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Wes Montgomery war der einflussreichste Jazzgitarrist der Sechzigerjahre. Nicht nur Jazzgrößen wie George Benson oder Pat Metheny wurden durch ihn geprägt, auch Carlos Santana und Richie Blackmore nennen ihn als wichtige Inspiration. Erst im Alter von 36 Jahren wurde Wes Montgomery in seiner Heimatstadt Indianapolis von Cannonball Adderley entdeckt, darauf folgten neun Jahre intensiver Tourneen und zahlreiche Plattenaufnahmen, bis Montgomery viel zu früh im Alter von 45 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Dies ist die erste Biografie des Ausnahmemusikers in deutscher Sprache, sie beschreibt sein Leben, seine Aufnahmen, seine Instrumente und sein musikalisches Erbe.
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Seitenzahl: 364
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Biografie
Die Anfänge (1923–1950)
The Montgomery Brothers/Pacific (1950–1959)
Riverside (1959–1963)
Verve (1964–1966)
A&M (1967–1968)
Der Mensch
Das musikalische Erbe
Die Gitarren
Zitate über Wes
Diskografie
Langspielplatten
Singles (45er)
LPs, CDs oder Singles
mit erstveröffentlichten Titeln
Plattenbesprechungen
Wes Montgomery & the Montgomery-Johnson Quintet
Wes Montgomery & The Montgomery-Johnson Quintet Live at the
Turf Club
Echoes of Indiana Avenue
The Montgomery Brothers and 5 Others
The Blues Vol. 2 - Have Blues Will Travel
Jon Hendricks – A Good Git-Together
The Wes Montgomery Trio – A Dynamic New Jazz Sound
Incredible Jazz Guitar
Nat Adderley – Work Song
Harold Land – West Coast Blues
Cannonball Adderley and the Poll-Winners
The Montgomery Brothers (Fantasy
Movin’ Along
The Montgomery Brothers – Groove Yard
The Montgomery Brothers in Canada
So Much Guitar!
Live at Jorgie’s and More
George Shearing and The Montgomery Brothers
Bags Meets Wes
Full House
Fusion!
Boss Guitar
Portrait of Wes
Guitar on the Go
The Navy Swings
Movin’ Wes
Kings of the Guitar/Stretching Out Live in 65
Live in Paris 1965/Solitude/Impressions
Wes Montgomery & Clark Terry – Vara Radio 1965 bzw. Straight,No Chaser
Body and Soul – Live at Ronnie Scott’s Club
Live in Europe – NDR, Hamburg
Bumpin’
Wynton Kelly Trio/Wes Montgomery - Smokin’ at the Half Note
Smokin’ Guitar
Goin’ Out Of My Head
Tequila
California Dreaming
Further Adventures of Jimmy and Wes
A Day In The Life
Down Here On The Ground
Road Song
Aufnahmen (chronologisch)
Nachwort
Verzeichnis
Ein schwüler Sommerabend. Es ist schon weit nach Mitternacht, als die Tür des Missile Rooms sich öffnet und eine kleine Gruppe farbiger und weißer Gäste sich den Weg durch die Rauchschwaden bahnt. Die Musiker auf der Bühne tauschen ein paar vielsagende Blicke, denn sie haben die Gruppe erwartet. Die Bühne ist nicht groß, bietet aber genug Platz für das Trio, drei Schwarze in hellen Anzügen, weißen Hemden und schwarzen schmalen Krawatten. Links der Schlagzeuger am perlmuttfarbenen Ludwig-Set, rechts der Organist an der Hammond B-3, in der Mitte, auf einem Stuhl sitzend, der Gitarrist an einer dicken Gibson L-5 verstärkt über einen Fender Tweed Deluxe, der an der hinteren Bühnenwand auf einem Stuhl steht. Gutes Equipment also.
Die neuen Gäste sind Kollegen, jedoch keine Lokalmatadoren, sondern Leute von Weltklasse: Cannonball Adderley, der ein halbes Jahr vorher bei Miles Davis auf dessen Platte Kind of Blue mitgespielt hatte, der erfolgreichsten Jazzplatte überhaupt. Sein Bruder Nat war dabei, Wayne Marsh sowie die beiden blinden Pianisten George Shearing und Lennie Tristano die sich bei den anderen eingehängt hatten, um sich den Weg durch den Club in eine hintere Ecke zu bahnen. Ihr eigenes Abendkonzert ist schon vorbei, und nun sind sie gekommen, um sich zu entspannen, etwas zu essen und um zu hören, was die örtliche Musikszene in Indianapolis so zu bieten hat. Der hohe Besuch muss das Orgel-Trio beflügelt haben, denn nach einigen Minuten setzt sich Cannonball in die Mitte der ersten Reihe und starrt fassungslos auf die Hände des Gitarristen, gelegentlich lehnt er sich zurück, starrt an die Decke, schüttelt er den Kopf und kann nicht glauben, was er da hört und sieht. Etwas später sucht er verzweifelt nach einem Telefon.
Es dauert nur ein paar Tage, bis Adderleys Plattenproduzent an derselben Stelle sitzt. Er wartet bis zur Pause, zückt einen Vertrag und engagiert den Gitarristen von der Stelle weg. Ein Stern am Gitarrenhimmel ist geboren.
