Wertefundierte Organisationsentwicklung - Ingrid Kadisch - E-Book

Wertefundierte Organisationsentwicklung E-Book

Ingrid Kadisch

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Beschreibung

New Work, Agilität und Digitalisierung stellen unsere Arbeitswelt infrage. Die aktuell anstehenden Veränderungsprozesse können wir gesund und produktiv gestalten, indem wir traditionelle Tugenden wie Wertschätzung, Sinnerleben und Glaubwürdigkeit als Fundament nutzen. Doch wie kann das Werteprofil eines Unternehmens in den Fokus des Denkens und Handelns aller Beteiligten rücken, um im Arbeitsalltag mit Leben gefüllt zu werden? Welche Aspekte dabei eine Rolle spielen, weiß Ingrid Kadisch aus ihrer langjährigen Tätigkeit als Coach für werteorientierte Organisationsentwicklung. Und so hat sie theoretische und praktische Impulse für Führungskräfte, Mitarbeitende und Beratende zusammengetragen. Das Buch zeigt, wie sich aus den vier Werten Wohlbefinden, Partizipation, Sinn und Integrität der Schlüssel zum Unternehmenserfolg schmieden lässt. Mit Beiträgen von Dr. Michael Schottmayer, Christa Schulte, Natalie A. Peter, Barbara Schygulla, Antje Waterholter, Nicole Schober, Maurice Müller, Dr. Imme Gerke und Dr. Jacques Drolet, Margot Böhm, Ulli Lobach, Dr. Jelena K. Becker, Ingrid Kadisch, Silvia Ziolkowski, Andreas Burzik, Anja Söger, Rena Maria Fehre

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Wertefundierte Organisationsentwicklung

Ingrid Kadisch (Hrsg.)

Wertefundierte Organisationsentwicklung

Methoden, Ansätze, Wirkfaktoren

© 2019 Ingrid Kadisch

Institut für Wertekultur in der Wirtschaft

Georg-Bitter-Straße 19

28205 Bremen

ISBN

Paperback

978-3-7482-1427-4

Hardcover

978-3-7482-1428-1

e-Book

978-3-7482-1429-8

Umschlag: Kosma Klosowicz, Klokwise, 33739 Bielefeld

Sketchnotes: Natalie A. Peter

Redaktion: Dr. Elisabeth Stachura

Beratung und DTP: Cornelia Rüping, 81245 München

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung: Zur Aktualität wertefundierter Organisationsentwicklung

Teil 1: Wohlfühlen und Gesundheit

1. Arbeit ohne Grenzen und Gesundheit

Dr. Michael Schottmayer

2. WohlFÜHLEN und GesundSEIN

Christa Schulte

3. Visuelle Wertschätzung

Natalie A. Peter

4. Die Emmett-Technique

Barbara Schygulla

Teil 2: Partizipation

5. Das Wohlbefinden im Raum

Antje Waterholter

6. Change im neuen Design

Nicole Schober

7. Keine Angst vor Digitalisierung

Maurice Müller

8. Cross-Culture

Dr. Imme Gerke und Dr. Jacques Drolet

Teil 3: Sinn

9. Coaching kann mehr

Margot Böhm

10. Macht, Ohnmacht und Ermächtigung

Ulli Lobach

11. Sinn-Erleben als Schlüssel zu internem Unternehmertum

Dr. Jelena K. Becker

12. Auf der Suche nach der Seele der Organisation

Ingrid Kadisch

Teil 4: Integrität

13. Business mit Spirit

Silvia Ziolkowski

14. Flow im Arbeitsalltag

Andreas Burzik

15. Die Wirkungen von wertefundierter Organisationsentwicklung

Anja Söger

16. Gemeinwohl-Bilanz als zukunftsweisendes Organisationsentwicklungsinstrument

Rena Maria Fehre

Fazit und ein Blick nach vorn

Dank

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Entstehung des Buches

Das vorliegende Buch ist die Fortsetzung meines ersten Buches „Werteorientierte Organisationsentwicklung“, das im Frühjahr 2017 erschienen ist. Bis heute habe ich einige Weiterbildungen auf Grundlage dieses Konzeptes dazu durchgeführt.

In diesem Rahmen habe ich viele Kolleginnen und Kollegen als kompetente Referentinnen und Dialogpartner*innen näher kennengelernt und weiß ihre Arbeit sehr zu schätzen. So entstand der Wunsch, mit ihnen gemeinsam ein Buchprojekt zu realisieren, in denen unsere Herzensthemen zusammenkommen und einen Eindruck vermitteln, wie vielfältig wertefundierte Organisationsentwicklung in der Praxis gelebt werden kann.

Um deutlich zu machen, dass es nicht nur wichtig ist, sich an Werten zu orientieren, sondern diese tatsächlich auch als Fundament des eigenen Handelns zu nehmen, nutzen wir jetzt den Begriff der Wertefundierung.

Ich bedanke mich bei allen Gastautorinnen und -autoren für ihr Mitwirken und ihr Vertrauen und freue mich sehr über das gemeinsame Werk.

Gebrauchsempfehlung zum Buch

Lesen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, systematisch von vorn nach hinten oder auch gern quer. Folgen Sie Ihrer Neugierde und Ihren Impulsen.

Am Anfang eines jeden Kapitels finden Sie eine Gliederung des nachfolgenden Fachbeitrags.

Die verschiedenen Artikel sind einem der vier Werte des Werteprofils des „House of Feel Good“ zugeordnet (Kadisch 2017).

Am Ende eines jeden Beitrags sind Sie eingeladen, Reflexionsfragen zu beantworten, Tipps zu sammeln, Übungen durchzuführen oder eine Checkliste auszuprobieren.

Das Thema jedes Kapitels wird durch eine kleine Sketchnote veranschaulicht. Alle Sketchnotes des Buches ergeben am Ende des Buches ein Gesamtbild.

Allen Beiträgen gemeinsam sind das Interesse und die Bereitschaft, mehr Menschlichkeit in Unternehmen zu fördern und diese mit einer wertschätzenden Haltung sich selbst und anderen gegenüber zu leben.

Dieses Buch ist entstanden durch die Partizipation vieler Akteurinnen und Akteure, die sich gemeinsam auf ein Anliegen hin ausgerichtet haben. Ihr Herzblut für ihr Thema und ihre Botschaft war ihnen wichtiger als finanzielle Interessen.

Auch im Entstehungsprozess des Buches waren die vier Werte: Wohlbefinden, Partizipation, Sinn und Integrität präsent, ging es doch darum, die Vorlieben vieler kreativer „Freigeister“ zu bündeln und wertschätzend auf das gemeinsame Werk hin auszurichten.

Hier ist das Ergebnis. Lesen Sie nun selbst!

Ich freue mich auch über Ihre Mitwirkung, liebe Leser und Leserinnen, durch das Einbringen Ihrer Ideen, Anmerkungen oder Praxisbeispiele. Schreiben Sie mir gern.

Hinweis

In der Einleitung vieler Publikationen findet sich an dieser Stelle der Hinweis der Autorin oder des Autors, man wisse um die Bedeutung gendergerechten Schreibens. Dennoch verzichte man zugunsten der Lesbarkeit auf die unterschiedlichen Formen und verwende ausschließlich das generische Maskulinum. In diesem Buch werden generisches Maskulinum, generisches Femininum sowie gegenderte Wortformen verwendet, um meiner Überzeugung sprachlichen Ausdruck zu verleihen, dass das gesprochene bzw. geschriebene Wort unsere Informationsverarbeitung beeinflusst. Wir möchten auch bewusst diejenigen Menschen ansprechen und angemessen wertschätzend berücksichtigen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht bzw. sowohl dem weiblichen und männlichen Geschlecht zugehörig fühlen. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle Varianten bei ausschließlicher Verwendung des generischen Maskulinums in der gedanklichen Vorstellungswelt der Lesenden weniger Beachtung finden, ist trotz anderslautender, gut gemeinter Bekundungen hoch.

Einleitung: Zur Aktualität wertefundierter Organisationsentwicklung

„ Werte sind die Hauptstraßen zum Sinn des Lebens.“

Viktor Frankl (zit. n. Heinzelmann 2008)

Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet durch Komplexität, Unsicherheit und Widersprüchlichkeit. Diese Aspekte finden sich sowohl privat als auch am Arbeitsplatz und führen oft zu Stress und Überforderung. Es ist häufig nicht nur das „Zuviel an Arbeit“, welches uns zu schaffen macht. Weitere Gründe beschreibt der Gesundheitswissenschaftler Bernhard Bandura wie folgt: „Es ist das Zuwenig an Bindung und der Eindruck, gegen die eigenen Überzeugungen und Gefühle anzuarbeiten“ (zit. n. Boes 2018, S. 2).

