eindrücken, die ich heute noch nicht eingefangen habe. Doch da gibt es keinen. Hochzeitstorte voller Trockenblumen und Goldsplitter? Check.
Tischdeko samt silbernem Kerzenhalter, weißen Servietten und teurem Geschirr? Check.
Weinende Schwiegereltern, die sich die Nase tupfen? Check.
Auch das Brautpaar habe ich schon in jeder erdenklichen Pose abgelichtet. Es gibt nichts Interessantes mehr zu sehen, also lasse ich die Kamera sinken und lehne mich gegen die warme Holzwand der Scheune. Den ganzen Tag über war es unerträglich heiß. Auch jetzt noch fühlt sich meine Haut vom Schweiß ganz klebrig an. Wer kam auf die Idee, die Trauzeremonie in der sengenden Mittagshitze und ohne Schirme abzuhalten?
»Lena! Hey, Lena, hast du das drauf?«
Basti, oder auch Sebastian Morgenstern, der Trauzeuge des Bräutigams, vollführt einen schlechten Breakdance-Move auf dem steinernen Scheunenboden. Seine Kumpel feuern ihn lautstark an, während Basti sich verrenkt, um in meine Richtung zu blicken. Ich tue ihm den Gefallen und fotografiere sein akrobatisches Meisterwerk. Er strahlt und fährt sich durch die verschwitzten Haare.
Ich stelle mir vor, wie er das Bild in ein paar Tagen auf seiner Instagram-Seite posten und unzählige Likes dafür ernten wird. Erwähnen, dass ich das Bild gemacht habe, wird er nicht.
»Hast du heute überhaupt schon was gegessen?« Ich lächle, als ich Selmas Stimme neben mir vernehme. Schon in der Schulzeit war sie diejenige, die mich immer daran erinnern musste, genug zu trinken.
»Ich esse nachher, wenn die Feier vorbei ist«, sage ich und winke ab.
»Und getrunken? So heiß wie es hier drin ist, könnten wir auch in der Wüste sein.«
»Übertreibst du da nicht etwas?«, frage ich und hänge mir die Kamera um den Hals.
»Übertreiben? Erzähl das dem Schweiß, der sich seit Stunden in meinem Hijab sammelt. Also was ist? Trinkst du was mit mir?«
In diesem Moment tritt Merle zu uns. Die Braut. Ihre Frisur sitzt noch immer perfekt, ihre Wangen leuchten in einem zarten Rosa, doch ihr Blick wirkt gehetzt.
»Lena, ich habe dich überall gesucht! Wir wollten doch noch Bilder machen, wenn Sven und ich ins Auto steigen und wegfahren.«
»Ihr fahrt jetzt schon?«, fragt Selma verblüfft. Ich kann ihre Überraschung verstehen, immerhin ist es noch nicht mal Mitternacht.
»Nein, nein. Aber jetzt ist Sven noch fast nüchtern. Also was ist Lena, kommst du?«
Selma sieht mich mitleidig an. »Ich stell dir schon mal ein Wasser kalt«, murmelt sie, als Merle mich an ihr vorbei und aus der Scheune zieht.
Gegen halb zwei ist meine Schicht offiziell vorbei. Erfahrungsgemäß entstehen kaum noch brauchbare Bilder, sobald die Tanzfläche einmal eröffnet und die Bar so gut wie leer ist.
»Wenn ich noch einen Wildberry Lillet ausgeben muss, schreibe ich Nina Chuba persönlich. Und wieso bekomme ich nie mit, welche Getränke gerade angesagt sind?«, beschwert Selma sich.
»Weil du kein TikTok hast«, erklärt Jenny, die an einem Eiswürfel lutscht.
»Und wieso gibst du Getränke aus?«, fragt Britt und wirft einen prüfenden Blick auf die weiße Schürze, die Selma sich umgebunden hat.
Selma wischt das Konfetti von dem leeren Stuhl neben mir und lässt sich mit einem zufriedenen Stöhnen darauf nieder.
»Weil Sören und Basti zu besoffen sind und ich zu nett bin«, fasst sie zusammen.
»Typisch. Denkst du, ich sollte nach ihm schauen?« Jenny sucht in der Menge nach ihrem betrunkenen Freund, kann ihn aber offenbar nicht finden.
»Keine Sorge, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, lag er draußen im Gras und hat die Schönheit des Nachthimmels bewundert.« Selma lacht, bindet sich die Schürze von der Hüfte und legt ihren Kopf auf meine Schulter.
»Weck mich, wenn es nicht mehr unhöflich ist zu gehen.«
»Alles klar.« Ich tätschle ihren Kopf und klicke mich durch die Bilder des Abends. Meine Augen sind müde und stellen nicht mehr richtig scharf, hinzu kommt, dass es in der Scheune viel zu dunkel ist, doch das, was ich auf meinem kleinen Bildschirm erkennen kann, sieht gut aus. So schlimm die Sommerhitze heute auch war, dafür hat sie uns einmaliges Abendlicht geschenkt. Es hat Merle und Sven strahlen lassen. Sie werden die Bilder mögen, da bin ich mir sicher. Und dennoch … Es sind immer dieselben Motive.
Ehe sich der Gedanke in meinem Kopf einnisten kann, nimmt Jenny mir die Kamera aus der Hand.
»Darf ich mal?«, fragt sie, als sie bereits mit ihren Fingern auf das Display tatscht.
»Klar«, antworte ich müde, weil die Fettflecken nun sowieso schon drauf sind. Ich bete nur, dass sie nicht aus Versehen die Karte formatiert und damit alle Bilder löscht.
»Nice! Das hier brauche ich auf jeden Fall, kannst du mir das schicken? Oh, und das hier auch.« Sie tippt immer wieder mit ihren Gelnägeln auf das Display, und ich beiße die Zähne zusammen, sage aber nichts.
Wenn Jenny etwas will, kriegt sie es auch. So war das schon zu unserer Schulzeit. Ich erinnere mich an unser elftes Schuljahr, in dem Selma zur Klassensprecherin gewählt wurde, obwohl sie gerade erst neu ins Dorf gezogen war. Jenny sprach zwei Wochen lang nicht mit ihr, bis sie zurücktrat und ihr den Posten anbot.
Und nun sind wir hier. Acht Jahre später erpresst Jenny zwar niemanden mehr, liebt es aber nach wie vor, die Macht an sich zu reißen.
Es hat sich also nicht viel verändert. Bis auf den Fakt, dass die erste unserer Clique nun verheiratet ist.
»Auf Merle und Sven«, ruft Britt und hebt ihr Sektglas. Jenny, Selma und ich stoßen mit ihr an. In Jennys und meinen Gläsern ist nur Wasser, in Selmas Kiba.
»Schon crazy, oder? Ich hätte nicht gedacht, dass Merle die Erste von uns ist, die unter die Haube kommt.« Britt kichert, was für sie ganz untypisch ist.
»Vor allem hat sie Sven erst nach dem Abi kennengelernt. Ich dachte ja immer, du und Leo seid die ersten.« Jenny wirft mir einen langen Blick zu, und ich versuche, ruhig zu bleiben.
»Wir sind erst dreiundzwanzig, da muss man noch nicht heiraten.« Ich höre selbst, dass ich klinge, als würde ich mich rechtfertigen.
»Sag das mal Merle, sie ist die Jüngste von uns«, meint Jenny und knabbert an einer Salzstange.
»Ist doch scheißegal, wie alt man ist. Hochzeiten sind teuer, und wir alle wissen, wieso Leo dich noch nicht gefragt hat. Nach sieben Jahren müsste längst ein fetter Klunker an deinem Finger stecken, sorry, Schatz.« Britt sieht nicht so aus, als täte es ihr leid.
Selbst Jenny sieht betreten zur Seite, was ich ihr hoch anrechne. Selma tut einfach so, als hätte sie Britt nicht gehört und schlürft extra laut an ihrem Glasstrohhalm.
Britt und Jenny werfen ihr einen genervten Blick zu, doch Selma denkt gar nicht daran, aufzuhören.
