Wer, wenn nicht du - Alicia Zett - E-Book
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Alicia Zett

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Beschreibung

Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Das Finale der New-Adult-Dilogie von Bestsellerautorin Alicia Zett um die junge Fotografin Lena, die nach einer Trennung sich selbst und die Liebe findet Nach ihrer Trennung von Langzeitfreund Leo braucht Lena erst einmal Zeit für sich. Doch sie bekommt weder ihn noch Kate aus dem Kopf. Da bietet ein Fotografie Workshop in Portugal die perfekte Ablenkung. Durch die künstlerische Arbeit und den Austausch mit den anderen, ganz unterschiedlichen Teilnehmenden, findet Lena langsam heraus, wer sie sein und was sie mit ihrem Leben anfangen will. Sie bittet Kate, sie in Portugal zu besuchen, und die beiden kommen einander wieder näher. Doch dann taucht Leo auf, der Lena unbedingt zurückerobern will ... Eine queere Young Romance von Own-Voice-Autorin Alicia Zett. Die queeren Liebesromane mit Tiefgang sind perfekt für Leser*innen von Colleen Hoover, Becky Albertalli oder Casey McQuiston. »Ein Must-Read für alle bisexuellen Frauen, die bis jetzt nur Golden Retriever Boyfriends gedatet haben. Alicia fängt all die verwirrenden Gefühle der ersten queeren Liebe ein und erweckt sie zwischen den Seiten zum Leben.« – Spiegel-Bestseller-Autorin Inka Lindberg über Wer, wenn nicht wir Entdecke auch Alicia Zetts queere New-Adult-Bücher »Not Your Type«, »Maybe Not Tonight« und »No Place For Us«.

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Seitenzahl: 471

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alicia Zett

Wer, wenn nicht du?

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Das Finale der New-Adult-Dilogie von Bestsellerautorin Alicia Zett um die junge Fotografin Lena, die nach einer Trennung sich selbst und die Liebe findet

Nach ihrer Trennung von Langzeitfreund Leo braucht Lena erst einmal Zeit für sich. Doch sie bekommt weder ihn noch Kate aus dem Kopf. Da bietet ein Fotografie Workshop in Portugal die perfekte Ablenkung. Durch die künstlerische Arbeit und den Austausch mit den anderen, ganz unterschiedlichen Teilnehmenden, findet Lena langsam heraus, wer sie sein und was sie mit ihrem Leben anfangen will. Sie bittet Kate, sie in Portugal zu besuchen, und die beiden kommen einander wieder näher. Doch dann taucht Leo auf, der Lena unbedingt zurückerobern will ...

Eine queere Young Romance von Own-Voice-Autorin Alicia Zett.

Die queeren Romances mit Tiefgang sind perfekt für Leser*innen von Colleen Hoover, Becky Albertalli oder Casey McQuiston.

»Ein Must-Read für alle bisexuellen Frauen, die bis jetzt nur Golden Retriever Boyfriends gedatet haben. Alicia fängt all die verwirrenden Gefühle der ersten queeren Liebe ein und erweckt sie zwischen den Seiten zum Leben.« – Spiegel-Bestseller-Autorin Inka Lindberg über Wer, wenn nicht wir

Entdecke auch Alicia Zetts queere New-Adult-Bücher »Not Your Type«, »Maybe Not Tonight« und »No Place For Us«.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Playlist

Prolog

Schuldgefühle

Phase 2: Verdrängung

Queere Kunst und Pistaziencroissants

Die Profi-Kellnerin

Back in Town

Die Sorgen der Familie Martens

Imagine Me & You

Absturz

Aprils Angebot

Bi Panic

Das Haus auf der Klippe

Hochstaplerin

Phase 3: Wut & Trauer

Wer bin ich ohne Leo?

Sad Songs

Vogue Germany

Ein Gefühl von Freiheit

Lesbensport

Männer-Roadtrip

Challenge Accepted

Just Hair

On the Road

Pärchenshooting

Brieffreundin

Coming-out 2.0

Phase 4: Erschöpfung

Hi.

Du bist hier

Adrenalinschub

Feeling Myself

Im Leuchtturm

Lisbon at Night

Ein traumhaftes Vorspiel

Die Antwort auf die drei Fragen

Vor dem Fall

Am Rand der Klippe

Phase 5: Akzeptanz

Joyride

Das Polaroid

Voice Message

Ein letzter Abschied

Bilder von uns

Wishing You Well

Flying Home for Christmas

Das Durchbrechen der Funkstille

New Year, New Me

Phase 6: Loslassen

Epilog: Freundschaft?

Danksagung

Für alle, die sich gerade frisch getrennt haben oder denen die Trennung noch bevorsteht. Alles wird gut.

Playlist

Good Grief – Marielle Kraft

Alive and Unwell – Leah Kate

Conversations – FLETCHER

Jetzt weinst du – HE/RO, Ness

Waldbrand – Madeline Juno

Gotta Go My Own Way – Zac Efron, Vanessa Hudgens

Rewrite Your Story – Song House, Kayley Bishop

Nicht Ich – Madeline Juno

Irgendjemand Anders – Tom Twers

You Might Not Like Her – Maddie Zahm

Miss Movin’ On – Fifth Harmony

Not That Deep – Beth McCarthy

natalie – Emory Parker

Not a Phase – Jessie Paege, Lucy & La Mer

Loyal to myself – Lena

Wenn es sich gut anfühlt – SOPHIA

Let Me Go – Gregor Hägele

sometimes – camylio

Good Luck, Babe! – Chappell Roan

never knew a heart could break itself – Zach Hood

Wish You The Best – Lewis Capaldi

It’s All Love – Abi Carter

10x Better – Marielle Kraft

FU In My Head – Cloudy June

Crush – FLETCHER

So Highschool – Taylor Swift

What I Want – MUNA

Prolog

Lena

Ich habe mich von Leo getrennt.«

Sechs Worte, die mein Leben in ein Vorher und Nachher teilen.

Leo war mein erster richtiger Freund. Ich habe mich noch nie von jemandem getrennt. Was kommt danach? Wie geht es weiter? Ist es normal, dass ich mich am einen Tag unsagbar frei und erleichtert fühle und am nächsten heulend im Bett liege? Ist es normal, dass mich die Gefühle wie Wellen überrollen, unter sich begraben und nach ein paar Stunden mit frischem Wind wieder an Land spülen?

Die letzten Wochen und Monate war da dieser permanente Strudel in meinem Kopf. Ein Hintergrundrauschen, das immer lauter wurde. All diese Fragen und Ängste, die mich zu erdrücken drohten.

Immer wieder schob ich den Gedanken an eine Trennung von mir. Immer wieder kam er zurück. Bis ich ihn nicht mehr aufhalten konnte. Bis alles aus mir herausbrach.

Und seitdem geht es mir besser. So viel besser, dass ich mich deswegen schuldig fühle. Weil ich Leo das Herz gebrochen habe, während meins zum ersten Mal seit Monaten wieder richtig schlägt.

Aber was kommt jetzt?

Leo war mein Leben. Ich habe fast meine gesamte Jugend mit ihm verbracht. Wenn ich mir früher meine Zukunft vorgestellt habe, dann kam er immer darin vor.

Ich bin morgens neben ihm aufgewacht, zu dem Geräusch seines Atems eingeschlafen. Wir haben einander in- und auswendig gekannt. Er wusste alles über mich und ich alles über ihn. Keine Geheimnisse, bis auf das eine, das ich ihm vor wenigen Tagen gebeichtet habe. Kann ich je wieder einem anderen Menschen so nah kommen?

Leo und ich. Wir waren ein Wir.

Jetzt gibt es nur noch mich.

Aber ich glaube, das habe ich noch nicht ganz realisiert.

Es fühlt sich unreal an. Nicht echt. So als befände ich mich in einem Paralleluniversum, in dem ich nur durch eine Tür gehen müsste, um zu ihm zurückzukommen.

Doch hier gibt es keine Türen. Nur eine riesige, leere Fläche. Eine Zukunft, in der auf einmal alles möglich scheint. Und genau das macht mir Angst.

Denn wer bin ich ohne Leo?

Schuldgefühle

Lena, 14 Tage später

Vor zwei Wochen habe ich mich von Leo getrennt. Vor elf Tagen habe ich Kate gesagt, dass ich Zeit brauche. Sie ist zurück nach Amerika geflogen, ich bin zu Mama gezogen.

Unsere Geschichte ist noch nicht vorbei, habe ich zu ihr gesagt, und sie erwiderte: Nein, das ist sie nicht.

Die Trennung war die richtige Entscheidung. Da bin ich mir sicher. Das heißt jedoch nicht, dass mich all das kaltlässt. Dass es mir nicht das Herz bricht, wenn ich daran denke, wie schlecht es Leo gerade geht. Wie sehr ich ihn verletzt habe.