Zu wenig an Bindung bedeutet, dass Menschen den Eindruck haben, weder als Individuum noch als Experte von Bedeutung zu sein. Sie fühlen sich häufig von anderen hinsichtlich ihrer eigenen Talente nicht wahrgenommen, vertrauensvoll aufgehoben und erst recht nicht mit einer gemeinsamen Unternehmensvision verbunden.

Widersprüchlichkeiten im Arbeitsalltag führen häufig zu Wertekonflikten, der Verleugnung eigener Gefühle und anderen Dilemmata. Führungskräfte stehen vor Entscheidungen, in denen sie gegen ihre eigenen Werte handeln sollen, zum Beispiel im Fall betriebsbedingter Kündigungen.

Äußerliche und innerliche Konflikte verursachen Stress. An was soll und kann man sich noch orientieren in dieser so schnelllebigen Welt? Welche Werte gilt es zu schützen und zu stärken?

Verfolgt man derzeitige Diskussionen in den digitalen und sozialen Medien, ist vom sogenannten Wertewandel in Unternehmen die Rede. Studienergebnisse belegen, dass sich immer mehr Menschen ein Arbeitsumfeld wünschen, das mit ihrer eigenen Wertelandkarte übereinstimmt.

Laut Fehlzeiten-Report 2018 ist Sinn den Beschäftigten wichtiger als ihr Gehalt (AOK 2018). Die drei wichtigsten Werte sind: „Sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, das Gefühl etwas Sinnvolles zu tun und die Möglichkeit eine Interessante Tätigkeit ausüben zu können“ (AOK 2018). Auch der Wert Familie rückt wieder stärker in den Fokus.

Schaut man sich die aktuellen Ergebnisse der Führungskräftebefragungen 2017 an, die von der Wertekommission durchgeführt wurden, zeigt sich folgendes Bild:

Führungskräfte setzen über die Jahre auf ein stabiles Wertegerüst, in dem Werte wie zum Beispiel Vertrauen, Verantwortung und Integrität bedeutsam bleiben.

Werte sind entscheidend, um Sinn im eigenen Tun und somit Arbeitszufriedenheit zu erleben. Damit stellt sich die Frage, ob Unternehmen bei steigendem Effizienzdruck und sich schnell ändernden Marktanforderungen in der Lage sind, sich auf tragfähige Werte zu besinnen und diese tatsächlich auch zu leben.

Durch Digitalisierung kann es beispielsweise zur Disruption kommen und damit zur Ersetzung alter Strukturen durch komplett neue. Denken Sie an die Aufgaben der technischen Zeichner, die früher von Hand komplexe Zeichnungen erstellen mussten und nun durch den Einsatz digitaler Anwendungen vor völlig anderen Herausforderungen stehen. Ihr ursprüngliches Berufsbild geht allmählich verloren. In diesem Prozess braucht es Werte wie Vertrauen, Verantwortung und Integrität der Führungskräfte, um den betroffenen Mitarbeitenden Halt und Orientierung zu bieten, damit sie ein neues berufliches Selbstbewusstsein aufbauen können.

In Zeiten von New Work, digitalem Wandel und Fachkräftemangel wird Werteorientierung, besser noch Wertefundierung, ein klarer Wettbewerbsvorteil sein, um gute Fachkräfte gewinnen und binden zu können. Eine werteorientierte bzw. -fundierte Organisationsentwicklung bietet Formate zur gemeinsamen Reflexion, Definition, Vergewisserung und Umsetzung bereits gelebter bzw. gewünschter Werte.

Werte als Kraftquellen

Was verstehen wir unter Werten? Werte sind Orientierungsgrößen, Motivatoren, Energiequellen, Maßstäbe und Leitplanken für unser Handeln. Werte beantworten unsere Frage danach, was uns „wert-voll“ und wichtig ist. Stimmen unser Denken und Handeln mit unseren Werten überein, geht dies mit Klarheit, Motivation und Zufriedenheit einher.

Jedes Unternehmen schöpft Kraft aus seiner Vision, den eigenen Grundwerten und dem gemeinsamen Spirit – dem gemeinsamen Geist. Die Vision ist ein positives „Zukunfts-Bild“, welches es zu erreichen gilt. Alle Energie wird auf dieses Ziel hin gebündelt. Die gemeinsame Vision schafft Verbindung und Gemeinschaftserleben. Die Grundwerte bilden den Kern und bieten eine stabile Bodenhaftung des Unternehmens angesichts zahlreicher äußerer Stimulanzen und Erschütterungen.

Dieser Wertekern bzw. das jeweilige unternehmensspezifische Werteprofil gilt auch dann, wenn das Unternehmen in Turbulenzen gerät und von Angriffen bedroht ist. So behält der Wert „Fairness“ auch in Zeiten der Krise seine Bedeutung und Mitarbeitende werden im Fall von Kündigungen entsprechend behandelt, auch wenn es für Unternehmen einiges an finanziellen Zugeständnissen bedeutet. Die tatsächlich gelebten Werte finden ihren Ausdruck in der Unternehmenskultur.

Versucht man eine Unternehmenskultur zu begreifen, begegnet man zunächst sogenannten Artefakten. Darunter versteht man beobachtbare Strukturen und Prozesse, aber auch Rituale und Geschichten, die einen ersten Eindruck der Kultur vermitteln. Auf dieser Basis kann eine Hypothesenbildung zu den bestehenden gelebten Werten erfolgen. Die Sichtung von Unterlagen, in denen die angestrebten Werte des Unternehmens formuliert werden, wie beispielsweise Führungsleitlinien, tragen zum tieferen Verständnis des Werteprofils im Unternehmen bei. Doch die formulierten Werte werden nicht zwangsläufig tatsächlich auch gelebt.

In der Regel wird ein bekundeter Wert erst dann zur Grundprämisse im Unternehmen, wenn dieser sich tatsächlich zur Lösung eines Problems bewährt hat und mehrfach eingeübt wurde (Schein 1985, S. 32). Die Grundprämissen sind Teil des Werteprofils einer Kultur. Auf dessen Grundlage können sowohl Handlungsleitlinien für die Mitwirkenden entwickelt als auch die Besonderheit des Unternehmens beschrieben werden. Dazu lohnt sich ein Blick auf die Historie des Unternehmens. Werte, die zur positiven Weiterentwicklung und „Unternehmens-Resilienz“ beigetragen haben, verdienen dabei besondere Beachtung. Werteorientierung kann als Schlüssel zur intrinsischen Motivation und Mitarbeitenden-Bindung dienen (Pircher-Friedrich 2005, S. 50).

Unternehmenswerte bieten Sinnkopplungsmöglichkeiten für die Mitwirkenden und geben eine Antwort auf das „Warum“ des unternehmerischen Handelns (Kobi 2008, S. 67). Besonders in Veränderungsprozessen und der damit einhergehenden Unsicherheit verstärkt sich der Wunsch vieler Mitarbeitenden nach Orientierung durch „Sinn-Erleben“. Stimmt das eigene „WHY“ mit dem des Unternehmens überein, werden Identifikation und Engagement gefördert. Durch eine gemeinsame Wertebasis im Unternehmen können sich Einzelne, Teams und Abteilungen als Teil eines großen Ganzen sehen und auf eine gemeinsame Vision hin ausrichten. Ist den Mitwirkenden ihre gemeinsame Wertebasis bewusst, wird diese in der Regel als starke Kraftquelle wahrgenommen.

Mit Werten in Führung gehen

„Mache dir selbst klar, was du zu tun hast, und dann tue, was du zu tun hast.“

Epiktet, antiker griechischer Philosoph (zit. n. Willi 2017)

Führungskräften kommt bei der wertefundierten Entwicklung ihres Unternehmens eine besondere Bedeutung zu, denn sie bieten den gültigen Orientierungsrahmen für alle Mitwirkenden. Sie tun gut daran, sich ihre eigenen Werte, die Werte ihrer Kollegen und Mitarbeitenden sowie die bestehenden Grundwerte im Unternehmen bewusst zu machen. Ein bewusstes Werteverständnis kann etwa bei der Einstellung von neuen Mitarbeitenden hilfreich sein um frühzeitig festzustellen, ob die jeweilige Bewerberin zum Unternehmen passt. Für den Kunden bietet es die Möglichkeit, die eigenen Wertevorstellungen mit denen des Unternehmens abzugleichen. und sich bewusst für eine Zusammenarbeit zu entscheiden.

Empfehlenswert ist, das entsprechende Werteprofil mit den Mitwirkenden im Dialog zu reflektieren, zu definieren und überzeugend vorzuleben. Wertefundiert zu führen bedeutet als Wertebotschafter bzw. sozialer Architekt gestaltend tätig zu sein (Hamel 2009).