Manchmal frage ich mich, wieso wir alle überhaupt befreundet sind. Wir könnten nicht unterschiedlicher sein. Aber unser Dorf ist klein, die Auswahl ist begrenzt. Und da meine beste Freundin damals direkt nach dem Abi abgehauen ist, musste ich mir neue suchen.
Ich überlege verzweifelt, wie ich das Thema wechseln könnte, doch das Einzige, was mir einfällt, ist etwas, über das ich noch weniger sprechen möchte als über meine Beziehung.
»Vielleicht fragt er dich ja beim Jahrgangstreffen«, wirft Jenny ein und spricht damit genau das an, was ich vermeiden wollte.
»Ich denke nicht, dass unser Jahrgangstreffen ein romantischer Ort für einen Antrag ist«, merkt Selma an, doch Jenny übergeht sie einfach.
»Ihr kommt doch alle, oder? Wehe, eine von euch drückt sich.«
Als ehemalige Schulsprecherin ist Jenny für die Organisation zuständig und hat uns in den letzten Wochen bei jedem Treffen daran erinnert. Manchmal habe ich das Gefühl, Jenny ist traurig, nicht mehr zur Schule zu gehen und jeden herumkommandieren zu können.
Jetzt … Nun, sie wohnt immer noch im selben Dorf. Dem Ort, von dem wir uns geschworen hatten, ihn, sobald es geht, zu verlassen. Im Leben kommt es eben immer anders, als man denkt.
Fünf Jahre sind seit unserem Abitur vergangen. Viele, mit denen wir damals den Abschluss gemacht haben, sind direkt in die größeren Städte geflüchtet. So auch Kate. Der Grund, wieso ich nicht auf dieses Jahrgangstreffen möchte. Weil sie dort sein wird und ich nicht weiß, wie ich auf sie reagieren werde. Welches Verhalten ist nach fünf Jahren Funkstille angebracht?
»Du weißt, dass ich komme. Ich will wissen, ob Jason wirklich keine Haare mehr hat.« Britt sieht feixend in die Runde. »Er hat seit drei Jahren kein neues Bild mehr bei Facebook gepostet. Ich sag euch, er hat mittlerweile ’ne Glatze!«
»Du bist schrecklich.« Jenny lacht. »Ich wette, er hat einfach seinen Account deaktiviert. Weil keiner mehr Facebook benutzt.«
»Ich tue es!«, brüskiert Britt sich.
»Nun … Fast keiner.« Jenny rümpft die Nase und wendet sich dann uns zu. »Und was ist mit euch? Steuert ihr was zum Kuchenbuffet bei?«
Selma, die zwischenzeitlich wirklich an meiner Schulter eingenickt ist, schreckt hoch und wischt sich einen Speichelfaden von der Lippe. »Sorry, was?«
Jenny bemüht sich sichtlich, nicht mit den Augen zu rollen. »Ich habe gefragt, ob du was zum Kuchenbuffet beisteuerst.«
»Kann deine Mum wieder Baklava machen? Ihres ist göttlich!« Britt sieht Selma mit flehendem Blick an. Wenn es um Gebäck geht, wird sie auf einmal ganz zahm.
»Ich werde sie fragen«, sagt Selma und zwinkert mir zu. Niemand außer mir weiß, dass die Baklava-Teilchen aus dem Supermarkt stammen. Selmas Mutter hasst backen und hat zu jedem Schulfest einfach immer im nächstgrößeren Laden eingekauft.
»Ich bringe eine Apfeltarte mit«, werfe ich ein.
»Perfekt.« Jenny klatscht in die Hände.
»Schatz?« Basti kommt auf uns zugelaufen. Er schwankt sichtlich, grinst uns aber breit an. »Kannst du uns nach Hause fahren? Sören ist etwas … Ihm geht’s nicht so gut.«
Ich bewundere Jenny dafür, dass sie seinen Kuss erwidert, obwohl er riechen muss wie ein Bierfass.
»Natürlich. Aber wehe, er kotzt in mein Auto. Also dann, ich schreib euch.« Sie erhebt sich und winkt in die Runde, ehe sie Basti folgt.
»Da waren’s nur noch drei«, meint Selma und gähnt ausgiebig.
»Eigentlich können wir dann jetzt auch gehen, oder? Noch einen schlechten Song ertrage ich nicht.« Sie sieht zur Tanzfläche, auf der noch immer ausgelassen gefeiert wird.
»Bitte. Ich habe Leo versprochen, morgen die Fotos für die Website zu machen.«
»Schon verstanden, du Workaholic.« Selma hakt sich bei mir unter. »Aber du kannst mich noch zu Hause absetzen, oder?«
»Klar.«
Wir verabschieden uns von Britt, umarmen ein paar der Tanzenden und winken den anderen zu.
Dann verlassen wir gemeinsam die Scheune und treten in die warme Nachtluft. Mittlerweile ist es nach zwei, mein Mund ist ausgetrocknet, und mein Hals fühlt sich rau an vom vielen Reden. Selma steigt in meinen kleinen Fiat, und wir verlassen die Party.
Hochzeiten sind etwas Wundervolles. Als kleiner Junge habe ich die Hochzeit meiner Tante miterlebt und mir ausgemalt, wie es wohl später einmal sein würde, selbst zu heiraten. Mit fünf stellte ich mir eine riesige Torte und jede Menge Luftballons vor, die über der Hochzeitsgesellschaft in den Himmel steigen. Außerdem einen Versteck-Fang-Wettbewerb und riesige Hüpfburgen. Ja, mehrere.
Fast zwanzig Jahre später finde ich Hochzeiten immer noch faszinierend. Lena fotografiert viele von ihnen hier bei uns im Dorf und zeigt mir danach oft die Bilder. Ich liebe es, wie glücklich alle auf den Fotos aussehen. So als gäbe es keine Sorgen oder grauen Wolken in ihrem Leben. An diesem einen Tag liegt ein Strahlen in allen Augen.
Die Hochzeitsfotos meiner Eltern hängen bei uns im Wohnzimmer an der Wand. Ich habe sie schon oft betrachtet und mir gewünscht, an diesem besonderen Tag bei ihnen gewesen zu sein. Das war ich auch irgendwie, nur eben in Mamas Bauch.
Heute heiratet ein ehemaliger Mitschüler von mir, und Lena ist vor Ort, um Bilder zu machen. Ich konnte nicht mitkommen, weil ich hier gebraucht werde. Der Trecker streikt schon seit Tagen und hat heute früh dann ganz den Geist aufgegeben, blöd nur, dass das die Ernte nicht interessiert. Die muss spätestens übermorgen erledigt sein. Deshalb habe ich mir den Trecker von Martin, unserem Nachbarn, geliehen und bin die letzten Stunden selbst mit ihm übers Feld gefahren, um die verlorene Zeit wieder reinzuholen. Jetzt ist es nach sieben, aber wenn ich mich beeile, schnell zum Haus zurückfahre und mich umziehe … Ich könnte es noch zum Tortenanschnitt zur Hochzeit schaffen.
»Leo, kannst du dir das mal ansehen?« Uwe, einer unserer Erntehelfer, winkt mir vom Feld aus zu und wischt sich mit seinem Basecap den Schweiß von der Stirn. Es ist ein besonders heißer Juli. Ein weiterer Grund, wieso wir die Felder besser heute als morgen abernten sollten.
»Was gibt’s?«, frage ich und versuche, nicht genervt zu klingen.
»Ich glaube, der Trecker hat ein Leck.«
Als ich bei Uwe ankomme, zeigt er auf eine schwarze Öllache am Boden. Verdammter Mist.
Mein Blick folgt der Spur, die weit ins Feld hineinreicht. Wieso ist mir das nicht aufgefallen?
»Wie viele Quadratmeter sind betroffen?«, frage ich so ruhig wie möglich und versuche, im Kopf zu überschlagen, wie viel Erde wir umgraben müssen, um den Schaden zu beheben.
»Nur die letzten zwanzig, denke ich.«
Das ist immer noch eine riesige Fläche, aber es hätte schlimmer kommen können.
