12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €
Das Kriminalistenduo Pia Kirchhoff und Oliver von Bodenstein hat einen neuen Fall und der hat es in sich… »Der realitätsnahe Ökothriller schreibt die sagenhafte Erfolgsgeschichte der 43-jährigen fort.« Stern Wer Wind sät, wird Mord ernten… Kriminalkommissarin Pia Kirchhoff wird zu einem ungewöhnlichen Tatort gerufen: Ein toter Nachtwächter lag mehrere Tage unentdeckt in einem Firmengebäude. Schnell wird klar, es war Mord. Gemeinsam mit Oliver von Bodenstein ermittelt Pia im Umkreis einer Bürgerinitiative, die gegen einen geplanten Windpark kämpft. Dabei stoßen sie auf ein Grundstück im Taunus, das plötzlich zwei Millionen wert ist – und einen Mann das Leben kostet… *** Nele Neuhaus und Provinzkrimi-Fans werden dieses Buch verschlingen! Packend, und voller Intrigen: Werden Sie dem Täter auf die Spur kommen? ***
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Kaum aus dem Urlaub zurückgekehrt, wird Kriminalkommissarin Pia Kirchhoff zu einem Leichenfund in Kelkheim gerufen: Drei Tage lag der tote Nachtwächter im Treppenhaus der Firma für Windkraftanlagen, die Verwesung ist bereits in vollem Gange. Auch wenn der Mann ein Alkoholproblem hatte, ist ein Unfall unwahrscheinlich. Denn die Überwachungskamera zeigt einen Einbrecher, außerdem liegt ein toter Hamster auf dem Schreibtisch des Firmenchefs. Aber jegliche Einbruchsspuren fehlen, und gestohlen wurde angeblich auch nichts.
Die Ermittlungen führen Pia und ihren Chef Oliver von Bodenstein zu einer Bürgerinitiative, die sich mit der Firma einen erbitterten Krieg um eine geplante Windkraftanlage im Taunus liefert; die Rede ist von Korruption und gefälschten Gutachten. Dann gibt es einen weiteren Toten. Geht jemand über Leichen, um Profit zu machen? Je intensiver Pia nachforscht, umso mehr Verdächtige tauchen auf; die Motive reichen von Gier über Rachsucht bis zu blankem Hass. Und Bodenstein hat plötzlich ganz andere Dinge zu tun, als bei der Aufklärung der Morde zu helfen …
Die Autorin
Nele Neuhaus lebt mit Mann, Hund und Pferden im Taunus. Ihre Krimis um das Ermittlerduo Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff machten sie zu einer der meistgelesenen deutschen Krimiautorinnen und auch international berühmt: Ihre Romane wurden bisher in 15 Sprachen übersetzt.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.neleneuhaus.de
Von Nele Neuhaus sind in unserem Hause bereits erschienen:
Eine unbeliebte Frau
Mordsfreunde
Sie rannte die menschenleere Straße entlang, so schnell sie rennen konnte. Am nachtschwarzen Himmel explodierten erste verfrühte Silvesterraketen. Wenn es ihr doch nur gelingen würde, den Park zu erreichen, die feiernden Menschenmassen, in denen sie untertauchen konnte! Sie kannte die Gegend nicht, hatte völlig die Orientierung verloren. Die Schritte ihrer Verfolger hallten von den hohen Häusermauern wider. Sie waren ihr dicht auf den Fersen, trieben sie immer weiter von den größeren Straßen weg, weg von Taxis, U-Bahn und Menschen. Wenn sie jetzt stolperte, war alles aus.
Die Todesangst schnürte ihr die Luft ab, das Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Lange konnte sie das Tempo nicht mehr durchhalten. Da! Endlich! Zwischen den endlosen Fassaden der hohen Häuser gähnte ein düsterer Spalt. Sie bog in vollem Lauf in die schmale Gasse ein, aber ihre Erleichterung dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie begriff, dass sie den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Vor ihr erhob sich eine fensterlose glatte Mauer. Sie saß in der Falle! Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Keuchen war das einzige Geräusch in der plötzlichen Stille. Sie duckte sich hinter ein paar stinkende Mülltonnen, presste ihr Gesicht an die raue, feuchte Hausmauer und schloss die Augen in der verzweifelten Hoffnung, die Männer würden sie nicht sehen und weitergehen.
»Da ist sie!«, rief jemand mit halblauter Stimme. »Jetzt haben wir sie.«
Ein Scheinwerfer flammte auf, sie hob einen Arm und blinzelte geblendet in das grelle Licht. Ihre Gedanken rasten. Sollte sie um Hilfe schreien?
»Hier kommt sie nicht raus«, sagte ein anderer.
Schritte auf dem Pflaster. Die Männer kamen näher, langsam jetzt, ohne Eile. Ihr Körper schmerzte vor Angst. Sie ballte die schweißfeuchten Hände zu Fäusten, ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft ins Fleisch.
Und dann sah sie ihn! Er trat in das Licht und blickte auf sie herab. Für einen winzigen erleichterten Moment durchzuckte sie die wahnsinnige Hoffnung, er sei gekommen, um ihr zu helfen.
»Bitte!«, flüsterte sie heiser und streckte die Hand nach ihm aus. »Ich kann alles erklären, ich …«
»Zu spät«, schnitt er ihr das Wort ab. Sie las kalten Zorn und Verachtung in seinen Augen. Der letzte Funken Hoffnung in ihrem Innern verglühte und zerfiel zu Asche, so, wie die schöne weiße Villa am Seeufer.
»Bitte, geh nicht!« Ihre Stimme klang schrill. Sie wollte zu ihm kriechen, ihn um Verzeihung anbetteln, ihm schwören, dass sie alles, alles für ihn tun würde, aber er wandte sich ab und verschwand aus ihrem Blickfeld, ließ sie allein mit den Männern, von denen sie keine Gnade zu erwarten hatte. Die Panik schlug wie eine schwarze Welle über ihr zusammen. Sie blickte sich wild um. Nein! Nein, sie wollte nicht sterben! Nicht in dieser dunklen, dreckigen Gasse, die nach Pisse und Müll stank!
Mit einer Kraft, die ihr die Angst verlieh, wehrte sie sich, sie trat und schlug um sich, kämpfte verbissen ihren allerletzten Kampf. Doch sie hatte keine Chance, die Männer drückten sie auf den Boden und bogen ihre Arme brutal nach hinten. Dann spürte sie den Stich an ihrem Arm. Ihre Muskeln wurden schlaff, die Gasse zerfloss vor ihren Augen, während man ihr die Kleider vom Leib zerrte, bis sie nackt und hilflos dalag. Sie fühlte sich davongetragen, erhaschte einen letzten Blick auf den schmalen Streifen nachtschwarzen Himmels zwischen den hohen Mauern, sah die blinkenden Sterne. Dann stürzte sie und fiel und fiel in endlose, schwarze Tiefe. Für einen kurzen, herrlichen Moment fühlte sie sich schwerelos, der rasende Fall raubte ihr den Atem, es wurde dunkel, und sie war ein klein bisschen verwundert, dass Sterben so leicht war.
Sie fuhr in die Höhe. Das Herz raste in ihrer Brust, und sie brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass sie nur geträumt hatte. Dieser Traum verfolgte sie seit Monaten, aber nie war er so real gewesen, und nie hatte sie ihn bis zu Ende geträumt. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper und wartete, bis sich ihre verkrampften Muskeln entspannten und die Kälte aus ihrem Körper wich. Das Licht der Straßenlaterne fiel durch das vergitterte Fenster. Wie lange war sie hier in Sicherheit? Sie ließ sich nach hinten sinken, presste ihr Gesicht ins Kopfkissen und begann zu schluchzen, denn sie wusste, dass diese Angst sie nie mehr loslassen würde.
Die Sonne war gerade aufgegangen, als er das Gartentor hinter sich schloss und mit geschultertem Gewehr wie jeden Morgen den leicht ansteigenden Weg zum Wald einschlug. Tell, der drahthaarige braune Pudelpointerrüde, trabte ein paar Meter vor ihm her, schnupperte hier und da und nahm mit seiner feinen Nase die tausend Gerüche auf, die die Nacht zurückgelassen hatte. Ludwig Hirtreiter atmete tief die frische, kühle Luft ein und lauschte dem Frühkonzert der Vögel. Auf der Wiese am Waldrand ästen zwei Rehe. Tell blickte zu ihnen hinüber, machte aber keine Anstalten, sie aufzuscheuchen. Er war ein kluger, gehorsamer Hund, der wusste, dass ihn das Wild nur zu interessieren hatte, wenn sein Herr es ihm gestattete.
»Brav so, Junge«, brummte Ludwig Hirtreiter. Von seinem Hof war es nicht weit bis zum Wald. Er passierte die rotweiße Schranke, deren Errichtung vor ein paar Jahren notwendig geworden war, weil die lauffaulen Wochenendspaziergänger aus Frankfurt immer häufiger bis tief in den Wald hineinfuhren. Den Menschen von heute, vor allem den Städtern, fehlte jede Demut vor der Natur. Sie konnten einen Baum nicht vom anderen unterscheiden, plärrten lautstark herum und ließen ihre unerzogenen Hunde selbst in der Schonzeit frei herumlaufen. Manche ergötzten sich sogar daran, wenn diese dann Wild aufstöberten und hetzten. Ludwig Hirtreiter hatte für ein solches Verhalten kein Verständnis. Der Wald war ihm heilig. Er kannte ihn so gut wie seinen Garten, kannte die einsamen Lichtungen, wusste, wo das Wild stand und welche Wege die Wildschweine nahmen. Vor ein paar Jahren hatte er selbst die Hinweistafeln des Waldlehrpfades Lindenkopf entworfen und aufgestellt, um den Unwissenden die Geheimnisse des Waldes näherzubringen.