Sieben Jahre war er Teil meines Lebens. Uns verbinden so viele gemeinsame Erinnerungen. So viele schöne Momente, die ich nie vergessen werde.

Und dann ist da Kate. Meine beste Freundin, die ich vor fünf Jahren geküsst habe und die mir erst vor Kurzem gestanden hat, dass sie immer noch in mich verliebt ist. Für die ich ebenfalls etwas empfinde. Die auf mich warten möchte. Darauf, dass ich das Gefühlschaos in den Griff kriege und mein Herz vollständig von Leo löse. Doch wie lange wird sie warten?

Erst einmal muss ich herausfinden, wer ich bin und was ich will.

Als ich vor zwei Wochen heulend vor Mamas Tür stand, hat sie mich an sich gezogen und im Arm gehalten. Danach wollte sie natürlich wissen, was passiert ist, doch ich konnte nicht mit ihr sprechen. Erst an Tag drei habe ich allmählich den Mund aufgemacht.

»Wie geht es dir heute?« Mama mustert mich über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg. Es ist zehn Uhr morgens an einem Freitag. Normalerweise wäre ich schon seit Stunden auf den Beinen. Die nächsten Shootings habe ich alle abgesagt, und ich versuche, nicht an meinen schrumpfenden Kontostand zu denken, dem die Einnahmen guttun würden. Gerade fühle ich mich nicht in der Lage, eine Kamera in die Hand zu nehmen. Und zurück nach Kleeberg zu fahren, ist auch undenkbar.

»Geht so.«

»Was macht der Hunger?«

Ich schüttle den Kopf, nehme aber widerwillig die Banane, die sie mir hinhält. Ich weiß, dass ich etwas essen muss. Aber alles, was ich zu mir nehme, fühlt sich an wie Pappe.

Wieso gehen Menschen überhaupt Beziehungen ein, wenn das Ende so schmerzhaft ist? Im Ernst: Ich verstehe nun alle, die bis an ihr Lebensende single bleiben.

»Möchtest du nachher mit mir in die Stadt fahren? Ich muss noch einkaufen.«

In den letzten Tagen hat sie immer wieder versucht, mich zu kleinen Unternehmungen zu überreden. Sie hat einen Kinobesuch vorgeschlagen, einen Ausflug in unser Lieblingseislokal, gemeinsames Buchshopping. Aber nichts von alledem konnte mich aus ihrer Wohnung holen.

Hier drin bin ich sicher. Was, wenn ich dort draußen Selma, Jenny oder einem von Leos Kumpels über den Weg laufe? Die Stadt liegt nicht weit von Kleeberg entfernt, und gerade am Wochenende ist die Chance hoch, einem bekannten Gesicht zu begegnen. Ich wüsste nicht, wie ich mich dann verhalten würde.

Mama seufzt. »Lena, ich weiß, wie es dir geht. Glaub mir, ich weiß es nur zu gut. Aber mir hat es damals unheimlich geholfen, wieder nach draußen zu gehen. Neue Eindrücke, frische Luft, Bewegung. Du kannst dich nicht ewig hier drin verstecken.«

Natürlich weiß ich, dass sie recht hat. Aber das macht es nicht leichter.

»Sieh mal: Wir nehmen meinen Wagen und fahren nach Köln rein. Wie wäre das? Wir könnten eins der vielen Kunstmuseen besuchen, von denen du früher immer so begeistert warst.«

Oha, jetzt fährt sie aber schweres Geschütz auf. Früher habe ich sie förmlich angefleht, mit mir in eins dieser Museen zu gehen. Aber Köln ist über eine Stunde entfernt, und meine Mutter hat sich nie wirklich für Kunst interessiert. Es ist also klar, dass sie es nur vorschlägt, um mir eine Freude zu machen.

»Wir fahren mit deinem Auto?«

Sie nickt. »Du musst nur die Straße überqueren. Niemand wird dich sehen.«

Sie weiß genau, wovor ich Angst habe. Ich hatte vergessen, wie gut sie mich kennt.

»Na gut. Aber wir hören meine Musik.«

»Wenn es sein muss.« Sie zwinkert mir zu, und ich erhebe mich, um mir frische Klamotten anzuziehen.

Als ich die Tür ihres Arbeitszimmers hinter mir schließe, betrachte ich den Raum vor mir. Er ist klein, und überall stapeln sich Aktenordner und Fachliteratur. Früher arbeitete sie als angestellte Steuerberaterin in einer kleinen Kanzlei, nach ihrer Trennung hat sie sich selbstständig gemacht und berät nun große Firmen und kleinere Start-ups.

Dass ich mit fast vierundzwanzig wieder bei meiner Mutter einziehe, hätte ich mir niemals ausgemalt. Und doch bin ich hier. In ihrer Wohnung. Schlafe auf ihrer Couch. Vierzehn Tage ohne Leo.

Vielleicht hätten wir ja einen Weg gefunden. Vor allem spätabends überfallen mich Gedanken wie dieser. Gibt es nicht doch eine Möglichkeit, all das wieder in Ordnung zu bringen?

Tief in mir drin weiß ich, dass ich mich an Luftschlösser klammere. An schöne Erinnerungen. Dabei war ich seit Monaten unglücklich in der Beziehung. Und dann wären da noch meine Gefühle für Kate. Sie ist nicht der Grund für unsere Trennung. Aber was wäre passiert, wenn sie nicht auf dem Jahrgangstreffen aufgetaucht wäre? Was, wenn sie nie wieder in mein Leben getreten wäre?

Dann hätte es länger gedauert, aber am Ende hätte ich dennoch mit Leo gesprochen und mich von ihm getrennt, das weiß ich.

»Ich sitze in fünf Minuten im Wagen«, ruft Mama aus der Diele und klimpert mit ihren Autoschlüsseln.

»Ich komme gleich«, antworte ich und krame in meinem offenen Koffer nach einem frischen Oberteil und einer Jeans. Beides lege ich auf mein improvisiertes Bett: eine dunkelrote Couch mit einer Neunzig-Zentimeter-Liegefläche und einem ausgeblichenen Kissen.

Ist es entwürdigend, hier bei meiner Mutter in einer Art Abstellraum zu schlafen? Eventuell. Aber mein aktueller Kontostand erlaubt mir keine eigene Wohnung, und weiter mit Leo zusammenzuwohnen, war auch keine Option.

Ich befinde mich in einem seltsamen Schwebezustand. Wieder bei meiner Mutter einzuziehen, fühlt sich an wie ein Rückschritt. Auf einmal bin ich wieder achtzehn, muss mich ihren Regeln und ihren Essenszeiten fügen.

Wenn ich wieder einmal nachts wach liege, frage ich mich, was Leo jetzt gerade wohl macht und wie es Kate geht.

Dabei wollte ich mich doch auf mich konzentrieren. Auf meine Wünsche und Ziele. Die letzten Jahre über habe ich so gut wie nie an mich gedacht. Meine eigenen Gefühle zuzulassen, ist ein schmerzhafter Prozess. Weil da so vieles unter der Oberfläche brodelt.

»Lass alles raus«, ist Mamas Devise. Da hat sie leicht reden. Seit der Trennung habe ich dreimal richtig heftig geweint, und ich gebe zu, dass es gutgetan hat. »Durch den Schmerz gehen«, so nennt Mama das. Das sei besser, als es runterzuschlucken. Am Ende würden die Gefühle einen sowieso einholen, also sollte man sich lieber gleich die volle Dröhnung geben. Ihre Worte, nicht meine.

Und ich will ja durch den Schmerz gehen. All das fühlen. Aber ich glaube, gerade befinde ich mich immer noch in einer Art Schockzustand. Ich starre mit weit aufgerissenen Augen auf die Trümmer meines Lebens und versuche, all das zu verarbeiten.

In einem Monat geht mein Flug nach Portugal, und schon jetzt zähle ich die Tage. Ich kann es nicht erwarten, Kleeberg weit hinter mir zu lassen. Etwas Neues zu sehen, Abstand zu gewinnen. Es ist fast ein körperlicher Drang, der mich fortzieht. Ich brauche diesen Neuanfang. Ich weiß, dass die Distanz mir helfen wird, klarer zu sehen.

Früher habe ich nie verstanden, wieso Menschen nach einer Trennung nicht befreundet bleiben können. Wieso Mama damals so schnell ausgezogen ist. Ich dachte, sie und Papa wären all die Jahre über so gut miteinander ausgekommen.