»Danke, ich gebe Martin Bescheid. Und sag den anderen bitte, sie können Feierabend machen, ihr steht schon zu lange auf dem Feld.«
»Alles klar, Chef. Und was ist mit dem Öl?«
»Ich kümmere mich darum.« In Gedanken verabschiede ich mich schon einmal von der Hochzeit und überlege, wo ich so schnell einen Bagger herbekomme, um die verdreckte Erde zu entfernen.
»Bis morgen.« Uwe winkt mir zu, und ich lasse mich frustriert gegen den Trecker sinken. Die Sonne brennt immer noch heiß auf meiner Haut. Mit dem Handrücken wische ich mir über die Stirn. Achte nicht auf den Staub, den er dort hinterlässt. Dann ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und suche nach Martins Nummer. Immerhin muss ich ihm sagen, dass sein Trecker ein Leck hat. Wenn ich Glück habe, kann er mir auch einen Bagger leihen, wenn nicht … Dann werde ich weiter telefonieren. Irgendwo in diesem kleinen Dorf gibt es jemanden, der mir helfen kann, da bin ich mir sicher.
Sosehr andere auch über unser Kuhkaff herziehen: Ich liebe es. Hier hilft man sich gegenseitig, auf der Straße wird freundlich gegrüßt, und alle wissen, wann du Geburtstag hast. Mein Vater sagt immer, das Dorf sei wie eine große Familie. Nicht alle lieben sich, aber sie behandeln einander mit genügend Respekt. Etwas, das in größeren Städten alles andere als alltäglich ist.
Ehe ich jedoch Martins Nummer wähle, klicke ich auf meinen Chat mit Lena. Sie hat ein Foto des Brautpaares geschickt und fragt mich, ob ich es zur Torte schaffe.
Ich: Leider nein, iss ein Stück für mich mit, ja? Die beiden sehen so glücklich aus! <3
Lenas Gesicht lächelt mir von ihrem kleinen WhatsApp-Profilbild entgegen: blonde, brustlange Haare, die von der Sonne beschienen werden und ihre rosigen Wangen umspielen. Blaugraue Augen, die ich in- und auswendig kenne. Meine Lena. Ob es normal ist, dass ich auch nach sieben Jahren in ihr Gesicht sehe und alles in mir warm wird?
Sie war meine erste große Liebe, und vielleicht klingt das kitschig, aber ich möchte, dass sie auch meine letzte ist. Sie ist mein Zuhause. Wenn ich sie ansehe, fühlt sich die Welt um mich herum leichter an.
Lena: Mache ich 😊 Wenn Selma dir eins übrig lässt :D Was macht die Ernte?
Ich fasse das Problem kurz zusammen, möchte aber nicht, dass sie sich Sorgen macht, und spiele es deshalb etwas herunter. Lena soll die Hochzeit genießen und nicht an die Komplikationen hier auf dem Hof denken.
Lena: Bis ich nach Hause komme, schläfst du sicher schon, oder? Wenn ja, dann wünsche ich dir jetzt schon mal eine gute Nacht <3
Ich: Hab noch einen schönen Abend, ich liebe dich <3
Sie ist nicht mehr online, muss sicher weiter fotografieren. Also klicke ich auf Martins Kontakt und drücke auf anrufen.
Während es in der Leitung tutet, wandern meine Gedanken wieder zu Lena und zu der Frage, die ich mir in den letzten Wochen immer häufiger gestellt habe: Wann ist der richtige Zeitpunkt, ihr einen Antrag zu machen?
Hochzeiten werden vollkommen überbewertet. Ich kenne viele Menschen, die verheiratet, aber alles andere als glücklich sind. Einige sind sogar schon wieder geschieden. Wieso machen sich all diese Leute überhaupt noch die Mühe zu heiraten? Sie könnten das viele Geld stattdessen für Reisen ausgeben oder etwas Gutes in der Welt bewirken. Stattdessen zahlen sie zweitausend Euro für ein Kleid, das nach einem Tag in den Schrank wandert, um zu vergilben. Nein, Hochzeiten habe ich noch nie verstanden. Dennoch besuche ich viele. Immerhin gibt es gutes Essen und Gossip im Überfluss.
So auch heute. Meine Managerin Miriam heiratet zum zweiten Mal und ist offenbar der Meinung, dieses Mal alle Register ziehen zu müssen. Für LA ist es typisch, prunkvoll zu heiraten, aber ich konnte all dem Glitzer und Schnickschnack noch nie etwas abgewinnen.
»Du siehst aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen. Schmeckt die Torte so schlecht?«
April lässt sich auf dem Stuhl neben mir nieder. Immerhin ein bekanntes Gesicht in der Menge, das ich gern habe. Seit drei Jahren ist sie meine Social-Media-Assistentin. Es schweißt zusammen, wenn du ständig zusammen verreist und Shootings an den unterschiedlichsten Orten der Welt erlebst.
»Die Torte ist okay. Aber wieso stehen hier überall Eisfiguren? Wir haben Juli.«
April blickt hinter sich zu einem großen, gläsernen Schwan, der die Flügel ausgebreitet hat und damit auf ein Tablett vor sich zeigt, auf dem allerlei Häppchen liegen.
»Das hier ist Malibu, nicht Downtown, was hast du erwartet?« April pustet sich eine braune Locke aus der Stirn und glättet ihren dunkelgrünen Jumpsuit, ehe sie ihre Gabel in dem Stück Torte auf ihrem Teller versenkt.
Die gläsernen Skulpturen einmal außer Acht gelassen, ist es eine wirklich schöne Location. Eine offene Villa auf Stelzen mit direktem Strandzugang. Miriam hat sich als Model-Managerin einen Namen gemacht und verdient gut, ihr Mann ist einer der angesagtesten Immobilienmakler der Stadt, die beiden schwimmen also im Geld.
An Tagen wie heute denke ich seltsamerweise besonders oft an meine Eltern. Ich stelle mir vor, was sie sagen würden, wenn sie hier neben mir säßen. Mama würde natürlich keinen Tropfen Alkohol anrühren, und Papa wäre schon mit der englischen Sprache überfordert. Aber ich frage mich, ob ihnen die Torte schmecken würde. Ob sie hinunter zum Strand gehen und die Füße in die Wellen halten würden.
Meine Eltern in Los Angeles. Meine Vergangenheit und Gegenwart an einem Ort. Es fühlt sich falsch an. Vielleicht lade ich sie deshalb so selten hierher ein. Wenn sie mich besuchen kommen, dann meistens in meiner Zweitwohnung in Hamburg. Dort habe ich weniger das Gefühl, sie in eine vollkommen neue Welt einzuführen.
Amerika, das Modelbusiness, all meine Bekanntschaften hier … Ich weiß, dass sie stolz auf mich sind, aber sie werden es nie ganz verstehen.
»Diese Brautjungfer guckt jetzt schon zum zweiten Mal zu mir. Bitte sag, dass ich mir das nicht einbilde.«
»Hm?«, frage ich und sehe mich in der Menge um. »Wer?«
»Schau nicht in ihre Richtung! Oh Gott, jetzt lacht sie.«
Amüsiert ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. So unsicher kenne ich April gar nicht. Sie ist die Frau mit den klaren Ansagen und dem durchgetakteten Terminkalender. Nur ihr habe ich es zu verdanken, dass ich zu all meinen Terminen pünktlich erscheine.
»Du solltest zu ihr gehen«, meine ich also und nippe an meinem Champagnerglas.
»Ach nein, ich bleibe lieber hier bei dir. Wir könnten noch die ein oder andere Story aufnehmen.«
»Das hier ist eine Privatveranstaltung, du hast heute frei«, erinnere ich sie.
»Na schön, du hast ja recht. Aber ich will dich hier auch nicht allein lassen. Wir könnten uns neue Drinks besorgen und dann auf die Tanzfläche gehen. Die DJane spielt gerade sogar ganz passable Musik.« Sie lächelt mich an, berührt kurz meinen Arm.
Es ist nicht so, dass April und ich beste Freundinnen wären. Aber sie versucht es immer wieder. Sich auch privat mit mir zu verabreden, tiefgründige Gespräche zu führen. Und ich weiß ihre Versuche zu schätzen, trotzdem halte ich sie auf Distanz. Weil ich durch Lena gelernt habe, dass enge Freundschaften nur Schmerz bedeuten.