Unter Werten verstehen wir hier nicht die angestrebten Ziele wie den wirtschaftlichen Erfolg oder immaterielle Kriterien wie zum Beispiel die Zufriedenheit der Kunden und Mitarbeitenden oder das Image des Unternehmens in der Öffentlichkeit. Vielmehr geht es um die darunter liegenden Werte, die sich durch die Haltung von Menschen ausdrücken und dessen Basis bilden – wie zum Beispiel Integrität und Partizipation. Die persönliche Integrität einer Führungskraft beinhaltet, dass sie die Unternehmenswerte als Vorbild vorlebt und sie über alle sozialen und operativen Prozesse der Organisation stellt (Lutschewitz 2016, S. 14) – auch im Fall von Krisen.

Voraussetzung für Integrität ist die „Selbst-Reflexion“ der Führungskräfte bezüglich ihrer eigenen Werte und Werteprägungen. Auf der Grundlage der gewonnenen Klarheit ist es ihnen möglich, sich selbst und das eigene Handeln besser zu verstehen, an der eigenen Persönlichkeit und Haltung zu arbeiten und bewusst integer zu handeln. Zudem fördert diese Arbeit an sich selbst die „Empathie-Fähigkeit“ und die Fähigkeit von Perspektivenwechseln und damit das „Sich-hineinfühlen-Können“ in andere Menschen. Beides sind wichtige Kompetenzen, um werteorientiert zu führen, da es darum geht, Menschen in ihrer Individualität wahrzunehmen.

Werteorientierung stellt wertschätzend die Menschen in den Mittelpunkt des Unternehmens. Sie drückt sich durch einen tiefen Respekt vor anderen und dem Leben selbst aus. Benedikt von Nursia nennt letzteres Prinzip „Demut“. Gemeint ist eine Haltung, die sowohl eine kraftvolle Übernahme von Verantwortung beschreibt als auch eine stimmige Balance der Führungskraft zwischen der Wertschätzung des einzelnen Menschen und der Wertschöpfung des Unternehmens umfasst.

Transformationale Führung

Aktuell ist das Thema Transformationaler Führungsstil in Unternehmen sehr präsent. Ein Transformationaler Führungsstil zielt darauf ab, Verhalten zu verändern – eben zu transformieren. Traditionelle Zielvereinbarungen, Gehaltserhöhungen und Prämien scheinen nicht (mehr) der Garant dafür zu sein, dass Mitarbeitende loyal, engagiert, motiviert und identifiziert mit ihrem Unternehmen sind. Ein wichtiger Faktor dafür ist vielmehr, ob Mitarbeitende Führungskräfte bei der Übernahme ihrer Führungsaufgaben positiv erleben.

Transformationale Führung ist dabei nicht in erster Linie eine Methode, sondern eine Haltung. Diese Haltung zeigt sich im persönlichen Vorbildverhalten der jeweiligen Führungskraft. Die „Prinzipien der transformationalen Führung“ haben Bass und Avolio (1994) wie definiert, wie im Folgenden beschrieben.

Positives Modell bieten

Transformationale Führungskräfte verhalten sich in einer Weise, die Respekt und Vertrauen bei ihren Mitarbeitenden auslöst. Sie sind verlässlich und verbindlich in ihren Worten und Taten und erfüllen hohe ethische und moralische Standards. Außerdem stellen sie das Gesamtinteresse (ihrer Organisation) über ihre persönlichen Ziele und Vorteile.

Inspirieren

Transformationale Führungskräfte inspirieren ihre Mitarbeitenden durch sinnvolle, attraktive Ziele. Sie fördern Teamgeist, Zuversicht und Freude bei der Arbeit an der gemeinsamen Zielsetzung (shared vision).

Empowern

Transformationale Führungskräfte fördern die Fähigkeit zur eigenständigen Problemlösung ihrer Mitarbeitenden. Darüber hinaus ermuntern sie dazu, überholte Glaubenssätze und Gewohnheiten kritisch zu hinterfragen, querzudenken und kreative Lösungen zu finden.

Coachende Haltung

Transformationale Führungskräfte behandeln Mitarbeitende individuell. Sie bemühen sich, je nach persönlichem Profil und Vorlieben auf jeden Mitarbeitenden einzugehen. Sie agieren mit einer coachenden Haltung und unterstützen die persönliche Weiterentwicklung.

Führungskräfte zeigen sich mit ihren menschlichen Stärken und Schwächen. Sie sind sich dabei ihrer Rolle, Verantwortung und Wirkung bewusst. Sie bieten Begegnungen auf Augenhöhe an und sind in der Lage, andere mit ihrer Vision zu begeistern und „anzustecken“. Es gelingt ihnen, den individuellen Beitrag jedes Einzelnen für das große Ziel zu vermitteln und alle Mitwirkenden am Gestaltungsprozess teilhaben zu lassen. Die Reflexion und Umsetzung der eigenen Werte sowie der Realitätscheck durch Feedback von anderen ist für sie selbstverständlich (Pelz 2016).

Das Beratungskonzept „House of Feel Good“

Das „House of Feel Good“ habe ich bereits in meinem ersten Buch ausführlich beschrieben (Kadisch 2017). Das Konzept ist eine Möglichkeit, Organisationen und Unternehmen menschlich(er) zu gestalten. Das „House“ besteht – um im Bild zu bleiben – aus einem Fundament, verschiedenen Stockwerken und einem Zentrum.

Das Fundament für einen Beratungsprozess im Unternehmen nach dem Modell „House of Feel Good“ bildet zunächst eine sorgfältige Auftrags- und Zielklärung mit den Entscheidenden.

Um ein passgenaues, individuelles und tragfähiges „Unterstützungs-Konzept“ zu entwickeln, werden frühzeitig Vertreter aller Bereiche in den Prozess einbezogen und beteiligt. Diese bilden gemeinsam mit der obersten Führung das Team der Kulturarchitekten. Ihre Aufgabe ist es, gemeinsam mit den Führungskräften, die Leitwerte des Unternehmens auf ihre Umsetzung hin zu reflektieren und ggf. auf Diskrepanzen zwischen den gewünschten und tatsächlich gelebten Werten aufmerksam zu machen. Ist zum Beispiel Ehrlichkeit ein wichtiger Wert, kann die Geschäftsbeziehung zu den Kunden und die Kommunikation mit ihnen, aber auch die Kommunikation zwischen Führung und Mitarbeitenden in den Blick genommen werden. Sollte der Wert Nachhaltigkeit besonders herausgestellt werden, können die einzelnen Arbeitsprozesse und der Umgang mit Ressourcen daraufhin näher beleuchtet werden.

„House of Feel Good“, Quelle: Kadisch 2017

Unterstützende Bausteine im „House of Feel Good“ bestehen aus (Zeit-)Räumen, in denen die Mitwirkenden sich selbst und ihr Handeln allein oder mit anderen reflektieren. Aufgrund von hohem (Zeit-)Druck braucht es diese Momente des Innehaltens und der Reflexion, um beispielsweise Kurskorrekturen vornehmen zu können. Anderenfalls besteht die Gefahr reflexartig zu reagieren, zu gestaltende Spielräume nicht wahrzunehmen und die bewusste Selbststeuerung zu verlieren. Weitere Unterstützungsformate sind Veranstaltungen in Form interaktiver Vorträge und Austauschforen zu den Themen Resilienz, Gewaltfreie Kommunikation, Feedback, Achtsamkeit und wertefundierte Führung sowie „Emotionale Selbstführung“ (Kadisch 2017, S. 224).

Das Werteprofil im „House of Feel Good“

Im Zentrum des „House of Feel Good“ findet sich das Werteprofil mit seinen vier Werten: Wohlbefinden/Gesundheit, Partizipation, Sinn und Integrität. Das „House“ steht für Stabilität, Schutz und Sicherheit. Die vier Werte sind wie Rotorblätter, die für Antrieb, Bewegung und Dynamik sorgen.

Das Werteprofil im Konzept House of Feel Good ist ein Modell. Jedes Unternehmen ist angehalten, sein eigenes Werteprofil zu definieren.

© Silvia Zastrow 2017

Wieso Wohlbefinden und Gesundheit? Wir gehen davon aus, dass Menschen sich auch am Arbeitsplatz wohlfühlen und gesund bleiben wollen. Schließlich verweilen sie viele Stunden an ihrem Arbeitsplatz. Um „Wohlbefinden/Gesundheit“ zu ermöglichen bzw. zu fördern, lohnt sich ein Blick auf die eigenen Wohlfühlfaktoren. Das kann für die einen ein Home-Office-Arbeitsplatz sein, um lange Fahrtwege zu verringern, für andere ist es ein unternehmenseigener Kindergarten, in dem der Nachwuchs gut versorgt wird. Für ältere Arbeitnehmende ist es ggf. die Initiierung und Umsetzung altersgerechter Arbeitsbedingungen.