Über Wes Montgomerys Kindheit und Jugend ist relativ wenig bekannt, auch war sie offensichtlich wenig spektakulär. Selbst über sein Geburtsjahr ist man sich nicht ganz einig. Den zuverlässigeren Quellen jedoch zufolge wurde John Leslie „Wes“ Montgomery am 6. März 1923 in Indianapolis als drittes von fünf Kindern geboren. Der Vater, Tom Montgomery, stammte angeblich aus Greensburg/Louisiana1. Die Eltern trennten sich früh. Wes und seine beiden älteren Brüder, Thomas Jr. „June“ und William „Monk“, blieben in der Rezession einige Jahre beim Vater in Ohio, während die Mutter mit den jüngeren Kindern – Ervena und Charles „Buddy“ Montgomery – zurück nach Indianapolis zog. In der Familie wurde viel gesungen, und im Haus der Mutter stand ein Klavier.
Eines Tages, um 1935, kaufte Monk Montgomery seinem kleinen Bruder Wes für dreizehn Dollar eine gebrauchte viersaitige Tenorgitarre. Damals, während der Depression, waren dreizehn Dollar viel Geld, immerhin ein Zehntel des Preises für die einfachste Gibson Gitarre. Wie Monk sich erinnerte erlernte Wes das Gitarrenspiel recht schnell, und damit widerlegt er die Legende nach der Wes Montgomery erst als Erwachsener das Gitarrenspiel erlernt hätte: „Ich gab ihm das Geld, damit er sich eine Gitarre beim Pfandleiher besorgen konnte. Und ich weiß noch dass sie dreizehn Dollar kostete, seine erste Gitarre. Und als er sie dann nach Hause brachte hatte ich keinen Zweifel dass er von Anfang an wirklich gut spielte. Er spielte die richtigen Akkorde zu den Liedern. Und als wir wieder von Ohio nach Hause gezogen waren spielte Wes auf dem Parkplatz und hatte oft eine Schar von Leuten um sich, die dazu tanzten.“2
Thomas Montgomery starb mit 18 Jahren an einer Lungenentzündung, und die kritische finanzielle Lage der kinderreichen Familie zwang den nächstjüngeren Sohn Monk, die Schule abzubrechen und ein Zubrot als Gelegenheitsarbeiter zu verdienen. Aber um 1940 hatte sich die Wirtschaft in den USA erholt, Indianapolis war zu einer blühenden Industriemetropole geworden, in der sich aufgrund größerer Erdgasfunde eine ansehnliche Stahl- und Automobilindustrie gebildet hatte. So zogen Monk und Wes zurück nach Indianapolis zu ihrer Mutter, und „Naptown“ sollte bis zu seinem Tode Wes’ Heimat bleiben.
Obwohl Indianapolis historisch nicht gerade als Jazz-Metropole gilt, hat die Stadt in der Kultur des schwarzen Amerikas eine bedeutende Rolle gespielt: Die Stadt wurde dank ihrer zentralen Lage im Staat Indiana 1820 zur Hauptstadt erklärt. 1847 entstand dort ein Eisenbahnknotenpunkt, wodurch die Stadt um die Jahrhundertwende zu einem wichtigen Industriestandtort wurde. Das führte dazu, dass in Indianapolis eine große schwarze Bevölkerung lebte, die regen Zulauf durch ehemalige Sklaven fand. Indiana gehörte der Union an, war also ein „Nordstaat“ und für befreite Sklaven, aus Mississippi oder Alabama kommend, zu Fuß oder heimlich in Güterwagen reisend, und auf der Suche nach Lohn und Brot, ein magischer Anziehungspunkt. In den Südstaaten hingegen war nicht nur der Rassismus stärker ausgeprägt, die Staaten waren und sind noch heute stärker von der Landwirtschaft geprägt, was einen großen Teil des Konflikts im Sezessionskrieg verursacht hatte. Das gesellschaftliche Klima in Indianapolis hingegen war eher liberal, es ging der schwarzen Bevölkerung etwas besser als anderswo (und es soll dort nach der Ermordung Martin Luther Kings nicht zu Ausschreitungen gekommen sein, anders als in vielen anderen Großstädten). So entstand dort schon recht früh eine florierende Subkultur von Theatern, Kneipen, Bordellen, Spelunken, Kinos und Restaurants, in schwarzer Hand und für schwarzes Publikum, mit einer entsprechenden Musikszene, die für eine entsprechende „Beschallung“ sorgte. Die Musikszene rekrutierte einen großen Teil ihres Nachwuchses aus der Cryspus Attucks High School, einer schwarzen Oberschule die über ausgezeichnete Musiklehrer verfügte. Nicht nur Wes Montgomery und seine Brüder hatten diese Schule besucht, sondern auch Silde Hampton, J. J. Johnson und Freddie Hubbard entstammten diesem „Brainpool“, wenngleich sich Wes mit dem Notenlernen schwertat. Aber die Netzwerke waren geknüpft und die jungen Menschen wurden dort inspiriert und inspirierten sich gegenseitig.