Die Sonne schickte ihre Strahlen durch das dichte Laub und verwandelte den Wald in eine stille, grüngoldene Kathedrale. An der ersten Weggabelung bog Tell in den rechten Weg ein, als ob er die Gedanken seines Herrchens gelesen hätte. Sie wanderten an der mächtigen Köhlereiche vorbei und erreichten den Kahlschlag, wo ein Sturm im vergangenen Herbst eine Schneise in den Wald gerissen hatte. Plötzlich hielt Ludwig Hirtreiter inne. Auch Tell stand still und spitzte die Ohren. Motorengeräusche! Kurz darauf zerriss das grelle Knattern einer Motorsäge die Stille. Das konnten keine Forstarbeiter sein, denn die hatten um diese Jahreszeit im Wald nichts zu tun. Ludwig Hirtreiter spürte heißen Zorn in sich aufsteigen. Er machte kehrt und marschierte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Sein Herz klopfte heftig. Er hatte geahnt, dass sie sich nicht an die Vereinbarung halten, sondern einfach mit der Rodung beginnen würden, um schon vor der Bürgerversammlung für vollendete Tatsachen zu sorgen.
Minuten später sah er seine Befürchtungen bestätigt. Er bückte sich unter dem rotweißen Flatterband hindurch, das rings um die kleine Lichtung unterhalb des Bergkammes gespannt war, und schaute fassungslos auf die geparkten orangefarbenen Lastwagen und ein halbes Dutzend Männer, die geschäftig hin und her liefen. Erneut kreischte die Motorsäge, Späne flogen. Eine große Fichte schwankte und krachte mit einem Ächzen auf die Lichtung. Diese hinterhältigen Mistkerle! Bebend vor Zorn nahm Ludwig Hirtreiter sein Gewehr von der Schulter und entsicherte es.
»Stopp!«, brüllte er, als die Motorsäge im Leerlauf blubberte. Die Männer wandten sich zu ihm um, schoben die Visiere ihrer Helme hoch. Hirtreiter trat auf die Lichtung, Tell dicht an seiner Seite.
»Verschwinden Sie!«, rief ihm einer der Männer zu. »Sie haben hier nichts zu suchen!«
»Ihr verschwindet!«, entgegnete Ludwig Hirtreiter grimmig. »Und zwar auf der Stelle! Wie kommt ihr dazu, hier Bäume zu fällen?«
Der Vorarbeiter bemerkte das Gewehr und die Entschlossenheit in Hirtreiters Gesicht.
»He, beruhigen Sie sich.« Er hob besänftigend die Hände. »Wir machen nur unseren Job.«
»Aber nicht hier. Raus aus dem Wald, und zwar sofort.«
Die anderen Männer kamen näher. Die Motorsäge war verstummt. Tell knurrte aus tiefer Kehle, und Hirtreiter legte den Zeigefinger an den Abzug. Ihm war todernst. Der Baubeginn war für Anfang Juni angesetzt, diese vorgezogene Rodungsaktion war illegal, selbst wenn sie mit stillschweigendem Einverständnis des Bürgermeisters oder des Landrats geschah.
»Ihr habt genau fünf Minuten, um eure Sachen zu packen und zu verschwinden!«, rief er dem Trupp zu. Keiner rührte sich. Da legte er an, zielte auf die Motorsäge in der Hand des einen Arbeiters und zog den Abzug durch. Ein Schuss krachte. Erst im letzten Moment hatte Ludwig Hirtreiter das Gewehr ein Stück nach oben gezogen, so dass die Kugel etwa einen Meter am Kopf des Mannes vorbeiflog. Ein paar Sekunden standen die Männer wie gelähmt da und starrten ihn fassungslos an. Dann ergriffen sie Hals über Kopf die Flucht.
»Das wird Konsequenzen für Sie haben!«, schrie der Vorarbeiter ihm noch zu. »Ich rufe die Polizei an.«
»Von mir aus.« Ludwig Hirtreiter nickte nur und schulterte sein Gewehr. Niemand würde die Polizei rufen, denn damit würden sie sich nur ins eigene Fleisch schneiden, diese verlogenen Verbrecher.
Beinahe hätte er den scheinheiligen Versprechungen geglaubt. Kein Baum sollte gefällt werden, bevor nicht alles entschieden sei, das hatten sie noch am Freitag hoch und heilig versichert. Dabei mussten sie zu dem Zeitpunkt der Rodungsfirma bereits den Auftrag gegeben haben, gleich am Montagmorgen loszulegen. Er wartete, bis die Lastwagen die Lichtung verlassen hatten und das Motorengeräusch in der Ferne verklungen war, dann lehnte er das Gewehr an einen Baumstamm und machte sich daran, das Absperrband aufzuwickeln. Hier würde kein Baum mehr fallen, solange er das verhindern konnte. Er war bereit für den Kampf.
*
Pia Kirchhoff stand am Gepäckband und streckte gerade die Hand nach ihrem Koffer aus, als es in ihrer Jackentasche leise zirpte. Es dauerte einen Moment, bis sie den Ton mit ihrem Handy assoziierte, das sie kurz nach der Landung wieder angeschaltet hatte. Drei herrliche Wochen lang hatte das Handy geschwiegen und war von einem der wichtigsten Utensilien ihres täglichen Lebens zur völligen Nebensache geworden. Ihr Gepäck war momentan allerdings ungleich wichtiger als der Anruf. Christophs Koffer war einer der ersten gewesen, er war schon hinausgegangen in der Annahme, Pia werde sofort folgen, aber sie hatte geschlagene fünfzehn Minuten warten müssen, denn die Gepäckstücke von Flug Nr. LH729 aus Shanghai erreichten das Förderband in nervtötender Unregelmäßigkeit und mit meterweiten Abständen.
Erst als sie ihren grauen Hartschalenkoffer auf den Gepäckwagen gewuchtet hatte, kramte sie in ihrer Tasche nach ihrem Telefon. Lautsprecheransagen schallten durch die Halle, jemand rammte ihr unsanft seinen Gepäckwagen in die Waden und brachte nicht einmal eine Entschuldigung über die Lippen. Ein weiteres Flugzeug hatte seine Passagiere ausgespuckt, vor der Zollabfertigung gab es einen Stau. Endlich fand Pia das unermüdlich zirpende Handy und ging dran.
»Ich bin grad beim Zoll!«, rief sie. »Rufen Sie später noch mal an!«
»Oh, entschuldige bitte«, erwiderte Hauptkommissar Oliver von Bodenstein am anderen Ende der Leitung. Ihr Chef klang belustigt. »Ich dachte, ihr wärt gestern Abend zurückgekommen.«
»Oliver!« Pia stieß einen Seufzer aus. »Tut mir leid. Unser Flug hatte neun Stunden Verspätung, wir sind eben erst gelandet. Was gibt’s?«
»Ich hab ein kleines Problem«, antwortete Bodenstein. »Wir haben eine Leiche, aber heute um elf ist die standesamtliche Trauung von Lorenz und Thordis. Wenn ich da nicht auftauche, bin ich bei meiner Familie völlig unten durch.«
»Eine Leiche? Wo?« Pia wollte an der Zollabfertigung vorbeigehen, aber eine kleine, dicke Zollbeamtin, die mit ausdrucksloser Miene die vorbeigehenden Passagiere beobachtete, hob die Hand. Offensichtlich hatte Pias letzte Bemerkung ihr Interesse geweckt. Äußerst unklug, wenn man es eilig hatte.
»In einem Firmengebäude in Kelkheim«, sagte Bodenstein. »Die Meldung kam eben rein. Ich schicke unseren Neuen hin, aber es wäre mir lieb, wenn du auch hinfahren könntest.«
»Haben Sie etwas zu verzollen?«, schnarrte die Beamtin.
»Nein.« Pia schüttelte den Kopf.
»Wie – nein?«, fragte Bodenstein erstaunt.
»Nein, ich meine – ja«, entgegnete Pia genervt. »Nein, ich habe nichts zu verzollen. Ja, ich fahre hin.«
»Was denn jetzt?« Die Zöllnerin hob die Augenbrauen. »Öffnen Sie bitte Ihren Koffer.«
Pia klemmte das Handy zwischen Wange und Schulter, fummelte an den Verschlüssen des Koffers und brach sich beim Öffnen einen Fingernagel ab. Das relaxte Urlaubsfeeling löste sich in nichts auf. Der Stress hatte sie wieder.
»Ja, okay, ich fahre hin. Gib mir die Adresse.«
Sie klappte den Koffer auf. Die Zollbeamtin durchwühlte bedächtig Pias nachlässig gepackten Koffer, in der Hoffnung, zwischen der schmutzigen Wäsche womöglich eine illegal eingeführte Ming-Vase, eine geschmuggelte Flasche Schnaps oder mehrere Stangen Zigaretten zu entdecken. Hinter ihr stauten sich andere Reisende. Wütend funkelte Pia die Frau an, die sie nach ergebnisloser Suche mit einem blasierten Kopfnicken entließ. Pia knallte den Kofferdeckel zu, warf den Koffer auf den Gepäckwagen und marschierte zum Ausgang. Die Milchglastüren glitten zur Seite. Hinter der Absperrung wartete Christoph mit einem leicht angestrengten Lächeln im Gesicht, neben ihm stand, deutlich missvergnügt, Pias Exmann Dr. Henning Kirchhoff. Auch das noch! Eigentlich hatte Miriam, die sich während Pias Abwesenheit auf dem Birkenhof um die Tiere gekümmert hatte, sie vom Flughafen abholen wollen; vor ihrem Abflug hatten sie deswegen noch miteinander telefoniert.