»Kommt nicht infrage. Geh zu ihr, na los.«
Sie sieht mich noch einmal fragend an, doch als ich erwartungsvoll die Augenbrauen hebe, stellt sie ihr Glas ab und steht auf.
»Wünsch mir Glück«, murmelt sie, ehe sie zu der schwarzhaarigen Brautjungfer läuft, die schon wieder in unsere Richtung geblickt hat.
Kurze Zeit beobachte ich die beiden und bewundere es, wie leicht es bei ihnen aussieht. Wie sie miteinander reden, einander berühren. In zwischenmenschlichen Beziehungen habe ich mich schon immer schwergetan. Es dauert lange, bis ich mich anderen öffnen kann, noch länger, seit ich nach Amerika gekommen bin. Das Leben hier ist laut und schnell. Die meisten meiner Bekanntschaften bleiben oberflächlich und kurz. Was für die Branche normal ist. Dennoch wünschte ich, es gäbe Menschen in meinem Leben, die mich verstehen. Denen ich nicht erklären muss, wieso ich bin, wie ich bin.
Lena hat mich immer verstanden. Aber es bringt nichts, heute über meine ehemalige beste Freundin zu grübeln. Sie ist Hunderte Kilometer von hier entfernt. Also kann ich auch etwas Spaß haben.
Zwischenmenschliche Beziehungen hin oder her. Flirten kann ich, alles über der Oberfläche ist leicht.
Also erhebe ich mich und trete zu einer Gruppe junger Frauen, zu denen auch die rothaarige Sängerin gehört, die vorhin das Lied während des Brauteinzugs gesungen hat. Sie ist mir sofort aufgefallen, weil sie nicht so aussieht, als gehöre sie in diese High-Society-Scheinwelt. Sie trägt ein lockeres, gelbes Sommerkleid, dazu aber weiße Sneaker und jede Menge Goldringe an ihren Fingern. Sie wirkt erfrischend bodenständig zwischen all diesen Wachsfiguren.
»Hi, ich bin Kate. Darf ich dir einen Drink bringen?«, frage ich.
Ihre Augen haben einen schönen Mandelton, ihre Haut ist überzogen von Sommersprossen. Sie wirkt überrascht, im ersten Moment sogar dezent überfordert. Doch dann wandern ihre Mundwinkel nach oben, ihre Augen mustern meine – eine Sekunde zu lange, als dass es Zufall sein könnte.
»Sehr gerne. Ich bin Blaire.«
Sie reicht mir die Hand, sieht mir dabei weiterhin in die Augen. Mein Gaydar hat mich also nicht im Stich gelassen. Insgeheim beglückwünsche ich mich, während ich mit ihr zur Bar laufe.
Wenn doch nur alles im Leben so einfach wäre.
Zwei Tage später berühren meine Füße die aufgeheizte Landefläche des Kölner Flughafens. Temperaturmäßig unterscheiden sich LA und Deutschland kaum. Auch hier steht die Luft.
Es wartet bereits ein Wagen auf mich. Die Fahrerin begrüßt mich und reicht mir eine eisgekühlte Wasserflasche.
»In knapp einer Stunde erreichen wir Ihren Heimatort. Sollen wir vorher noch irgendwo halten?«, fragt sie, während sie die Adresse in das Navi eingibt.
»Nein, ich werde versuchen, etwas zu schlafen.«
Sie nickt verstehend und wendet sich ab, um mir etwas Privatsphäre zu gewähren. Sofern das in einem geschlossenen Wagen möglich ist.
Noch stehen wir auf dem Rollfeld und warten darauf, dass der Bus vor uns weiterfährt. Ich nutze die Zeit und blicke aus dem Fenster. In der Ferne sehe ich winzige Punkte, die über die Landebahn laufen, Gepäckkarren beladen und Fahnen schwenken, um den Pilot* innen zu signalisieren, dass sie weiterfahren dürfen.
Ein Bus fährt an unserem Wagen vorbei, rollt bis auf wenige Meter an ein Flugzeug heran und entlässt einen Schwall Menschen in die Hitze. Sie drängen sich nach draußen, halten Kinder an den Händen oder schieben ihr Handgepäck vor sich her. Fast alle tragen große Rucksäcke, Sonnenhüte und kurze Shorts. Ich sehe ein Pärchen, das ein Selfie vor dem Flugzeug macht, ehe sie händchenhaltend die Treppe nach oben zur Einstiegsluke gehen.
In diesem Moment trennen uns nur wenige Meter. Und doch liegen Welten zwischen uns.
Ich greife nach meinen Kopfhörern, stecke sie mir in die Ohren und starte eine Meditationsplaylist, während die Fahrerin den Motor anlässt. Leise Klavierklänge umhüllen mich, und wir fahren auf die Autobahn. Graue Straßen, glänzende Autos und Sonnenlicht, das über der Fahrbahn flimmert. In einer Stunde werde ich in Kleeberg ankommen – dem Ort, aus dem ich vor fünf Jahren geflohen bin. Was sich wohl verändert haben mag?
Ob ich vergessen habe, wie es in unserer Straße roch? Ich frage mich, ob man seine Heimat ausradieren kann, wenn man ihr nur lange genug fernbleibt. Ob man all diese Momente wirklich und wahrhaftig vergessen kann.
Dabei kenne ich die Antwort längst. Fünf Jahre sind nicht genug. Nicht einmal annähernd.
Als wir das Ortsschild mit dem verblassten, grünen Kleeblatt passieren, fühle ich mich fremd. In den letzten fünf Jahren habe ich so viele Städte und Länder besucht, dass mir die Straßen in diesem Ort tatsächlich neu vorkommen. Oder empfinde ich nur das, was ich fühlen möchte?
Wir fahren weiter. Vorbei an den großen Gestüten, die von weiten Feldern umrahmt werden. Je tiefer wir in den Ortskern vordringen, desto enger werden die Straßen. Wir passieren den kleinen Dorfplatz mit dem steinernen Brunnen, der ebenfalls nichts in mir auslöst. Ich rieche Getreide, Staub und Gras. Gerüche sind schwieriger als Straßen oder Gebäude. Sie klammern sich hartnäckiger an dein Unterbewusstsein, nisten sich in dir ein und verfliegen nur ganz langsam.
Die wenigen Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind, sehe ich nicht an. Aus Angst, ein vertrautes Gesicht zu erblicken. Ein Augenpaar, das mich entlarvt, die verblassten Bilder wieder mit Farbe übergießt.
Also konzentriere ich mich auf die Umgebung. Auf die plattgetretenen Gehwege und das Unkraut, das zwischen den Steinen hindurchwächst.
Wir erreichen die einzige Gaststätte mit Übernachtungsmöglichkeit im Ort, die ebenfalls ein neuer Anblick ist. Weil ich selbstverständlich nie hier übernachtet habe, da es immer ein Bett gab, in das ich mich legen konnte. Zumindest theoretisch.
Ich verabschiede mich von der Fahrerin, checke ein und trage meinen schweren Koffer nach oben. Geplant ist, nur ein paar Tage hier zu bleiben, dann in meine Wohnung nach Hamburg zu fahren und von dort aus zu den nächsten Shootings zu fliegen.
Nachdem ich meinen Koffer durch die Tür gewuchtet habe, begutachte ich mein Zimmer für die nächsten Tage. Das Bett ist klein, wirkt aber bequem. Vom Fenster aus kann ich den Kirchturm sehen.
Laut Instagram befinde ich mich gerade für ein Shooting in Ibiza. Die Bilder sind jedoch bereits letzte Woche entstanden und werden erst jetzt gepostet, damit niemand meinen wirklichen Aufenthaltsort herausfindet. Ich überfliege die Kommentare unter dem Post, like ein paar und sehe mir dann meine eigene Story an, die natürlich nicht ich aufgenommen habe, sondern April. Sie hat ein gutes Auge, und kurz bewundere ich selbst den wunderschönen Sonnenaufgang, den man hinter einem Dutzend Palmenblätter ausmachen kann, dann schließe ich die App wieder.
Also schön. Ich bin hier. Ich habe es getan. Wie fühle ich mich?
