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Eine neue Ethik der Fürsorge
Dieses Buch macht all denen Mut, die sich tagtäglich um ihre Patienten sorgen. Es zeigt ihnen auf, wie wertvoll und unverzichtbar ihre Tätigkeit ist. Denn in der Heilkunde geht es immer um alles. Es geht um Entscheidungen, die sich auf die ganze Biografie eines Menschen auswirken. Dass dabei heute die Ökonomie vorherrscht, widerspricht den Werten, die Grundlage des Heilens sind. Giovanni Maio plädiert daher für eine Rückbesinnung auf Werte wie Geduld, Behutsamkeit, Reflexivität und Demut, ohne die Fürsorge für den Menschen nicht möglich ist.
Ein Buch über Werte, die verloren zu gehen drohen und die doch für viele der Motor waren, sich für einen Heilberuf zu entscheiden.
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Seitenzahl: 289
Eine neue Ethik der Sorge
Der Arztberuf und die Pflege werden immer mehr nach ökonomischen Kriterien bewertet. Das bedroht die Identität der Medizin und stellt ihre ursprünglichen Werte in Frage: Wenn die Behandlung nur noch unter dem Gesichtspunkt einer betrieblichen Investition gesehen wird, fehlt häufig die Zeit, um auf den Patienten einzugehen, im Gespräch richtig zuzuhören und die Menschen umfassend zu behandeln.
Der Philosoph und Mediziner Giovanni Maio zeigt auf, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte, und regt eine Wertediskussion an. Er plädiert für eine Rückbesinnung auf Werte wie Geduld, Behutsamkeit und Reflektiertheit, um das Selbstverständnis der Medizin und der Heilberufe zu retten.
Zum Autor
Giovanni Maio, geboren 1964, ist Arzt mit langjähriger klinischer Erfahrung und Philosoph. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität und leitet dort ein eigenes Ethikinstitut. Giovanni Maio ist langjähriger Berater der Deutschen Bischofskonferenz, der Bundesregierung und der Bundesärztekammer.
Giovanni Maio
Werte für die Medizin
Warum die Heilberufe ihre eigene Identität verteidigen müssen
Kösel
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Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: Weiss Werkstatt, München
Redaktion: Dr. Angelika Reichert
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-21578-1V002www.koesel.de
Inhalt
TEIL 1 Umwertung der Werte – Die gegenwärtige Lage der Heilberufe
1. Von der Bestimmung der Werte durch Bürokratie und Ökonomie
2. Der ärztliche Beruf heute – Entakademisierung und Verlust der Freiheit
3. Der ärztliche Beruf heute – Belohnter Aktionismus und abgewertete Sorgfalt
4. Anreize statt Werte – das Beispiel der »Bezahlung nach Leistung«
5. Die Pflege heute – Bedrohung ihrer Identität im Zeitalter umfassender Ökonomisierung
6. Technik und Werte
TEIL 2 Wiederzuentdeckende Werte der Heilberufe
7. Sorgfalt und Geduld – Zur Bedeutung des Respekts vor der Zeit
8. Offenheit und Feinsinn – Zur Bedeutung des Zuhörens
9. Takt und Begegnungsbereitschaft – Zur Ethik des Gesprächs
10. Reflektiertheit und Erfahrenheit – Zur Bedeutung integrativen Denkens
11. Behutsamkeit und Demut – Zur Bedeutung der Zurückhaltung
12. Unbeirrbarkeit und Treue zum sozialen Auftrag – Der Heilberuf als Versprechen
13. Für eine Ethik der Sorge in der Medizin
Literatur
TEIL 1
Umwertung der Werte – Die gegenwärtige Lage der Heilberufe
1. Von der Bestimmung der Werte durch Bürokratie und Ökonomie
Wir leben in einer Zeit, in der die Wirklichkeit medizinischen Handelns unter die Direktive einer sozial-politischen Tendenz geraten ist, die ihrerseits die Identität der Medizin bedroht. Die moderne Medizin wird heute weitgehend unreflektiert nach dem Modell der industriellen Produktion gesteuert und immer mehr nach ökonomischen Gesichtspunkten bewertet. Dadurch gerät die Medizin in einen Strudel, der ihre eigenen Werte geradezu auf den Kopf stellt, denn in einem ökonomisierten und industrialisierten System wird das Anliegen von Pflegenden und Ärzten, die sich bewusst für einen Helferberuf entschieden haben, immer mehr zur Nebensache. In einem existenzbedrohenden Verdrängungswettbewerb sind es die Erlöse, die am Ende über das Schicksal einer Einrichtung entscheiden. So sehen sich auch die Heilberufe ständig mit der entscheidenden Frage konfrontiert, ob sie mit ihrer Arbeit zur Konsolidierung der Finanzen beitragen oder nicht. Wohlgemerkt erzieht das gegenwärtige System – entgegen anderslautenden politischen Proklamationen – nicht dazu, zu fragen, wie man am besten Verschwendung vermeiden kann, sondern es erzieht vielmehr dazu, zu fragen, wie man eine Erlösoptimierung, also eine Umsatzsteigerung, erreichen kann. Folge dieser unheilvollen Entwicklung ist eine sukzessive Entwertung der sozialen Zielsetzung der Pflegenden und der Ärzte. Die prosoziale Einstellung, die die Grundlage etwa des Berufswunsches Arzt gewesen sein mag, erscheint in einem monetarisierten Kontext, in dem es primär um Erlösrelevanz geht, geradezu als dysfunktional, weil sie als etwas gesehen wird, was den ganzen Betrieb nur aufhält. Wenn im Zuge solcher Kapitalisierung der ärztlichen Tätigkeit die Behandlung primär unter dem Gesichtspunkt einer betrieblichen Investition beurteilt wird, dann verliert die ärztliche Betreuung ihren ursprünglichen und eigentlichen Sinn. Vor dem Hintergrund eines grundlegenden Unverständnisses für die soziale Zielsetzung der Medizin findet momentan eine problematische Überformung medizinischer Rationalität durch betriebswirtschaftliche Logik statt.