Respekt ist der Schlüssel, um sich wohlfühlen zu können. Machen wir die Erfahrung, dass uns andere mit Respekt begegnen, fällt es uns leichter, auch anderen Respekt entgegenzubringen. Wertschätzung führt somit zu Wertschätzung. Die Frage ist, wer den Anfang macht.

Respekt lässt sich nach Bernd Simon (2017), Professor für Sozialpsychologie und Politische Psychologie, wie folgt definieren: „Respekt lässt sich auf das lateinische Wort „respicere“ zurückführen, was so viel heißt wie zurückschauen oder sich umsehen. Ich schaue mich um, wer von meiner Handlung betroffen ist, nehme den anderen als gleich wahr, erkenne ihn in seiner Würde und stelle das entsprechend in Rechnung.“ Simon (2017) betont an anderer Stelle, dass jeder Mensch den Anspruch auf den gleichen Respekt hat, weil er eine Würde besitzt und nicht bloß einen Preis.

Einfluss nehmen, mitgestalten und wirksam sein sind ebenfalls Wohlfühlfaktoren. Menschen möchten von anderen gesehen und gehört werden. Sie fühlen sich bestätigt und bestärkt in ihrem Handeln, wenn ihre Gedanken, Ideen, Vorstellungen ernstgenommen und berücksichtigt werden und sie dadurch Selbstwirksamkeit erleben. Die Erfahrung, partizipieren und teilhaben zu können und somit Teil eines sinnvollen großen Ganzen zu sein, kann sehr beflügeln und motivieren.

„Sinn-Erleben“ bei einer Unternehmung, einem Ziel oder bei der eigenen Arbeit ist für Menschen ebenso bedeutsam, um sich wohlzufühlen und Leistung bringen zu wollen. Sinnkopplung und Sinnerleben können auch in anstrengenden Phasen die Kraft zum Durchhalten geben – weil man weiß, worauf diese Anstrengung derzeit abzielt bzw. in der Retrospektive reflektiert, rückblickend diente (Höge und Schnell 2012).

Hardering et al. (2015) beschreiben drei Bezugsebenen, an der sich sinnvolle Arbeit bemisst: Zum einen sind es die von der Gesellschaft als nützliche Arbeiten angesehenen Tätigkeiten wie die von Ärzten und Polizisten etc., die in der Regel als sinnvoll angesehen werden. Zum anderen gilt die als sinnvoll angesehene Arbeit als gute Arbeit. In diesem Fall sind die Arbeitsorganisation und die Arbeitsmerkmale so gestaltet, dass sich subjektives Sinnerleben einstellt. Eine dritte Bezugsebene ist die sinnvolle Arbeit als subjektiv bedeutsame Arbeit, die zusammenhängt mit der Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Erfolg und Anerkennung.

Führungskräfte können durch Transparenz immer wieder Andockstellen schaffen, an denen Mitarbeitende sich mit ihren Talenten und ihrem Einsatz sinnvoll verbinden wollen. Eine Möglichkeit ist die Vermittlung des jeweiligen Nutzens und noch besser des Sinns hinter den propagierten Zielen und Maßnahmen. Die jährliche Marge des Gewinns zu erhöhen ist letztendlich nicht der Sinn, sondern nur das angestrebte Ziel. Bei der Erreichung dieser Ziele geht es nicht selten um schnelle Erfolge. Menschen werden dabei oft als Mittel zum Zweck gesehen.

Gerald Hüther (2018) spricht in diesem Zusammenhang nicht von Zielen, sondern von Anliegen. Anliegen bieten Orientierung. Gemeinsame Anliegen sind „Herzensthemen“. Alle sind bereit, sich dafür zu engagieren. Es gibt immer wieder gute Gründe, sich für das gemeinsame Anliegen einzusetzen. Das fördert Kohärenz und Gemeinschaftssinn. Das Anliegen dient den Menschen (dem Gemeinwohl) und macht nicht nur auf ihre Kosten Gewinne. Der Hotelkettenbetreiber Upstalsboom geht mit gutem Beispiel voran, indem er mit seinen erwirtschafteten Gewinnen in Ruanda Schulen baut.

Hüther (2018) unterstreicht, dass es im besten Fall bei der Sinnfrage um den Beitrag jedes Unternehmens im Hinblick auf das Gemeinwohl geht. Ein weiteres gutes Beispiel dafür ist das Unternehmen VAUDE, welches ökologisch produzierte Kleidung und reparaturfähige Produkte auf den Markt bringt.

Integrität ist die Übereinstimmung zwischen Denken, Haltung und Handeln. Sie ist wichtig, um von anderen als glaubwürdig wahrgenommen zu werden. Viele Konflikte, Störungen und innere Kündigungen entstehen, weil Führungskräfte nicht als integer erlebt werden. Die Folgen sind häufig Empörung, das Erleben mangelnder Wertschätzung sowie Enttäuschung und Misstrauen, was bei den Betroffenen zum inneren Rückzug führen kann. Letztendlich kosten diese Dynamiken Zeit und Energie, bis das Vertrauen Schritt für Schritt neu entstehen kann.

Diese Energie steht somit nicht für die Erfüllung der Sachaufgaben zur Verfügung. Die Erkenntnis, dass die Beziehungsebene die Sachebene dominiere (vgl. Watzlawik et. al 1969) lässt sich regelmäßig in Unternehmen anhand von Blockaden in der Zusammenarbeit anschaulich beschreiben.

Das Modell „House of Feel Good“ lädt ein, mit verschiedenen Strategien und Methoden, die tatsächliche Umsetzung des eigenen „Unternehmens-Werteprofils“ auf vielen Ebenen zu reflektieren. Zum Beispiel bei Führung, Mitarbeitenden, Kunden, Prozessen, Strategien, Zielen und der Unternehmenskultur.

Im Zusammenhang mit dem Wert Wohlbefinden/Gesundheit können die Räumlichkeiten des Unternehmens entsprechend verändert werden oder Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf initiiert werden. Beim Wert Partizipation geht es um Formate wie Dialogforen, die Mitarbeitenden zu aktiven Mitwirkenden und Mitgestaltenden von Unternehmensstrategien machen. Der Wert Sinn kann sich durch die gemeinsame Suche nach dem Unternehmens-WHY zeigen (siehe nachfolgendes Praxisbeispiel). Integrität kann mithilfe von Feedbackprozessen unterstützt werden, die Auskunft darüber geben, wie die jeweilige Rollenausgestaltung und Verantwortungsübernahme erlebt wird. Dabei sind nicht nur die kritischen Anmerkungen relevant, sondern auch die positiven wertschätzenden Rückmeldungen, die im Arbeitsalltag oftmals zu kurz kommen.

Gewahrsein und Reflexion

Gewahrsein steht im Zentrum des Werteprofils. Und damit geht es um Sie und jeden Menschen ganz persönlich. Sich selbst gewahr zu sein, ist der Moment, in dem man sich mit sich und seinem Körper verbindet und so bei sich selbst ankommt. Das fällt leichter, wenn man sich bewusst Zeit nimmt, in Ruhe zu sitzen und Stille einkehren lässt. Äußere Reize treten für kurze Zeit in den Hintergrund, die Aufmerksamkeit liegt bei der eigenen Atmung. Der Rhythmus des Ein- und Ausatmens trägt zur inneren Beruhigung bei. Es gibt nichts aktiv zu tun. Gewahrsein steht im Mittelpunkt des Werteprofils. Es steht für das Innehalten, die Besonnenheit und Reflexion.

Gewahrsein schafft Distanz zum operativen Tun und damit auch zur Hektik des Alltags. Durch Gewahrsein stellt sich Präsenz ein. Präsenz ist ein wichtiger Aspekt in der Kommunikation sowie im Kontakt mit anderen. Bin ich konzentriert auf mich und meine Ziele, Körperempfindungen und Gedanken? Nehme ich auch mein Gegenüber wahr? Höre ich tatsächlich zu oder bin ich mit dem Kopf eigentlich schon wieder ganz woanders? Auch Präsenz hat viel mit Wertschätzung zu tun.

© Silvia Zastrow 2017

Für eine gelungene Interaktion ist es wichtig, dem jeweiligen Gegenüber zuzuhören und individuell auf ihn einzugehen. Dazu gehören die Bereitschaft und die Fähigkeit zumindest zeitweise die persönlichen Interessen zurückzustellen und die Anliegen der anderen in den Fokus zu stellen. Anderenfalls gelingt es nicht, sich empathisch in andere hineinzuversetzen und einen Perspektivenwechsel vorzunehmen.