Doch langsam begreife ich es. Meine Sachen aus der Wohnung zu holen, war schrecklich. Und noch immer steht viel zu viel dort, weil ich es nicht über mich bringe, erneut vorbeizugehen. Denn Leo jetzt zu begegnen und seinen Schmerz zu sehen … Das könnte ich nicht. Es wäre zu viel.

Also verkrieche ich mich lieber hier in Mamas Arbeitszimmer.

Ich schlüpfe in die Jeans und ziehe mir einen Pullover über mein Shirt.

Ehe ich das Arbeitszimmer verlasse, überprüfe ich mein Aussehen durch die Frontkamera meines Handys.

Dunkle Ringe haben sich unter meinen Augen gebildet, meine Haare wirken stumpf und gräulich. Ich fahre mit den Fingern durch die spröden Strähnen. Am liebsten würde ich sie hier und jetzt abschneiden. Weil sie so leblos an mir herabhängen und ein Spiegelbild meiner Seele sind. Doch ich unterdrücke den Drang und starre stattdessen in meine eigenen Augen, die bläulich-grau schimmern.

Wie kann es sein, dass mein Herz entzweigerissen ist?, frage ich stumm das Gesicht im Bildschirm.

Die eine Hälfte trauert um Leo, die andere sehnt sich nach Kate.

Denk an dich. Denk einmal nur an dich, Lena.

Wenn das so einfach wäre.

Phase 2: Verdrängung

Leo

Vierzehn Tage nach Lenas Auszug ist der Duft ihres Parfüms verflogen. Jeden Morgen habe ich wie ein Süchtiger an ihrem Kissen gerochen. Nun ist ihr Geruch fort. Genau wie sie.

Noch immer wache ich auf und habe für ein paar Sekunden vergessen, was passiert ist. Dann drehe ich mich zur Seite und suche mit der Hand nach ihrem Körper. Ertaste das kalte Kissen, die leere Bettseite. Eine Millisekunde später begreife ich es. Die Realität bricht über mir zusammen und begräbt mich unter sich.

Jannick, Fenna und Olli halten die Stellung und übernehmen meine Aufgaben, und Mama kommt jeden Tag zu mir und bringt mir Tee. Papa versucht sich an weisen Ratschlägen, aber er kann mir nicht helfen. Er hat seine Jugendliebe geheiratet und ist noch immer glücklich mit ihr. Trotz all der Schicksalsschläge kann die beiden nichts auseinanderbringen. Meine Eltern waren immer mein Vorbild für die perfekte Beziehung. Jetzt bin ich neidisch auf sie, weil sie etwas haben, das mir genommen wurde.

Mama sagt, dass es besser werden wird. Mit der Zeit. Dabei vermisst sie Lena fast genauso sehr wie ich.

AJ kommt ebenfalls oft vorbei und versucht, mich abzulenken. Aber was soll das bringen? Ich will mich nicht ablenken. Ich will in Selbstmitleid zerfließen, mich auflösen.

Die ersten Tage nach der Trennung bereue ich es sogar, morgens aufzuwachen. Denn in meinen Träumen sind Lena und ich noch zusammen. Als ich mich AJ anvertraute, drängte er mich dazu, mich bei Frau Körner zu melden. Offiziell ist sie nicht mehr meine Therapeutin, aber ich bin nach dem Unfall meiner Eltern ein Jahr lang zu ihr gegangen, und am Ende meiner Therapiezeit meinte sie, dass ich mich jederzeit melden könne, wenn ich Probleme hätte.

Tja, das habe ich bisher nicht getan. Weil ich nicht weiß, ob meine aktuelle Situation als Problem zählt. Geht es mir schlecht genug? Ist eine Trennung wirklich ein Therapiegrund?

Vielleicht schreibe ich ihr morgen eine Mail. Wenn ich mich dazu überwinden kann. Denn wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich es schaffe, für eine Therapiestunde das Gestüt zu verlassen.

So hilflos und leer habe ich mich noch nie gefühlt. Lena war mein Leben. Meine Zukunft und meine Vergangenheit. Ohne sie gibt es nichts, worauf ich mich freuen kann. All unsere Pläne beinhalteten uns beide. Unsere kleine Familie, von der ich immer träumte – sie wird es nun nie geben.

»Ich weiß, das willst du jetzt nicht hören, aber es gibt auch ein Leben ohne Lena, das weißt du, oder?«

»Nicht für mich. Sie ist mein Mensch, AJ.« Wie soll ich ihm begreiflich machen, wie sehr ich sie liebe? Wie sehr sie mir fehlt? Dafür gibt es keine Worte. Als sie gegangen ist, hat sie einen Teil meines Herzens mit sich genommen, so fühlt es sich an. Und diese Stelle klafft nun offen und wund in meiner Brust.

Wenn früher in Filmen und Serien von Herzschmerz die Rede war, habe ich das nie verstanden. Wie können Gefühle körperliche Schmerzen auslösen? Jetzt verstehe ich all die Songtexte.

Ab und zu gibt es kurze Lichtmomente. Wenn AJ mich zum Lachen bringt oder Mama und Jannick mir eine Anekdote von einem unserer Pferde erzählen. Dann habe ich für kurze Zeit das Gefühl, wieder ich selbst zu sein.

Doch im nächsten Moment bleibt mein Blick an einem unserer Bilder hängen, oder an einem ihrer Kleidungsstücke, die sie vergessen hat, und alles fällt in sich zusammen.

Unsere Wohnung fühlt sich an wie ein Mausoleum. Lena steckt in jeder Ritze. In jedem Staubkorn, in jedem Partikel, das durch die Luft fliegt. Ich rieche sie, wenn ich ihr Shampoo im Bad öffne. Ich sehe sie, wenn ich den Lesesessel im Wohnzimmer betrachte. Ich denke an sie in jeder Sekunde, in der ich wach bin, und wenn ich schlafe, überrollen mich gemeinsame Erinnerungen.

»Lass uns was unternehmen. Du musst mal hier raus«, hat AJ vorgeschlagen, nachdem ich mich drei Tage nur vom Bett ins Bad und wieder zurück bewegt hatte.

Draußen wurde es allerdings nicht besser. Die Sonne war zu grell und viel zu freundlich und Fenna und Olli viel zu fröhlich. Ich weiß, sie alle wollen für mich da sein und mich aufheitern, und ein Teil von mir ist ihnen auch dankbar. Aber Fakt ist: Meine Welt ist zerbrochen, und kein Spaziergang bei Sonnenschein, kein selbst gebackener Kuchen und kein lieb gemeintes Gespräch kann sie wieder zusammensetzen.

Das Einzige, was mir helfen würde, wäre Lena, die zu mir zurückkommt. Und ich weiß, wie traurig das klingt. Aber ich habe die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben. Das mit uns kann nicht vorbei sein. Nicht so.

Kate

Spätsommer in L.A. sind immer heiß, aber dieser ganz besonders. Ich fächle mir Luft zu, während ich darauf warte, dass die Stylistin mir das richtige Outfit aus dem Fundus bringt.

»Kannst du dich noch einmal leicht zur Seite drehen?« April hält ihr Diensthandy in die Höhe, und ich folge ihrer Anweisung. Ich bin dankbar, dass sie sich um meine Social-Media-Konten kümmert. Als persönliche Assistentin ist sie unabdingbar. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen ich am liebsten den ganzen Tag im Bett verbringen würde. Und das, obwohl ich meinen Job liebe. Gerade Shootings wie das heutige, in dem ich für eine queere Kampagne abgelichtet werde. Doch selbst die Aussicht darauf, mit namhaften Ikonen aus der Szene für Repräsentation und Vielfalt zu posieren, kann mich nicht aufmuntern.

»Deutschland hat dich viel zu blass gemacht. Soll ich dir einen Termin im Solarium buchen?«, fragt sie und mustert mich über den Rand ihrer dicken Hornbrille hinweg.

April ist bereits seit drei Jahren meine Assistentin, und sie macht ihre Sache sehr gut. Sie ist stets diskret, weiß, wann ihre Meinung gefragt ist und wann nicht.

April und ich kommen also gut miteinander aus, aber als enge Freundin würde ich sie nicht bezeichnen. Wir arbeiten zusammen, gehen gelegentlich zusammen essen, aber ein Teil von mir hat sie immer auf Distanz gehalten. Um die professionelle Ebene nicht zu überschreiten. Wieso, das weiß ich nicht. Ich denke, in den letzten Jahren bin ich vorsichtiger geworden, wem ich vertraue und wem nicht. In diesem Business lernt man das leider schnell. Aber ich würde es gerne ändern. Ich möchte mich anderen Menschen wieder mehr öffnen, das habe ich mir fest vorgenommen, als ich zurück nach L.A. geflogen bin. Es kann nicht sein, dass mein Leben um Lena kreist, so als wäre sie der Mittelpunkt der Erde. Ja, ich liebe sie, und diese Gefühle sind groß und echt, aber es gibt auch noch andere Dinge. Andere Menschen, die mir wichtig sind. Und April gehört dazu. Ich weiß nur nicht, wie ich ihr das sagen soll, ohne mich dabei vollkommen peinlich zu verhalten. Immerhin sind wir keine zwölf mehr. Ich kann sie nicht einfach fragen: Willst du meine Freundin sein?