Das Grundproblem der modernen industrialisierten Medizin besteht darin, dass die Ärzte und Pflegenden ihre eigentliche Leistung jeden Tag unter Wert verkaufen und deswegen glauben, sich dem System beugen und in seiner Ausrichtung agieren zu müssen. Man darf sich aber den Blick auf den Kern der pflegerischen und ärztlichen Leistung, die weithin unbemerkt vollzogen wird, durch unangemessene Vorgaben nicht versperren lassen.
Im folgenden Kapitel geht es in einem ersten Schritt um die grundsätzliche Charakterisierung der erwähnten Tendenz, die die Medizin in der angemessenen Wahrnehmung ihrer Aufgabe bedroht. Ein zweiter Schritt konkretisiert diese Tendenz unter vier Gesichtspunkten. Demgegenüber wird in einem dritten Schritt herausgearbeitet, was den eigentlichen Kern der Medizin und ihrer Arbeitsweise ausmacht.
Herrschaft betrieblicher Rationalität
Die Normen des ökonomisierten Systems stammen aus der industriellen Massenproduktion. Bedingt durch eine dementsprechende vereinfachende Vorstellung von ärztlicher Betreuung wird in den Köpfen der Verantwortlichen die Leistung der Ärzte reduziert auf das Anbieten standardisierter Behandlungsschablonen. Dabei wird vorausgesetzt, dass alle Herausforderungen im Umgang mit Patienten einfach schematisiert und nach einem strikten Regelwerk bewältigt werden können. Ideal einer solchen technokratischen Herangehensweise ist es, zunächst eine typisierende Problemdeutung vorzunehmen, um dann die auf ein Musterproblem heruntergebrochene Wirklichkeit durch stereotypes Handeln in Form von Algorithmen zu lösen. Eine solche Konzeption steht in Zusammenhang mit einer politischen Ideologie, die das Handeln der Heilberufe über bürokratische Normierung restlos steuerbar machen möchte. Dass sich überhaupt eine solche Steuerungsfantasie herausbilden konnte, hängt mit einer heimlichen Neudefinition der Ärzte zu Ingenieuren für den Menschen zusammen. Das ist einer der vielen eklatanten Denkfehler, die die gegenwärtige Wirklichkeit der Medizin bestimmen. Gerade weil man irrtümlich davon ausgeht, dass die Behandlung von Patienten einer Technik am Objekt gleichkommt, übernimmt man nicht nur eine Qualitätssicherung, die ursprünglich für den ingenieurwissenschaftlichen Kontext konzipiert war, sondern – viel gravierender – man unterwirft die gesamte Medizin einer Checklisten-Rationalität, die zu verhängnisvoller Überformalisierung, Überregulierung und Bürokratisierung führt. Im Zuge der Bürokratisierung erfolgt eine numerische Wirklichkeitskonstruktion, die sukzessiv zu einem radikalen Umbau der Legitimationsstrukturen führt, dergestalt, dass nicht mehr soziale Werte, sondern sich nackte Zahlen als Legitimationsquelle medizinisch-pflegerischen Handelns in den Vordergrund schieben. Nicht die Orientierung an einem sozialen Ziel gilt als Rechtfertigung des Handelns, sondern die Maximierung der Zahl, und was nicht gezählt werden kann, gilt als wertlos.
Die Verbürokratisierung der modernen Medizin führt somit zu einer Abwertung anderer Verhaltensrationalitäten, anderer Entscheidungskriterien und somit genau der Gesichtspunkte, die für Personen in Heilberufen bei ihrer Berufswahl und Sozialisation motivationsleitend und identitätsstiftend waren. Es wird der Anschein erzeugt, als sei ein System jenseits der betriebswirtschaftlichen Logik ein von Grund auf dysfunktionales System. Diese Fiktion beruht auf der unausgesprochenen Überzeugung, dass nur die betriebswirtschaftliche Logik Funktionierendes hervorbringen könne. Dass medizinisches Denken nach eigenen Prinzipien verfährt, wird vollkommen ausgeblendet, ja direkt negiert. Die Hegemonialmacht betriebswirtschaftlichen Denkens führt sukzessive zu einer Delegitimierung aller nicht-instrumentellen Rationalitätsformen. Auf diese Weise droht der soziale Gehalt der ärztlichen und pflegerischen Tätigkeit aus dem Bewusstsein der Heilberufe verdrängt zu werden.
Im durchbürokratisierten System steht die detaillierte Regulierung an der Stelle der kreativen Lösung, das deduktive Ableiten an der Stelle des induktiven Erschließens. Im Hintergrund steht das Konzept standardisierter Routineübungen. Dass es zu solch einer ausgeprägten Bürokratisierungsspirale kommen konnte, liegt an einem weiteren folgenschweren Gedankenfehler: Aus der Erkenntnis, dass die Dokumentation des Messbaren etwas Sinnvolles ist, wird kurzerhand geschlossen, dass alles Sinnvolle auch dokumentierbar sein müsse.
Die vorangehende Skizze dürfte gezeigt haben: In der modernen Medizin ist eine betriebswirtschaftliche Formallogik etabliert worden, die nicht nur Abläufe, sondern auch Werte vorgibt. Durch den betriebswirtschaftlichen Zuschnitt findet eine Umwertung der Werte in der Medizin statt; hochgeschätzt werden formalisierungsaffine Werte wie Regelmäßigkeit und Reibungslosigkeit, unterschätzt und aus dem Wahrnehmungsmuster verbannt werden alle interaktionsbezogenen und beziehungsstabilisierenden Werte. Gefördert wird somit nicht Kreativität und individuelle Anpassung, sondern das Repetitive, nicht das Singuläre, sondern das Standardisierte, nicht das Besondere, sondern das Gewöhnliche. Finale Folge ist die Beförderung eines Trends zur Entdifferenzierung medizinisch-pflegerischen Denkens.
Wie die politisch zu verantwortende Umwertung der gesamten Medizin konkret aussieht, sei im folgenden Abschnitt anhand von vier problematischen Vorannahmen umrissen.