Gewahrsein meint ein kurzes Verweilen in der Gegenwart. Es schult die Fähigkeit einer systematischen Introspektion. Introspektion, also Innenschau, trägt dazu bei, sich eigener automatisch ablaufender Gedankenmuster und Emotionen bewusst zu werden. Ausgehend von dieser Wahrnehmung ist es möglich, auszuwählen: Sollen sie beibehalten, verändert oder bei Bedarf aufgelöst werden? Somit reduzieren sich gewohnheitsmäßige, unbewusste Verhaltensstrukturen (Hayes und Feldmann 2004).

Auf bereits bekannte, aber komplexe Anforderungen, wird häufig mit automatisierten und stereotypen Verhaltensweisen reagiert, die in der Vergangenheit erlernt wurden (vgl. Fischer et al. 2005). Gewahrsein trägt dazu bei, die vermeintlich bekannte Situation genauer zu betrachten und konzentrierter und passgenauer auf sie zu reagieren (Attersee Anders 2017). Gewahrsein ermöglicht Präsenz und die bewusste Steuerung der eigenen Aufmerksamkeit sowie der eigenen Impulse und Affekte. Gewahrsein ist somit auch grundlegende Voraussetzungen für gute und achtsame Selbst-Führung.

Gewahrsein wirkt auf drei Ebenen – auf individueller Ebene, in zwischenmenschlichen Interaktionen, zum Beispiel zwischen Führung und Mitarbeitenden sowie in Unternehmen.

Viele Studien, die sich mit der Thematik Achtsamkeit im arbeits- und organisationswissenschaftlichen Kontext befassen, belegen, dass sie es vermag Gesundheit, Entscheidungsfindungen, Empathiefähigkeit, Veränderungsprozesse, soziale Interaktionen, Führungskultur sowie Leistungsfähigkeit innerhalb von Organisationen positiv zu beeinflussen (Neuberger 2002).

Reflexion meint den Einbezug einer Beobachterposition und damit die Fähigkeit, sich innerlich vom Geschehen distanzieren und ggf. einen Perspektivenwechsel vornehmen zu können.

Viele Menschen wünschen sich mehr Raum und Zeit, um bewusst wahrnehmen und reflektieren zu können oder um überprüfen zu können, ob ihre Ziele noch zu den Ressourcen passen. Oftmals bestimmt allerdings das „Getriebensein“ den Arbeitstag, sodass dieses Bedürfnis unterdrückt wird. Führungskräfte könnten diese Reflexions-Räume anbieten und selbst nutzen, um gemeinsam mehr Klarheit zu erlangen, Erfolge intensiv wahrzunehmen und bewusste Entscheidungen zu treffen. Sich selbst und sein eigenes Denken und Handeln reflektieren zu können, ist auch für Führungskräfte wichtig, um sich nicht von den eigenen Affekten und Emotionen zu unbedachten Aktionen hinreißen zu lassen oder sich selbst und andere zu überfordern.

Folgende Reflexions-Fragen dienen dem Lernen und Wachsen: Was haben wir im Nachgang aus unseren Fehlern gelernt? Wie können wir diese Erkenntnisse zukünftig nutzen? Grundlage dieser Fragen ist die Akzeptanz, dass Fehler geschehen und darin Schätze verborgen sind, die es zu heben gilt. Weitere Fragen zur Selbstreflexion sind: Welches Menschenbild beeinflusst mich, welche eigenen Führungs-Vorbilder sind für mich maßgebend, welche Stärken bzw. Unsicherheiten machen mich aus? Warum tue ich die Dinge, die ich tue bzw. was ist der Sinn meines Handelns?

„Warum stehen Sie morgens auf?“ Diese Frage gehört zum japanischen Konzept des IKIGAI. Der Begriff setzt sich zusammen aus dem Wort IKIRU, das für Leben steht und aus dem Wort KAI, das die Umsetzung dessen meint, worauf eine Person hofft.

Um sich der Frage nach dem individuellen Warum zu nähern, empfehlen sich regelmäßige Standortbestimmungen zu den folgenden Fragen:

• Was liebe ich besonders? Was ist mir derzeit besonders wichtig?

• Worin bin ich richtig gut? Was sind meine besonderen Talente?

• Was braucht die Welt von mir? Was kann ich aktuell für die Welt tun?

• Womit verdiene ich meinen Lebensunterhalt? Und wofür werde ich tatsächlich bezahlt?

Das persönliche IKIGAI kann sich im Laufe des Lebens wandeln. Die eigenen Prioritäten verändern sich und passen sich den Herausforderungen des jeweiligen Alters und der jeweiligen Lebensphase an. Eine regelmäßige Reflexion der vier Fragen bietet eine gute persönliche Orientierungshilfe im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn, denn wie im Eingangszitat erwähnt: „Werte sind die Hauptstraßen zum Sinn des Lebens.“

Auch Unternehmen können diese Reflexionshilfe nutzen und Dialogräume schaffen, in denen Führungskräfte und Mitarbeitende sich zum IKIGAI ihres Unternehmens austauschen. Die Auseinandersetzung mit den Fragen gibt Hinweise darauf, wie es gelingen kann, Mitarbeitende bei der Verwirklichung ihres persönlichen IKIGAIs zu unterstützen. Im Idealfall stimmen persönliche Lebensvision und Unternehmensvision überein und die Menschen werden für das bezahlt, was sie gern machen. Diese Stimmigkeit fördert Sinnerleben, Potenzialentfaltung und zum Blühen gebrachte Talente.1

Wertvolle Herzensthemen

In dem vor Ihnen liegenden Buch melden sich Expertinnen und Experten zu Wort.

Sie haben sich lange mit den Werten des Werteprofils beschäftigt und stellen in diesem Buch ihr jeweiliges damit verbundenes Herzensthema vor. Der Großteil der Autor*innen sind Referent*innen meiner Weiterbildung „Wertefundierte Organisationsentwicklung“. Zugegeben, der Name kommt etwas sperrig daher, ein passenderer lässt leider noch auf sich warten. Aber letztendlich sagt er aus, um was es geht: nämlich um wertschätzende und sinnstiftende Arbeit und Zusammenarbeit in Unternehmen – und damit auch um mehr Menschlichkeit.

Aufbau des Buches

Die Gastautoren und Beiträge des Buches sind sehr unterschiedlich. Nicht nur die jeweilige persönliche Erfahrung und der Schreibstil unterscheiden sich, sondern auch die jeweilige Perspektive.

Während in dem einen Artikel die Freude an der Arbeit bis hin zu Flow-Empfinden führt, wird in einem anderen Artikel davor gewarnt, durch eine zu große Bedeutung von Arbeit andere wichtige Werte wie Gesundheit etc. aus den Augen zu verlieren.

Die Beiträge sind bewusst gewählt, um Lesenden eine große Vielfalt anbieten zu können, auf welche Weise wertefundierte Organisationsentwicklung realisiert werden kann. Allen Beiträgen gemeinsam ist die Ausrichtung auf das Werteprofil im „House of Feel Good“.

Daher wurde die Reihenfolge der Fachbeiträge den vier Werten des „House of Feel Good“ zugeordnet. Diese Zuordnung erhebt keinen Anspruch auf richtig oder falsch. Mit einem etwas anderen Blickwinkel passt zum Beispiel das Thema Flow ebenso gut zum Wert Wohlfühlen/Gesundheit.

Am Anfang jeden Artikels stehen eine kurze Gliederung und ein Abstract. Darauf folgt der entsprechende Inhalt sowie ein kleiner Praxisteil: Eine Checkliste oder ein Handwerkszeug zeigt, wie die jeweilige Methode in die Tat umgesetzt werden kann. Entsprechende Literatur dient zur Vertiefung der Inhalte. Zu jedem Beitrag wurden passende „Sketchnotes“ erstellt, um das Thema visuell zu verankern. Alle Sketchnotes finden sich am Ende des Buches in einem „Gesamtkunstwerk“ wieder.

Der erste Wert Wohlfühlen/Gesundheit ist in erster Linie eine individuelle Befindlichkeit, während Partizipation stärker das Miteinander in den Fokus rückt. Sinn ist verbunden mit einem individuellen und unternehmensspezifischen Suchprozess, der durchaus tiefgründig sein kann. Integrität ist möglicherweise das Resultat der vorher genannten, gelebten Werte.

Wohlfühlen/Gesundheit

Im ersten Buchbeitrag Arbeit ohne Grenzen und Gesundheit beschreibt Dr. Michael Schottmayer die zunehmende Entgrenzung der Arbeit und daraus entstehende Gefahren für die Gesundheit. Er setzt sich kritisch mit einem neuen Typus von Arbeit auseinander, dem sogenannten „Arbeitskraftunternehmer“. Dr. Schottmayer zeigt, wie es gelingt, selbstverantwortlich und ergebnisorientiert zu arbeiten, ohne sich permanent auszubeuten. Er gibt Anregungen dazu, wie es gelingen kann, sich selbst auf eine gesunde Art und Weise abzugrenzen.