Nein, Wes hatte nicht erst mit achtzehn angefangen, Gitarre zu spielen. Wie Monk Montgomery in einem Interview berichtete, hatte Wes bereits als Teenager Gitarre gespielt, also bevor Monk Bass und Buddy Klavier spielten. Aber es begann aus seiner eigenen Sicht alles damit, dass er um 1940 Charlie Christians Solo Flight3 hörte. „Ich hatte nie vor, Musiker zu werden, aber Christian war meine Inspiration, ich hörte Solo Flight und es beeindruckte mich. Damals kaufte ich keine Platten und hörte keinen Jazz. Ich ging tanzen, wie alle jungen Männer, das war alles. Aber wenn du etwas hörst das toll klingt, dann willst du es immer wieder hören, und so ging es mir mit Solo Flight. Ich kaufte mir dann sofort eine teure Gibson mit Verstärker und legte los. Keiner brachte mir irgendwas bei, ich habe alle Griffe und alles selber herausgefunden.“4
Charlie Christian, der sieben Jahre vor Wes, also 1916 geboren wurde, war der erste große E-Gitarrist der Musikgeschichte, und die wenigen Aufnahmen, die während seines kurzen Schaffens gemacht wurden, zählen heute zu den Meilensteinen der Geschichte der Jazzgitarre. Er wurde in Oklahoma City geboren und stammte aus einer Familie von Blasmusikern. Durch Mary Lou Williams und den Produzenten John Hammond war Christian in das Orchester Benny Goodmans gelangt, und es waren insbesondere Stücke wie Honeysuckle Rose und Solo Flight, in denen der brillante Gitarrist der elektrischen Gitarre zum Durchbruch verhalf. Um aus heutiger Sicht die Faszination zu verstehen, die Christian auf viele Gitarristen ausübte, muss man bedenken, dass bis dahin die Gitarre eine eher untergeordnete Rolle als Rhythmusinstrument gespielt hatte und aufgrund ihrer geringen Lautstärke nur in kleinen Besetzungen als Soloinstrument eingesetzt werden konnte. Charlie Christian vereinigte mehrere günstige Voraussetzungen für die Emanzipation der Gitarre als Soloinstrument in der Bigband: Die Tatsache, dass er musikalisch primär von Blasmusikern beeinflusst war, brachte ihm das nötige Selbstbewusstsein und das Gefühl für den Aufbau seiner Soli, während die Firma Gibson als erster Anbieter zu diesem Zeitpunkt begann, elektrisch verstärkte Gitarren in Serie zu bauen und Christian nur allzu gern sponsorte. Es war also ein Glücksfall, dass „CC“ im rechten Augenblick zur Stelle war, um für die Emanzipation der Gitarre aus ihrer Statistenrolle zu sorgen und zu demonstrieren, zu welchen Höhenflügen es die Gitarre nun bringen konnte. Die eleganten Läufe, die Christian unter der Verwendung erweiterter Harmonien und raffiniert gesetzter Pausen zum Besten gab, beeinflussten eine ganze Generation von Gitarristen der Vierziger- und Fünfziger-Jahre, er selbst starb jedoch bereits mit Mitte zwanzig an Tuberkulose.
Bevor Wes auf Christian stieß, orientierte er sich vor allem an Django Reinhardt und Les Paul, die ihn jedoch nicht in gleicher Weise beeindruckten. Solo Flight hingegen fesselte ihn für ein ganzes Jahr5 und vermittelte ihm das Gefühl, dass man lediglich das entsprechende Instrument haben müsste, um so spielen zu können wie Christian, weshalb er, als er eine geregelte Arbeit als Schweißer hatte, sich auf einen Schlag eine Gitarre mitsamt Verstärker kaufte, eine Gibson ES 125 D. Mit dem Instrument verzog er sich in den hinteren Teil seines Hauses und begann stur, nichts anderes als die Soli Charlie Christians nach Gehör von Platten zu spielen. Eines Tages hörte ihn dabei ein Clubbesitzer, der gerade am Haus vorbeiging: „Er klopfte an und fragte, wer da gerade gespielt hätte. Ich sagte: ;Ich!’ Er glaubte mir nicht, und ich glaubte ihm nicht, dass er ein Clubbesitzer war. Dann bot er mir einen Job in seinem Club an. Toll! Ich und arbeiten, wo ich doch erst seit ein paar Monaten spielte. Ich gehe also zu diesem Club, sehe, dass draußen mein Name angeschlagen ist, und spiele dort nichts anderes als Charlie-Christian-Soli, weil ich damals nichts anderes konnte. Die anderen Musiker wussten das zwar, aber eines Tages lief es so gut, dass man mich nicht mehr von der Bühne lassen wollte. Ich konnte aber nichts anderes spielen. Das war ziemlich peinlich, also sagte ich den Leuten, ich müsste wieder nach Hause gehen und anfangen zu üben.“6 Das tat er dann unter anderem mit einem Organisten namens Sax Kari, der tagsüber in einem Bestattungsinstitut arbeitete und dort abends gemeinsam mit Wes im Duo probte. Kari erhielt Engagements, doch Wes – damals 17 – musste wegen seines jungen Alters zu Hause bleiben7. Der Pianist der Charlie-Christian-Auftritte war übrigens Millard Lee, der ein paar Jahre später B. B. King in dessen Anfängen begleitete.8
Mutter Montgomery erzog ihre Kinder nach strengen christlichen Prinzipien. Mit achtzehn Jahren lernte Wes auf einem Ball Serene kennen und die beiden heirateten 1943. Noch im selben Jahr kam das erste von sieben Kindern auf die Welt. Wes’ Pflichtbewusstsein seiner Familie gegenüber sollte der Grund dafür sein, dass er erst sehr spät eine Karriere als Profi anstrebte. Wes: „Ich fing als Erster von uns an, Musik zu machen. Um 1945–46 jamten wir jeden Sonntag im Haus meiner Mutter in Indianapolis und ein Klavierspieler und Organist namens Erroll Grandy kam hin und wieder vorbei. Er wusste alles über das Klavier, die Akkorde und so weiter, und er klang wie Art Tatum. Ziemlich schnell hatten meine Brüder keine Lust mehr, bloß zuzusehen. Monk ging los und kaufte sich einen Bass und Buddy begann, Klavier zu spielen, das wurde dann zu einer regelmäßigen Sache ...“9