Produktionslogische Umwertungen in der Medizin
1. Negativierung der Zeit
Unter der Perspektive einer industriellen Produktionslogik wird die personalintensive Kontaktzeit zum Patienten als ein zu minimierender Aufwand betrachtet; der Ruf nach Effizienzsteigerung ist im Grunde nichts anderes als eine Legitimation der Verknappung von Zeit. Das mag unter produktionstechnischem Gesichtspunkt auch rational erscheinen, denn es ist selbstverständlich, dass man in der Industrie versucht, ein Ergebnis mit einem Minimum an Aufwand zu erzielen. In der Industrie liegt der einzige Wert, der generiert wird, im Produkt selbst, das verkauft werden kann. Den Weg zum Produkt zu beschleunigen oder abzukürzen ist unter dieser Prämisse auch tatsächlich rational, weil man damit den Ressourcenverbrauch minimieren kann. Überträgt man nun diese Denkweise auf die Behandlung von kranken Menschen, so gerät derjenige, der sich Zeit nimmt und somit Ressourcen verbraucht, automatisch in Verdacht, nämlich in den Verdacht der Verschwendung, in den Verdacht der Ineffizienz. Innerhalb einer produktionstechnischen Logik findet also nicht nur eine Verknappung, sondern geradezu eine Negativierung der aufgewendeten Zeit statt; den Ärzten und Pflegenden wird systematisch ein schlechtes Gewissen eingeimpft, wenn sie sich Zeit nehmen, Zeit für ein beruhigendes Gespräch, Zeit für eine zweite Erklärung, Zeit für ein Zeichen der Hoffnung, Zeit für ein persönliches Signal des Mitfühlens. Und genau an diesem Punkt ist unschwer zu erkennen, wie unangemessen der Versuch der Angleichung der Heilberufe an die Gesetzlichkeiten der produzierenden Industrie ist. Denn in der Medizin ist die Zeit, also die Kontaktzeit, die Sprechzeit, die Zeit zum Aufbau einer Vertrauensbeziehung, gerade nicht ein zu minimierender Verbrauch wie in der Industrie, sondern sie ist genau das Gegenteil, nämlich die zentrale Investition in eine erfolgreiche Betreuung und Therapie. Nur über die Kontaktzeit kann der Patient am Therapieprozess beteiligt werden, mitgenommen werden auf einem oft mühsamen Weg, auf dem er Orientierung, Ermunterung und motivierende Gespräche braucht. Gerade in der Medizin hat die Zeit tatsächlich einen Mehrwert. Spart man an der Kontaktzeit, verringert man die Chancen der Therapie. Die zeitverknappende Ökonomisierung und Industrialisierung der Medizin ist daher keine Steigerung von Effizienz, sondern ein Abbau der Ermöglichungsbedingungen von Medizin. Die gegenwärtigen Anreize sind daher nicht effizienzfördernd, sondern im Gegenteil geradezu kontraproduktiv für die Verwirklichung von Medizin.
Etwas Grundlegendes wird hier deutlich: In den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts meinte man, man müsse alle Krankenhäuser in Wirtschaftsunternehmen umfunktionieren, weil – so das Credo damals wie heute – sich nur so eine weitere Kostenerhöhung im Gesundheitswesen endlich stoppen lasse. Abgesehen davon, dass es eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen nur in den Medien, aber nicht in der Realität gab (die Kosten sind nie explodiert, sondern sie sind nur langsam, aber stetig gestiegen, wie in anderen Lebensbereichen auch), hatte diese Umfunktionierung der Krankenhäuser von sozialen Einrichtungen hin zu profanen Wirtschaftsunternehmen nicht zur Folge, dass man damit die Kosten eindämmte. Vielmehr ließ die politisch zu verantwortende Umstellung die Kosten nun erst recht in die Höhe schnellen, weil die Anreize so sind, dass nur das gemacht wird, was auch viel Geld bringt bzw. was auch viel Geld kostet. In der Konsequenz verlagerte sich der Schwerpunkt der medizinischen Arbeit auf das, was Umsatz schafft, nämlich Eingriffe, Eingriffe und nochmals Eingriffe. Eine betriebswirtschaftlich konzipierte Medizin ist – allein was die Kosten betrifft – nicht nur unsinnig und unangemessen, sondern auch unwirtschaftlich. Aber sie ist unsinnig auch in Bezug auf die durch die Verbetriebswirtschaftlichung aufgezwungenen Einsparungen. Abgebaut wurde die Kontaktzeit, die Sprechzeit, die Zuwendungszeit. So meinte man, die Abläufe endlich effizienter gemacht zu haben, und feierte dies als Meilenstein des Fortschritts. Aber diese Effizienz-Rhetorik verstellt den Blick auf die Wirklichkeit. Tatsächlich wurde nämlich mit dem Einzug der Logik eines Wirtschaftsunternehmens eingespart, aber zum Leidwesen aller am falschen Ende. Das, was unter dem Schlagwort der Effizienzsteigerung eingespart wurde, ist die Zeit für den Patienten, und das ist eine unvernünftige Einsparung. Dass dennoch alles teurer geworden ist, obwohl die Patienten nur noch durchgeschleust werden, macht die Tragik und vor allem die Irrationalität der Durchökonomisierung der Medizin aus. Außerdem ist zu bedenken: Der politisch gewollte Einspardruck führte dazu, dass in den Jahren 1995 bis 2005 allein im Pflegebereich 50.000 Stellen einfach weggestrichen wurden.
Damit zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die rein finanzorientierte Bewertung eines sozialen Bereichs keine vernünftige Lösung sein kann. Die Zeit, sie ist das erste Opfer eines solchen blinden Ökonomisierungsschubs. Das ist verhängnisvoll für die Heilberufe, vor allem aber für die Patienten.