Christa Schulte beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von WohlFÜHLEN, GesundSEIN und KrankSEIN und nimmt uns mit auf einen kleinen Ausflug zum Thema Sexualität und Stress. Ihre Anregungen zur Verschlimmerung der Situation sind mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Für diejenigen, die sich wohlFÜHLEN möchten, hat sie einige Tipps aus ihrer Selfcare-Hausapotheke.

Natalie A. Peter als Expertin für visuelle Gestaltung beschreibt sehr anschaulich, wie Wertschätzung, Partizipation und Visualisierung zusammenhängen. Sie stellt in ihrem Beitrag verschiedene Darstellungsformate wie die Flipchart-Gestaltung und Sketchnotes vor. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen kennt sie die typischen Vorbehalte gegenüber dem Zeichnen und greift diese spielerisch auf. Sie zeigt, wie eine Visualisierung Inhalte greifbar macht und dafür sorgt, dass man sich daran erinnert.

Barbara Schygulla bringt in ihrem Beitrag die Wahrnehmung des Körpers und den Aspekt der Leiblichkeit wieder stärker in den Fokus. Ihr Behandlungskonzept der Emmett-Technique basiert auf der Einschätzung, dass der Körper weiß, was ihm guttut und er eine Menge an Selbstheilungskräften aktivieren kann. Manchmal reichen zur Initiierung von neuen neurobiologischen Bahnungen und wohltuenden Empfindungen zwei Finger und die Kenntnis darüber, wo genau diese anzusetzen sind.

Partizipation

Antje Waterholter erläutert in ihrem architekturpsychologischen Beitrag, wie Räume sich wandeln und welche Bedeutung Partizipation und Teilhabe bei ihrer Gestaltung haben, um sich bei der Arbeit wohlfühlen zu können. Frau Waterholter stellt außerdem die Gestaltungselemente des Biophilic Designs vor und zeigt auf, wie derart gestaltete Räume die Regeneration unterstützen und Stress reduzieren können.

Im Anschluss an diesen Artikel beschreibt Nicole Schober Design Thinking als Mindset für Veränderungen. Anhand eines Praxisfalls werden die Phasen und einzelne Prozessschritte veranschaulicht. Perspektivenwechsel, Kreativität und gemeinsames Handeln stehen im Mittelpunkt bei der Lösungssuche für die Anliegen der Kunden.

Maurice Müller zeigt, was bei der Einführung digitaler Werkzeuge zu berücksichtigen ist. Wenn alle Mitwirkenden und deren Bedürfnisse in den Prozess einbezogen werden, lösen sich Ängste vor der Digitalisierung auf und sie kann als Arbeitserleichterung und Chance auf bessere Kommunikation verstanden werden. Zudem stellt er exemplarisch einige Werkzeuge zur Umsetzung vor.

Dr. Imme Gerke und Dr. Jacques Drolet stellen ihren Ansatz Cross-Culture Individuals (CCI) vor. Ausgehend von dem Motto „ein globalisierter Geist für eine globalisierte Gesellschaft“ beschäftigen sie sich unter anderem mit der Bedeutung von kultureller Vielfalt und den Auswirkungen von Kulturschocks.

Sinn

Margot Böhm erklärt in ihrem Beitrag, welchen Einfluss coachingbasiertes Arbeiten in Unternehmen für die Stärkung einer wertefundierten Unternehmenskultur hat. Coaching entfaltet seine Kraft, indem Coachingkompetenz und Coachingperformance von Führungskräften und Mitarbeitenden als Ausdruck einer inneren Haltung anderen gegenüber spürbar gelebt werden.

Im Beitrag Macht, Ohnmacht und Ermächtigung von Ulli Lobach geht es um die Bedeutung von Macht in Unternehmen. Er veranschaulicht mit Shakespeares Geschichte von König Lear den Zusammenhang zwischen Macht, Ohnmacht und (Selbst-)Ermächtigung. Sie zieht sich als roter Faden durch den Text und zeigt, welche Einsichten für eine gute Führung und Mitarbeit wichtig sind und wie diese durch Imagination und Psychodrama erlangt werden können.

Der Fachbeitrag zum Sinn-Erleben als Schlüssel zu internem Unternehmertun von Dr. Jelena Becker beinhaltet die Entstehung individuellen Sinn-Erlebens sowie die Gestaltung „sinnovativer“ Organisationen. Dabei nimmt sie Bezug auf das Sinn-Erleben im Rahmen der Logotherapie und Existenzanalyse. Als Praxistipp stellt sie den Leserinnen und Lesern ein Mini Sinn-Audit zur Verfügung.

Ich, Ingrid Kadisch, beschreibe in meinem Beitrag einen Beratungsprozess in einem mittelständischen Unternehmen, welches sich auf die Suche nach seiner Seele macht, um das eigene WHY und das Unternehmens-WHY wieder in den Blick zu nehmen. Aus einem ursprünglich als Employer-Branding angelegten Prozess wurde eine wertefundierte Organisationsentwicklung, bei der die Umsetzung des unternehmensspezifischen Werteprofils im Vordergrund stand.

Integrität

Silvia Ziolkowski macht in ihrem Beitrag Business mit Spirit neugierig darauf, wie man mit einer starken Vision auf gemeinsamen Zukunftskurs geht und was eine gute Vision ausmacht. Um mehr Spaß bei der Arbeit zu erleben, braucht es Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse und das Erleben von Sinn. Mit dem Zukunftshaus stellt sie eine Ausrichtungs- und Orientierungshilfe vor, die wie ein Kompass oder Leitstern zu nutzen.

Andreas Burzik stellt sein Flow-Konzept vor und erklärt dabei unterschiedliche Intensitäten von Flow-Erleben. Dabei beschreibt er sehr anschaulich, was dabei im Gehirn passiert. In seinem Praxisteil gibt er den Lesern Tipps und Handlungsempfehlungen, wie Erfahrungen von Flow möglich werden und sich Wohlbefinden einstellt. Überlegungen zu dem Zusammenhang von Flow und Wirtschaft runden den Artikel ab und geben neue Denkimpulse.

Anja Söger erklärt auf anschauliche Weise, wie die Wirkung von wertefundierter Organisationsentwicklung messbar gemacht und so die Frage des Nutzens und des Mehrwertes beantwortet werden kann. Dazu stellt sie die Methode „Wirkungsorientierte Planung und Monitoring in Theorie und Praxis“ vor und beschreibt ihre Relevanz für Unternehmen. Mithilfe einer Checkliste können Sie direkt überprüfen, ob diese Methode für Ihren Kontext geeignet ist.

Im Beitrag zur Gemeinwohl-Bilanz als zukunftsweisendes Organisationsentwicklungsinstrument stellt Rena Maria Fehre mit der Gemeinwohlökonomie einen ethischen Ansatz des wertschätzenden Wirtschaftens vor, der über individuelle und unternehmerische Einzelinteressen weit hinausgeht. Wie die Prinzipien „Kooperation statt Konkurrenz“ und „Verantwortungsübernahme“ tatsächlich gut umgesetzt werden, beschreibt sie anhand verschiedener Praxisbeispiele.

Im letzten Kapitel finden Sie eine Zusammenfassung der Beiträge, eine abschließende Visualisierung in Form einer Gesamt-Sketchnotes und einen Ausblick.

Literatur

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1 Weitere Informationen unter https://www.5-elements.de

1. Arbeit ohne Grenzen und Gesundheit

Dr. Michael Schottmayer

Abstract

Eine statistisch ausgewiesene signifikante Zunahme psychischer Erkrankungen wird in diesem Beitrag hinsichtlich ihrer Zusammenhänge mit Entwicklungen in der Arbeitswelt untersucht. Ausgehend von gesellschaftlichen Megatrends wie Globalisierung, demografischer Wandel, Digitalisierung und Wertewandel werden neue Formen der Arbeitsorganisation und deren Folgen auf gesellschaftlicher, betrieblicher und individueller Ebene theoretisch fundiert und anhand eines Fallbeispiels nachgezeichnet. Das so gewonnene Verständnis von Hintergründen zunehmender Arbeitsbelastungen wird genutzt, um Perspektiven möglicher Präventionen und Interventionen auszuloten. In den Vordergrund geraten hier Dilemmata nachhaltigen Ressourceneinsatzes, die sowohl betrieblich als auch individuell grundsätzlich auf einen kurzfristigen Gewinnverzicht zugunsten langfristigen Ressourcenerhalts hinauslaufen. Lösungsansätze werden aufgezeigt auf der Grundlage betrieblicher wie individueller Werteorientierung und schließlich einer wertefundierten Organisationsentwicklung.