»Mein Koffer war der letzte auf dem Band«, entschuldigte Pia sich. »Und dann musste die Tante vom Zoll noch alles durchwühlen. Tut mir leid. Was machst du denn hier?«
Der letzte Satz war an ihren Exmann gerichtet. Gegen Christoph mit seiner zentralchinesischen Sonnenbräune wirkte Henning blass und hager.
»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen«, erwiderte er sarkastisch und schnitt eine Grimasse. »Mein Auto steht seit über einer Stunde im Halteverbot. Wenn ich einen Strafzettel kriege, kannst du ihn bezahlen.«
»Entschuldige.« Pia küsste Henning flüchtig auf die Wange. »Danke, dass du uns abholst. Was ist mit Miriam?«
Die Beziehung zwischen ihrem Exmann und ihrer besten Freundin war kompliziert geworden, seitdem Henning unter Generalverdacht stand, Vater des noch ungeborenen Kindes seiner früheren Geliebten zu sein. Nach einer mehrmonatigen absoluten Funkstille, in der Henning ernsthaft erwogen hatte, sich feige ins Ausland abzusetzen, hatten sich die beiden wieder angenähert, aber von einem harmonischen Vertrauensverhältnis konnte nicht die Rede sein.
»Miriam hat um neun einen Termin in Mainz, sie konnte nicht warten, bis euer Flugzeug endlich landet«, erklärte Henning mit einem vorwurfsvollen Unterton, als sie sich auf den Weg nach draußen machten. »Ich hätte es ja nicht weit vom Institut hierher, meinte sie. Ach, wie war eigentlich euer Urlaub?«
»Schön«, erwiderte Pia und wechselte einen raschen Blick mit Christoph. ›Schön‹ war die Untertreibung des Jahrhunderts. Die drei Wochen China waren ihr erster richtiger Urlaub und einfach perfekt gewesen. Obwohl sie jetzt schon eine ganze Weile zusammen waren, verursachte Christophs Anblick noch immer dieses wohlig-aufregende Kribbeln in ihrem Bauch, und sie konnte es manchmal gar nicht fassen, dass sie so viel Glück gehabt hatte, einen Mann wie ihn zu finden. Sie waren sich im Sommer vor drei Jahren im Zuge von Ermittlungen in einem Mordfall begegnet, als Pia sich beinahe schon damit abgefunden hatte, für den Rest ihres Lebens allein mit ihren Tieren auf dem Birkenhof zu versauern. Es hatte auf Anhieb zwischen ihnen gefunkt. Damals hatte Bodenstein ihn für dringend tatverdächtig gehalten, was die Sache nicht gerade einfach gemacht hatte.
Die kühle Luft des frühen Maimorgens ließ Pia frösteln. Nach vierzehn Stunden Flug fühlte sie sich klebrig und schmutzig und sehnte sich nach einer Dusche, doch die musste jetzt wohl noch eine Weile warten.
Hennings Auto war strafzettelfrei geblieben, was möglicherweise daran lag, dass er das Schild »Arzt im Einsatz« deutlich sichtbar hinter der Windschutzscheibe platziert hatte. Er und Christoph verstauten die beiden Koffer in den Kofferraum, während Pia rasch auf die Rückbank des Mercedes schlüpfte.
»Was hast du jetzt vor?«, erkundigte sie sich, als Henning Minuten später auf die Autobahn Richtung Kelsterbach fuhr. Sie kamen wegen des Berufsverkehrs Richtung Frankfurt nur langsam voran.
»Wieso?«, fragte er sofort misstrauisch zurück. Pia verdrehte die Augen. Noch nie hatte er eine einfache Antwort auf eine einfache Frage geben können! Sie massierte sich die pochenden Schläfen. In den vergangenen drei Wochen hatte sie wirklich völlig abgeschaltet, die Alltagssorgen, ihren Job, ja sogar die drohende Abrissverfügung für den Birkenhof verdrängt. Aber jetzt stürzte alles wieder auf sie ein. Ohne zu zögern hätte sie den Urlaub auf unbestimmte Zeit verlängert, aber vielleicht lag ja das wahre Glück in der Beschränkung.
»Ich muss zu einem Leichenfund nach Kelkheim«, entgegnete sie. »Mein Chef hat eben angerufen. Der Urlaub ist wohl wirklich vorbei.«
*
Das große Tor des Tierheims war abgeschlossen, der Parkplatz vor dem flachen Verwaltungsgebäude leer. Mark ging unruhig an dem hohen Zaun auf und ab und warf einen Blick auf sein Handy. Viertel nach sieben. Wo Ricky nur blieb? In spätestens zwanzig Minuten musste er los. Die Lehrer machten einen Riesenaufstand, wenn er auch nur eine Minute zu spät zum Unterricht kam, und schrieben sofort E-Mails an seine Mutter, nur weil er in der letzten Zeit ein paar Mal die Schule geschwänzt hatte. Bescheuert. Warum kapierten seine Eltern nicht, dass er keinen Bock mehr auf die Schule hatte? Seitdem er aus dem Internat gekommen war, fühlte sich sein ganzes Leben fremd und falsch an. Mark hätte tausend Mal lieber etwas Gescheites gemacht, statt sinnlos die Stunden in der Schule abzusitzen. Irgendetwas mit Tieren, dazu eine eigene Wohnung mit lauter Hunden und Katzen, wie bei Ricky und Jannis. Das wäre geil. Aber sein Vater würde tot umfallen, wenn er ihm mit diesem Vorschlag käme. Abi und Studium waren Pflicht, ein paar Auslandssemester gerngesehene Kür. Alles darunter war Proletenkram. Totales Versagen. Quasi der direkte Weg in den Hartz-IV-Abgrund.
Er konnte von hier aus den asphaltierten Feldweg gut überblicken, der bis hinunter nach Schneidhain führte, aber außer ein paar frühen Hundespaziergängern war niemand zu sehen. Die halbe Nacht hatte er vor dem Computer gesessen, weil er nicht schlafen konnte. Sobald er die Augen zumachte, kamen die Erinnerungen. Er hatte Ricky eine SMS geschrieben, und sie hatte geantwortet, dass sie morgens um sieben im Tierheim sein würde. Jetzt war es schon halb acht. Mark beschloss, ihr entgegenzufahren.
Als die Richterin ihn damals zu 80 Stunden gemeinnütziger Arbeit im Tierheim verknackt hatte, hatte er fast die Krise gekriegt: so ein blöder Scheiß. Aber dann hatte er Ricky kennengelernt und Jannis, ihren Freund, und plötzlich hatte er wieder etwas gehabt, auf das er sich freuen konnte. Die Arbeit im Tierheim hatte ihm voll Spaß gemacht, und er half dort noch immer, obwohl er seine Strafe längst abgeleistet hatte. Es war so, als ob er bei Ricky und Jannis ein neues Zuhause gefunden hätte, eine neue Familie, in der er immer willkommen war. Jannis war sein großes Vorbild, manchmal diskutierten sie abendelang über Sachen, die Mark bis dahin null interessiert hatten: Afghanistan-Konflikt, Siedlungen in Israel, Aufnahme von Guantánamo-Häftlingen in Deutschland oder über Jannis’ Lieblingsthema, die Klimalüge. Jannis wusste über alles richtig gut Bescheid und hatte komplett andere Ansichten als Marks Vater, der sich höchstens mal über die Steuerpolitik der Bundesregierung oder über die Linken und die GRÜNEN aufregte. Vor allen Dingen ließ Jannis seinen Worten Taten folgen. Schon ein paarmal hatte Mark ihn auf Demos und Kundgebungen begleiten dürfen und war tief beeindruckt, weil Jannis tausend Leute kannte.
Er setzte gerade den Helm auf und ließ seinen Roller an, da kam Rickys dunkler Kombi die Straße hoch. Sein Herz machte einen Satz, als sie neben ihm anhielt und die Scheibe herunterließ.
»Guten Morgen«, lächelte sie. »Tut mir leid, dass ich etwas spät bin.«
»Morgen.« Er merkte, dass er knallrot wurde. Leider eine normale Reaktion bei ihm, dieses blöde Rotwerden.
»Hilf mir doch schnell beim Füttern«, schlug sie vor. »Dabei können wir reden, okay?«
Mark zögerte. Ach was, scheiß auf die Schule. Er hatte dort alles gelernt, was es fürs Leben zu lernen gab. Das wahre Leben fand sowieso woanders statt.
»Okay«, sagte er.
*
Die Morgensonne spiegelte sich in der hohen, gläsernen Fassade des futuristisch anmutenden Gebäudes, das im Gewerbegebiet auf einer sorgfältig gemähten Rasenfläche hockte wie ein gestrandetes Raumschiff. Henning stellte seinen Kombi auf dem Parkplatz ab, der bis auf wenige Autos noch völlig leer war. Er nahm die beiden Alukoffer aus dem Kofferraum und brummte nur »Geht schon«, als Pia ihm einen abnehmen wollte. Seitdem sie Christoph vor einer Viertelstunde am Tor vor dem Birkenhof abgesetzt hatten, hatte er morgenmuffelig geschwiegen, aber da Pia sechzehn Jahre mit ihm verheiratet gewesen war und seine Eigenheiten bestens kannte, störte sie sich nicht daran. Manchmal schaffte Henning es, drei Tage lang überhaupt kein Wort von sich zu geben. Sie überquerten den gepflasterten Vorplatz mit üppig bepflanzten Blumenrabatten und einem Springbrunnen, neben dem zwei Streifenwagen parkten. Pias Blick streifte im Vorbeigehen das Firmenschild. WindPro GmbH. Das stilisierte Windrad daneben deutete an, womit sich die Firma beschäftigte. Ein Polizeibeamter stand gähnend auf der Treppe vor der Eingangstür und ließ sie mit einem Nicken passieren. Der unverwechselbar süßliche Geruch von verfaulendem Fleisch drang Pia in die Nase, kaum dass sie die imposante offene Eingangshalle betreten hatten.