2. Linearisierung von Komplexität
Nach einem produktionstechnischen Paradigma ist die Therapie zu verstehen als Aufeinanderfolge von Wenn-dann-Entscheidungen. Produktionslogisch ergibt sich die Therapie nicht als Resultat eines Reflexionsprozesses, sondern sie ist eindeutig aus objektiven Befunden ableitbar. Nicht Kreativität kommt hier zum Zuge, sondern Stringenz und Stromlinienförmigkeit. Die Wirklichkeit wird in lineare Modelle überführt und Komplexität durch binäre Entscheidungsmodi aufgelöst. Damit wird die Vorstellung einer Therapieentscheidung als Algorithmus etabliert. Den Heilberufen wird suggeriert, dass sie umso effizienter und qualitätsvoller arbeiten, je mehr sie sich an die vorgegebenen Algorithmen und an die dafür vorgesehenen, normierten Abläufe halten und je mehr sie ihre Therapie nach festen Schemata vorausplanen. Das streng planmäßige Vorgehen wird zum alles beherrschenden Ideal. Das entspricht der Produktionslogik, nach der Schematisierung und absolute Regelbefolgung das qualitätssichernde Kriterium darstellt. Produktionslogisch gesehen muss es sich so verhalten, weil es hier um das Hervorbringen eines Produktes geht, das bereits am Anfang der Herstellung festgelegt, also vorgegeben ist. Nach dem industriellen Paradigma wird strikt daran bemessen, inwiefern die Umsetzung einer Norm erfolgt, die in Form eines Algorithmus schon zuvor feststeht. Letztes Ziel einer an dieses Paradigma angepassten Therapie ist die Sicherung des reibungslosen Prozessablaufs.
Diese Reibungslosigkeit ist jedoch teuer erkauft. Wenn nämlich der Plan zum Ideal wird, dann folgt daraus, dass der einzelne Patient diesem Plan unweigerlich untergeordnet und somit normiert wird. Das durchökonomisierte System begünstigt die Tendenz, die Abläufe nicht am Patienten auszurichten, sondern den Patienten den vorgegebenen Ablaufschemata anzupassen.
Prozesse kann man optimieren, das ist unbestritten, und das sollte man auch tun. Die Optimierung der Prozesse bildet jedoch nicht den Kern der Behandlung von kranken Menschen. Prozessoptimierung ist vielmehr nur der Hintergrund, vor dem die eigentliche Therapie erst ermöglicht werden kann. Wenn man dagegen die Rationalität der Prozessoptimierung auf die Therapie überträgt, sitzt man einem Kategorienfehler auf, der eben deshalb, weil das produktionstechnische Paradigma implizit bleibt, allzu leicht übersehen wird.
Umso wichtiger ist es, sich klarzumachen, dass das Ideal der industriellen Produktion die eingefahrene Routine ist, der geordnete Ablauf des Immer-Gleichen. Überträgt man dieses Ideal auf die Medizin, bestreitet man indirekt den Sinn der Begegnung mit dem individuellen Patienten. Wird aber die Berücksichtigung von Individualität zur Verschwendung und zur Ineffizienz umstilisiert und die Routinisierung zum Ideal erhoben, muss das als Ansatz zur sukzessiven Demotivierung der in Heilberufen tätigen Personen gelten – schließlich sind diese in aller Regel für einen solchen Umgang mit Menschen nicht angetreten. Was also unter dem Vorwand der Effizienzsteigerung und gar der Qualitätssicherung auf den Weg gebracht wird, trägt letztlich bei zum sukzessiven Abbau der echten Qualität, denn echte Qualität in der Medizin ist die Qualität der tentativen und behutsamen Anpassung der Therapieschritte an den individuellen Patienten und dessen jeweilige Situation. Das aber ist genau das Gegenteil einer industriellen Produktion.
Entscheidend in der Medizin ist das Handeln in der Unmittelbarkeit und das Ernstnehmen der unmittelbaren Erfahrung. Es geht um ein schrittweises, dialogisches und exploratives Handeln, das situationsorientiert und nicht schematisch erfolgt. Wollte man demgegenüber beim Ideal der Planmäßigkeit verharren, hätte man sich notwendig über die Lebendigkeit des Menschen hinweggesetzt. Will man aber dem Menschen in seiner Lebendigkeit und Unverwechselbarkeit tatsächlich gerecht werden, so muss man eine Rationalität verinnerlicht haben, die sich nicht dem Schema, sondern der Singularität verschreibt. Es geht – bei aller notwendigen Kenntnis von überindividuellen Regelmäßigkeiten – immer auch um das Herausfinden des der Situation Gemäßen, um das Erspüren des konkret Erforderlichen, um die immer neue Abstimmung. Nicht starre Regelbefolgung ist also gefragt, sondern Sensibilität, Feinsinn, Fingerspitzengefühl.
3. Desintegration von Ganzheit
Auf dem Boden eines produktionstechnischen Rationalitätsmusters werden die Abläufe in den Kliniken zerstückelt, und häufig wird ein Management implementiert, das den reibungslosen Ablauf zu garantieren hat. Im Interesse der »Produktivitätssteigerung« wird für viele Phasen des Behandlungsablaufs zu Beginn jeweils eine Formulierung des Handlungsziels gefordert; das Erreichen dieser vorab festgelegten Ziele wird durch vielfältige Mechanismen kontrolliert. Die gesamte Medizin wird somit taylorisiert, ihr Blick wird vom Ganzen abgelenkt und stattdessen auf die Erreichung kleinteiliger Handlungsziele gerichtet. Die Industrialisierung der Medizin geht somit unweigerlich einher mit der Ablösung eines ganzheitlichen Behandlungsziels durch eine bewusst geforderte Kultur der Desintegration. Die moderne Medizin darf nicht mehr ganzheitlich denken, sondern sie wird zum desintegrativen Denken regelrecht angehalten. Je mehr sie sich mit Scheuklappen auf die Erfüllung der kleinteiligen Ziele stürzt, desto mehr wird sie belohnt und als effizient und wettbewerbsfähig gepriesen. Nirgendwo macht sich die Umwertung der Werte in der Medizin so bemerkbar wie in dieser politisch geforderten Abkehr vom integrativen Denken. Wenn nämlich das große Ziel, dem Patienten gerecht zu werden, in eine Vielzahl von Teilzielen zerlegt wird und bei der Auswahl dieser Teilziele allein der Gesichtspunkt der konkreten Bestimmbarkeit, der Objektivierbarkeit und der Operationalisierbarkeit entscheidend ist, dann wird die ganzheitliche Behandlung des Patienten reduziert auf ein reines Planungsproblem, auf ein Managementproblem, das zu seiner Behebung lediglich der pragmatischen Ausbuchstabierung von schematisch zu vollziehenden Handlungsvollzügen im Sinne einer reflexionsfreien Fließbandproduktion bedarf.