Inhaltsübersicht

1.1 Einleitung

1.2 Arbeiten wir uns krank?

1.3 Die Fakten

1.4 Die Theorie

1.5 Entgrenzte Arbeit in der Praxis

1.6 Was wir tun können

1.7 Praxisteil: Selbstreflexion

1.8 Fazit

Literatur

Der Autor

1.1 Einleitung

Im letzten Jahrzehnt wird eine Steigerung der Fallzahlen psychischer Erkrankungen mit dramatischen Folgen für Betroffene und hohen volkswirtschaftlichen Kosten festgestellt. In diesem Beitrag werden Zusammenhänge mit Entwicklungen in der Arbeitswelt ergründet. Es werden Hintergründe in gesellschaftlichen Megatrends beleuchtet und deren Folgen für Unternehmen und Beschäftigte analysiert. Auf dieses Verständnis gesellschaftlicher und globaler Rahmenbedingungen aufbauend werden neue Formen von Beschäftigungsverhältnissen arbeitswissenschaftlich fundiert und anhand eines Fallbeispiels aus der Kulturwirtschaft aus Betroffenensicht beschrieben. Diese Perspektiven werden schließlich in einer Erörterung möglicher Handlungsoptionen auf gesellschaftlich-politischer, betrieblicher und individueller Ebene zusammengeführt.

Kurzfristige Gewinninteressen und einen nachhaltigen Umgang mit den eigenen Ressourcen auszubalancieren, führt sowohl auf der individuellen als auch auf Unternehmens- bzw. Organisationsebene in ein Dilemma; denn in eine ungewisse Zukunft zu investieren, bedeutet immer einen Verzicht auf relativ sichere kurzfristige Erträge. Da in solchen Entscheidungssituationen objektive Kriterien nicht zur Verfügung stehen, kann das Entscheidungsverhalten nur an der eigenen Werteorientierung ausgerichtet werden. Die Frage, welche Werte mich bei der Gestaltung meines Lebens leiten, sollte immer gestellt werden, wenn es auf individueller Ebene um Grenzen der Arbeit geht und auch Unternehmen sollten die Gestaltung der betrieblichen Arbeitssituation an einer klaren Werteorientierung ausrichten. Eine wertefundierte Organisationsentwicklung wäre ein zielgerichteter Weg in diese Richtung.

1.2 Arbeiten wir uns krank?

Um es gleich vorweg zu sagen: Wenn wir über zunehmende Belastungen durch Arbeit sprechen, so geht es um statistische Größen, zunehmende Häufigkeiten auf das Ganze gesehen also. Wenn also im Gesundheitsreport der Krankenkassen von durchschnittlich etwa 15 Prozent Arbeitsunfähigkeitstagen (Grobe et al. 2018, S. 11) die Rede ist, dann heißt das zugleich, dass an 85 Prozent aller Arbeitstage im Jahr gearbeitet wird, die Arbeitenden also gesund sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Leserin, der Leser nicht betroffen ist und folglich an dieser Stelle aufhören kann zu lesen, ist also sehr hoch.

Oder doch nicht? Gesund in Arbeit zu bleiben kann viele Gründe haben. Der beste ist vermutlich der, dem Rat des Konfuzius gefolgt zu sein, der (angeblich) sagte: Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten. Oder aber wir haben das Glück, in einem der zweifellos noch immer zahlreichen Jobs zu arbeiten, in denen der aktuelle Trend der Arbeitsverdichtung und Ressourcenverknappung (noch) nicht angekommen ist? Oder aber wir üben schon eine Tätigkeit aus, die das Potenzial hat, uns krank zu machen, wir haben aber Strategien entwickelt, trotzdem und nachhaltig gesund zu bleiben, dann ist das eine oder andere dieses Beitrags vielleicht doch von Interesse. Dass auch langanhaltende Arbeitslosigkeit erhebliche Belastungen und Gefährdungen der psychischen und sogar physischen Gesundheit nach sich ziehen kann, soll hier nicht unerwähnt bleiben, wenn es auch darum in diesem Beitrag nicht gehen soll.

1.3 Die Fakten

Aktuelle Gesundheitsreports der großen Krankenkassen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass psychische Erkrankungen gegenüber den klassischen physischen im zurückliegenden Jahrzehnt als Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage überproportional zugenommen haben. Abbildung 1.1 „Erwerbspersonen mit Mitgliedschaft in der Techniker1“ aus dem Gesundheitsreport 2018 der Techniker Krankenkasse zeigt diese Entwicklung in anschaulicher Weise.

Die Fehlzeiten unter der Diagnose psychische Störungen markieren den Autoren zufolge „(…) mit 245 AU-Tagen [Arbeitsunfähigkeitstagen] je 100 Versicherungsjahre in dieser Gruppe den höchsten Stand seit Beginn der Auswertungen zum Jahr 2000“ (Grobe et al., S. 25). Und auch der DAK Gesundheitsreport 2018 kommentiert: „Der Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen ist eine der auffälligsten Entwicklungen in Bezug auf die Krankenstandskennziffern in den letzten Jahren“ (Kordt 2018, S. 21). Hinzu kommt, wie Kordt (2018) hervorhebt, dass zwar die Fallzahlen mit 5,8 Prozent einen verhältnismäßig niedrigen Wert erreichen, mit 16,7 Prozent der Ausfalltage jedoch an zweiter Stelle aller Erkrankungen stehen und damit auch zu den kostenintensivsten gehören (Kordt 2018, S. 19f.).

Abbildung 1.1: Erwerbspersonen mit Mitgliedschaft in der Techniker2; standardisiert, Quelle: Grobe et al. 2018, S. 26, Abb. 19

Um nun den Bezug zu neueren Entwicklungen in der Arbeitswelt herzustellen, ist zunächst festzuhalten, dass die zitierten Fakten ausnahmslos auf Ausfallzeiten von Berufstätigen bezogen sind. Damit sind zwar noch keine ursächlichen Zusammenhänge erwiesen, entbehren aber auch nicht jeder Plausibilität, denn der mediale und wissenschaftliche Diskurs zu zunehmendem Stress und Belastung durch Arbeit weist zweifelsfrei in diese Richtung. Beispielsweise verweist eine Studie mit dem Titel „Entfesselte Arbeit“ (Mayer-Ahuja und Wolf 2005) auf einen Abbau traditioneller, die Arbeit in vielfacher Hinsicht begrenzender Regularien und eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2015 stellt eindeutige Entwicklungen in Richtung zunehmender Arbeitsintensität und Arbeitsbelastung fest (Ahlers 2015).

Einen Hintergrund dieser Entwicklungen identifiziert der DAK Gesundheitsreport darin, dass „(…) viele Dienstleistungsunternehmen einschließlich der öffentlichen Verwaltungen verstärkt unter Wettbewerbsdruck bei fortschreitender Verknappung der Ressourcen [stehen und es] in der Folge (…) zu Arbeitsverdichtungen und Rationalisierungen und vielfach auch zu Personalabbau [kommt]“ (Kordt 2018, S. 5). Daraus, so Kordt (2018) weiter, „(…) können belastende und krankmachende Arbeitsbelastungen (zum Beispiel Stressbelastungen) entstehen, die zu einem Anstieg des Krankenstandes führen“ (S. 5). Bestätigt wird diese Einschätzung in der Befragung von Betriebsräten durch das WSI. Diese stellen einen eindeutigen Zusammenhang von zunehmenden psychischen Arbeitsbelastungen und „(…) Themen wie Überstunden, Leistungsdruck oder eine zu geringe Personaldecke (…)“ her. Die Arbeit der Beschäftigten ist folglich stark geprägt von Termin- und Zeitdruck sowie hoher Arbeitsintensität, so die Schlussfolgerung aus der Befragung (Ahlers 2015).

Differenziert nach Branchen treten Probleme einer zu geringen Personalausstattung überdurchschnittlich häufig im öffentlichen Dienst, im Erziehungs- und im Gesundheitssektor, im Handel, in der IT- und Kommunikationsbranche, im Gastgewerbe, in der Industrie und in der Finanzbranche auf. Weiter stellt die Autorin fest, dass diese Probleme gleichermaßen in vom Fachkräftemangel betroffenen und weniger betroffenen Bereichen auftreten und resümiert, dass vielmehr zu vermuten sei, „(…) dass Unternehmen die Personaldecke aus Kostengründen so gering wie möglich halten“ (Ahlers 2015). Zudem drängt sich die Frage auf, welche Branchen zu den nicht betroffenen gehören.

Aber auch die Arbeitsorganisation selbst wird den Befunden der Studie zufolge zunehmend zu einer Quelle erhöhter Anforderungen und Stress. Insbesondere die Verlagerung der Leistungskontrolle vom Management zu den Beschäftigten durch Instrumente wie Zielvereinbarungen und Vertrauensarbeitszeit erhöht den Leistungsdruck, denn erweiterte Spielräume für Selbstbestimmung und Selbstorganisation lassen bisherige zeitliche und räumliche Grenzen der Arbeit verschwimmen (Ahlers 2015).