Immer noch seltsam leer und gestresst. Wieso sollte sich das auch innerhalb einer einstündigen Fahrt ändern?
Wieso willst du denn unbedingt zu diesem peinlichen Jahrgangstreffen?, hat Miriam mich immer wieder gefragt, als ich ihr erzählte, dass ich mir eine Woche Urlaub nehmen würde, um nach Deutschland zu fliegen. Eine Antwort konnte ich ihr nicht geben.
Denn es gibt mehrere Gründe. Allen voran die Tatsache, dass ich fünf Jahre keinen Fuß mehr in meinen Heimatort gesetzt habe und keine Angst mehr davor haben möchte, zurückzukehren. Ein anderer ist, dass mich meine Eltern in all der Zeit zwar ein paarmal besucht haben und ich oft mit ihnen telefoniere, es aber einfach etwas anderes ist, sie in ihrer Wohnung zu besuchen.
Und der letzte … Der letzte ist der, den ich selbst nicht verstehe. Weil fünf Jahre genug Zeit sein sollten, um einen Menschen zu vergessen. Weil fünf Jahre ein Herz heilen sollten. Doch ich werde erst wissen, ob es funktioniert hat, wenn ich ihr gegenüberstehe. Wenn ich wieder mit ihr spreche.
Sie war meine beste Freundin, und ein Teil von mir wünscht sie sich zurück. Diese Vertrautheit mit einem anderen Menschen. Ich möchte mich bei ihr entschuldigen. Für so ziemlich alles. Und das nicht über eine lahme Nachricht, sondern persönlich. Das hat sie verdient.
Bleibt nur die Frage, ob sie mir nach fünf Jahren überhaupt noch zuhören möchte.
Wenn Leo und ich zusammen ausreiten, hört die Welt um uns herum auf zu existieren. Das habe ich früher schon geliebt. Als er mir zum ersten Mal eine Reitstunde gab, hatte ich Angst vor der Größe der Pferde, wusste nicht, wo ich meine Arme und Beine platzieren sollte. Anders als die meisten Mädchen bei uns im Dorf habe ich nicht bereits im Kindergarten damit angefangen. Nein, ich war nie das Pferdemädchen, interessierte mich eher für Barbies und Lego.
Aber als Leo mir zum ersten Mal auf den Rücken von Cassiopaia geholfen hat, spürte ich sofort eine Verbindung zwischen uns. Dieses Tier war nicht einschüchternd. Es war majestätisch. Auf ihr zu sitzen und ihren Atem unter meinen Fingern zu spüren, war beruhigend.
Es dauerte nur ein paar Wochen, bis Leo und ich das erste Mal gemeinsam über die Felder ritten. An diesen Tag werde ich mich immer zurückerinnern. Es war Ende Juni, kurz zuvor hatte es geregnet, doch nun ging die Sonne unter und tauchte die feuchten Weizengarben um uns herum in den schönsten Goldton.
Wie verliebt ich damals in Leo war. Wie frei ich mich fühlte.
Wenn wir jetzt zusammen ausreiten, dann erinnere ich mich daran zurück. An diesen Tag.
»Du bist heute sehr langsam«, meint Leo neckend und sieht über seine Schulter zu mir zurück.
Es ist noch früh am Morgen, die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen. Obwohl ich gestern erst so spät von der Hochzeit nach Hause kam, konnte ich nicht länger schlafen. Und da Leo auch schon wach war, habe ich ihn gefragt, ob wir endlich mal wieder zusammen ausreiten wollen. Er hat sofort zugesagt, und nun sind wir hier.
»Ich genieße nur die Aussicht«, rufe ich ihm zu und deute auf die weiten Felder. Ja, unser Dorf ist klein, aber die Natur, die es umgibt, ist wunderschön. Trotzdem kenne ich mittlerweile jeden Weg, jeden Grashalm. Die Ausritte haben heute nichts Magisches mehr an sich. Das heißt nicht, dass sie mir keinen Spaß machen. Nein, sie haben nur etwas von ihrem Glanz verloren. Genau wie unsere Beziehung. Aber das ist nach all den Jahren auch normal, denke ich.
»Was ist: Wettrennen bis zur großen Eiche?« Leo grinst mich an, und ich sehe das Funkeln, das in solchen Momenten immer in seinen Augen liegt. Ich wische die negativen Gedanken fort. Das hier ist mein Leo. In dieses Lächeln habe ich mich damals verliebt.
»Okay, aber dieses Mal zähle ich bis drei!«
Er bringt Snickers, sein Pferd, dazu, langsamer zu laufen, sodass wir direkt nebeneinander stehen, nur eine Armeslänge Platz zwischen uns.
»Was ist der Gewinn?«, frage ich.
»Die Person, die verliert, muss den Küchendienst der anderen übernehmen.«
»Deal«, sage ich sofort, denn ich hasse es, abzuwaschen. Leo und ich haben zwar auch eine eigene Küche in unserer kleinen Wohnung, aber meistens essen wir zusammen mit seinen Eltern und seinen Geschwistern. Bei sieben Personen in einem Haushalt gibt es zwar auch eine Spülmaschine, aber die Küche nach dem Kochen aufzuräumen, dauert dennoch immer ewig.
»Na dann, fang an zu zählen.« Leo grinst immer noch. Heute ist er richtig gut drauf, was sicher daran liegt, dass nächste Woche die Sommerferien starten und er sich auf die Reitfreizeit freut, die dann beginnt.
»Drei …«, fange ich an, herunterzuzählen, während wir Blickkontakt halten.
»Zwei.« Leo hebt seinen Po aus dem Sattel, ich tue es ihm gleich.
»Eins.« Wir beide nehmen die Zügel fester in die Hand, und als ich »LOS!« rufe, lassen wir Cassiopaia und Snickers antraben, so schnell es geht.
Mit Lena um die Wette zu reiten, ist eine meiner liebsten Beschäftigungen. Weil sie so wundervoll verbissen schaut und keine Gnade kennt. Ich natürlich auch nicht. Ich liebe sie, aber beim Wettrennen würde ich sie nie freiwillig gewinnen lassen.
Wir ziehen an der ersten Weggabelung vorbei und biegen nach rechts ab. Nun kann ich die Eiche in der Ferne bereits erkennen.
»Machst du schon schlapp?«, ruft Lena mir zu, die eine halbe Pferdelänge Vorsprung hat.
»Nicht in diesem Leben!«, erwidere ich und treibe Snickers weiter an. Langsam wird der Abstand zu Lena kleiner.
»Pass auf, gleich haben wir dich.«
»Komm schon, Cass, ich will nicht spülen!«, ruft Lena ihrer Stute zu und beugt sich nah an ihren Hals, um den Widerstand zu verringern.
Ich beuge mich ebenfalls nach vorne, spüre das warme Fell unter meinen Fingern und rieche den vertrauten Duft, den ich so sehr liebe.
Die Eiche ist nun nur noch knapp fünfzig Meter entfernt, und mich trennen noch wenige Zentimeter davon, Lena zu überholen.
Die schmiegt sich nun noch enger an Cassiopaias Oberkörper, und in der grazilsten Bewegung, die möglich ist, ziehen sie an Snickers und mir vorbei und passieren die Eiche.
Lena stößt einen Jubelschrei aus und reckt die Faust in die Höhe. Wenn sie so glücklich aussieht, kann ich nicht sauer auf sie sein. Nicht einmal dann, wenn mir heute Abend der Abwasch bevorsteht.
»Verdienter Sieg«, gebe ich zu.
»Tja, das macht dann wohl sieben zu drei. Du lässt dieses Jahr echt nach.« Sie lacht und notiert ihren Sieg in ihrem Handy. Dort protokolliert sie jedes unserer Wettrennen. Einmal hat sie sogar vorgeschlagen, die Zeit zu stoppen. Das ging mir dann doch zu weit.
»Freu dich nicht zu früh. In der zweiten Jahreshälfte war ich bisher immer besser als du.«
Sie streckt mir die Zunge raus, und wir reiten lachend gemeinsam zurück zum Hof.