»Solarium klingt gut, kannst du mir noch eine Massage hinterher buchen?«

»Wird erledigt.« April lächelt, und ihre braunen Locken wippen, während sie etwas in ihr Smartphone tippt.

»Ich hätte außerdem noch eine Frage. Und ich würde verstehen, wenn das nicht möglich ist, aber nächstes Wochenende ist Thanksgiving, und meine Familie hat gefragt, ob ich …«

»Nimm dir gerne das Wochenende frei«, unterbreche ich sie.

»Wirklich? Aber was ist mit der Aftershow-Party von Prada?«

Ich winke ab. »Miriam kann mich begleiten. Sonst schaffe ich das aber auch allein. Ich bin immerhin schon ein großes Mädchen.«

Aprils Wangen röten sich, und sie lächelt. »Natürlich. Meine Familie wird sich riesig freuen, danke. Kommen deine Eltern demnächst denn mal in die Staaten?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, ich denke nicht.«

»Sehr schade. Aber vielleicht ist es ohnehin besser, wenn du sie besuchst. Diese Bilder, die deine Freundin in Deutschland von dir gemacht hat – die sind einmalig!« Nun strahlt sie mich an, und in mir zieht sich alles zusammen.

»Sobald die Vogue-Ausgabe online ist, können wir auch ein paar davon auf deinem Insta-Kanal posten. Diese Gegenüberstellungen von Vergangenheit und Gegenwart werden super bei der Community ankommen.«

»Hm.« Ich will jetzt nicht an die Fotos denken, denn dann wandern meine Gedanken unweigerlich zu Lena und … Zu spät.

»Miriam hat gesagt, du sollst ihr unbedingt den Kontakt von der Fotografin schicken. Sie will sie für weitere Shootings engagieren.«

»Ach ja?«

April nickt begeistert. »Wäre das nicht toll? Ihr kennt euch schon lange, oder? Ach, was würde ich dafür geben, mich mit einer meiner Kindheitsfreundinnen noch so gut zu verstehen.«

»Soo eng befreundet sind wir jetzt auch nicht«, weiche ich aus und sehe wieder unseren Kuss vor mir. Wie kann es sein, dass ich das Gefühl von ihren Lippen auf meinen in all den Jahren nicht vergessen habe?

»Na ja, vielleicht wächst eure Freundschaft ja wieder. Miriam ist jedenfalls begeistert von ihr.«

»Ich schicke ihr Lenas Kontaktdaten, wenn ich nach Hause komme«, sage ich und drehe mich zurück zum Spiegel. Betrachte mein Gesicht in dem glänzenden Metall. Vielleicht war das doch eine blöde Idee. April und ich als beste Freundinnen? Dann müsste ich ihr irgendwann auch alles über Lena und mich erzählen. Und das … Nein, dazu bin ich noch nicht bereit. Genau deshalb halte ich meine Bekanntschaften gerne oberflächlich. Weil ich dann keine Gefahr laufe, verletzt zu werden. Außerdem bin ich hier auf der Arbeit. Ich sollte mich auf die Shootings konzentrieren, denn das ist aktuell das Einzige, das mich von den Gedanken an Lena ablenkt.

Sie wird sich melden, wenn sie so weit ist, das hat sie mir versprochen. Und bis sie das tut, werde ich versuchen, mich auf mein Leben zu konzentrieren. Egal, wie schwer mir das auch fallen mag.

Queere Kunst und Pistaziencroissants

Lena

Köln ist laut und heiß und wundervoll. Sobald wir aus dem Auto steigen, werde ich überrollt von dem Leben, das in jeder Ritze dieser Stadt pulsiert.

»Nicht so schnell, Lena. Ich muss noch ein Ticket ziehen!«, ruft meine Mutter, doch ich höre sie kaum.

Vielleicht liegt es daran, dass ich die letzten zwei Wochen überwiegend in ihrer Wohnung verbracht habe, aber die frische Luft und die neue Umgebung wirken nahezu belebend auf mich.

Mit Leo war ich noch nie in Köln. Wieso eigentlich? Es ist nur eine knappe Stunde von Kleeberg entfernt. Aber immer, wenn ich einen Ausflug vorgeschlagen habe, kam etwas dazwischen. Und ich hatte Verständnis dafür, immerhin fällt auf so einem großen Gestüt ständig etwas an. Und doch … In fünf Jahren waren wir nicht ein Mal hier. Ich hätte allein herkommen können. Allein die Museen besuchen, deren Social-Media-Seiten ich schon so lange verfolge. Wieso habe ich es nie getan?

Damit ist jetzt Schluss. Ich bin hier. Ich kann auch Dinge ohne ihn erleben. Tief in mir drin wusste ich wahrscheinlich, dass Köln Leo nicht gefallen würde. Er ist Landmensch durch und durch und würde die Natur Menschenmassen immer vorziehen. Aber was ist mit mir? Gefällt mir diese Stadt? Ich werfe einen Blick in die bunten Schaufenster, nehme den Duft wahr, der aus einem kleinen Café dringt, und beobachte ein Pärchen, das händchenhaltend über die Straße geht.

Ja, ja, ich glaube, es gefällt mir.

Wir schlendern über die Hohenzollernbrücke, und ich versuche, nicht auf die Tausenden von Liebesschlössern zu achten, die an den metallenen Streben angebracht sind. Stattdessen richte ich meinen Blick nach vorne auf den Kölner Dom. Auf die zwei spitzen Türme, die einen dunklen Kontrast zum blauen Himmel bilden. Dieses Gebäude ist wahrlich beeindruckend.

»Hier müssen wir nach links«, höre ich meine Mutter sagen, die die Adresse des Museums in ihr Handy eingegeben hat.

»Seit wann weißt du eigentlich, wie man Google Maps verwendet?«, frage ich. Immerhin haben sie früher schon die kleinsten technischen Aufgaben überfordert.

»Es gibt Dinge, die lernt man, wenn man allein lebt«, lautet ihre Antwort, und erst denke ich, dass meine Worte sie getroffen haben, doch dann sehe ich das Lächeln auf ihren Lippen.

»Ich weiß jetzt auch, wie ich den Receiver am Fernseher programmiere, und fahre eigenständig in die Waschstraße.«

Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Leo hat sich um alles Handwerkliche gekümmert und immer dafür gesorgt, dass mein PC funktionierte. Wenn man es so sieht, hatten wir eine klassische heterosexuelle Aufteilung in unserer Beziehung. Ich war verantwortlich für den Wocheneinkauf, übernahm viele Aufgaben im Haushalt und half seinen Geschwistern beim Lernen. Leo arbeitete auf dem Hof, reparierte alles, was anfiel, und war derjenige, der stets den Überblick über unsere Finanzen und die Versicherungen behielt. Okay, das war hauptsächlich seine Mutter, aber er hat das alles mit ihr besprochen. Oh Gott, wie soll ich das allein hinkriegen?

In meinem Kopf höre ich Kate schnauben. Natürlich, sie findet solche Gedanken lächerlich. Sie würde das alles auch ohne die Hilfe anderer hinkriegen. Aber ich bin nicht wie Kate. Das war ich noch nie.

Rede nicht so schlecht von dir. Du weißt gar nicht, wozu du fähig bist, Lena Janssen.

Seit wann spricht Kate in meinen Gedanken mit mir? Sollte mir das Sorgen bereiten?

»Da wären wir.« Mama zeigt auf das Gebäude vor uns. Es ist bereits von außen beeindruckend. Rote Ziegelsteine zieren das Untergeschoss. Das Dach besteht aus gebogenem Metall, das aus dem richtigen Winkel aussieht wie Wellen, die sich im Himmel brechen. Fasziniert betrachte ich das Bauwerk und zücke mein Handy, um ein Foto zu machen.

Meine Kamera habe ich in Mamas Wohnung gelassen. Ich rede mir ein, dass es daran liegt, dass das Fotografieren im Museum ohnehin verboten ist. Doch ich habe meine Kamera schon seit Tagen nicht mehr in die Hand genommen. Das letzte Foto, das ich mit ihr geschossen habe, zeigt mich wenige Minuten nach der Trennung, und ich kann und will es mir nicht noch einmal ansehen.

Ich weiß, dass ich vor dem Workshop in Portugal üben sollte. Aber gerade fühle ich mich nicht bereit dazu.