Wer war Erroll Grandy? Einige Persönlichkeiten aus der Szene der Indiana-Avenue sollte man hervorheben, Menschen die den ganz jungen Wes Montgomery inspirierten und förderten und die heute in Vergessenheit wären, wenn der Stadthistoriker David Leander Williams nicht in seinem Buch Indianapolis Jazz auf sie aufmerksam gemacht hätte10: Erroll Grandy (1918–1991), war ebenfalls ein Cryspus-Attucks-Schüler, Pianist und Organist, fast blind, jedoch mit einem erstaunlichen Gehör und einer starken Autorität ausgestattet. Williams bezeichnet ihn als „Paten“ der Musikszene von Indianapolis, durch dessen „Schule“ die guten Musiker gegangen waren und der die Fähigkeit besaß, Begabungen zu erkennen und zu entwickeln. Grandy war regelmäßig bei den sonntagnachmittäglichen Jam-Sessions dabei, die in Indianapolis bei unterschiedlichen Musikern zu Hause stattfanden, und muss einen starken Einfluss auf Wes und seine Brüder ausgeübt haben. Einen weiteren, stilbildenden Einfluss soll ein Gitarrist namens John Blanchard gehabt haben. Blanchard, ein Cousin von Thad Jones, war Sohn einer schwarzen Kanadierin und eines Franzosen und erinnert sich, wie Wes, damals noch unbekannt, ihn einst aufsuchte, seine Gibson in der Hand. In der anderen hielt er eine Zange, mit der er versuchte, eine Saite zu spannen, deren Mechanik kaputt war, und er sagte zu Blanchard: „Ich habe gesehen dass sie Oktaven spielen, wie machen sie dass denn eigentlich?“. Überhaupt soll Wes sich anfangs schwergetan haben. Er wurde zuerst belächelt weil seine Gitarre zwar laut war, er aber noch nicht besonders gut spielte, doch das änderte sich schnell.
Nach ersten Clubengagements und Jamsessions in seiner Heimatstadt begleitete Wes eine Show, The Brownskin Models, er spielte mit der Gruppe des Pianisten Snookum Russel gemeinsam mit dem damals ebenfalls noch unbekannten Bassisten Ray Brown. Auch J. J. Johnson und Fats Navarro hatten bei Snookum Russel angefangen. Der Pianist war später stolz auf seine erfolgreichen „Zöglinge“, nach eigenen Worten wie ein Trainer, der viele Stars herangezogen hatte, ohne selbst je in der ersten Liga zu spielen.11 Ray Brown erinnert sich noch gut an die Zeit mit Wes: „Er spielte ausgezeichnet, konnte aber überhaupt keine Noten lesen. Normalerweise spielten wir irgendein Stück, Snookum zeigte dann irgendwann auf Wes und der verschlang es dann bei lebendigem Leibe, so ein Gehör hatte er. Natürlich klang er damals ziemlich wie Charlie Christian, aber wenn ein Gitarrist in den Vierzigern nicht nach Christian klang, war er sowieso auf dem falschen Dampfer.“12
Später tingelte Wes mit der Vocalgruppe „Four Jacks and a King“ nach New York, wo auf die Musiker aber nicht der erhoffte Erfolg wartete, sondern das viel zitierte Hungertuch, wie sich Serene später erinnerte13.
Wes’ erster längerer Kontakt mit prominenteren Musikern kam 1948 zustande, als Lionel Hampton ihn nach einem Vorspielen in Indianapolis in sein Orchester aufnahm. Hampton war 1939 Mitglied im Orchester Benny Goodmans gewesen, als Charlie Christian entdeckt wurde, und knapp zehn Jahre danach war Hampton der Erste, der auf Wes Montgomery aufmerksam wurde. Aus dem Hampton Orchestra sind im Laufe der Jahre viele große Jazzmusiker hervorgegangen, wie zum Beispiel Earl Bostic, Illinois Jacquet, Arnett Cobb, Charlie Mingus, Quincy Jones, Clifford Brown, Dinah Washington, Joe Williams oder Dexter Gordon. Wes blieb knapp zwei Jahre dort. Bedauerlicherweise ist die Qualität der meisten Aufnahmen aus dieser Zeit derart miserabel, dass Wes, der ohnehin als Mitglied der Rhythmusgruppe kaum solistisch in Aktion trat, höchstens zu erahnen ist. Auch musikalisch gesehen sind die Aufnahmen der Hampton-Band Ende der Vierziger nicht gerade berühmt. Der Jazzkritiker Leonard Feather schrieb dazu: Die Hampton-Band, die unter der Voraussetzung agiert, dass spannungsvolle Unterhaltung das Hauptziel des Jazz ist, reduzierte den musikalischen Akzent immer weiter, bis sie Anfang der Fünfziger-Jahre gleichermaßen eine Art Rhythm-and-Blues, wie auch Jazz-Attraktion geworden war. Trotzdem blieb sie immer noch ein Medium für die Präsentation vieler großer Talente.14
Von dieser Ära des Hampton Orchestra sind einige Filmaufnahmen erhalten15. Die Auftritte haben mit unserem heutigen Verständnis von Jazzkonzerten relativ wenig gemeinsam: Hampton legte sehr großen Wert auf eine ausgefeilte Choreografie und bot ein unterhaltsames, Variété-artiges Programm, in dem jede Nummer etwas anderes präsentierte: Im Laufe einer Show gab es ein Schlagzeug-Duell zwischen Hampton und seinem Drummer, stepptanzende Kinder, wilde Big-Band-Arrangements und immer wieder Hamp am Klavier mit seinem Zwei-Zeigefinger-Stil, am Schlagzeug mit den Sticks jonglierend oder am Vibrafon, die Zähne fletschend, die Big Band wie eine Kompanie Soldaten hinter ihm. Hampton hatte Wes nicht zuletzt wegen seiner Fähigkeiten, Charlie Christian nachzuspielen engagiert. Doch obwohl er als erster Gitarrist bei Hampton durchgehend verstärkt spielen durfte16, tritt er auf den erhaltenen Plattenaufnahmen solistisch kaum in Aktion da er primär als Rhythmusgitarrist fungierte und seine Akkorde darüberhinaus im Rauschen ziemlich untergehen.