»Na, da lag wohl jemand übers ganze Wochenende in diesem Brutkasten«, bemerkte Henning neben ihr. Pia überhörte seinen Zynismus. Ihr Blick wanderte die drei Stockwerke hoch, die über geschwungene Freitreppen und einen gläsernen Aufzug zu erreichen waren. Vor dem langgestreckten Tresen aus Edelstahl auf der rechten Seite saß eine Frau vornübergebeugt auf einem Stuhl, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Um sie herum standen ein paar uniformierte Beamte und ein Mann in Zivil. Das musste der neue Kollege sein, von dem Bodenstein gesprochen hatte.
»Ach, schau an«, sagte Henning.
»Was ist? Kennst du ihn?«
»Ja. Cemalettin Altunay. Er war bis jetzt beim K11 in Offenbach.«
Als stellvertretender Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Frankfurt kannte Henning die meisten Mitarbeiter der Dezernate für Gewaltdelikte im Rhein-Main-Gebiet und ganz Südhessen.
Pia musterte den Mann, der sich über die Frau gebeugt hatte und leise mit ihr sprach. Höchstens Ende dreißig, schätzte sie, und rein optisch eine deutliche Verbesserung zu seinem Vorgänger Frank Behnke. Schneeweißes Hemd, schwarze Jeans, blitzblanke Schuhe, das dichte, schwarze Haar militärisch kurz geschnitten – ein makelloses Erscheinungsbild. Sofort fühlte sie sich noch ein bisschen unwohler in ihrem zerknitterten grauen T-Shirt mit den Schweißrändern unter den Achseln und ihrer fleckigen Jeans. Vielleicht hätte sie sich doch noch duschen und umziehen sollen. Zu spät.
»Hallo, Herr Dr. Kirchhoff«, sagte der Neue mit einer angenehmen, tiefen Stimme, dann wandte er sich Pia zu und reichte ihr die Hand.
»Kriminaloberkommissar Cem Altunay. Ich freue mich, dich kennenzulernen, Pia. Kai und Kathrin haben schon eine Menge von dir erzählt. Hattest du einen schönen Urlaub?«
»Ich … äh ja, da… danke«, stotterte sie. »Ich bin erst vor einer halben Stunde gelandet, der Flug hatte neun Stunden Verspätung …«
»Und dann gleich eine Leiche. Tut mir leid.« Cem Altunay lächelte entschuldigend, als sei er dafür verantwortlich. Ein paar Sekunden sahen sie sich an, dann schlug Pia die Augen nieder. Sein Zartbitterschokoladenblick irritierte sie. Die Sekunden verstrichen, und ihr Schweigen wurde peinlich. Hinter ihnen stieß Henning ein kleines, spöttisches Schnauben aus, das Pia in die Realität zurückholte. Sie riss sich zusammen.
»Was haben wir hier?«, erkundigte sie sich.
»Der Tote heißt Rolf Grossmann und arbeitete seit ein paar Jahren hier als Nachtwächter. Sieht wie ein Unfall aus«, erwiderte Cem Altunay. »Eine Mitarbeiterin hat die Leiche heute Morgen gegen halb sieben gefunden. Kommt mit.«
Der süßliche Geruch wurde stärker. Leichen, die schon so penetrant rochen, sahen meistens nicht mehr sehr appetitlich aus. Pia folgte ihm die Treppe hinauf und wappnete sich innerlich, dennoch verschlug ihr der Anblick für einen Moment den Atem. Der Tote, dessen aufgedunsenes und verfärbtes Gesicht kaum noch menschliche Züge hatte, lag mit grotesk verdrehten Gliedern auf dem Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dem dritten Stock. Sie hatte in ihrem Beruf schon viel gesehen, trotzdem hob sich ihr Magen angesichts der Fliegen, die auf der Leiche herumkrabbelten. Nur ihre professionelle Selbstbeherrschung verhinderte, dass sie sich vor dem neuen Kollegen übergab.
»Wieso denkst du, dass es sich um einen Unfall handelt?«, fragte sie und kämpfte den Brechreiz nieder. Die Hitze, die in der großen Halle herrschte, trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. »Puh! Kann man nicht mal die Klimaanlage einschalten oder die Glaskuppel öffnen?«
»Untersteh dich!«, rief Henning, der gerade einen weißen Einwegoverall überzog. »Wehe, du versaust mir den Fundort.«
Pia bemerkte den erstaunten Blick ihres neuen Kollegen.
»Wir waren mal verheiratet«, gab sie als knappe Erklärung. »Also, was denkst du?«
»Es sieht so aus, als sei er gestolpert und die Treppe hinuntergefallen«, erwiderte Cem Altunay.
»Hm.« Pias Augen folgten der Treppe, die sich in einem sanften Bogen hoch in den dritten Stock schwang. »Konntest du schon mit der Frau sprechen, die ihn gefunden hat? Was macht sie überhaupt morgens um halb sieben hier?«
Henning klappte geräuschvoll seine Koffer auf. Die Fliegen summten um ihn herum, als er sich nun über die Leiche beugte und sie kritisch betrachtete.
»Angeblich fängt sie immer so früh an. Arbeitet in der Buchhaltung.« Altunay drehte sich zu der Frau um, die noch immer reglos auf dem Stuhl saß. »Sie steht unter Schock. Offenbar haben sie und der Tote sich gut verstanden, öfter morgens eine Tasse Kaffee zusammen getrunken.«
»Aber wieso soll er einfach so die Treppe hinuntergefallen sein?«
»Er hatte wohl ein Alkoholproblem, das behauptet auf jeden Fall die Buchhalterin«, antwortete Cem Altunay. »Die Leiche riecht auch nach Alkohol, und in der Teeküche hinter dem Empfangstresen steht eine angebrochene Flasche Jack Daniels.«
*
Der dunkelbraun gekleidete Fahrer vom Paketdienst schnaufte, als er ihr das elektronische Gerät und den Stift entgegenhielt, damit sie die Lieferung quittierte.
Sie kritzelte ihre Unterschrift auf das zerkratzte Display und lächelte zufrieden. Der Mann machte sich keine Mühe, seinen Unmut darüber zu verbergen, dass sie ihn gezwungen hatte, die Pakete ins Lager zu schleppen, anstatt sie einfach auf dem Hof abzustellen. Aber das war Frauke Hirtreiter ziemlich schnuppe.
Sie ging in den Verkaufsraum, schaltete das Licht ein und blickte sich um. Auch wenn der Laden genaugenommen Ricky gehörte, liebte sie ihn, als sei er ihr Eigentum. Endlich hatte sie einen Platz im Leben gefunden, an dem sie sich rundum wohl fühlte. Das »Tierparadies« verdiente seinen Namen; es hatte nichts mit den muffigen, feuchten, schlecht beleuchteten Zoogeschäften zu tun, die Frauke aus ihrer Kindheit kannte. Sie öffnete die Tür zum Nebenraum, in dem sich der Hundesalon befand. Das war ihr Reich. In Abendkursen hatte sie eine Ausbildung zum Hundefriseur – heute nannte man das »Groomer« – absolviert, ihr Service wurde von der Kundschaft gut angenommen und rechnete sich. Dazu kamen Rickys Hundeschule und seit ein paar Wochen noch der Onlineshop, der immer besser lief. Frauke ging durch den Laden zurück ins Büro, wo Nika schon am Computer saß und die eingegangenen Bestellungen abfragte.
»Wie viele sind es?«, erkundigte sich Frauke neugierig.
»Vierundzwanzig«, antwortete Nika. »Eine Steigerung von hundert Prozent im Vergleich zu Montag letzter Woche. Ich kann nur die neuen Artikel nicht eingeben.«
»Warum?« Frauke nahm zwei Kaffeetassen aus dem Hängeschrank, der über dem Spülbecken in der Miniküche hing. Die Kaffeemaschine gluckste und blubberte eifrig.
»Keine Ahnung. Es ist immer dasselbe Problem. Ich gebe den Artikel ein, aber wenn ich ihn speichern will, passiert nichts.«
»Das soll Mark sich mal anschauen. Er hat sicher eine Idee.«
»Ist wohl das Beste.« Nika gab einen Druckbefehl, und wenig später spuckte der Tintenstrahldrucker die Bestellungen aus. Sie streckte sich gähnend. »Ich geh rüber ins Lager.«
»Lass uns doch erst einen Kaffee trinken. Ist ja noch etwas Zeit.«
Sie schenkte Kaffee in zwei Tassen und reichte eine Nika.
»Milch ist schon drin.«
»Danke.« Nika lächelte und pustete in den heißen Kaffee.