Einen weiteren Beleg für die Verursachung psychischer Erkrankungen durch erhöhte Arbeitsbelastungen liefert ein differenzierter Blick auf den Begriff der psychischen Erkrankungen. Das vergangene Jahrzehnt war in dieser Hinsicht geprägt von einer offener werdenden öffentlichen und medialen Auseinandersetzung mit diesem Thema. Salonfähig wurde vor allem die Diagnose „Burn-out“, denn wer in der Arbeit ausbrennt, muss mit vollem Einsatz und höchstem Engagement gearbeitet haben. In einer Arbeitsgesellschaft wie der deutschen ist diese Diagnose daher eher eine Art Ritterschlag, denn stigmatisierende psychische Erkrankung. Übertroffen wird diese Haltung nur noch in der japanischen Gesellschaft, die sogar ein eigenes Wort „Karoshi“ für den Tod durch Überarbeitung kennt. Es ist daher anzunehmen, dass zunehmende Arbeitsbelastungen nicht allein für den anhaltenden Trend anwachsender Burn-out-Fallzahlen ursächlich ist, sondern, dass auch zunehmende Sensibilisierung auf Seiten von Betroffenen und Medizinern verbunden mit einer sinkenden Hemmschwelle, bei Erschöpfungszuständen ärztliche Hilfe aufzusuchen, als Effekte in Statistiken wie der folgenden Abbildung 1.2 „AU-Tage und -Fälle der Diagnosegruppe Z73 in den Jahren 2004–2017 je 1.000 AOK-Mitglieder“ einfließen.

Abbildung 1.2: Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund von Burn-out-Erkrankungen in Deutschland in den Jahren 2004 bis 2007 (je 1000 AOK-Mitglieder), eigene Darstellung in Anlehnung an Statista 2018

Hinzu kommt eine nach wie vor diagnostische Unklarheit hinsichtlich der Differenzierung zwischen Burn-out und Depression. Auch in der aktuellen Version der „International Classification of Diseases (ICD-10)“ ist Burn-out im Gegensatz zur Depression nicht als eigenständige Diagnose verzeichnet. In der wissenschaftlichen Debatte sind auch heute noch sowohl Positionen vertreten, die Burn-out für eine Modebezeichnung für die eigentliche Diagnose Depression halten, als auch solche, die eine eigenständige Burn-out-Diagnose postulieren. Eine ausgesprochen überzeugende Argumentation für die zweite Position stammt von Burisch (2014, S. 256), der darauf verweist, dass bei einer Depression von Anfang an zentrale Leitsymptome Melancholie und Trauer sind, während bei einem Burn-out im Anfangsstadium gerade das Gegenteil davon, nämlich Wut und Angst, die unheilvolle Dynamik des Krankheitsverlaufs vorantreiben.

In der diagnostischen Praxis scheint aktuell eine Tendenz zu weniger Burn-out-Diagnosen zugunsten der Diagnose Depression vorzuherrschen. Dazu eine Pressemeldung der DAK: „Die Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Die Ausfalltage durch einen sogenannten Burn-out gingen seit 2011 um rund 60 Prozent zurück. Die Zahl der Fehltage durch Depressionen stiegen hingegen um 41 Prozent an“ (Bodanowitz 2018). Und auch im DAK-Gesundheitsreport 2018 wird eine Verursachung der Mehrzahl von Fehltagen durch Depressionen festgestellt (Kordt 2018, S. 22).

Die Hintergründe dieser Entwicklung dürften vielfältig sein. Neben dem Umstand, dass für die Beantragung einer von der Krankenkasse finanzierten Psychotherapie eine ICD-10-Diagnose vorliegen muss, kann in den zurückliegenden Jahren, ähnlich wie beim Burn-out, auch eine zunehmende Gesellschaftsfähigkeit der Depression festgestellt werden. Am augenscheinlichsten wird dieser Trend durch Bekenntnisse zahlreicher prominenter Personen zu ihrer Erkrankung, mit denen das Bewusstsein in der Öffentlichkeit gewachsen ist, dass es sich bei der Depression um eine wirklich ernste Erkrankung und nicht etwa um persönliches Unvermögen handelt. Möglicherweise ließe sich der Disput um die angemessene Diagnostik arbeitsbedingter Erschöpfungszustände auch dahingehend auflösen, dass schon Freudenberger, der als Entdecker des Burn-out-Phänomens gilt, im Phasenverlauf des Burn-out-Geschehens die elfte Phase mit „Depression“ überschreibt. Da davon auszugehen ist, dass Burn-out-Betroffene erst in einem sehr späten Stadium ihrer Erkrankung ärztliche Hilfe aufsuchen, zeigen sie folglich wohl tatsächlich Symptome einer Depression.

1.4 Die Theorie

Wie ist es möglich, dass Arbeit dem Menschen zugleich so viel Erfüllung bieten und ihm so gefährlich werden kann? Um die Bedeutung der Arbeit für den Menschen zu verstehen, erscheint ein Blick in die theoretischen Grundlagen vielversprechend. Schon Sigmund Freud sah die Arbeit als stärkste Bindung des Menschen an die Realität (zit. n. Jahoda 1983, S. 5). Schon Anfang der 1930er Jahre fanden die Soziologin Marie Jahoda und ihre Kollegen (1975) heraus, welch dramatische Folgen langanhaltende Arbeitslosigkeit für das Wohlbefinden der Betroffenen hatte. In dem Industriedorf Marienthal in Niederösterreich mussten im Zuge der Weltwirtschaftskrise die einzige Fabrik und damit der einzige Arbeitgeber schließen. Das gesamte Dorf war über viele Jahre arbeitslos. Das Forschungsteam um Marie Jahoda untersuchte die Situation der Betroffenen und konnte aus deren typischerweise auftretenden Reaktionen schließen, was ihnen mit der Arbeit verloren ging. Demnach bietet Arbeit dem Menschen grundsätzlich eine Zeitstruktur, eine Erweiterung des sozialen Horizonts und Teilhabe an kollektiven Zwecken. Sie zwingt uns zur Aktivität und versichert uns unserer Identität. Marie Jahoda betont, dass die wenigsten Menschen in der Lage sind, sich diese Erlebnisqualitäten selbst zu organisieren. Der Schluss liegt also nahe, dass wir zur Wahrung unseres psychischen Gleichgewichts in gewisser Weise auf Arbeit angewiesen sind.

Hier drängt sich die Frage auf, ob Arbeit unter allen Umständen und zu allen Zeiten von derart existenzieller Bedeutung für den Menschen war und ist. Oder, andersherum gefragt, erscheint uns unser Verhältnis zur Arbeit nur deswegen als naturgegeben, weil wir Kinder westlicher Industriegesellschaften sind? Zum einen wissen wir, dass es durchaus Kulturen gibt, in denen Arbeit nicht an erster Stelle steht und der Wert und die Identität eines Menschen nicht über die Arbeit bestimmt werden und nicht ohne Grund avancieren solche Kulturen zeitweise zu Sehnsuchtsorten dafür empfänglicher Subkulturen. Diese Sehnsucht mag daher rühren, dass die meisten von uns sich mehr oder weniger bereitwillig unter das Disziplin-Diktat industriell geprägter Arbeit fügen, uns aber dennoch Reste eines Bewusstseins darüber erhalten bleiben, dass wir als Naturwesen, die wir nun mal sind, doch einiges reicher und vielfältiger sind. So selbstverständlich uns also unsere durch die Arbeitsgesellschaft geprägte Lebensweise zur zweiten Natur geworden ist, es bleibt doch ein gewisses „Unbehagen in der Kultur“, wie Freud (1974) es formulierte.

Zum anderen zeigt ein Rückblick in die Historie der Arbeit, dass unser scheinbar naturgegebenes Verhältnis zur Arbeit nicht nur als historische Momentaufnahme zu sehen ist, sondern zudem der durch diese Arbeitsform geprägte Zeitraum im Verhältnis zur Menschheitsgeschichte relativ kurz ist. So beschreibt Friedmann (1953, S. 6) die Zeit vor Beginn der Industrialisierung, bis Ende des 18. Jahrhunderts also, als „Die natürliche Welt“, in der der Mensch in den „(…) unaufhörliche[n] Kreislauf zwischen Mensch und Natur (…)“ (Friedmann 1953, S. 7) eingebunden war. In dieser Zeit war, abgesehen von wenigen, durch Muskelkraft angetriebenen Geräten, der Körper das Werkzeug des Menschen (Friedmann 1953, S. 10) und die Zeit durch den Rhythmus der Natur bestimmt (Friedmann 1953, S. 12).