Wes, der nun zum ersten Mal unter Profis arbeitete, litt sehr unter dem knüppelharten Tourneeprogramm, das sich ausschließlich um Bühne, Bus und Bett drehte. Es fiel ihm als Familienvater besonders schwer, so häufig von Frau und Kindern getrennt zu sein, weshalb er nach zwei Jahren bei Hampton das Handtuch warf. Er verließ die Gruppe, bei der er Seite an Seite mit Billie Holiday und Charlie Mingus gespielt hatte, um wieder bei seiner Familie zu leben. Zwischendurch hatte er mit Sonny Parker, dem Sänger des Orchesters, und einigen Musikern aus der Gruppe vier Bluesstücke in kleiner Besetzung aufgenommen, die unter dem Gruppennamen Sonny Parker and his Allstars auf dem Aladdin-Label erschienen. Wes Nachfolge bei Hampton trat erst Rudy Mason an, nach einigen Monaten saß dann aber wieder Hamptons Stammgitarrist Billy Mackel auf seinem alten Platz.
Von dem Tourneeleben mit Lionel Hampton zurück in Indianapolis, bürdete sich Wes, getrieben von dem Druck, seine siebenköpfige Familie zu ernähren, einen unglaublich harten Tagesrhythmus auf: Tagsüber arbeitete er als Milchmann, Bademeister oder als Schweißer, um dann nach Feierabend in den örtlichen Jazzclubs aufzutreten. Und weil es damit noch nicht getan war, ging er danach zur Jam-Session in seine Stammkneipe, dem Missile Room, wo er bis in die frühen Morgenstunden blieb, jedoch ohne einen Tropfen Alkohol zu trinken. In dieser Zeit gab er häufig seine Jobs auf, um in der Umgebung auf Tournee zu gehen. Dabei spielte er mit unterschiedlichen Musikern aus seiner Heimatstadt. Eine begabte Mitschülerin, die Sängerin Flo Garvin (1927–2005), war die erste schwarze Sängerin, die eine Show im amerikanischen Fernsehen bekam. Die Show lief 1951 dreizehn Wochen lang im Fernsehsender WFBM und nannte sich Sentimental Journey. Die Begleitmusiker waren keine anderen als Wes, Monk und Buddy Montgomery sowie der Schlagzeuger Sonny Johnson.
Parallel entwickelten sich auch seine Brüder zu Musikern mit Kaliber. Monk gehörte zu den ersten Bassgitarristen im Jazz. 1951 hatte die Firma Fender den Precision Bass auf den Markt gebracht, der handlicher sein sollte als die sperrigen Kontrabässe und sich durch seinen schärferen Ton besser akustisch durchsetzen sollte. 1953 war Monk auf diesem Instrument so gut geworden, dass Lionel Hampton ihn mit auf seine Europatournee nahm. Bruder Buddy entwickelte sich nach seinem Militärdienst von 1951 bis 1953 ebenfalls zu einem ansehnlichen Pianisten. Zu den Ersten, die versuchten, die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Montgomery-Brüder zu lenken, gehörte der Radiomoderator Dick Buckley1: „Ich will nicht behaupten, ihnen den Weg geebnet oder zum Durchbruch verholfen zu haben, nur habe ich dauernd von dem tollen Jazz erzählt, den ich hier in Indianapolis Anfang der Fünfziger gehört habe. Damals spielten die Montgomerys nicht zusammen. Monk lernte ich zuerst kennen, im Tropic Club, wo die besten Musiker der Stadt spielten, und alle standen auf Monk. Er konnte reine Routine zu einem Fest machen. Bassisten können das Publikum leicht hinters Licht führen, aber nicht die Leute auf der Bühne, und das größte Kompliment für Monk war dass die Musiker es nicht mochten, wenn bei den Sessions jemand anderes den Bass übernahm. Buddy spielte damals mit einer Gruppe in Cincinatti. Ich hatte ihn noch nicht gehört, aber man sagte, dass er der swingendste Pianist der ganzen Gegend sei. Ich kann mich daran erinnern, dass ein junger Pianist von der Musikhochschule eine Bemerkung über Buddys Mangel an klassischem Klavierunterricht machte. Er schüttelte frustriert seinen Kopf und sagte ,Dieser Kerl spielt und spielt, und er weiß noch nicht mal, was er da eigentlich tut!’ Wes war natürlich das lokale Phänomen. Einer seiner Freunde sagte einmal: Farlow, Kessel und Rainey spielen vielleicht für New York oder Hollywood ganz gut Gitarre, aber sie sollten sich besser nicht in Indianapolis blicken lassen.
Als Lionel Hampton in die Stadt kam, nachdem Monk zu ihm gestoßen war17, brachte Monk zu einer unserer Samstagnachmittag-Sessions seinr Fender– bassgitarre mit und alle Bassisten probierten sie natürlich aus. Sie lachten darüber, das Ding wie eine Gitarre auf dem Schoß zu spielen. Leroy Vinnegar schlug sich wacker, indem er sie auf einen Stuhl stellte und wie ein Kontrabass zupfte, aber Wes haute alle um. Nachdem er sich kurz mit dem Instrument vertraut gemacht hatte, spielte er den tollsten Basslauf, den ich jemals gehört habe.