Frauke war heilfroh, dass Nika das Team im Tierparadies verstärkte, denn Ricky hatte immer weniger Zeit für den Laden. Die Aushilfen, die das Arbeitsamt geschickt hatte, waren nicht viel wert gewesen. Die eine hatte geklaut, die nächste war zu doof gewesen, um die Bestellungen zu kommissionieren, und die dritte hatte nach drei Tagen angeblich Rückenschmerzen von der schweren Arbeit. Nika hingegen war tüchtig und beschwerte sich nie, sie hatte ein System in die chaotische Buchhaltung gebracht und putzte abends sogar noch den Laden, seitdem die Putzfrau gekündigt hatte. Frauke wusste nicht viel über sie: nur, dass sie eine alte Freundin von Ricky war und bei ihr und Jannis in Schneidhain zur Untermiete wohnte. Als sie Nika zum ersten Mal gesehen hatte, war sie nicht sonderlich beeindruckt gewesen: dünn und schweigsam mit aschblonden, strähnigen Haaren, Brille und einer ungesunden Blässe, dazu Kleider, die andere Leute in die Rotkreuzcontainer steckten. Gegen Ricky wirkte sie so unscheinbar wie ein Rebhuhn im Vergleich zu einem Pfau, aber vielleicht waren sie und Ricky genau deshalb einmal dicke Freundinnen gewesen. Ricky schätzte Konkurrenz nicht besonders, und Nika war ganz sicher keine, so wenig wie Frauke. Zu gerne hätte sie mehr über Nika erfahren, sie war so still und wirkte oft traurig, aber zu Fraukes Bedauern sprach sie so gut wie nie über sich. Gelegentlich konnte sie ihre Neugier nicht bezähmen und stellte beiläufige Fragen, aber Nika lächelte dann nur und behauptete, ihr Leben sei so unspektakulär gewesen, dass es sich kaum lohne, darüber zu sprechen.
»So, ich leg dann mal los.« Nika stellte ihre Tasse in die Spüle. »Ricky will gegen halb zehn hier sein, um die Bestellungen auszuliefern. Rufst du Mark an?«
»Klar, mach ich.« Frauke nickte und lächelte zufrieden. Ihr Leben hatte sich wirklich nur zum Positiven verändert. Hoffentlich würde es so bleiben. Am besten für immer.
*
Henning hatte die Leiche gründlich untersucht und erste Erkenntnisse gewonnen. Er zog den Mundschutz herunter und wandte sich an Pia und Cem Altunay.
»Ich schätze, der Tod ist zwischen drei und sechs Uhr am Samstagmorgen eingetreten«, sagte er. »Die Totenstarre hat sich bereits wieder gelöst, die Totenflecken sind kaum noch wegzudrücken.«
»Danke.« Pia nickte ihrem Exmann zu, der mit gerunzelter Stirn die Leiche betrachtete.
»Was ist?«, fragte sie.
»Hm. Es kann sein, dass ich mich täusche, aber irgendwie glaube ich nicht an den Treppensturz als Todesursache. Sein Genick ist nicht gebrochen.«
»Du denkst, es könnte jemand nachgeholfen haben?«
»Möglich wär’s.« Henning nickte. Pia überlegte kurz, ob sie Bodenstein anrufen sollte, entschied sich aber dagegen. Er hatte ihr die Leitung der Ermittlung übertragen, also oblag es ihr, die Situation zu beurteilen. Hennings vager Verdacht, dass ein Tötungsdelikt vorliegen könnte, reichte aus, um die Maschinerie in Gang zu setzen.
»Wir rufen die Spurensicherung und noch ein paar Kollegen, die den Tatort sichern«, sagte sie zu Cem Altunay. »Das Gebäude bleibt so lange abgesperrt, bis wir wissen, was hier vorgefallen ist. Und ich will eine Obduktion.«
»Okay, ich kümmere mich darum.« Cem nickte und zog sein Handy aus der Hosentasche. Sie gingen die Treppen hinunter. An der noch immer abgesperrten Eingangstür wurden Stimmen laut. Einer der Beamten, die verhindern sollten, dass die Mitarbeiter der WindPro durch die Halle trampelten und mögliche Spuren vernichteten, verließ seinen Posten und kam auf Pia zu.
»Was ist da los?«, erkundigte sie sich.
»Der Chef ist gekommen und will rein«, antwortete der Polizist.
»Bringen Sie ihn her. Aber die anderen müssen draußen bleiben.«
Der Polizist nickte und ging zurück.
»Können wir jetzt mal etwas frische Luft reinlassen?«, wandte Pia sich an Henning. Sie war schweißgebadet und der Fäulnisgeruch einfach unerträglich.
»Nein«, erwiderte Henning knapp. »Nicht bevor die Spurensicherung da ist. Ich lass mir doch von Kröger keine Vorwürfe machen.«
»Die macht er dir sowieso«, sagte Pia. »Weil du die Leiche vor ihm angefasst hast.«
Cem Altunay hatte in rascher Folge drei Telefonate geführt und steckte sein Handy wieder ein.
»Die Spurensicherung ist unterwegs, wir kriegen noch Verstärkung, und Kai kümmert sich um den Staatsanwalt«, berichtete er.
»Gut. Der Chef unseres Toten ist gekommen. Wie machen wir’s?«, fragte Pia ihren neuen Kollegen.
»Du fragst, ich höre zu«, erwiderte der.
»Okay.« Sie war erleichtert, dass es mit Cem Altunay offenbar kein Kompetenzgerangel wie mit Behnke geben würde, der bei jeder Ermittlung und Befragung kleinlich auf seinen Status als Dienstältester gepocht hatte. Wenig später kam ein hochgewachsener breitschultriger Mann in Begleitung des Polizeibeamten quer durch die Halle. Der ekelerregende Geruch und die Nachricht, dass in seiner Firma ein Mitarbeiter zu Tode gekommen war, hatten ihm die Farbe aus dem Gesicht gewischt. Doch bevor er sich Pia vorstellen konnte, erwachte die Frau, die den Toten gefunden hatte, aus ihrer Erstarrung. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und stürzte mit einem unartikulierten Klagelaut auf ihren Chef zu, der sie zuerst irritiert anblickte, sie dann aber in die Arme schloss und ihr tröstend die mageren Schultern tätschelte. Nur mit sanftem Nachdruck gelang es Cem Altunay, die schluchzende Frau zum Loslassen zu überreden. Die Mitarbeiter, die sich weiter vorne in der Halle hinter der Absperrung drängten, verstummten pietätvoll. Der Chef der WindPro war sichtlich betroffen, hatte sich aber im Griff.
»Pia Kirchhoff vom K11 in Hofheim, das ist mein Kollege, Cem Altunay«, stellte Pia sich vor.
»Stefan Theissen«, erwiderte er. »Was ist passiert?«
Theissens Händedruck war fest und ein wenig schwitzig, was Pia ihm angesichts der Umgebungstemperatur und der Aufregung nicht verdenken konnte. Sie musste zu ihm aufblicken. Er war mindestens eins neunzig groß und sah ziemlich gut aus. Der herbe Duft seines Rasierwassers verdrängte für einen Moment den Leichengeruch. Sein akkurat gescheiteltes Haar war noch feucht, die Haut an seinem Hals über dem Hemdkragen leicht gerötet vom Rasieren.
»Ihr Nachtwächter, Herr Grossmann, hatte offenbar einen tödlichen Unfall.«
Pia beobachtete Theissen, gespannt auf seine Reaktion.
»Das ist ja schrecklich. Wie … was … ich meine …« Er verstummte betroffen. »Großer Gott.«
»Nach unseren bisherigen Erkenntnissen stürzte er die Treppe hinunter«, fuhr Pia fort. »Aber lassen Sie uns das Gespräch doch besser woanders weiterführen.«
»Ja. Wollen wir in mein Büro gehen?« Theissen blickte Pia fragend an. »Es ist im dritten Stock. Wir können den Aufzug nehmen.«
»Besser nicht. Wir warten noch auf die Kollegen von der Spurensicherung. So lange darf auch niemand das Gebäude betreten.«
»Was ist mit meinen Mitarbeitern?«, wollte Theissen wissen.
»Sie können heute leider erst etwas später anfangen«, erwiderte Pia. »Bis wir den Unfallhergang genau rekonstruiert haben.«
»Wie lange wird das dauern?«
Immer dieselbe Frage. Und Pia gab wie immer dieselbe Antwort.
»Das kann ich Ihnen noch nicht genau sagen.«
Sie wandte sich an Cem Altunay.
»Cem, sagst du Bescheid, dass sie mich anrufen, wenn die Spurensicherung eingetroffen ist?«
Es war ein komisches Gefühl, diesen Fremden so selbstverständlich zu duzen. Irgendwie kam er Pia noch nicht vor wie ein Kollege. Vielleicht fiel ihr die Routine auch deshalb nur schwerer als sonst, weil sie gestern um diese Zeit noch so weit weg gewesen war. Sie dachte flüchtig an Christoph und berührte mit dem Daumen den Ring an ihrem Finger, der nicht einmal dem scharfäugigen Henning aufgefallen war. Zu gerne hätte sie noch einen Moment in der Erinnerung an ihre letzte Nacht in China verweilt, da wurde ihr bewusst, dass Theissen sie abwartend anblickte.
Cem kehrte zurück, und sie folgten dem Chef der WindPro in ein Besprechungszimmer im Erdgeschoss.
»Setzen Sie sich doch bitte.« Theissen wies auf den Konferenztisch. Er schloss die Tür und stellte seinen Aktenkoffer ab. Bevor er sich ebenfalls setzte, knöpfte er sein Jackett auf. Kein Gramm Fett zu viel, konstatierte Pia, obwohl er knapp fünfzig sein musste. Vermutlich joggte er jeden Morgen, aber er konnte auch zu den Radfahrern gehören, die in aller Herrgottsfrühe mit einem Mountainbike durch den Taunus rasten. Der erste Schock war überwunden, Theissen entspannte sich etwas, und die Farbe kehrte allmählich in sein Gesicht zurück.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Eine Ihrer Mitarbeiterinnen hat die Leiche von Herrn Grossmann heute Morgen gefunden«, begann Pia und erinnerte sich daran, wie Theissen die Frau vorhin tröstend umarmt hatte. Chef mit Herz. Ein Sympathiepunkt für ihn.
»Frau Weidauer.« Theissen nickte bestätigend. »Sie ist unsere Buchhalterin und kommt immer sehr früh zur Arbeit.«
»Sie hat uns gesagt, dass Herr Grossmann ein Alkoholproblem hatte. Entspricht das den Tatsachen?«
Der Geschäftsführer nickte und seufzte.