Wie gerne würde ich das jeden Tag machen. Wir versuchen, es einmal die Woche zu schaffen, aber natürlich kommt bei unseren vollen Terminkalendern immer etwas dazwischen.
Umso dankbarer bin ich für den heutigen Tag. Für die gemeinsame Zeit mit Lena. Wieder denke ich darüber nach, wann der richtige Zeitpunkt wäre, ihr einen Antrag zu machen. Vielleicht nach einem solchen Wettrennen? Ich sehe vor mir, wie ich zu ihr reite, so nah, dass Snickers und Cassiopaia sich fast berühren, und ihr meine Hand mit der Ringschatulle entgegenhalte. Ich male mir ihr überraschtes Gesicht aus, das sofort in ein Strahlen umschlägt. Wir steigen ab, fallen uns in die Arme … Ich stecke ihr den Ring an, und auf dem Nachhauseweg planen wir bereits die Feier. Ja, so könnte es ablaufen.
Lächelnd blinzle ich in die aufgehende Sonne.
Nach dem Wettrennen kehren wir zurück in unsere Wohnung, und Leo springt als Erstes unter die Dusche. Als ich aus dem Bad zurückkomme, steht er bereits vor unserem Kleiderschrank und trägt nur eine Boxershorts. Seine blonden Haare sind im perfekten Grad verstrubbelt, und die Sonne glänzt auf seinem gebräunten Oberkörper. Früher hat mich dieser Anblick um den Verstand gebracht, heute löst sein Körper kein Kribbeln mehr in mir aus.
»Du starrst mein Sixpack an.« Leo grinst.
»Welches Sixpack?«, frage ich, um ihn aufzuziehen.
Leo kommt auf mich zu, mustert mich mit seinen braunen Augen. »Lena Janssen, das kränkt mich doch sehr. Du weißt, wie hart ich dafür trainiere.«
Jetzt lachen wir beide, denn wir wissen, dass sein Training aus der anstrengenden Hofarbeit besteht. Anders als seine Kumpel braucht er nicht ins Fitnessstudio zu gehen, um breite Schultern zu bekommen.
»Wie war eigentlich die Feier gestern?«, fragt er dann, geht zurück zum Schrank und sucht nach einem passenden Oberteil.
»Du hast nichts verpasst«, meine ich schnell, weil ich nicht möchte, dass er sich schlecht fühlt.
»Trotzdem wäre ich gerne dabei gewesen …« Er knöpft sein Hemd zu. »Ich muss leider gleich auch schon los. Schaffst du das mit den Fotos nachher?«
»Klar. Kein Problem.«
»Danke.« Er strahlt. »Ich liebe dich, bis später.«
»Ich dich auch.«
Er verschwindet aus dem Zimmer, und kurz darauf höre ich, wie er die Wohnungstür hinter sich schließt. Die Tür der Wohnung, in der wir seit gut fünf Jahren gemeinsam leben. Nach dem Abi hat es sich angeboten, in die Dachgeschosswohnung in seinem Elternhaus zu ziehen. Weil hier so viel Platz war und ich Leo und seine Familie so besser unterstützen konnte.
Ihnen gehört ein großes Pferdegestüt mit einigen Hektar Land. Das ist bei uns im Dorf allerdings nichts Besonderes, hier besitzen viele große Höfe und halten Tiere. Selma sagt immer, in unserem Dorf leben viermal so viele Schafe wie Menschen, und ganz unrecht hat sie damit nicht.
Seit fünf Jahren wohnen wir also schon hier. Als wir das Dachgeschoss damals renovierten, zog es durch jede Ritze, und ich glaubte, wir würden den Taubenkot niemals loswerden, doch nach einigen Wochen erstrahlten die Wände in einem herrlichen Weiß, der Boden glänzte, und jedes noch so kleine Loch hatten wir mit Füllmaterial gestopft.
Wenn ich jetzt an die Wände blicke, ist das Weiß leicht verblasst, in den Ecken müsste dringend mal wieder Staub gewischt werden, und der Boden ist übersät mit Kratzern und Dellen, weil Leo oft vergisst, seine Arbeitsschuhe auszuziehen.
Diese kleine Wohnung spiegelt unsere Beziehung wider, denke ich in diesem Moment, und der Kloß in meinem Hals hindert mich am Schlucken. Es glänzt schon lange nicht mehr so wie früher. Die Farben sind verblasst, werden grau. Es gibt keine Risse, aber Dellen, und mit jedem Tag werden es mehr.
Dabei liebe ich Leo. Ich kenne ihn in- und auswendig, und er ist mein bester Freund. Wieso fällt es mir dann so schwer, mir eine Zukunft mit ihm vorzustellen? Wieso fühlt es sich so an, als würde ich hier feststecken?
Meine Hand streicht über die Bettdecke. Der Stoff riecht nach ihm. Er hatte mir versprochen, das Laken zu wechseln, doch der Kaffeefleck auf seiner Seite zeigt mir, dass er es mal wieder vergessen hat. Eine Kleinigkeit, nichts Wichtiges. Und doch macht es mich wütend. Sofort schäme ich mich dafür. Er hat so viele andere Aufgaben. Arbeitet so viel.
Langsam ziehe ich die Decke gerade, sodass sie den Fleck überdeckt, und nehme mir vor, mich später selbst darum zu kümmern. Dann klopfe ich mein Kissen auf und gehe erneut ins Bad, um mir die nassen Haare zu föhnen. Das Bad ist einer der Gemeinschaftsräume, die wir uns mit Leos Geschwistern teilen. Wenn man es so nimmt, wohnen wir hier in einer großen, chaotischen WG.
Leo, sein zwei Jahre jüngerer Bruder Jannick, seine gerade volljährig gewordene Schwester Fenna, Nesthäkchen Oliver, seine Eltern und ich.
Sieben Menschen unter einem Dach. Sieben Jahre, die uns verbinden. Allein, mir vorzustellen, nicht mehr mit ihnen zusammenzuwohnen, ist unmöglich. Sie sind meine zweite Familie.
Leo liebt mich, und ich … liebe ihn.
Die Morgensonne begrüßt mich, als ich aus der Küchentür trete. Es riecht nach Heu und Wildblumen. In ein paar Stunden wird überall Bienensummen, Grillenzirpen und das Klackern der Pferdehufe zu hören sein.
Ich laufe über den großen Innenhof mit den gepflasterten Steinen und blicke nach links und rechts. Noch sind die Scheunen verschlossen, noch ist es ruhig.
Übermorgen beginnen die Sommerferien, und einen Tag später startet die Reitfreizeit für Kinder zwischen acht und vierzehn Jahren. Als wir das Programm zum ersten Mal angeboten haben, hatten wir nur vier Anmeldungen. Nun sind es weit über zwanzig, und wir mussten den ersten absagen, weil wir nicht genug Personal und auch nicht genug Ponys haben, um den Kindern gerecht zu werden.
Wenn sie durch unser Tor treten, wird Fenna sie in die Schlafräume führen. Drei Zimmer mit gemütlichen Stockbetten und dem rustikalen Charme, der unserem alten Fachwerkhaus innewohnt. Fenna besuchte früher selbst jede Reitfreizeit, die sie mitnehmen konnte. Nun ist sie volljährig und hilft Mama bei der Organisation, während Jannick mich bei den Reitstunden unterstützt. Wir lehren die Kinder den Umgang mit den Tieren. Einige können schon reiten, andere steigen bei uns zum ersten Mal auf ein Pferd.
Ich freue mich auf diese Freizeiten, weil sie eine willkommene Abwechslung sind. Die Arbeit mit Kindern macht mir viel mehr Spaß als die Arbeit auf den Feldern.
Als wir noch zur Schule gingen, planten Lena und ich große Reisen, die wir nach dem Abitur machen wollten. Wir hatten so viele Länder auf unserer Liste. Bisher haben wir kein einziges davon gesehen, aber das holen wir nach. Ganz sicher. Gerade kann ich einfach nicht an Urlaub denken, und Lena betont immer wieder, dass das für sie okay sei. Sie liebt den Hof genauso sehr wie ich. Die frische Luft, unser kleines Team an herzlichen Menschen.