Ich hing viel mit den Musikern herum. Meine Sendung lief abends von elf Uhr bis Mitternacht, und da die Klubs auch um Mitternacht Schluss machten, entstand die Idee, im Studio ruhige, abgeschlossene Gigs nach Sendeschluss zu veranstalten. Ich konnte so anständige Musik hören, die Jungens konnten ordentlich spielen, und zum Spaß konnten wir einige Aufnahmen machen. Die erste dieser Sessions bestand aus der Gruppe aus dem Tropic Club, Wes und Monk, Charlie Mastrapaolo, Willie Baker, Roger Jones und John Bunch, also die Creme aus Indianapolis. Beim Aufwärmen lief alles glatt, aber sobald die Mikros angeschaltet wurden, wollte Wes kein Solo mehr spielen. Er war dazu einfach nicht mehr zu bewegen, bis er, fast um sich selbst zu verteidigen, dann doch loslegte. Und dann kam der Schock: Nichts passierte! Er war so nervös und angespannt dass alles, was ihn zu so einem großartigen Gitarristen machte, sein Rhythmusgefühl und seine Phrasierungen, wie weggefegt waren. Er klang wie irgendein dahergelaufener Gitarrist. Ein derartiges Lampenfieber habe ich noch nie bei irgendjemandem erlebt.18 Bedauerlicherweise gelten diese, wie auch die Aufnahmen, die der aufstrebende Quincy Jones damals von dieser Formation machte, als verschollen. Wes meinte viele Jahre später, er habe um 1955 mehr und besser gespielt als in den Sechzigern, und Les Spann, ebenfalls ein „Daumenzupfer“, war Wes bereits 1953 begegnet und sehr beeindruckt. Wes spielte damals in zwei Formationen, in denen er auch in späteren Jahren bleiben sollte: dem Orgel-Trio mit Melvin Rhyne und wechselnden Schlagzeugern, sowie einer konventionellen Quartett-Besetzung mit seinen Brüdern, die durch unterschiedliche Saxofonisten ergänzt wurde.
Mitte der Fünfziger mieteten Buddy, Monk und Ervena ein zweistöckiges Haus in der Kenwood Avenue, das sie als Wohngemeinschaft bewohnten. Das Wohnzimmer war geräumig und wurde zum permanenten Proberaum, nachdem sie dort ein Klavier hineingebracht hatten. Es wurde auch zu einem Refugium für Wes, der sich dort häufig nach seiner Frühschicht aufhielt um Gitarre zu üben oder – fernab von Kinderlärm - ein Nickerchen zu machen, bevor die anderen kamen. Sie probten dort regelmässig und nach und nach stießen andere Musiker wie Freddie Hubbard zu dieser Runde. so dass sie eines Tages im „Turf Club“ auftraten, wo sie Be Bop mit Gitarre als Soloinstrument spielten, was für die Zeit ausgesprochen ungewöhnlich war. Trotz der relativ liberalen Rasssensituation in Indianapolis gab es Clubs für Schwarze und Weisse, und der „Turf Club“ hatte weisses Publikum.19
Melvin Rhyne erinnert sich noch gut an diese Anfänge: „Ich lernte Wes kennen, als er im Cotton Club in Indianapolis spielte, einer Art After-Hours-Adresse. Alle bewunderten ihn und es war toll, so eine Art wandelnde Musikschule zu hören. Eines Abends wollten wir ihn richtig reinlegen: Wir fingen an, einen ganz abgefahrenen, dreckigen Blues zu spielen, um zu sehen, ob er daraus noch etwas machen könnte. Er brauchte einen Chorus, um aus dieser zerdrückten Birne etwas Wunderschönes zu machen. Er war wie eine Katze, die immer auf den Füßen landet.“20 Rhyne wurde Wes Organist. Wie Wes hatte auch er die Crispus-Attucks-Highschool besucht, jedoch einige Jahre nach Wes. Er selbst war kein unbeschriebenes Blatt. Ursprünglich Pianist, hatte er aus kommerziellen Gründen Mitte der Fünfziger-Jahre an die Orgel gewechselt, da er sich davon attraktivere Engagements versprach, und in den Jahren zuvor Roland Kirk sowie die Bluesgrößen T-Bone Walker, B. B. King und Aretha Franklin begleitet. 21