»Ja, das hatte er. Er trank nicht regelmäßig, aber hin und wieder stürzte er regelrecht ab.«
»War er dann als Nachtwächter für Ihre Firma nicht ein Risiko?«
»Tja.« Stefan Theissen fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und suchte kurz nach den richtigen Worten. »Rolf war ein Klassenkamerad von mir.«
Das überraschte Pia. Entweder hatte sie sich bei Theissen im Alter gründlich verschätzt, oder Tod und einsetzende Verwesung hatten Rolf Grossmann sehr viel älter wirken lassen, als er gewesen war.
»Wir waren in der Schulzeit eng befreundet, danach verloren wir uns aus den Augen. Als ich ihn auf einem Klassentreffen vor ein paar Jahren wiedertraf, war ich schockiert. Seine Frau hatte ihn verlassen, er lebte in einem Männerwohnheim in Frankfurt, war arbeitslos.« Theissen zuckte bedauernd die Achseln. »Er tat mir leid, deshalb habe ich ihn eingestellt. Als Chauffeur und, nachdem er den Führerschein verloren hatte, als Nachtwächter. Die meiste Zeit ging es gut, er war zuverlässig und blieb nüchtern, wenn er im Dienst war.«
»Die meiste Zeit«, bemerkte Cem. »Nicht immer?«
»Nein, nicht immer. Einmal habe ich ihn überrascht, als ich nach einer Geschäftsreise noch spät in die Firma kam. Er lag sturzbetrunken in der Teeküche. Danach war er ein Vierteljahr in einer Entziehungskur. Seit über einem Jahr gab es aber keine Vorkommnisse mehr, und ich nahm an, er hätte die Trinkerei im Griff.«
Offen. Aufrichtig. Keine Beschönigungen.
»Nach der ersten Einschätzung des Rechtsmediziners starb Herr Grossmann am Samstagmorgen gegen vier Uhr in der Frühe«, sagte Pia. »Wie ist es möglich, dass ihn bis heute Morgen niemand vermisst hat?«
»Er lebte ja allein. Und übers Wochenende ist hier niemand, es sei denn, wir sind in der heißen Phase vor der Fertigstellung eines Projekts«, antwortete Stefan Theissen. »Manchmal komme ich samstags oder sonntags in mein Büro, aber an diesem Wochenende war ich verreist. Rolf … also Herr Grossmann … beendet seine Schicht üblicherweise um 6 Uhr morgens und fängt dann um 18 Uhr wieder an.«
Was Theissen sagte, klang schlüssig. Pia bedankte sich für die Auskünfte, sie standen auf. In dem Moment summte ihr Handy. Es war Henning.
»Ich habe etwas Hochinteressantes gefunden«, sagte er knapp. »Komm mal zur Treppe. Am besten gleich.«
*
Er betrachtete ihr Gesicht und kämpfte gegen das schlechte Gewissen, weil er sie so lange nicht besucht hatte. Sie hatte die Augen geöffnet, doch ihr Blick ging ins Leere. Ob sie verstand, was er sagte, seine Berührung spürte?
»Es war ein unglaublicher Erfolg gestern Abend.« Er streichelte ihre Hand. »Jeder, wirklich jeder war da. Sogar Frau Merkel. Und natürlich die Presse. Heute ist das Buch schon der Aufmacher in allen Zeitungen. Ach, es würde dir gefallen, mein Schatz.«
Durch das schräg gestellte Fenster drangen die Geräusche der Stadt: das Klingeln der Straßenbahn, Hupen, Motorengeräusche. Dirk Eisenhut nahm die Hand seiner Frau und küsste ihre kalten Finger. Jedes Mal, wenn er ihr Zimmer betrat und sie mit offenen Augen in ihrem Bett liegen sah, keimte Hoffnung in ihm auf. Es hatte Fälle gegeben, in denen Menschen noch nach Jahren aus dem Wachkoma erwacht waren. Und bis heute konnte niemand mit Sicherheit sagen, was im Bewusstsein eines solchen Patienten vor sich ging. Er wusste, dass sie ihn hörte. Bisweilen schien sie sogar auf seine Stimme zu reagieren, hin und wieder erwiderte sie den Druck seiner Hand, und manchmal glaubte er sie lächeln zu sehen, wenn er ihr von früher erzählte oder sie küsste.
Mit leiser Stimme berichtete er ihr von der Premiere seines neuen Buches, die gestern unter großem Medieninteresse in der Deutschen Oper stattgefunden hatte. Er zählte ihr die Namen der illustren Gäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur auf, richtete ihr Grüße von Bekannten und Freunden aus. Als es an der Tür klopfte, wandte er sich nicht um.
»Ich kann dich jetzt leider eine Weile nicht besuchen kommen«, flüsterte er. »Ich muss verreisen. Aber ich denke immer an dich, mein Herz.«
Ranka, die tüchtige Pflegedienstleiterin, hatte das Zimmer betreten, das konnte er riechen. Sie duftete immer ganz leicht nach Lavendel und nach Rosen.
»Ach, der Herr Professor. Sie waren ja lange nicht mehr da.« In ihrer Stimme meinte er eine Spur von Missbilligung zu hören, aber er würde sich nicht rechtfertigen.
»Hallo, Ranka«, erwiderte er nur. »Wie geht es meiner Frau?« Üblicherweise erzählte sie dann wortreich von Bettinas Alltag, von einem Ausflug auf den Balkon oder einem winzigen Erfolg bei der Physiotherapie. Heute sagte sie jedoch nichts dergleichen.
»Gut«, antwortete Ranka nur. »Wie immer. Gut.«
Schlechte Antwort. Dirk Eisenhut wollte nicht hören, dass sich nichts änderte. Stillstand war Rückschritt. Zuerst hatte die Frührehabilitation gut angeschlagen, und Bettinas Zustand hatte sich dank basaler Stimulationsbehandlung, Physiotherapie und Logopädie langsam, aber stetig verbessert. Sie hatte gelernt, wieder selbständig zu schlucken, so dass man die Trachialkanüle und später die Magensonde entfernen konnte. Die Chance auf eine Erholung aus dem apallischen Syndrom lag bei 50 %. Als Wissenschaftler wusste er, dass es keine Garantien gab und wie gering eine fünfzigprozentige Chance war. Kam es innerhalb eines Jahres nicht zu einer merklichen Verbesserung der physischen und psychischen Leistungen und blieb der Patient bewusstlos, so würde man in der Behandlung zur Phase F übergehen. Der nüchterne medizinische Ausdruck für diese Rehabilitationsphase hieß »dauerhafte aktivierende Behandlungspflege«. Und das bedeutete das Ende aller Hoffnung auf Heilung.
Er verabschiedete sich mit einem Kuss von seiner Frau, sagte Ranka, dass er beruflich für ein paar Tage verreisen müsse, und verließ das Zimmer.
Seit jener schrecklichen Silvesternacht hatte er die Villa in Potsdam, beziehungsweise das, was die Flammen von ihr übriggelassen hatten, nur noch zwei Mal betreten: mit den Brandsachverständigen der Polizei und um seine Unterlagen aus dem weitgehend unversehrten Arbeitszimmer zu holen. Danach nie wieder. Er wohnte jetzt in der Wohnung in Mitte, die Bettina so sehr geliebt hatte, unweit des Pflegeheims in der Rosenthaler Straße. Es störte ihn nicht, dass er nun jeden Morgen quer durch die Stadt zur Arbeit fahren musste, es war seine Buße. Er nickte dem Pförtner zu und trat hinaus auf die Straße. Lärm und Hektik stürzten auf ihn ein, er blieb stehen und atmete tief ein und aus. Eine Horde Touristen auf dem Weg zu den Hackeschen Höfen strömte schwatzend und lachend um ihn herum, ein Taxifahrer hielt vor ihm am Straßenrand und blickte ihn fragend an, aber er signalisierte ihm mit einem Kopfschütteln, dass er seine Dienste nicht benötigte. Nach einem Besuch bei Bettina brauchte er immer einen Spaziergang, außerdem war es nur ein Katzensprung bis nach Hause. Er setzte sich in Bewegung, überquerte die Straße und bog bereits nach ein paar hundert Metern in die Neue Schönhauser Straße ein, in der seine Wohnung lag.
Vielleicht würde er das alles besser ertragen, wenn er die Tragödie nicht hätte selbst verhindern können. Als er nach der Feier im Institut am späten Nachmittag nach Hause gekommen war, hatte das Haus in Flammen gestanden. Wegen der eisigen Kälte und Problemen mit dem Löschwasser hatte es endlos lang gedauert, bis die Feuerwehr in die Flammenhölle hatte vordringen können. Bettina hatte wie durch ein Wunder überlebt. Dem Notarzt war es gelungen, sie zu reanimieren, doch ihr Gehirn war durch die starke Rauchentwicklung sehr lange nicht mit Sauerstoff versorgt worden. Zu lange.
Den Schock hatte er bis heute nicht überwunden, und ihm war klar, dass es seine Schuld war. Er hatte einen gewaltigen Fehler gemacht, einen Fehler, den er nie mehr gutmachen konnte.