In diese Durchstrukturierung mischt sich ein unreflektierter Machbarkeitsglaube (alles ist machbar, wenn man nur die richtigen Prozesse plant). Hinzu kommt – und das ist noch gravierender – eine simplifizierte Vorstellung von dem, worum es in der Medizin eigentlich geht. Die konzeptionelle Voraussetzung der fließbandartigen Organisation ist eine unangemessene Rationalitätsvorstellung, die Rationalität mit Unterkomplexität verwechselt und auf diese Weise die tatsächlich komplexen Entscheidungssituationen in der Medizin am Ende umfunktioniert in triviale Planungsprobleme. Dass man bei dieser Trivialisierung der Herausforderungen, die der Umgang mit Patienten mit sich bringt, ein Planungsprogramm vorgibt, das dem eigentlichen Anliegen des Patienten und auch dem Anliegen der Heilberufe zuwiderläuft, wird vollkommen ignoriert. Irgendwann gewöhnt man sich so sehr an diesen technizistischen Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen, dass man gar nicht mehr merkt, wie sich das gesamte Denken in der Medizin Zug um Zug vom ganzheitlichen Anspruch entfernt hat.
4. Delegitimierung des Nicht-Messbaren
Die größte Gefahr der Ausrichtung der Medizin an industriellen, produktionstechnischen Leitbildern liegt in der ausschließlichen Orientierung an Bewertungskategorien wie Exaktheit, Berechenbarkeit, Quantifizierbarkeit. So wichtig diese Bewertungsmodi für die gesamte Medizin auch sein mögen, wenn sie zu allein leitenden Kategorien erhoben werden, dann greift eine positivistische Grundeinstellung, die sich in ihrer Verabsolutierung am Ende gegen das wendet, was Medizin ausmacht. Denn mit der Grundorientierung am positivistischen Ideal erfolgt unweigerlich eine Abwertung aller Wahrnehmungs- und Wissensformen, die sich dem Postulat der Exaktheit und Quantifizierbarkeit widersetzen oder es relativieren. Ausgeblendet werden also die Zwischentöne, die Schattierungen, die Uneindeutigkeit, die Ambivalenz. Es war kein Geringerer als Theodor W. Adorno, der den Fehler positivistischen Denkens darin sah, dass der Positivist »aus Liebe zu Klarheit und Exaktheit das verfehlt, was er erkennen will« (Adorno 2003, S. 548). Im Zuge der Übernahme produktionslogischer Kategorien erfolgt nicht nur eine Abwertung, sondern vor allem eine Delegitimierung des Nicht-Quantifizierbaren. Mit Delegitimierung meine ich, dass das Nicht-Quantifizierbare in den Bereich des bloß Spekulativen und Unwissenschaftlichen verbannt wird. So besteht die Gefahr, dass die Medizin sich unter dem Produktionsparadigma einem einseitigen Wissenschaftsideal verschreibt und dabei zunehmend verkennt, dass die alleinige Orientierung am Quantifizierbaren schon eine reduktionistische Vorentscheidung darüber enthält, wie Wirklichkeit ist.
Damit möchte ich etwas Grundlegendes verdeutlichen. Durch die unreflektierte Übernahme produktionstechnischer Rationalitätsmuster findet eine Überformalisierung und damit eine bedrohliche Verarmung der Kultur der Medizin statt. Der Zwang zur Dokumentation und die politisch anvisierte Vergütung nach dokumentierbaren Parametern führt unweigerlich zu einer Überproduktion von Daten und zugleich zu einer Selektion der Wirklichkeitserfahrung. Die Nachweispflicht verändert nicht nur Verhalten und Abläufe, sie verändert vor allen Dingen die Wahrnehmung, sie verändert die Grunddisposition der Heilberufe. Selbstverständlich kann auf Kontrolle nicht verzichtet werden, aber je stärker eine politisch gesteuerte und überbordende Kontrolle über die Medizin verhängt wird, desto mehr wird die Aufmerksamkeit der Heilberufe umgelenkt auf das Dokumentierbare und Kontrollierbare. Die Orientierung an partikularen Parametern zieht alle Aufmerksamkeit auf sich und lässt keinen Raum für das Nicht-Messbare. Diejenigen, die sich diesem Postulat widersetzen, geraten unweigerlich in die Defensive und sehen sich nicht nur dem Vorwurf der Ineffizienz, sondern noch gravierender dem Vorwurf der Beliebigkeit und der Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt.
Die Heilberufe haben es aber unweigerlich damit zu tun, dass sie das Formalisierbare mit dem Lebensweltlichen zusammenführen müssen, und wenn das Lebensweltliche delegitimiert wird, weil es nicht in die Parameter der Eindeutigkeit passt, dann entzieht sich die Medizin selbst das Standbein, das sie als Medizin trägt. Allein nach Zahlen wird man nicht helfen können, weil man allein nach Zahlen schlichtweg den kranken Menschen nicht verstehen kann. Die Medizin braucht eben beides: Evidenz und Beziehung. Sie braucht Zahlen, sie braucht Statistik, sie braucht externe Evidenz, aber mit dieser Evidenz allein wird sie ratlos bleiben, denn Aufgabe der Medizin ist ja nicht, Algorithmen umzusetzen, sondern ihre Aufgabe besteht darin, eine Antwort auf die Not des Patienten zu finden, und diese Antwort findet sich nicht auf dem Reißbrett, sondern sie muss kreativ erschlossen werden in der Begegnung mit dem Patienten. Medizin ist eine Disziplin, die ihre Leistung in der direkten Interaktion vollzieht, und ihre Qualität ist die Qualität der gelingenden Interaktion im Hier und Jetzt; ihre Qualität ist nicht nur die handwerkliche Qualität, sondern in entscheidender Weise die Qualität der Beziehung. Dazu braucht die Medizin zwar Regeln, aber sie braucht mehr als Regeln, sie braucht Raum für das Entstehen einer Vertrauensbeziehung, sie braucht Atmosphäre, sie braucht innere Ruhe, sie braucht innere Freiheit, um sich ohne Scheuklappen auf den einzelnen Patienten einzulassen. Nur dann kann Interaktion wirklich gelingen.