Museum Ludwig steht in serifenlosen Buchstaben über dem Eingang. Ich trete hinter Mama durch die Tür.

Nachdem wir unser Ticket bezahlt haben, folgen wir den Wegweisern in die Haupthalle. Mama blättert schon ganz interessiert in dem Flyer, den uns die Person an der Anmeldung gegeben hat.

»Möchtest du dir die Sonderausstellung ansehen? Die befindet sich in Halle drei.«

»Klar, warum nicht?«

Es ist gut, dass Mama dabei ist und die Entscheidungen für mich treffen kann. So muss ich ihr nur folgen.

Doch ich bereue es sofort, als wir die Halle betreten. Sie ist nicht sonderlich voll, aber vielleicht hätte ich mir vorher das Thema der Ausstellung durchlesen sollen.

Queere Liebe im Laufe der Zeit verkündet ein Banner über unseren Köpfen.

Ich habe mit Mama nicht über Kate gesprochen. Sie weiß nur, dass ich mich von Leo getrennt habe, weil ich unglücklich war. Aber jetzt frage ich mich, ob sie etwas ahnt? Wieso sonst sollte sie diese Ausstellung besuchen wollen?

Ich lasse mir nichts anmerken und trete an das erste Bild heran. Es ist ein Gemälde, auf dem zwei Frauen abgebildet sind. Eine trägt einen Lorbeerkranz auf ihrem dunklen Haar und vergräbt das Gesicht im Nacken der Rothaarigen, die mich direkt anzublicken scheint. Das Bild ist viel zu intim. Schnell gehe ich weiter zum nächsten. Doch auch dieses Bild fühlt sich zu privat an. Die ganze rechte Seite der Halle ist gefüllt mit queeren Pärchen, die auf Leinwänden verewigt wurden. Die Jahreszahlen unter den Bildern verraten, dass viele von ihnen mehrere Hundert Jahre alt sind. Oft wurden sie versteckt, um nicht verbrannt zu werden. Viele Personen sind unkenntlich gemacht, ihre Gesichter verwischt oder zur Seite geneigt. Aber ein paar blicken mir offen entgegen.

Und dann gelange ich zu den Fotografien. Da sind Männer in Kleidern, die Gesichter einander zugewandt, die Hände miteinander verschränkt. Zwei Personen, die sich hinter einem Schleier verstecken, nur ihre umschlungenen Körper sind zu sehen. Auch Aktfotografien gibt es. Ich bewundere das Spiel von Schatten und Licht, das sich auf den unterschiedlichen Hauttönen bricht. Es gibt Unterschiede in Alter, Herkunft, Geschlecht und doch … All diese Menschen haben einander geliebt. In dem Moment, in dem die Kamera das Bild eingefangen und es damit verewigt hat.

Der Kloß in meinem Hals wird dicker, denn auf einmal sehe ich Leo in dem blonden jungen Mann. Und Kate in der dunkelhaarigen Frau, die sich auf einer Parkbank über eine blonde Frau beugt und diese leidenschaftlich küsst.

Und dann ist da eine junge Frau in einem schwarzen Anzug mit Fliege und schwarzem Herrenhut, die eine Kamera in ihren Händen hält. Ihr Gesicht ist der Person zugewandt, die das Foto geschossen hat, und in ihrem Blick liegt eine Sehnsucht, die mir eine Gänsehaut bereitet.

Schon immer war mir die Macht von Fotos bewusst. Aber ich habe noch nie ein Bild gesehen, das mir so sehr aus der Seele spricht. Denn ich verstehe diese Frau, obwohl uns über hundert Jahre trennen. Ich verstehe ihren Schmerz, ihre Lust und all die Unsicherheit. Dabei wirkt sie so stark in ihrem Anzug und der Lässigkeit, die ihre Pose ausstrahlt.

Doch es sind ihre Augen, die sie verraten. Es sind immer die Augen.

»Das hier gefällt dir wohl besonders.« Fast hatte ich vergessen, dass meine Mutter auch noch anwesend ist.

»Es ist eine beeindruckende Fotografie«, sage ich ausweichend.

»Wohl wahr. Mir gefallen auch die Skulpturen in der Mitte. Hast du die schon gesehen? Ich finde es unfassbar, dass solche Kunstwerke jahrelang versteckt wurden oder als«, sie überlegt, »ein Abbild von guter Freundschaft galten.«

»And they’ve been really good friends«, meine ich, und fast entweicht meinem Mund ein Lachen.

»Also wer bei diesen zwei Männern an sehr gute Kumpel denkt, dem ist auch nicht mehr zu helfen.« Sie zeigt auf eine Statue hinter uns, die zwei nackte Körper zeigt, die einander umschlingen. Die Hand der einen Person verschwindet zwischen den Beinen der anderen, nur verdeckt von einem Lorbeerblatt.

»Ich weiß nicht, was du meinst.« Und nun kann ich mich nicht mehr zurückhalten, zum ersten Mal seit zwei Wochen lache ich. Es fühlt sich seltsam an, so als habe mein Mund verlernt, wie er sich in solch einer Situation verhalten soll.

»Diese Ausstellung ist einmalig«, schwärmt meine Mutter, während wir uns dem Ende der Halle nähern. »Ich hatte ja keine Ahnung … All diese Menschen haben ihr Leben riskiert, um an ihrer Liebe festzuhalten.«

Und wieder frage ich mich: Ahnt sie etwas? Kann sie wissen, welche Gefühle mich seit nunmehr fünf Jahren verfolgen?

Ich weiß nicht, wieso ich Mama nie von dem Kuss erzählt habe. Vermutlich aus demselben Grund, aus dem ich auch sonst niemandem davon erzählt habe: Scham. Immerhin war ich mit Leo zusammen. Ich liebte ihn. Mit diesem Kuss habe ich ihn betrogen.

Aber wäre ich anders mit der Situation umgegangen, wenn Kate ein Mann gewesen wäre? Ich schlucke, weil die Antwort klar ist: Ja. Ich hätte mit Mama gesprochen. Ich hätte mich sicher auch Selma anvertraut, und wer weiß, vielleicht hätte ich Leo alles gebeichtet.

Aber es war kein Mann. Ich hatte nicht nur Kate geküsst, ich hatte … an diesem Abend etwas herausgefunden, das ich selbst lange Zeit nicht benennen konnte. Das ich auch jetzt noch nicht ganz greifen kann.

Doch hier in dieser Halle beginne ich langsam, es zu verstehen. Diese Gefühle, die ich für meine beste Freundin habe, sie sind normal. Sie sind nichts, wofür ich mich schämen müsste.

Wieso tue ich es dann? Die Erkenntnis treibt mir wieder die Tränen in die Augen. Vielleicht ist der Damm endlich gebrochen, die Schockstarre beendet. Doch ich will jetzt nicht mitten in einem Museum heulen!

Offenbar hat meine Mutter meine glasigen Augen bemerkt, denn sie sagt: »So langsam grummelt mir der Magen. Was sagst du: Wollen wir uns ins Museumscafé setzen, oder möchtest du woanders hingehen?«

»Gibt es hier in der Nähe denn gute Cafés?«, frage ich, immerhin kenne ich mich in dieser großen Stadt nicht aus.

»Das finden wir gleich heraus.« Mit diesen Worten geht sie schnurstracks auf einen der Museumsmitarbeitenden zu.

Fragt sie diese Person jetzt etwa nach Café-Tipps? Einerseits bin ich peinlich berührt, andererseits extrem beeindruckt. So etwas würde ich mich nicht trauen.

Kurz darauf kommt sie zu mir zurück. »Also, mir wurde das Hempies am Rudolfplatz empfohlen. Das ist etwa zwanzig Minuten zu Fuß von hier, dafür aber komplett vegan. Lust auf Kuchen und Latte macchiato?«

Eine halbe Stunde später sitzen wir in dem Bistro mit der gemütlichen Inneneinrichtung auf einem bequemen rosa Samtsofa, und Mama bestellt uns beiden einen Latte macchiato mit Hafermilch, während ich aufstehe, um mir die Auslage mit Torten und süßen Teilchen anzusehen. Ich glaube, gerade habe ich zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder richtig Hunger. Jedenfalls knurrt mein Magen, während ich all die Köstlichkeiten bewundere.

»Soll ich dir etwas empfehlen?«, fragt die Person hinter dem Tresen. Sie hat einen Undercut und stechend blaue Augen. Über ihrem Namensschild, das mir verrät, dass sie Sina heißt, steckt ein Regenbogen-Pin, und ich weiß nicht, wieso, aber auf einmal werde ich ganz verlegen. Vielleicht, weil sie mich an die 18-jährige Kate in der Nacht unseres Abiballs erinnert. Weil sie ihre Haare damals fast genauso trug. Weil ich nur diese kurzen Stoppeln ansehen muss, um zu wissen, wie sie sich unter meinen Fingern angefühlt haben.