*
Heute war der Tag, der die Entscheidung bringen konnte. Wochen, ja Monate hatte er Informationen zusammengetragen, ausgewertet und in allgemein verständliches Deutsch übersetzt, um Mitstreiter zu gewinnen. Seine Bemühungen waren von Erfolg gekrönt, die Bürgerinitiative »Keine Windräder im Taunus« zählte über 200 Mitglieder und zehn Mal so viele Sympathisanten. Es war seine Idee gewesen, kurz vor der Bürgerversammlung das Thema noch einmal ins Fernsehen zu bringen, er hatte sich um alles gekümmert, und heute Nachmittag würde es so weit sein. So viel hing davon ab! Die Gegenseite musste begreifen, dass sie es nicht nur mit einer Handvoll Spinnern zu tun hatte, sondern dass Hunderte Bürger gegen das unsinnige Windkraftprojekt waren. Jannis Theodorakis trat aus der Dusche, griff nach dem Handtuch und trocknete sich ab. Er fuhr sich kritisch über das unrasierte Kinn. Eigentlich gefiel ihm der Drei-Tage-Bart, aber vielleicht kam es bei den Fernsehzuschauern besser an, wenn er gepflegt und seriös auftrat. Nachdem er sich rasiert hatte, ging er ins Schlafzimmer und unterzog seinen Kleiderschrank einer gründlichen Inspektion. Wäre ein Anzug übertrieben? Es war Jahre her, dass er in Anzug und Krawatte zur Arbeit gegangen war, wahrscheinlich passten die Sachen überhaupt nicht mehr. Schließlich entschied er sich für eine Jeans in Kombination mit einem weißen Hemd und einem Sakko. Seit Nika sich um den Haushalt kümmerte, waren die Schränke immer voll und alle Kleider ordentlich gebügelt. Jannis legte Hemd und Jeans auf das Doppelbett, dessen Anblick seiner guten Laune unwillkürlich einen Dämpfer versetzte. Ricky schlief nur noch auf der Couch im Wohnzimmer oder auf dem Fußboden; sie behauptete, sie könne wegen ihrer Rückenschmerzen im Bett nicht mehr liegen. Längst ächzte sie unter dem gewaltigen Pensum, das sie sich Tag für Tag auflud, aber das würde sie niemals zugeben. Der Laden, die Arbeit im Tierheim und in der Hundeschule, die Versorgung ihrer ganzen Menagerie und die Organisation der Bürgerinitiative erforderten mehr Zeit, als sie eigentlich hatte, für ein Privatleben blieb kaum noch etwas übrig. Das Ergebnis ihrer Arbeitswut waren immer heftigere Rückenschmerzen, die sie regelmäßig zum Chiropraktiker trieben und ihr eine, wie er argwöhnte, willkommene Ausrede boten, ihm den Sex zu verweigern.
Jannis verließ das Schlafzimmer und ging quer durch den Flur in die Küche. Die Katzen, die schläfrig auf der Eckbank und dem Stuhl in der Sonne gehockt hatten, flüchteten sofort durch die Katzenklappe auf die Terrasse. Das Viehzeug, das Ricky in ihrer grenzenlosen Tierliebe anschleppte, ging ihm auf die Nerven. Die beiden Hunde konnte er gerade noch akzeptieren, aber die Katzen, diese arroganten Leisetreter, die überall ihre Haare hinterließen, waren ihm zuwider. Sie erwiderten seine Abneigung mit stolzer Missachtung und legten offenbar so wenig Wert auf seine Gesellschaft wie er auf ihre.
Helles Sonnenlicht flirrte durch das Fenster. Ein perfekter Frühsommertag für die Dreharbeiten am Nachmittag. Jannis schenkte sich einen Kaffee ein, bestrich eines der frischen Brötchen mit Butter und Erdbeermarmelade und biss hinein. Seine ziellos kreisenden Gedanken wanderten wieder zu Nika, wie so häufig in letzter Zeit.
Zuerst waren ihm an ihr nur Äußerlichkeiten ins Auge gefallen: ihre grotesken Klamotten, die unmögliche Frisur, die Eulenbrille. Nika redete wenig und war so zurückhaltend, dass er ihre Anwesenheit im Haus gelegentlich sogar vergessen hatte. Er wusste nichts über sie, und sie hatte ihn auch nicht interessiert, bis zu jenem Vorfall vor drei Wochen.
Jannis wurde heiß, als er sich den Moment in Erinnerung rief, der alles verändert hatte. Er hatte eine Flasche Wein für das Abendessen aus dem Keller geholt, und Nika war just in der Sekunde, als er den Weinkeller verließ, aus ihrem Badezimmer gekommen – splitternackt, das feuchte Haar straff aus dem Gesicht gekämmt. Ein paar Sekunden lang hatten sie sich erschrocken angesehen, dann war er hastig weitergegangen in Richtung Treppe, eine Entschuldigung murmelnd. Keiner von ihnen hatte diese Begegnung je wieder erwähnt, aber seitdem war die Unbefangenheit weg. Nikas Anblick hatte sich unauslöschlich in sein Gehirn gefressen. Seitdem dachte er nur noch an sie, wenn er allein im Bett lag und Ricky schnarchend auf dem Fußboden; mit jeder sexlosen Nacht wurde sein Verlangen nach ihr stärker, es hatte sich zu einer Obsession ausgewachsen, die ihn quälte und wütend machte. Sollte Ricky mit ihrer Eifersucht jemals auch nur den geringsten Verdacht schöpfen, dann war der Teufel los. Trotzdem wollte es ihm nicht gelingen, Nikas nackte Titten aus seinem Kopf zu verbannen.
»Nika«, murmelte er und genoss die lustvolle Qual, die es ihm bereitete, ihren Namen laut auszusprechen. Der bloße Gedanke an ihre Begegnung im Keller, die in seinen immer wilderen Phantasien längst nicht mehr mit seiner verschämten Flucht endete, machte ihn unwillkürlich scharf. »Verdammt, Nika, verdammt.«
*
Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodenstein stand vor der Spiegeltür des Kleiderschranks und band sich missmutig die Krawatte. Was für eine Schnapsidee, an einem Montagvormittag zu heiraten und damit den berufstätigen Teil der Familie zu einem Tag Urlaub zu zwingen! Er betrachtete sich kritisch von der Seite. Obwohl er den Bauch einzog, wölbte der sich zu seiner Verärgerung über den Hosenbund. Gestern Abend hatte sich der Zeiger der Waage zum ersten Mal in seinem Leben über der 90-Kilo-Markierung eingependelt, und das hatte ihm einen Schock versetzt. Nur noch neun Kilo, dann wog er zwei Zentner! Wenn er nicht schleunigst damit aufhörte, jeden Abend bei seinen Eltern zu essen und anschließend mit seinem Vater eine Flasche Rotwein zu leeren, konnte er sich bald überlegen, ob er den Bauch über oder unter dem Gürtel tragen wollte.
Er streifte das Jackett über. Der Anzug kaschierte das Schlimmste, trotzdem fühlte er sich unwohl. Und das lag nicht nur an der bevorstehenden Hochzeitsfeier und seiner Gewichtszunahme. Über zwanzig Jahre lang war sein Leben in geruhsamen Bahnen verlaufen, aber seit seiner Trennung von Cosima vor sechs Monaten war alles durcheinandergeraten, nicht nur seine Essgewohnheiten. Schnell hatte er gemerkt, dass es ein Fehler gewesen war, sich auf eine Affäre mit Heidi Brückner einzulassen, die er während der Arbeit an einem Fall im letzten November kennengelernt hatte. Sie war ihm begegnet, als sein Leben durch Cosimas Untreue in seinen Grundfesten erschüttert worden war, und hatte ihm über den ersten Schmerz hinweggeholfen, aber für eine neue, feste Beziehung war er noch längst nicht bereit gewesen. Sie hatten noch ein paar Mal telefoniert, dann hatte er sie nicht mehr angerufen, und die ganze Sache war im Sande verlaufen, ohne Diskussionen und ohne, dass es ihn berührt hätte.
Der eigentliche Grund aber, weshalb er jetzt lieber mit seinen Kollegen neben einer Leiche gestanden hätte als zum Standesamt im Kelkheimer Rathaus zu fahren, war Cosima. Seit sie ihn vor einem halben Jahr vor vollendete Tatsachen gestellt hatte und kurz darauf mit ihrem russischen Liebhaber zu einer Weltumsegelung aufgebrochen war, hatte er kaum mit ihr gesprochen. Noch immer nahm er es ihr übel, dass sie aus reinem Egoismus die Familie und damit sein Leben zerstört hatte. Über Wochen und Monate schon hatte sie eine heimliche Beziehung mit diesem Abenteurer Alexander Gawrilow geführt, während er nicht das Geringste geahnt hatte. Sie hatte ihn zum Trottel gemacht, und ihm war wieder einmal nichts anderes übriggeblieben, als ihre Entscheidungen zu akzeptieren, schon allein der Kinder zuliebe. Lorenz und Rosalie waren erwachsen und standen auf eigenen Füßen, aber Sophia war gerade mal zweieinhalb. Sie hatte ein Recht auf Vater und Mutter, egal, was zwischen Cosima und ihm war. Bodenstein warf seinem Spiegelbild einen letzten resignierten Blick zu. Er hatte sich fest vorgenommen, den Leichenfund als Grund vorzuschieben und die Familienfeier sofort nach der Trauungszeremonie zu verlassen, sollte Cosima tatsächlich so unverfroren sein, diesen Gawrilow mitzubringen. Insgeheim hoffte er beinahe, dass sie genau das tun würde.
*
Er sah schon von weitem die zwei Autos im Hof stehen und ahnte, was ihn erwartete. Ludwig Hirtreiter war kein Mensch, der einem Konflikt aus dem Weg ging, deshalb stapfte er weiter und stieß das Gartentor auf. Tell rannte auf die beiden Männer zu und begann zu bellen.
»Tell!«, rief er. »Aus. Bei Fuß!«
Der Hund gehorchte sofort.
»Was wollt ihr?«, knurrte Hirtreiter. Noch immer war er innerlich auf hundertachtzig wegen der illegalen Rodungsaktion im Wald. Ein denkbar schlechter Moment, den seine Söhne sich für ihren Besuch ausgesucht hatten.