In den vier beispielhaft genannten Umwertungen der Werte in einer industrialisierten Medizin zeichnet sich eine verhängnisvolle Entwicklung ab, bei der das Eigentliche der Medizin von einer produktionslogischen Denkweise zunehmend verdrängt wird. Daher ist es umso wichtiger, neu darauf zu reflektieren, was das Besondere der Medizin ausmacht und worin ihre spezifische Arbeitsweise besteht.
Medizin als Komplexitätsbewältigungskompetenz
Die eigentliche Könnerschaft der Medizin besteht im Umgang mit Komplexität, sie setzt Komplexitätsbewältigungskompetenz voraus, die ihrerseits nichts anderes bedeutet als Problemlösungskompetenz. Diese Kompetenz, Komplexität im Sinne des Patienten zu erfassen und in eine gute Lösungsstrategie umzumünzen, hat mit der Fähigkeit zu tun, das Gesamtproblem des Patienten zu erfassen, und zwar mit der Fähigkeit zum synthetischen Denken, mit der Fähigkeit zum integrativen Denken. Der Arzt muss und kann kein vorab plan- und prüfbares, perfektes Produkt abliefern; seine Arbeit vollzieht sich vielmehr in der Verbindung von Aktion am und Interaktion mit dem Patienten.
Mit diesen Überlegungen möchte ich verdeutlichen, dass sich die Güte ärztlicher Behandlung wesentlich danach bemisst, ob die direkte Interaktion mit dem Patienten gelingt. Denn pflegerische und ärztliche Arbeit kann nur in der erwähnten Verbindung von Aktion am und Interaktion mit dem Patienten gelingen. Weil diese Interaktion so entscheidend ist, bleibt die Aktion in der Medizin immer eine Aktion im Hier und Jetzt; im Hier und Jetzt entscheidet sich, was zu tun ist. Erfolgversprechend in der Medizin ist es gerade nicht, sich fest entschlossen des Patienten zu bemächtigen und das Geplante an ihm zu vollziehen, sondern es gilt, herantastend auf den Patienten zuzugehen, um herauszufinden, wie zu vollziehen ist, und zwar nicht im Sinne des Abarbeitens eines Plans, sondern im Sinne des Arbeitens in der Begegnung. Medizin ist ein Vollzug in der Begegnung. Und weil sich ärztliche Behandlung notwendig innerhalb einer Begegnung realisieren muss, ist die Medizin unweigerlich mit etwas konfrontiert, was sehr wenige Disziplinen in dieser Form zu bewältigen haben, nämlich das Phänomen der nicht restlosen Planbarkeit. Pflegerisch und ärztlich zu arbeiten bedeutet gerade nicht das strikte Umsetzen eines vorgegebenen Plans, sondern es bedeutet, eine unmittelbare und passende Reaktion auf die Befindlichkeit des Patienten zu finden, auf seine Gemütslage, auf seine Bedürfnisse in seiner Situation des Hier und Jetzt. Medizin ist daher ein Prozess der immer wieder neuen Adaptation; sie ist jederzeit herausgefordert, sich der Besonderheit des Patienten, seiner Situation und seines Umfeldes anzupassen. Das Entscheidende in der Medizin ist somit das interaktiv-dialogische Vorgehen. Dieses unabdingbar dialogische Vorgehen kann nur verwirklicht werden durch die Implementierung impliziter Wissensformen wie Erfahrungswissen, Beziehungswissen und Interaktionswissen. Ohne diese impliziten Wissensformen ist der Kern der ärztlichen Betreuung nicht zu verwirklichen, nämlich die professionelle Begleitung, die meist auch eine zwischenmenschliche Begleitung sein muss.
So wird am Ende deutlich, dass die Könnerschaft des Arztes gerade nicht darin liegen kann, lineare Entscheidungswege zu gehen, sondern seine Könnerschaft liegt darin, Komplexität angemessen zu bewältigen. Jeder Patient bringt Komplexität mit sich, Komplexität seiner Vorgeschichte, Komplexität seiner Lebensgeschichte, Komplexität seiner momentanen Situation, Komplexität seiner Perspektiven. Diese Komplexität zu erfassen, erfordert ein bestimmtes Wissen, das mit der heutigen Vorstellung einer industrialisierten Medizin sukzessive verlernt wird. Es ist nämlich ein interpretatives, kontextuelles, hermeneutisches Wissen. Die Komplexität einer Patientengeschichte sich zu vergegenwärtigen bedeutet sich klarzumachen, dass diese nicht identisch ist mit irgendeiner anderen Patientengeschichte. Wenn man dem Patienten gerecht werden will, genügt es daher nicht, algorithmisch vorzugehen, sondern es bedarf zusätzlich eines verständigungsorientierten Handelns, weil es darum geht, nicht nur theoretische Fakten zu wissen, sondern auch die Situation zu verstehen und durch die Kommunikation mit dem Patienten in gemeinsamer Arbeit einen dem Patienten gerecht werdenden Weg zu finden, was nichts anderes heißt, als jedes Mal neu kreativ zu werden bei der Suche nach einer Lösung des Patientenproblems. Medizin als praktische Wissenschaft zu betreiben bedeutet, über eine solche Wissensbasis zu verfügen, die es erlaubt, das theoretische Sachwissen so mit einem praktischen Handlungswissen zu verbinden, dass am Ende vermittels einer zu erlernenden praktischen Urteilskraft eine ärztliche Therapieempfehlung steht, die dann wissenschaftlich solide ist, wenn sie bei aller Abstraktheit des Wissens der Individualität des Patienten gerecht wird.