»Ich … ähm … Ja, gerne«, bringe ich unter großem Gestammel hervor.

»Sehr beliebt sind unsere Nussecken, aber mein heimlicher Favorit ist das Pistaziencroissant.« Sie zeigt auf eine Auslage hinter sich, in der mehrere Reihen an Croissants liegen, die mit einer hellen Creme und Pistazienkrümeln verziert sind.

»Dann nehme ich gern eins davon.«

»Kommt sofort.«

Während sie das Croissant auf einen Teller legt, spiele ich an dem Silberring an meinem Zeigefinger. Wieso bin ich so nervös?

»Kommst du von hier?«, fragt Sina, nachdem sie mir das Croissant über die Theke gereicht hat.

»Nein, ich … besuche die Stadt mit meiner Mutter.« Wow, richtig tolle, geistreiche Antwort.

»Schade.« Sie lächelt, und ich spüre, wie meine Wangen heiß werden. Flirtet sie gerade mit mir? Ich muss hier weg! Wieso denkt sie, ich wäre an ihr interessiert? Sehe ich so aus? Habe ich irgendetwas gesagt oder getan, das sie denken lässt, ich wäre lesbisch?

Lena, entspann dich, jetzt ist keine Zeit für einen Nervenzusammenbruch. Kates Stimme legt sich warm und weich auf mein pochendes Herz. Verdammt, was ist nur los mit mir?

Ich schaffe es nicht, Sina noch einmal in die Augen zu blicken. Stattdessen laufe ich schnell zurück zu meiner Mutter.

»Alles okay, mein Schatz? Du siehst etwas durch den Wind aus.«

»Ich glaube, die Barista hat gerade mit mir geflirtet«, kommt es über meine Lippen, ehe ich mich selbst stoppen kann.

»Verständlich. Du bist eine hübsche junge Frau.«

Mehr sagt sie nicht, und ich zittere immer noch am ganzen Körper.

Sie bemerkt mein Unbehagen und legt ihre Hand auf meine, die das Wasserglas umklammert, so als hinge mein Leben davon ab.

»Nachdem ich mich von deinem Vater getrennt hatte, gab es eine Phase, in der mich auf einmal fremde Männer ansprachen. Das hat mich komplett überfordert. Immerhin hatte ich zwanzig Jahre lang keinen Blick für andere Männer gehabt. Ich wusste gar nicht, wie ich damit umgehen sollte. Aber eine meiner Freundinnen meinte dann, dass ich mich doch darüber freuen könne. Nicht weil etwas zwischen mir und diesen Männern laufen würde, sondern weil es mir etwas ganz klar zeigte: Es gibt auch andere Menschen, die mich interessant finden.«

Sie lässt meine Hand los und rührt bedächtig in ihrem Kaffee. »Ich weiß, ich war diejenige, die sich getrennt hat, aber dennoch habe ich mich ständig gefragt, ob es ein Fehler war. Ich dachte, sicher würde mich niemals jemand wieder so lieben, wie er es getan hatte.«

Mein Herz zieht sich zusammen. Woher weiß sie so genau, wie ich mich fühle?

»Aber das ist nicht wahr. Es gibt nicht nur diesen einen Menschen für uns. Das wäre doch eine ziemlich traurige Welt. Was, wenn man diese andere Person niemals treffen würde? Oder sie stirbt? Wenn es für jeden von uns nur eine andere Person auf der Welt gibt, wären die meisten von uns unglücklich. Doch so ist das nicht. Ich glaube schon, dass es Seelenverwandtschaft geben kann. Aber eben nicht nur einmal.«

So habe ich das noch nie gesehen. Die ganze Zeit über mache ich mir Vorwürfe, dass ich Gefühle für Kate entwickelt habe, obwohl ich doch Leo liebte.

Was, wenn beide für mich bestimmt waren?

»Du denkst also, man kann mehr als einen Menschen lieben?«, frage ich.

Sie nickt. »In meinem Fall nicht gleichzeitig, aber ja. Ich habe da letztens eine Doku über eine Beziehung zwischen drei Menschen gesehen. Die leben poly, so nennt man das, glaube ich. Sie lieben sich alle gegenseitig. Ich weiß, dass ich das nicht könnte, aber für andere ist es möglich. Und sie sahen alle drei so glücklich aus, das fand ich schön.«

Kurz bin ich verwundert darüber, dass meine Mutter solche Dokus schaut, doch dann fällt mir ein, dass sie mich gerade in eine queere Ausstellung geschleppt hat. Warum habe ich nicht bemerkt, wie aufgeschlossen sie dem ganzen Thema gegenüber ist?

»Als du dich von Papa getrennt hast, war ich so wütend«, sage ich leise. »Ich habe dich gehasst.«

»Ich weiß. Du konntest deine Gefühle noch nie gut vor mir verstecken. Wie du mich angesehen hast … Zwischen deinem Vater und mir, das war schon lange keine Liebe mehr. Eher eine Zweckgemeinschaft. Und ich weiß, dass es falsch war, so lange zu warten, aber als Mutter versuchst du immer, das zu tun, was am besten für dein Kind ist, und ich dachte, das Beste für dich wäre es, wenn wir zusammenbleiben. Und als ich mich dann doch getrennt habe … Da hatte ich solche Angst, dass du nie wieder etwas mit mir zu tun haben willst.«

Ich muss schlucken. So ehrlich haben wir seit Jahren nicht mehr miteinander geredet.

»Das war nicht fair von mir«, sage ich dann. »So wütend auf dich zu sein. Ich habe es einfach nicht verstanden, aber jetzt … jetzt verstehe ich es. Und ich sehe ja auch, dass du nun glücklicher bist. Nur Papa ist immer noch so traurig.«

Ein Schatten legt sich über ihr Gesicht, als sie nickt.

»Ich weiß. Aber er wird sein Glück wiederfinden, da bin ich mir sicher. Ich kann nicht die Person sein, die es ihm gibt.«

Es sind harte Worte, die mich früher unendlich wütend gemacht hätten. Doch jetzt verstehe ich sie. Ich verstehe sie viel zu gut.

»Hattest du keine Angst … Ich meine, ihr wart so lange verheiratet … Ich frage mich manchmal, ob ich überhaupt noch weiß, wer ich bin.«

Da, ich habe es gesagt. Wieder greift meine Mutter nach meiner Hand und streicht zärtlich darüber. Diese Berührung löst den Knoten in meinem Hals, und nun weine ich doch an einem öffentlichen Ort. Wundervoll.

»Natürlich hatte ich Angst. Es war so beängstigend, dass ich an manchen Tagen gar nicht das Haus verlassen habe. Herauszufinden, wer man ist, ist ein schmerzhafter und anstrengender Prozess, und es wird viel zu wenig darüber gesprochen. Denn die Person, die man im Laufe einer Beziehung wird, ist oft meilenweit von der Person entfernt, die man davor war. Im guten wie im schlechten Sinne. Ich wusste anfangs nicht einmal, wie ich meine Nudeln gerne esse. Weil dein Vater sie immer mit dunkler Sauce aß und ich das irgendwann übernommen habe, weil es einfacher war. Aber mochte ich dunkle Sauce überhaupt? Es ist so banal, aber …«

»Ich verstehe genau, was du meinst«, sage ich und lache, während ich gleichzeitig aufschluchze und nach einer Serviette greife. Hoffentlich beobachtet Sina uns nicht.

»Es gibt auch eine Lena ohne Leo, weißt du? Und diese Lena ist immer noch ein Teil von dir.«

Mamas Worte hallen lange in mir nach. Auch noch, nachdem wir das Hempies verlassen haben und meine Tränen getrocknet sind. Auch dann noch, als wir aus dem Parkhaus und über den Rhein zurück zu Mamas Wohnung fahren. Köln zieht an mir vorbei. Diese große Stadt mit ihren bunten Straßen und vielen Menschen. Dieser Ort, der einerseits von einem großen Fluss in zwei Teile geteilt und andererseits durch so viele Brücken miteinander verbunden wird.

Ich mag Köln. Sehr sogar. Zumindest den kleinen Teil, den ich heute besuchen durfte.

Es ist so unwichtig. Ein kleines Detail. Und dennoch fühlt es sich riesig an. Weil ich hier gerade etwas Neues über mich lerne.

Ich greife nach meinem Handy und erstelle eine Liste mit der Überschrift: This Is Me – Ich weiß, kitschig, aber egal.

Operation »Wer bin ich ohne Leo?« geht in die erste Runde.