Vielleicht ist es dafür noch zu früh, aber manchmal stelle ich mir vor, wie es in ein paar Jahren sein könnte. Wie ich unseren eigenen Kindern das Reiten beibringe. Wie ihr Lachen über den Hof schallt.
Als meine Welt vor fünf Jahren auseinanderbrach, hätte ich nicht gedacht, dass ich jemals so hoffnungsvoll in die Zukunft blicken würde. Aber hier bin ich. Ich mag mein Leben. Ich bin glücklich mit Lena an meiner Seite. Mehr brauche ich nicht.
Auszug aus dem neuesten Eintrag des Blogs:
Tipps & Bekenntnisse einer anonymen Fotografin
Juli 2024
Vergleicht ihr euch und eure Arbeit oft mit anderen? Ich versuche immer wieder, das abzulegen, aber ab und zu überkommt es mich doch, und dann falle ich in dieses Rabbit Hole, in dem ich mir die Bilder von namhaften Fotograf*innen ansehe und am Ende die Erkenntnis erlange: Ich werde niemals so gut sein wie sie.
Dabei weiß ich, dass Vergleiche in der Fotografie unmöglich sind. Es gibt so viele unterschiedliche Stile. So viele Techniken und Blickwinkel.
Aber manchmal betrachte ich meine Bilder und frage mich, was an ihnen besonders ist. Ob nicht auch jede*r andere genau solch ein Foto schießen könnte.
Das war früher anders. In meiner Teeniezeit experimentierte ich viel herum. Wagte Neues. Hatte keine Angst davor, dass das Bild am Ende nicht perfekt werden würde. Das hing auch viel mit der Person vor der Kamera zusammen. Wenn ich sie fotografierte, lösten sich die Selbstzweifel in Luft auf. Weil wir zusammen Spaß hatten. Weil diese Fotoshootings kein Arbeitsauftrag waren, sondern einfach nur ein Hobby.
Manchmal vermisse ich diese Unbeschwertheit. Diesen rohen Blick, ohne Hintergedanken.
Ich weiß auch nicht, wieso ich so melancholisch bin. Vielleicht, weil bei mir heute ein Ereignis ansteht, das mich an eben diese Zeit zurückerinnert. Ich bin Mitte zwanzig, aber nachher treffe ich auf Menschen, die mich während meiner Schulzeit kannten. Und ich frage mich, was sie über mich denken. Generell grüble ich viel zu sehr darüber nach, was andere über mich denken. Ob ihnen meine Fotos gefallen, ob sie hinter meinem Rücken darüber lachen, wenn ich mich mal wieder nicht zurückhalten kann und über Objektive und Kamerasettings spreche. Ja, ich bin ein kleiner Nerd, das solltet ihr bereits wissen. Das ist Sinn und Zweck dieses Blogs: um nicht alle Menschen in meinem Umfeld mit Fachwissen zu nerven. Ihr versteht es, wenn ich ausraste, weil Panasonic eine neue Kamera ankündigt oder Sony endlich an seinem Akkuproblem arbeiten möchte. Hallo? Wenn sie das mit der Überhitzung endlich in den Griff kriegen, wäre das DER Gamechanger!
Also ja, hier kann ich darüber sprechen. In der realen Welt eher nicht.
Es fühlt sich immer so an, als lebe ich eine Rolle. Die der ruhigen, vernünftigen und familienorientierten jungen Frau.
Aber soll ich euch einmal etwas verraten? Wenn ich darüber nachdenke, in ein paar Jahren Kinder zu bekommen, dann schnürt sich mir die Kehle zu.
Ich mag Kinder, so ist es nicht. Ich hatte schon richtig tolle Shootings mit ihnen, und auch Babybauchshootings machen mir Spaß. Aber wenn ich mir vorstelle, wie viel Verantwortung das mit sich bringt, wie sehr sie einen binden. Was sich alles verändern würde. Oder eben auch nicht … Dann weiß ich nicht, ob ich das möchte.
Wow, wie sind wir jetzt beim Thema Kinder gelandet? Entschuldigt, aber ihr kennt das von mir ja bereits. Hier geht es nicht nur um Fotografie.
Wie steht ihr denn dazu? Mein Freund und ich haben natürlich schon einmal darüber gesprochen. Er wünscht sich eine Familie, mindestens zwei Kinder. Eben das klassische Bild.
Ich … weiß nicht, ob ich diesbezüglich gerade eine Entscheidung treffen kann. Es fühlt sich so an, als müsste ich erst einmal selbst mein Leben in den Griff kriegen. Herausfinden, was ich will und wer ich bin, ehe ich neues Leben erschaffe. Versteht ihr?
Ich will noch so viel lernen. Mich weiterbilden. Verreisen.
Ich schiebe all das immer in die Zukunft. Sage mir: Nächstes Jahr gehe ich das an. Nächstes Jahr melde ich mich für die Fortbildung an. Nächstes Jahr buche ich einen Flug, egal, wohin.
Und dann tue ich nichts davon.
Bleibe hier in der gewohnten Umgebung und kuschle mich in meine warme Decke.
Puh. Entschuldigt, dass das nun so deep geworden ist.
Der nächste Beitrag wird positiver, versprochen. Da teile ich meine Erkenntnisse über die Langzeitbelichtung bei Porträtshootings mit euch.
Bis dahin, habt eine schöne Zeit.
Eure L
»Na, kann ich so gehen?« Leo posiert vor mir und richtet seine Fliege. Das Hemd steht ihm, so schick sehe ich ihn nur selten.
»Auf jeden Fall«, antworte ich, erhebe mich vom Bett und küsse ihn flüchtig.
»Wenn du die Bluse anziehst, gehen wir im Partnerlook.« Er zeigt auf das Blumenmuster seiner Fliege.
Ich hasse die Blümchenbluse. Sie erinnert mich an meine verstorbene Großmutter, und so lieb ich sie auch hatte: Gewisse Muster sollten einfach verboten werden.
»Ich wollte eigentlich den schwarzen Blazer tragen …«
Sein Lächeln fällt in sich zusammen, doch er nickt. »Okay.«
Es ist klar, dass ihm die Bluse lieber wäre, aber natürlich würde er mir nie vorschreiben, was ich anziehen darf und was nicht. Dennoch fühle ich mich jetzt schlecht. Weil ich ihn glücklich machen will. Es ist doch nur eine Bluse, Lena, reiß dich zusammen!
Also greife ich in den Schrank und ziehe sie hervor.
»Du kannst auch den Blazer tragen, Lena. Der steht dir super«, sagt Leo, doch ich erwidere nichts und ziehe mir mein Shirt über den Kopf, um danach in die Bluse zu schlüpfen.
»Wie spät ist es?«, frage ich kurz darauf.
»Noch zwanzig Minuten, dann holt Sören uns ab.«
»Alles klar. Ich muss noch mal ins Bad.«
»Okay. Lena?«
Ich drehe mich zu ihm. Sehe in seine warmen Augen, suche nach dem Muttermal an seinem linken Wangenknochen, das ich früher so oft geküsst habe.
»Du siehst toll aus.« Und das meint er ernst. Er lächelt glückselig und zieht mich an sich. »Danke, dass du heute mitkommst. Ich weiß, du wolltest erst nicht, aber … Es wird sicher richtig toll!«
»Bestimmt.« Ich löse mich aus seinen Armen und gehe ins Bad. Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen habe, lasse ich mich dagegen fallen. Ruhig atmen, Lena. Alles wird gut.
Leo freut sich seit Wochen auf unser Jahrgangstreffen. Ich versuche, ebenfalls seit Wochen, eine Ausrede zu finden, wieso ich nicht daran teilnehmen kann. Dabei dachte ich eigentlich, Leo würde es verstehen. Viele meiner ehemaligen Mitschüler*innen waren jahrelang grässlich zu mir. Kurz gesagt: Das sind keine Menschen, mit denen ich freiwillig einen halben Tag in einem geschlossenen Raum verbringen möchte.
Leo hingegen freut sich darauf, all seine Kumpel aus dem Sport-LK wiederzusehen. Viele sind damals aus dem kleinen Kuhkaff in größere Städte gezogen. Leo und ich gehören zu den wenigen, die hiergeblieben sind.