Schlussfolgerungen
Die Behandlung in der Medizin ist von Grund auf eine verständigungsorientierte Arbeit, die nicht in der Umsetzung von Ablaufprotokollen aufgehen kann. Gute ärztliche Behandlung kann eben nicht reduziert werden auf die Optimierung der Prozessqualität, sondern Prozessqualität muss in den Dienst der entscheidenden Beziehungsqualität gestellt werden, denn ohne die Qualität der Beziehung kann auch das beste Behandlungsarrangement nicht fruchten und die Pflege nicht unterstützend sein. Daher ist es umso wichtiger, sich neben dem Dokumentierten gerade der nicht bezifferbaren Leistung der Ärzte und Pflegenden neu zu vergewissern und sich gegen eine produktionslogische Umformung der Medizin zu wehren. Der Arztberuf ist ein freier und gemeinwohlorientierter Beruf, dessen Hauptcharakteristikum in der Ausrichtung auf das Wohl der dem Arzt anvertrauten Personen liegt. Es gehört daher zur Verantwortung eines jeden Arztes dazu, sich gegen eine privatwirtschaftliche Vereinnahmung und gegen eine kontraproduktive Deprofessionalisierung seiner Tätigkeit zur Wehr zu setzen. Allen begrifflich und strukturell vorgenommenen Umwertungen der Werte in der Medizin zum Trotz gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass Medizin kein Wirtschaftsunternehmen ist, kein Produktionsbetrieb und kein Marktfaktor. Medizin ist professionelle Hilfe durch gelingende Interaktion auf der Basis von wissenschaftlicher Expertise in Verknüpfung mit verstehender Zuwendung. Deswegen sollte die Medizin gerade heute im Zeitalter ausgeprägter ökonomischer Überformungstendenzen entschieden dafür kämpfen, dass in ihrem Bereich nicht primär produktionstechnische Werte gefördert werden, sondern vor allem beziehungsstabilisierende Werte – beispielsweise die Fähigkeit des Sich-Einlassens und des angemessenen Sprechens, Geduld, Reflexivität, Feinsinn und tiefe Wertschätzung für jeden Patienten. Diesen zentralen Schlüssel zum Erfolg ärztlicher Behandlung darf man in unserer durchökonomisierten Zeit nicht aus dem Auge verlieren – im Interesse aller kranken Menschen. Deswegen wird sich dieses Buch diesen Werten zuwenden und sie in ihrer Bedeutung vertiefen.
2. Der ärztliche Beruf heute – Entakademisierung und Verlust der Freiheit
»Der ärztliche Beruf ist seiner Natur nach ein freier Beruf«, so hält es die Berufsordnung fest. Mit dem Begriff der Freiberuflichkeit wird zum Ausdruck gebracht, dass Ärzte weder einfach Gewerbetreibende noch Staatsbedienstete sind. Der Staat überträgt der Selbstverwaltung die Kontrolle über ihre Mitglieder. Im Gegenzug sichert die Selbstverwaltung dem Staat zu, dass die Ärzte diese Freiheit nicht ausnutzen, sondern sie in den Dienst der guten Betreuung der Patienten stellen. Es geht beim freien Beruf somit nicht um Freiheit als Selbstzweck, sondern um eine funktionale Freiheit, eine Freiheit, um zu helfen. Die Freiheit der freien Berufe ist als eine Verpflichtungsformel zu verstehen, die nichts mit einer Einladung zur Beliebigkeit zu tun hat. Die Freiheit der freien Berufe ist kein Privileg, sondern ein Auftrag. Jedoch gibt es diese Freiheit nur um den Preis der Kontrolle, einer Kontrolle, die in die Hände der Selbstverwaltung gelegt wird. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität der Ärzteschaft ist letzten Endes daran gebunden, dass ein Verhalten von Ärzten, welches gegen die von den Verbänden aufgestellten Regeln verstößt, auch sanktioniert wird. Die Kontrolle ist somit ein Vertrauensgrund der Bevölkerung. Es geht also nicht um die Frage, ob Kontrolle sein soll oder nicht. Vielmehr geht es um die Fragen: Welche Kontrolle? Welcher Art? Und woraufhin?
Elemente der Freiberuflichkeit
Diese Fragen können wir nur beantworten, wenn wir uns dem Begriff des freien Berufs nähern. Im Folgenden seien vier Kernmerkmale herausgearbeitet, die den freien Beruf idealtypisch kennzeichnen und so auch für den Arztberuf festzuhalten sind (Taupitz 1991, Hommerich 2009 und Kluth 2008).
1. Geistig-intellektuelle Leistung
Nicht umsonst hat man die freien Berufe früher auch »geistige Berufe« genannt. Das mag uns zunächst überraschen, wissen wir doch, dass ein Arzt, der nur nachdenkt, kein Arzt sein kann. Ein Arzt wird erst dann zum Arzt, wenn er etwas tut. Aber wir müssen uns genauer anschauen, was er tut. Ärztliche Tätigkeit stellt anders als beispielsweise Industriearbeit kein Produkt her, dem Arzt geht es gerade nicht um eine materielle Wertschöpfung. Ärztliches Handeln ist kein repetitives Handeln, es ist ein Handeln auch aus Routine, aber kein schematisches Handeln, es ist kein Handeln nach Algorithmen, sondern es ist ein reflektiertes, abwägendes und weitsichtiges Handeln nach Prinzipien. Die Kernleistung des Arztes liegt also nicht primär im Vollzug einer Handlung, so wichtig dieser Vollzug auch sein mag, die Kernleistung liegt in dem, was diesem Vollzug vorausgeht, nämlich der geistigen Leistung, zu entscheiden, ob diese Handlung oder eine andere sinnvoll ist, ob diese sonst übliche Handlung auch hier sinnvoll ist oder nicht. Der Beruf des Arztes ist also deswegen ein geistig-intellektueller Beruf, weil in ihm immer eine geistige Leistung zu vollbringen ist, bevor gehandelt wird. Mit dieser intellektuellen Leistung ist ein wichtiges Kriterium freier Berufsausübung erfüllt.