Fakt eins: Ich mag Großstädte. Zumindest Köln.

Nachdem ich mein Handy weggesteckt habe, blicke ich wieder aus dem Autofenster. »Was denkst du, wie schwierig wäre es für mich, in Köln eine Wohnung zu finden?«

Dass ich diesen Gedanken überhaupt in Betracht ziehe und ihn dann auch noch laut ausspreche, überrascht mich und meine Mutter gleichermaßen, das merke ich. Sie sucht kurz meinen Blick, ehe sie sich wieder der Straße zuwendet. Ich bin mir sicher, dass sie gerade das Gleiche denkt: Ich habe aktuell kein geregeltes Einkommen. Wie soll ich mir da eine Miete in einer Großstadt leisten können?

»Vergiss meine Frage, ich weiß schon, dass es unmöglich ist.«

Doch wieder einmal überrascht sie mich mit ihrer Antwort: »Dieses Wort solltest du ganz schnell aus deinem Wortschatz streichen. WG-Zimmer werden immer wieder frei, und sobald du einen Job hast, der dich halbwegs über Wasser hält …«

»Das ist doch das Problem: Wer nimmt mich denn, wenn ich denen sage, hey, in vier Wochen verabschiede ich mich erst mal nach Portugal und mach einen Monat Urlaub.«

»Lena, ich bin doch sehr enttäuscht.«

»Wie bitte?«

Wieder sieht sie zu mir. »Wo ist dein Ehrgeiz? Dein Kämpferinnenherz? So habe ich dich nicht erzogen.« Ich sehe, wie sich ihre Mundwinkel heben, dann legt sie ihre Hand auf meinen Oberschenkel.

»Du findest etwas. Und wenn es fürs Erste nur Akten-Sortieren für deine alte Mutter ist.«

»Du würdest mich für dich arbeiten lassen?«

»Natürlich, du bist sehr organisiert und ordentlich. Aber ich würde mich natürlich für dich freuen, wenn du etwas Besseres findest.«

»Das stimmt. Ich …« Auf einmal scheint alles möglich. Ich könnte die nächsten Wochen in einem Café aushelfen, Hundesitting machen, so wie früher mit fünfzehn, oder zur größten Not Mama bei der Arbeit helfen. Ich kann die nächste Zeit nutzen, um Geld zu verdienen, dann fliege ich nach Portugal, und wer weiß, was dort passiert? Ich dachte immer, ich brauche einen Plan. Einen vorgegebenen Weg, dem ich folgen kann. Jetzt gerade habe ich nichts davon.

Alles ist möglich. Der Gedanke hätte mich vor einem Monat noch gehemmt, mir schreckliche Angst bereitet. Nun beflügelt er mich.

Die Profi-Kellnerin

Lena

Es ist schon seltsam, wie sehr sich ein Leben innerhalb weniger Tage verändern kann. Drei Wochen nach der Trennung schlafe ich auf der Couch meiner Mutter, sitte unter der Woche die Hunde einer Nachbarin und arbeite am Wochenende in einer Kneipe. Ja, in einer Kneipe. Ich kann es selbst nicht fassen. Vor fünf Tagen drehte ich mit Marley und Bobby, den zwei Hunden von Frau Weiß, die übliche Morgenrunde und kam an dem Aushang vorbei.

Vorübergehend Unterstützung gesucht. Was soll ich sagen? Ich hatte mir vorgenommen, einen Job zu finden, und das Hundesitting brachte nicht genug ein, also leinte ich die beiden kurzerhand an dem Laternenmast an und trat durch die Tür. Der Inhaber erklärte mir, dass sein Mitarbeiter aus gesundheitlichen Gründen einige Wochen ausfalle, machte aber immer wieder deutlich, dass er mich nur für kurze Zeit beschäftigen könne. Ich sagte ihm, dass mir das perfekt passen würde, da ich ohnehin bald nach Portugal fliegen würde. Bereits am nächsten Tag lud er mich zum Probearbeiten ein.

Und hier stehe ich nun. An einem Freitagabend mit einem schwarzen Kittel um den Hals hinter einem halbwegs sauberen Tresen und befülle oder spüle Gläser.

»Du bist schnell«, stellt Thorben, der einzig andere Mitarbeiter, fest, während ich im Rekordtempo die Bierkrüge spüle. An meinem Probearbeitstag habe ich gelernt, dass das seine Art ist, ein Kompliment zu machen.

»Danke. Ich habe jahrelang mit drei Teenies unter einem Dach gelebt«, erkläre ich, woraufhin er grunzt.

Thorben und ich verstehen uns, was von außen betrachtet vielleicht erstaunlich klingen mag, aber vollkommen Sinn ergibt. Er, der große Hüne mit dem Halstattoo und der spiegelnden Glatze, ich, die zierliche blonde Frau mit der blassen Haut. Wir sind zwei gebrochene Seelen, die ihre Ruhe haben wollen, Small Talk hassen und am Ende des Tages die Scheine aus der Trinkgeldkasse klauben.

Ich weiß nicht, wie Thorben im Vier Humpen gelandet ist, und er weiß nicht, wie es mich hierher verschlagen hat, was eine willkommene Abwechslung ist. Er wirft mir keine mitleidigen Blicke zu oder fragt, wie ich letzte Nacht geschlafen habe. Er grunzt zur Begrüßung, bellt Anweisungen und grunzt zum Abschied. Mancher mag das primitiv finden, aber mir gefällt es. Weil Thorben klar sagt, was er von mir möchte:

Mix ’nen Shirley Temple. Kassier den Tisch hinten links ab. Spül die Humpen da.

Kein Bitte, kein Danke. Klare, direkte Kommunikation. Wir öffnen um fünf und schließen um ein Uhr nachts. Wenn ich aus der Kneipe trete, rieche ich wie ein Aschenbecher, den man mit einem Krug Bier gelöscht hat. Mama schickt mich immer sofort unter die Dusche, wenn ich durch ihre Wohnungstür trete. Dort stehe ich dann und schrubbe mir den Gestank von der Haut.

Ich kann es mir auch nicht erklären, aber die Arbeit gefällt mir. Weil ich während meiner Schicht an nichts anderes denke als daran, Bestellungen aufzunehmen, den Boden zu wischen, Gläser zu polieren und Menschen abzukassieren. In meinem Kopf läuft währenddessen ein Grundrauschen, das alles andere ausblendet.

Jeden Montagmorgen klingelt mein Wecker um sechs, und ich mache mich auf den Weg, um Marley und Bobby abzuholen. Doch schon bald reichen mir die zwei Spaziergänge am Tag nicht mehr, weswegen ich Frau Weiß frage, ob sie noch andere Leute kennt, die eine Hundesitterin brauchen. Kurz darauf bestehen meine Vormittage aus Gassirunden und Fütterungszeiten, während ich vier Abende in der Woche in der Kneipe verbringe.

Endlich haben meine Tage wieder Struktur, und ich merke, wie sehr mir das gefehlt hat. Ich kann nicht tagelang auf Mamas Couch liegen. Denn wenn ich das tue, bin ich allein mit meinen Gedanken, die sich immerzu im Kreis drehen.

»Wird dir das alles nicht etwas zu viel?«, fragt Mama, nachdem ich zwei Wochen nonstop zwischen Kneipe und Gassirunden gependelt und nur zum Mittagessen und Schlafen nach Hause gekommen bin.

»Absolut nicht«, erwidere ich. »Im Gegenteil.«

Sie nickt. »Arbeit kann helfen. Ich habe mich damals voll und ganz in dieses neue Start-up gestürzt. Ich möchte nur, dass du auf dich achtgibst. Vergiss nicht, ein paar Pausen einzulegen.«

»Mach ich nicht.«

»Und Schatz?«

»Ja?« Ich stehe schon in der Tür, es ist bereits zehn vor fünf, und ich sollte längst im Vier Humpen sein, um meine Schicht zu beginnen.

»Gestern beim Einkaufen habe ich Selma getroffen. Sie macht sich Sorgen um dich.«

Auch das noch. Selma hat mir mehrmals geschrieben, seit ich mich von Leo getrennt habe. Aber bisher habe ich es nicht über mich gebracht, mich mit ihr zu verabreden. Ich habe ihr ab und zu geantwortet, sie aber auf Abstand gehalten. Weil ein Treffen mit ihr bedeuten würde, dass wir über alles sprechen, und dafür bin ich noch nicht bereit.