Die andere Formation, das Montgomery/Johnson Quintet, wurde durch Alonzo „Pookie“ Johnson (ts) und Sonny Johnson (dr) vervollständigt. Sonny Johnson hatte bereits 1953 mit Monk Montgomery Lionel Hampton auf seiner Europatournee begleitet und im selben Jahr hatten beide gemeinsam mit Quincy Jones auf einer Platte Art Farmers22 mitgespielt. Für das Columbia-Label bzw. dessen Tochterlabel EPIC, auf dem die weniger kommerziellen Künstler publiziert wurden, nahmen die Montgomery Brothers 1955 einige Titel auf, die nicht veröffentlicht wurden, lediglich Love for Sale erschien viele Jahre später auf einem CBS-Sampler mit dem denkwürdigen Titel Almost Forgotten23, auf dem eine Reihe bislang unveröffentlichter Aufnahmen aus Castings von John Hammond für das Columbia-Label veröffentlicht wurden. Erst 2014 wurden die anderen Aufnahmen dieser Session veröffentlicht und man erinnerte sich daran, dass die Session vom damals noch unbekannten Quincy Jones geleitet wurde. Von dieser Zeit berichtet der Schlagzeuger Benny Barth: „Damals in Indianapolis spielte Buddy Montgomery Klavier – und er ist bis zum heutigen Tage einer der besten Pianisten die ich kenne, aber 1955 oder 56 bekam er ein Vibrafon und wir begannen, bei ihm zu Hause zu üben. Er spielte Vibrafon, und ich Schlagzeug. Al Plank spielte Klavier und Wes Bassgitarre. Es war interessant, Wes Bassgitarre spielen zu hören, weil er sie bei seinen Soli wie eine Gitarre klingen ließ. Wir traten ein paarmal auf und nannten uns The Indianapolis Jazz Quartet, aber zu einer großen Sache wurde das nicht, und wir hatten auch keine regelmäßigen Gigs. Dann, im Dezember 1956 oder im Januar 1957, rief Monk an und sagte, er hätte die Möglichkeit, mit einem Quartett in Seattle aufzutreten. Al konnte nicht mitkommen, aber dafür hatte Richard Crabtree Zeit, der damals in Sidney/Montana war. Also fuhren wir hoch nach Seattle, wo wir uns mit Richie trafen. Dort traten wir eine Zeit lang im Dave’s Fifth Avenue auf und spielten auch im Congo Club in Tacoma. Wir wollten uns nicht mehr The Indianapolis Jazz Quartet nennen, und Buddys Frau schlug uns dann den Namen The Mastersounds vor. Ich wäre auch mit The Buddy Montgomery Quartet oder The Monk Montgomery Quartet zufrieden gewesen....“24
Aus Benny Barths Erinnerungen lässt sich schließen, dass Wes an dieser Tour nicht teilnahm, da die Gruppe sonst kein Quartett mehr gewesen wäre. Monk war nach seiner Erfahrung in Seattle davon überzeugt dass eine gute Gruppe die Chance hätte, in dieser Stadt Arbeit zu finden, und er behielt Recht: Am 14. Januar 1957 gaben die Mastersounds ihr Debut mit einem dreimonatigem Engagement im „Dave’s Blue Room“ in Seattle. Nach diesem Anfangserfolg namen sie ein Demo Band auf, legten ihr Geld zusammen und schickten Monk mit dem Band an die Westküste um Engagements zu finden. Monk traf Ray Gorum, den Manager des „Jazz Showcase“ in San Francisco. Der hörte sich das Band an und engagierte die Gruppe25. Der ebenfalls aus Indianapolis stammende Bassist Leroy Vinnegar war bereits drei Jahre vor den Mastersounds an die Westküste gezogen. Er spielte das Band Dick Bock vor, dem Chef und Gründer des Pacific-Labels, der die Mastersounds dann prompt unter Vertrag nahm.
In den Fünfziger-Jahren herrschte in Kalifornien ein gesellschaftliches Klima, das sich vom Rest der USA stark unterschied. Als Reaktion auf die streng bürgerliche und antikommunistische Eisenhower-Ära, in der Disziplin, Karrierebewusstsein und Patriotismus als Lebensziele propagiert worden waren, hatte sich in Kalifornien eine intellektuelle Subkultur gebildet. Beeinflusst durch die Bebop-Musiker der Ostküste und durch Schriftsteller wie Jack Kerouac und Allen Ginsberg war die Beat-Generation entstanden. Ihre Protagonisten, die Beatniks brachen die ersten gesellschaftlichen Tabus, sie ließen sich Bärte wachsen, trugen Sonnenbrillen und karierte Hemden. Nach heutigem Ermessen waren es eher Nichtigkeiten wie ein ungewöhnliches äußeres Erscheinungsbild, ein spezieller Musikgeschmack oder eine asketische Lebensweise, mit denen die Beatniks auf sich aufmerksam machten. Nach den Maßstäben der Eisenhower-Ära war aber schon das Tragen eines Bartes vergleichbar mit der Provokation, die in den Sechzigern die Pilzköpfe der Beatles oder in den späten Siebzigern die Irokesenschnitte der Punks auslösten. Ein Schwerpunkt der Beatnik-Kultur waren die Dichterlesungen. Die Autoren ließen sich oft von kleinen Jazzcombos begleiten, da ihnen die akustische Darstellung oft wichtiger war als das geschriebene Wort.