Ärztliche Kompetenz hat schon nach altgriechischer Auffassung nicht primär mit Erfolg zu tun, sondern mit einem spezifischen Sachverstand. Ärztliches Können bedeutet also, sich theoriegeleitet auf eine spezifische Sache zu verstehen, einen konkreten Sachverstand zu haben bezogen auf Diagnostik, Therapie und Prognose. Seit der griechischen Antike wurde das ärztliche Können als Fähigkeit der wissenschaftlichen Erklärung begriffen. Mit dieser Konzeption und diesem verinnerlichten Anspruch fungierte die Medizin als Vorbild für andere Wissenschaften in der Antike. Medizin ist eine praktische Wissenschaft mit eigenen Gesetzlichkeiten. Genau deswegen ist allen Tendenzen einer Schematisierung der ärztlichen Arbeit entgegenzutreten. Jede starre Schematisierung läuft letztlich auf eine Entakademisierung des ärztlichen Berufs hinaus, auf eine Umformung eines freien Berufs zu einer nur ausführenden Tätigkeit. Schon die Antike lehrt uns, dagegen Bedenken zu erheben.
2. Sachliche Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit
Mit dem Postulat der Weisungsfreiheit wird die notwendige Unabhängigkeit des freien Berufs von privaten und staatlichen Weisungen betont, was darauf verweist, dass vom Arztberuf eine eigene Sachverständigkeit erwartet wird. Dieser Aspekt verweist auf die Expertenstellung des Arztes und auf die Notwendigkeit, dass er unabhängig sein muss, wenn er wirklich dem Patienten gerecht werden will (Kluth 2008, S. 37 f.).
Oft wird versucht, die praktischen Belange zu subsumieren unter allgemeine theoretische Gesetze und abstrakte Regeln. Wer etwa vom Arzt verlangt, allein nach »objektiver« Befundlage und ohne Ansehen der konkreten Situation des Patienten Therapieentscheidungen zu fällen, der hat von Medizin wenig verstanden. Im Zuge der Tendenz, Medizin einem technokratischen Verständnis zu unterziehen, entstehen gegenwärtig oft strukturelle Rahmenbedingungen, die es erleichtern, Ärzte zu stringenten Anwendern abstrakter Regeln umzufunktionieren. Dabei bleibt unbemerkt, dass damit der Kerngehalt einer guten Medizin über Bord geworfen wird, weil der Mensch, für den die Therapie ausgeführt wird, in einem solchen Verständnis gar nicht mehr vorkommt.
Etwas Grundlegendes wird hier deutlich. Die Weisungsunabhängigkeit ist für den Arzt deswegen unabdingbar, weil dieser, wenn er ein guter Arzt sein will, notwendig angewiesen ist auf einen Ermessensspielraum. Die Situationen in der Medizin sind in den meisten Fällen Situationen, in denen es keine letztgültige Gewissheit gibt, sondern nur Wahrscheinlichkeiten mit verbleibenden Restunsicherheiten. Deswegen ist hier nach praktischer Urteilskraft zu entscheiden. Um aber diese Urteilskraft auch tatsächlich zur Geltung bringen zu können, muss man weisungsfrei sein und wissen, dass man einen Ermessensspielraum hat. Eine Medizin ohne Ermessensspielraum wäre eine befundorientierte, aber keine patientenorientierte Medizin.
3. Gemeinwohlorientierung
Ärzte unterliegen dem Postulat, sich bei ihrer Berufsausübung nicht primär von Erwerbsaussichten leiten zu lassen. Das ist die öffentliche Erwartung an die Ärzte, dass sie sich nicht als Geschäftsleute verstehen. Der freie Beruf ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass er kein Gewerbeberuf ist. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass mit dem Arztberuf unweigerlich eine Gemeinwohlverantwortung verbunden ist. Allerdings ist es wichtig, den Erwerbsdruck der Ärzte als unvermeidbare und selbstverständliche Realität ernst zu nehmen. Die Notwendigkeit, dass Ärzte Einnahmen erzielen müssen, darf nicht einfach zugedeckt werden, weil das ein Überidealismus wäre, der sich an der Realität bricht. Man braucht die wirtschaftlichen Interessen der Ärzte ja auch gar nicht zu leugnen, aber die Strukturen müssen es dem Patienten erlauben, darauf zu vertrauen, dass er trotz des Erwerbsdrucks der Ärzte gut beraten wird, dass der Rat des Arztes eben primär ihm, dem Patienten, gilt und nicht primär der Erwirtschaftung von Einkommen dient. Die eigenen wirtschaftlichen Interessen dürfen beim freien Beruf nicht entscheidungsleitend sein; sie müssen zugunsten der Gemeinwohlinteressen – und das heißt hier zugunsten des Patienten – zurückgestellt werden können.
Es ist anzuerkennen, dass auch Ärzte nicht rein altruistisch handeln. Auch sie haben das Interesse, erfolgreich, anerkannt im Beruf zu sein und dadurch ein auskömmliches Einkommen zu erwirtschaften. Entscheidend ist jedoch Folgendes: Dieses legitime Interesse, im Beruf erfolgreich und anerkannt zu sein, kann in der Medizin anders erreicht werden als in der Industrie. Die Wege zum Erfolg sind ganz unterschiedlich. In der Industrie zählt Absatzsteigerung, Gewinnmaximierung als Wert an sich, und das gilt per se als Ausdruck von Erfolg; der Erfolg des Geschäftsmanns bemisst sich vorrangig nach diesen Zahlen. Der Erfolg des Arztes aber bemisst sich primär nach anderen Kriterien, nämlich nach Werten wie Sorgfalt, Geduld, Reflexivität, Zugewandtheit – alles Qualitäten, die ihn als Vertrauensperson ausmachen. Damit ein Arzt als guter Arzt Anerkennung findet, muss er auf andere Werte und andere Qualifikationsprofile setzen als auf die Fähigkeit zur Gewinnmaximierung. Es ist Aufgabe der Selbstverwaltung, eine Kultur in der Medizin zu ermöglichen, durch die Folgendes deutlich wird: Es ist legitim, wenn ein Arzt anerkannt und erfolgreich sein will, aber für diese Anerkennung muss er ein Qualitätssystem internalisieren, das die Ausrichtung am Wohl des Patienten als Kernmerkmal von Qualität festhält.