»Du kannst Kleeberg nicht ewig davonlaufen, weißt du? Je länger du wartest, desto schlimmer wird es, ich spreche da aus Erfahrung.«

Natürlich spricht sie aus Erfahrung, aber nur, weil sie sich damals von Papa getrennt hat, ist sie noch lange nicht allwissend. Ich bin anders als sie. Gehe anders mit der Situation um. Und ich habe einen Plan:

In zwei Wochen geht mein Flug nach Lissabon, bis dahin werde ich so viel arbeiten, wie ich kann, um ein wenig Geld zur Seite zu legen. Nach dem Workshop werde ich mich in Köln nach WGs umsehen. Und mich für Jobs bewerben, die es mir ermöglichen zu fotografieren. Wer weiß, vielleicht wird mir der Workshop auch zu neuen Kontakten verhelfen.

Ich kann mir nicht erklären, woher dieser Tatendrang kommt, aber ich beschwere mich nicht. Es fühlt sich berauschend an, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Entscheidungen zu treffen. Und seien sie noch so klein. Ich kann jeden Tag entscheiden, welche Runde ich mit den Hunden laufe, wo ich anhalte, welche Menschen ich auf dem Weg grüße. Ich entscheide, wie ich in der Kneipe mit der Kundschaft spreche, wie ich auf etwaige Flirtversuche eingehe, und davon gibt es leider eine Menge.

Eine Woche nach dem Gespräch mit Mama stehe ich wieder mit Thorben hinter der Theke. Es ist kurz vor zehn an einem Sonntag, und die Kneipe ist bereits fast leer. Ein gut angetrunkener Gast beugt sich weit zu mir und bestellt lallend den nächsten Drink. Er riecht übel und sieht noch übler aus. Das habe ich schnell gelernt: Menschen, die sich in Kneipen betrinken, versuchen, ihren Schmerz zu betäuben. Viele davon erzählen ungefragt davon. Weinen auch mal oder werden laut. Wieder andere, und dazu scheint dieses Exemplar hier zu gehören, suchen Trost bei mir.

Anfangs wusste ich gar nicht, wie ich damit umgehen soll, war überfordert und viel zu nett. Auch jetzt, nach fast einem Monat, den ich schon hier arbeite, zucke ich vor seiner Hand zurück, mit der er mir über den Arm streichen wollte.

»Ich denke, du hattest genug«, bringe ich kühl, aber höflich hervor.

»Ey, was soll das?«

Thorben tritt neben mich. »Du bist voll, Alter, zisch ab und schlaf deinen Rausch aus.«

Thorbens riesige Statur schüchtert die meisten ein, so auch mich zu Beginn. Seit ich ihn einmal beim Candy-Crush-Zocken auf der Toilette erwischt habe, macht er mir keine Angst mehr.

»Danke«, sage ich, und Thorben grunzt und macht eine wegwerfende Geste. Fast bin ich traurig, dass wir nur noch eine Woche gemeinsam arbeiten. Fast.

Natürlich denke ich nach wie vor oft an Leo. Aber es ist seltener geworden. Stattdessen frage ich mich, was Kate wohl dazu sagen würde, wenn sie wüsste, wo ich nun arbeite. Wie mein Leben aktuell aussieht. Seit über einem Monat hatten wir keinen Kontakt mehr, und ich weiß, dass es die richtige Entscheidung war, auf Abstand zu gehen. Dennoch vermisse ich sie unheimlich.

»Gehören die zu dir?«, bellt Thorben und zeigt zur Eingangstür.

Meine Augen weiten sich, als ich die Gesichter erkenne. Selma und Jenny bahnen sich ihren Weg an zwei pöbelnden Typen und einem betrunkenen Pärchen vorbei.

»Lena?« Jennys Gesicht sieht aus, als wäre sie gerade in Scheiße getreten, und ich folge ihrem Blick zu dem schmutzigen Geschirrtuch in meiner Hand.

»Was machst du hier?«, fragt sie so leise, als habe sie Angst, jemand könne sie hier in dieser Kneipe erkennen.

Selma sieht sich ebenfalls immer wieder besorgt um. In der Vergangenheit hat sie keine sonderlich guten Erfahrungen mit betrunkenen Typen gemacht. Die scheinen es lustig zu finden, ihr den Hijab vom Kopf zu ziehen.

»Deine Mutter hat uns verraten, wo du bist«, erklärt sie, kommt näher und senkt die Stimme. »Entschuldige bitte, eigentlich wollte ich allein kommen, aber Jenny hat nicht lockergelassen.«

Selma hier vor mir zu sehen, versetzt mir einen Stich. Weil ich weiß, dass ich mich längst bei ihr hätte melden müssen. Sie ist neben Kate meine engste Freundin. Dennoch habe ich es nicht über mich gebracht, mich bei ihr zu melden.

»Ja, ich arbeite hier«, bringe ich hervor und trockne das Glas fertig ab. »Was gibt’s?«

Selma und Jenny sehen nicht zu mir, sondern beobachten Thorben dabei, wie er neben mir drei Humpen befüllt und sich kurz danach am Hals kratzt. Als er ihre Blicke bemerkt, sieht er zu ihnen und grunzt in ihre Richtung. Beide zucken synchron zusammen, und ich kann nicht anders, ich lache.

Das führt dazu, dass die beiden mich noch besorgter ansehen.

»Lena, ist alles okay mit dir?«, fragt Selma und tritt näher an die Theke. Jenny wagt es offensichtlich nicht, die klebrige Oberfläche zu berühren.

»Wir haben seit Wochen nichts von dir gehört«, beschwert Jenny sich und rümpft die Nase, als sich eine Frau mittleren Alters an ihr vorbeidrückt, um die Humpen von Thorben entgegenzunehmen.

»Ich war beschäftigt.«

»Das sehen wir«, kommt es erneut von Jenny.

»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, sagt Selma, und ihr warmer Blick fühlt sich an wie eine Umarmung.

Erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich sie in den letzten Wochen vermisst habe. Unsere spontanen Filmabende, langen Gespräche und das gemeinsame Kochen. Aber wie hätte ich ihr erklären können, dass mir die Arbeit hier gefällt? Dass das genau das ist, was ich gerade brauche.

»Mir geht’s gut«, antworte ich also ausweichend, obwohl ich sofort sehen kann, dass Selma mir kein Wort glaubt. Sie kennt mich einfach zu gut.

»Wollen wir morgen einen Tee zusammen trinken?«, fragt Selma, und Jenny nickt eifrig.

Wieso muss sie dabei sein? Ich will nur mit Selma sprechen.

Am liebsten würde ich sie hier und jetzt wegschicken. Wieso tust du es dann nicht?, meldet sich Kate in meinem Kopf zu Wort. Wieso verbringst du Zeit mit Menschen, die du nicht magst?

Tja, willkommen im Leben einer People Pleaserin.

»Morgen früh sitte ich Marley und Bobby«, sage ich also nur.

»Babysitterin bist du auch noch?« Jennys Augen werden groß, und ich weiß, dass sie in ihrem Kopf gerade versucht, diese beiden Jobs unter einen Hut zu kriegen.

»Bobby und Marley sind Hunde«, erkläre ich, und dieses Mal klingt Thorbens Grunzen fast wie ein Lachen. Als ich zu ihm sehe, poliert er weiter seelenruhig die Gläser.

»Ahh, verstehe. Aber nachmittags müsstest du dann doch Zeit haben, oder?«

Sie werden nicht lockerlassen. Und ein Teil von mir möchte ja auch mit ihnen sprechen. Ich will nicht so sein wie Kate, wird mir in diesem Moment klar. Ich will nicht einfach spurlos verschwinden.

Also nicke ich. »Gut. Ich komme morgen um vier zum Hofladen.«

Jenny strahlt, Selma lächelt unsicher. Ihr Blick flackert zu Thorben, zu den anderen Menschen hier in der Kneipe.

»Dann bis morgen«, sagt sie, und Jenny hebt die Hand zum Abschied.

»Irgendwann holt einen die Vergangenheit immer ein, wa?« Thorben stellt das letzte polierte Glas ab und sieht kurz zu mir. Seine Augen sind klein, aber freundlich. Irgendwie ist mir das bisher noch nie aufgefallen.

»Scheint so«, erwidere ich nur und wische einmal über den Tresen. Sauber wird er dadurch nicht, aber der oberflächliche Schmutz verschwindet.

Back in Town

Lena

Fünf Wochen nach der Trennung kehre ich zum ersten Mal nach Kleeberg zurück. Mal abgesehen von dem Tag, an dem ich meine Klamotten und Habseligkeiten aus unserer alten Wohnung geholt habe.

Mit Manni durch Kleebergs Straßen zu fahren, fühlt sich an, als würde ich zu dem Tag zurückkatapultiert, an dem Kate und ich aus Portugal zurückkamen. Dem Tag, an dem Leo mir einen Antrag gemacht hat.

Im Dorf hat sich nichts verändert, und dennoch fühlt sich alles anders an. Weil ich mich verändert habe.