Ich mag das Dorf, ich mag die Menschen. So schlimm, wie viele es darstellen, ist es nicht. Im Gegenteil. Es ist vertraut und ruhig. Es ist nicht das Abenteuer, das ich mir früher ausgemalt hatte, wenn ich an mein Erwachsenenleben dachte. Aber es ist auch nicht schrecklich. Mein Leben ist eben kein heißer, lodernder Vulkan, sondern eine warme Decke, die mich umhüllt. Und das sollte doch reichen. Ich sollte dankbar sein für das, was ich habe, und nicht ständig darüber nachgrübeln, was wäre wenn. Das führt zu nichts außer schlaflosen Nächten.
Während ich mir die Wimpern tusche – nur leicht, weil die Mascara sonst am Sucher verschmiert, und die gerötete Stirn abpudere, gehe ich in Gedanken die Sätze durch, die ich mir für den heutigen Abend zurechtgelegt habe. Unverfänglicher Small Talk. Fragen nach der Familie, alte Anekdoten über unbeliebte Lehrpersonen. Bloß keine Fragen nach der Karriere oder zu Kinderwünschen. Das sind Tretminen, die ich gerne umgehen würde.
In Gesprächen mit anderen fühle ich mich oft wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Ich weiß, dass diese Unsicherheit von dem jahrelangen Mobbing kommt, aber auch heute noch kann ich sie nicht ablegen. Ich will, dass mich die anderen mögen. Will nicht unangenehm auffallen. Ich will ganz einfach nichts Falsches sagen, und wenn dann doch einmal ein blöder Satz über meine Lippen kommt, denke ich den ganzen Abend darüber nach und frage mich, was die anderen nun wohl von mir denken. Es ist anstrengend. Auch deshalb vermeide ich Zusammenkünfte wie diese um jeden Preis.
Und dennoch werde ich heute Abend über meinen Schatten springen und meine Komfortzone verlassen.
»Lena, Sören ist da«, höre ich Leo von draußen rufen.
»Ich komme!«, antworte ich und werfe einen letzten, ängstlichen Blick in den Spiegel. Nur noch ein wenig Labello für meine spröden Lippen, die die Sommerhitze ausgedörrt hat, dann bin ich fertig. Du schaffst das!, mache ich mir selbst Mut. Doch die Wahrheit ist: Es sind nicht nur die Leute von damals oder gewisse Gesprächsthemen, vor denen ich Angst habe. Es ist auch der Gedanke an Kate. Meine ehemalige beste Freundin, die heute vielleicht ebenfalls kommen wird. Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren soll, wenn sie mir gegenübersteht. Denn das, was vor fünf Jahren passiert ist, verfolgt mich noch immer.
Eine Stunde später stehen wir vor dem Schultor. Die blaue Farbe ist an einigen Stellen abgeblättert, und Wind und Regen haben das Holz verblassen lassen, doch es knarrt noch genau wie früher, als wir es öffnen und auf den kiesbedeckten Vorplatz treten. Da in unserem Dorf nur so wenige Menschen leben, liegt die weiterführende Schule im Nachbarort. Zu Fuß war es ein Weg von fünfzehn Minuten, doch es gab Tage, da sind Kate und ich die Feldwege entlanggerannt und haben es in neun geschafft. Zu spät kamen wir trotzdem manchmal. Bei dem Gedanken an die Standpauken unserer Lehrerin muss ich lächeln.
Vor Kate bin ich nie zu spät zum Unterricht gekommen. Sie hat mir gezeigt, dass es Wichtigeres gibt als Gleichungen und Aufsätze.
Das Gebäude ist ein großer, rechteckiger Kasten. Nicht schön, aber voller Erinnerungen. Hinter dem Fenster unten rechts in der Ecke lag mein erster Klassenraum. Wie ängstlich ich damals war, als ich in die Fünfte kam.
»Da seid ihr ja.« Selma tritt zu uns, in den Händen eine Tupperdose, in der sich bestimmt das Baklava befindet.
»Jenny kriegt da drin schon die Krise, weil der Strom in der Sporthalle nicht funktioniert.« Sie grinst.
»Also das übliche Chaos?«, frage ich.
»Du weißt ja, ich liebe es, wenn sie die Kontrolle verliert. Dann wirkt sie fast menschlich.«
»Denkt ihr, ich sollte ihr helfen?«, fragt Leo. Er ist zu gut für diese Welt.
»Wenn du uns den Spaß verderben willst«, meint Selma schulterzuckend.
»Ich seh mir das mal an. Treffen wir uns drinnen?« Leo drückt meine Hand, ehe er über den Schulhof in Richtung Sporthalle sprintet.
»Gut, dann bringen wir das erst mal zum Buffet, oder?« Selma deutet auf die Apfeltarte in meinen Händen.
Doch ich antworte ihr nicht. Stattdessen scanne ich meine Umgebung ab. Wir sind früh dran, weil Jenny darauf bestanden hat, dass wir das Buffet aufbauen, doch auch andere Ehemalige laufen bereits über den Schulhof. Ich sehe Annemarie, die Lästerschwester in Person, die mit einer anderen Frau und zwei Männern über den Hof stöckelt. Es ist seltsam, sie wiederzusehen. Weil sie mir das Leben jahrelang zur Hölle gemacht hat und nun wieder hier ist. Schnell senke ich den Blick, damit sie mich nicht bemerkt. Genau deshalb wollte ich nicht herkommen.
»Alles okay bei dir?«, fragt Selma ruhig.
»Ich habe gerade nur einen Geist gesehen.«
»Die kam schon vor einer halben Stunde hier an. Hat sich darüber beschwert, dass wir keine asphaltierten Parkplätze direkt vor der Sporthalle haben. So musste sie doch tatsächlich mit ihren weißen Schuhen über Erde laufen. Kannst du das fassen?«
»Die Arme!« Wir grinsen uns an.
»Na los, lass uns gehen. Je eher wir beim Buffet sind, desto mehr können wir vor allen anderen essen.«
»Denkst du nicht, das fällt auf?«
Selma schüttelt den Kopf. »Du bist nicht mit vier Geschwistern groß geworden. Ich weiß, wie viel man nehmen darf, ohne dass es jemand bemerkt.«
»Ich sehe schon, von dir kann ich noch viel lernen.«
»Oh ja.«
Gemeinsam betreten wir die Eingangshalle und laufen Richtung Mensa. Hier stehen bereits große, silberfarbene Servierwagen mit Tellern, Tabletts und allerlei Fingerfood.
Selma und ich stellen unsere Desserts auf einen freien Wagen am Rand und begutachten dann die Ausbeute.
»Was macht ihr hier?«, ertönt Jennys Stimme hinter uns, und wir zucken zusammen.
»Das Buffet aufbauen?«
»Habt ihr meine Mail nicht bekommen? Es gibt ein klar festgelegtes Konzept. Die veganen Speisen müssen links auf den Wagen, vegetarisch und glutenfrei auf den zweiten von rechts, die Süßspeisen ohne Alkohol auf den ganz rechts, daneben dann die Beilagen …«
Selma rollt hinter Jennys Rücken mit den Augen, und ich muss mir ein Lachen verkneifen.
»Weißt du, Jenny, ich glaube, du kannst das ohnehin viel besser als wir. Sollen wir uns lieber in der Halle um die Tischdeko kümmern?«, schlägt Selma vor.
»Natürlich. Danke. Dann macht das, ich bleibe hier.« Jenny sucht fahrig auf ihrem Handy nach dem Buffetplan und murmelt irgendetwas von laktosefrei und fettreduziert.
Selma hakt sich bei mir unter. »Lass uns hier verschwinden, ehe sie bemerkt, dass die Tische schon längst dekoriert sind. Dann essen wir eben später.«
Grinsend eilen wir aus der Mensa und hinüber in die Sporthalle.
Der große, helle Raum riecht noch genau wie früher. Ein bisschen nach Leder, ein bisschen nach Gummi und penetrantem Deo. Jenny hat am Eingang und auf den Tischen Duftkerzen aufgestellt, doch bei der Hitze wollte die bisher wohl niemand anzünden.