»Guten Morgen, Papa«, sagte Matthias, der jüngere, und lächelte. »Hast du Zeit für einen Kaffee?«
Was für ein durchsichtiges Manöver.
»Nicht, wenn ihr wieder mit der Pfaffenwiese anfangt.« Ihm war glasklar, dass sie genau deswegen gekommen waren. Jahrelang hatten sie jeden Kontakt gemieden, bis auf die alljährliche nichtssagende Weihnachtskarte und den pflichtschuldigen Anruf zu seinem Geburtstag, und das war ihm nur recht gewesen. Er blickte seine Söhne mit hochgezogenen Brauen an. Kleinlaut und betreten standen sie da, in ihren schicken Anzügen, neben ihren dicken Autos.
»Vater, bitte«, begann Gregor in einem unterwürfigen Tonfall, der so wenig zu ihm passte wie sein alberner Sportwagen. »Du kannst doch nicht wirklich wollen, dass wir alles verlieren, was wir uns aufgebaut haben.«
»Was geht mich das an?« Ludwig Hirtreiter nahm das Gewehr von der Schulter, stemmte es auf den Boden und stützte sich darauf. »Euch hat nie interessiert, was mit mir ist, weshalb soll mich nun interessieren, was mit euch ist?«
Vor zwei Wochen hatten sie ihn zum ersten Mal angerufen. Einfach so, hatten sie behauptet. Er war sofort misstrauisch gewesen, und das zu Recht, wie sich schnell herausgestellt hatte. Ludwig Hirtreiter wusste bis heute nicht, wie seine Söhne vom Angebot der WindPro erfahren hatten, aber dies allein war der Grund für die plötzlich wiederentdeckte Vaterliebe. Wie verzweifelt mussten sie sein, dass sie nach all der Zeit bei ihm auftauchten? Matthias war es gewesen, der die Pfaffenwiese zuerst angesprochen hatte. Auf die Phase der Nettigkeit war die der Bettelei gefolgt, eingebettet in die zögerliche Offenbarung ihrer prekären finanziellen Situation. Als auch das nicht fruchtete, appellierten sie an seine väterliche Verpflichtung. Sie waren so gut wie pleite, der eine fürchtete den Insolvenzverwalter, der andere den Gerichtsvollzieher. Beide brauchten dringend Geld, beide hatten Angst vor der Häme und dem Gespött derjenigen, die sie jahrelang mit ihrem geleasten und geliehenen Luxusleben geblendet hatten.
»War es das?« Hirtreiter musterte die beiden Männer, die ihm gleichgültig geworden waren. Er hegte keine Gefühle mehr für sie, weder gute noch böse. »Ich habe zu tun.«
Er schulterte das Gewehr und wandte sich zum Gehen.
»Warte noch, Vater, bitte!« Matthias machte einen Schritt auf ihn zu. In seinen Augen lag keine Überheblichkeit mehr, nur noch nackte Verzweiflung. »Wir verstehen nicht, weshalb du dich so sehr gegen den Verkauf dieser Wiese sträubst. Die bauen dir hier doch keine Bundesstraße vor die Nase. Du hast höchstens während der Bauphase ein paar Wochen lang Krach und Dreck, und dann kommt vielleicht noch mal alle paar Tage ein Techniker vorbeigefahren.«
Er hatte nicht ganz unrecht. Es war die reinste Dummheit, das Angebot der WindPro auszuschlagen, zumal sie es noch um eine weitere Million erhöht hatten. Aber wie zum Teufel stand er dann vor den anderen da, die auf sein Wort vertrauten? Heinrich würde nie wieder mit ihm reden! Wenn er die Wiese verkaufte, war der Windpark nicht mehr zu verhindern, alles wäre umsonst gewesen.
Matthias deutete das Schweigen seines Vaters offenbar als Etappensieg.
»Es tut uns beiden wirklich leid, was damals vorgefallen ist«, setzte er nach. »Wir haben viele dumme Sachen gesagt und dich verletzt. Das lässt sich nicht mehr ungeschehen machen, aber vielleicht können wir einen neuen Anfang schaffen. Als Familie. Deine Enkel würden ihren Opa wirklich gerne öfter sehen.«
Ein plumper Manipulationsversuch.
»Das ist eine wirklich schöne Geste von dir«, erwiderte Ludwig Hirtreiter. Er sah die Hoffnung in den Augen seines Jüngsten aufglimmen und zerstörte sie mit Wonne. »Aber sie kommt leider zu spät. Ihr seid mir egal, alle beide. Lasst mich in Ruhe, wie ihr es zwanzig Jahre lang getan habt.«
»Aber Vater«, demütigte Gregor sich in einem letzten, verzweifelten Versuch. »Wir sind doch deine Kinder, und wir …«
»Ihr wart eine Episode in meinem Leben, mehr nicht«, schnitt Ludwig Hirtreiter ihm das Wort ab. »Ich verkaufe die Wiese nicht. Ende der Diskussion. Und jetzt verschwindet von meinem Hof.«
*
Die Mitarbeiter des Erkennungsdienstes hatten unter der Regie von Kriminalhauptkommissar Christian Kröger das Kommando übernommen. In ihren weißen Overalls mit Kapuze und Mundschutz erledigten sie routiniert die Tatortarbeit, machten Fotos und suchten, sicherten und nummerierten jede Spur, die sich später als tatrelevant herausstellen konnte. Eine mühsame, zeitraubende Arbeit, für die Pia die Geduld gefehlt hätte. Zwei Beamte waren damit beschäftigt, die Edelstahlhandläufe der Brüstungen in allen drei Stockwerken mit Rußpulver zu bestäuben, um Fingerabdrücke zu nehmen. Pia hielt dies für sinnlos, da täglich wohl Dutzende von Personen ihre Hände auf das Geländer legten, aber sie behielt ihre Meinung für sich, um bei Kröger nicht gleich am ersten Tag nach dem Urlaub in Ungnade zu fallen.
Die Menschenmenge hatte man inzwischen vor die Tür ins Freie verbannt, auch Frau Weidauer war verschwunden. Es herrschte eine fast weihevolle Stille, nur unterbrochen vom Klicken der Fotoapparate.
»Hi, Christian«, begrüßte Pia den Leiter des Erkennungsdienstes. Er und Henning knieten auf dem Treppenabsatz neben der Leiche, gänzlich unbeeindruckt von Gestank und surrenden Fliegenschwärmen.
»Hi, Pia«, erwiderte Kröger ohne aufzublicken. »Schau mal, was der Herr Rechtsmediziner gefunden hat.«
Pia und Cem Altunay traten näher. Dr. Henning Kirchhoff und Christian Kröger arbeiteten seit Jahren immer wieder zusammen und trafen sich regelmäßig an Schauplätzen von Mord und Totschlag, dennoch herrschte zwischen ihnen keine Sympathie, im Gegenteil: Sie zollten der Fachkompetenz des anderen widerwilligen Respekt, konnten sich darüber hinaus aber nicht ausstehen.
»Da.« Henning ergriff die rechte Hand des Toten, die zu einer Faust geballt war, und bog die Finger auseinander. »Wenn mich nicht alles täuscht, dann ist das, was er da in der Hand hält, ein Stück von einem Latexhandschuh.«
»Ja und?« Pia schüttelte begriffsstutzig den Kopf. »Was soll das bedeuten?«
»Es kann natürlich möglich sein, dass der Mann aus reiner Gewohnheit mit einem Stück Latexhandschuh in der Hand seine nächtlichen Runden gedreht hat, als eine Art Fetisch vielleicht«, entgegnete Henning in jenem oberlehrerhaften Tonfall, der Pia zur Weißglut zu bringen vermochte. »Da habe ich schon ganz andere Sachen erlebt. Du erinnerst dich an den Bankdirektor vor ein paar Jahren, der sich in seinem Büro aufgehängt hatte. Der den BH seiner Mutter …«
»Ich erinnere mich«, unterbrach Pia ihn ungeduldig. »Was hat das mit dem Toten hier zu tun?«
»Nichts«, räumte Henning ein. »Das mit dem Latexhandschuh mag etwas dünn sein. Aber was haltet ihr hiervon?«
Er richtete sich auf und bedeutete Pia und Cem, ihm die Treppe hinauf zu folgen. Etwa fünf Stufen oberhalb des Absatzes blieb er stehen und wies auf einen etwa handtellergroßen Fleck in einer getrockneten Blutlache auf dem grauen Granit.
»Das hier«, sagte er, »ist unzweifelhaft der Teil eines Schuhabdrucks. Allerdings nicht von Grossmanns eigenem Schuh.«
Pia betrachtete den unscheinbaren Fleck. Konnte das der Beweis dafür sein, dass Grossmann getötet worden war?
Unten in der Halle lehnte Stefan Theissen am Empfangstresen und telefonierte mit gesenkter Stimme, dabei verfolgte er das Treiben auf der Treppe aufmerksam, aber ohne sichtliche Gemütsregung.
»Chef!« Ein Kollege der Spurensicherung beugte sich über die Brüstung im dritten Stock. »Komm mal rauf!«
Christian Kröger machte sich auf den Weg in den dritten Stock, wobei er sich auf der Treppe ganz links hielt, um keine Spuren zu zerstören.
»Wir sind fertig mit der Leiche. Du kannst sie abholen lassen«, sagte Henning zu Pia, zog den Overall aus und faltete ihn sorgfältig zusammen.
»Gut. Ich lasse sie zu dir bringen. Die Genehmigung für eine Obduktion sollte eine Formsache sein.«
»Hoffentlich. Die Staatsanwaltschaft wird ja immer geiziger.« Er schloss seine Koffer und streifte sich sein Jackett über. »Der Urlaub hat dir übrigens gutgetan. Du siehst erholt aus.«