Einer der Protagonisten der Westcoast-Jazzszene war Gerry Mulligan, dessen Platten, wie die der Mastersounds, von Bock produziert wurden. In der Blüte der neuen Beat-Bewegung feierten die Mastersounds beachtliche, wenn auch lokale Erfolge. Buddy Montgomery, am Vibrafon inzwischen stark von Milt Jackson beeinflusst, verpasste den Mastersounds einen programmatischen kammermusikalischen Stil, dessen Ähnlichkeit mit dem des MJQ mehr als auffällig war und später bei den Kritikern Skepsis hervorrief. So schrieb Walter Hein seinerzeit im deutschen Jazz Podium 1959: "Was für Buddy Montgomerys Arrangements gilt, trifft auch für seine instrumentalen Beiträge zu: Alles ist technisch und musikalisch einwandfrei, trägt auch rein äußerlich die Merkmale des Jazz, und dennoch vermag es den Jazzfreund nur sehr bedingt zu fesseln. Obwohl sein Vibrafonspiel stilistisch eindeutig von Milt Jackson beeinflusst ist, erheben sich Welten der Trennung zwischen den solistischen Darbietungen Buddys und einem der in jeder Phase von konzentriertestem Swing und Jazzfeeling getragenen Chorusse Milt Jacksons.“26
Die erste Mastersounds-Platte Jazz Showcase Introducing the Mastersounds27 bestand nach bewährtem Strickmuster aus Standards und Kompositionen der beteiligten Musiker. Außerdem enthält das Album die erste Plattenaufnahme eines Titels von Wes: Wes' Tune, der wenig später nochmals mit Wes für die Montgomery-Brothers-LP Montgomeryland eingespielt werden sollte. Wenngleich die erste Platte der Gruppe erfolgreich war, war es doch erst das zweite Album, das die Mastersounds ins Rampenlicht brachte. Buddy Montgomery schlug vor, ein Album mit Titeln aus dem Rodgers and Hammerstein Musical The King and I zu machen, das bereits erfolgreich verfilmt worden war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Mastersounds nach einer funkigeren Ausgabe des Modern Jazz Quartet geklungen, aber mit The King and I hatte die Band einen Stil geschaffen, der ganz und gar im Einklang mit dem Geschmack der Plattenkäufer lag. Es folgten ähnliche Projekte: Kismet und Flower Drum Song ... Die Platten erwiesen sich als Verkaufsschlager, da die Plattenkäufer bei Neuvertonungen von Musicals leichter einen Bezug zur Musik entwickeln konnten wenn sie das Musical bereits kannten, stießen jedoch bei den Kritikern auf Ablehnung; die Musik wurde als oberflächlicher "Dinner-Jazz" abgetan.
Abgesehen von seinem Gastauftritt auf dem Kismet-Album gehörte Wes nicht zu den Mastersounds. Wann immer es jedoch trotz der großen Entfernung zwischen Indianapolis und Kalifornien möglich war, trafen sich Buddy und Monk mit Wes. Ende 1957 entstand in Chicago kurz vor Silvester das erste Album der Brüder: The Montgomery Brothers and 5 Others,28 und am Ende der Aufnahmesession nahm Wes, nur von der Rhythmusgruppe begleitet, sein Finger Pickin' auf – ein improvisierter Blues, um noch einen weiteren Titel für das Album zu haben. Finger Pickin’ erschien als Single und wurde erfolgreicher als das Album. Durch dieses Album wurde er zwar unter Insidern bekannt, doch die Platte verkaufte sich nicht gut und da Wes in Indianapolis bleiben wollte, konnte die Gruppe in der Besetzung nicht permanent bestehen. Im April 1958 entstanden in Kalifornien weitere Aufnahmen der drei Brüder, mit jeweils unterschiedlichen Schlagzeugern sowie Harold Land am Tenor- und später Pony Poindexter am Altsaxofon, sowie eine Platte mit dem Sänger Jon Hendricks und den Adderley Brothers.
Wes Aufenthalte in Los Angeles blieben stets Gastspiele, und seine beiden Brüder behielten die Mastersounds als stabileres zweites Standbein. Zurück im Mittleren Westen begleitete er mit Alonzo „Pookie“ Johnson im Sommer 1958 eine schwarze Rhythm-and-Blues-Gesangsgruppe mit dem Namen The Five Stars, dadurch kam er zu einigen Jobs als Studiogitarrist der Jack Sheldon Studios in Chicago, wo er auch Kontakt zu Chuck Berry hatte und für das Note-Label auf einigen Rhythm-and-Blues-Singles mitspielte.
1959 und 1960 entstanden weitere Alben der Mastersounds, jedoch ohne Wes: Ballads and Blues, The Mastersounds in Concert, Happy Holidays und The Mastersounds play Horace Silver. Die drei Alben der Montgomery-Brothers und die acht Alben der Mastersounds, die bei Pacific produziert wurden, sind heute ziemlich in Vergessenheit geraten, genau wie das kleine Pacific-Label selbst, das im Laufe der Jahre von größeren Plattenfirmen geschluckt wurde. In dieser Zeit lebte Wes nach wie vor in Indianapolis, da das Intermezzo bei Pacific nicht den erhofften Durchbruch gebracht hatte.
Sonny Johnson, Wes Montgomery und Melvin Rhyne 1959 im Essex House (Foto: Duncan Scheidt)
1 Dick Buckley (1924–2010) wurde später zu einem prominenten Moderator von Jazzsendungen in Chicago. Er blieb ein großer Fan Wes Montgomerys und hinterließ eine stattliche Plattensammlung (ca. 9.000 LPs) die nach seinem Tod versteigert wurde.
Wes hatte den größten Teil des Jahres 1959 in Indianapolis verbracht, als am 7. September im „Indiana Theatre“ eine Auswahl der Musiker, die beim Newport Jazz Festival aufgetreten waren, gastierte. Unter anderem spielte dort das Lennie Tristano Trio mit Wayne Marsh und Lee Konitz sowie die Bigband von George Shearing, zu der damals Nat und Cannonball Adderley gehörten. Während der Pause kam Wes Montgomery hinter die Bühne, mischte sich unter die Musiker und lud sie ein, nach dem Konzert in den „Missile Room“ zu kommen, was die Adderleys, die schon einiges über Wes gehört hatten, sich ohnehin vorgenommen hatten. Beim „Missile Room“ handelte es sich um eine typische „After-Hours“-Adresse: ein Club, in dem bis weit nach den offiziellen Öffnungszeiten musiziert und getrunken wurde, und der in erster Linie von Schwarzen frequentiert wurde. Die Behörden tolerierten diesen Gesetzesbruch weitgehend, schickten jedoch gelegentlich einige Polizisten vorbei, die dann für Ordnung sorgen mussten. Hin und wieder wurde der Club auch für kurze Zeit geschlossen, um dann später zu seinem gewohnten Tagesrhythmus zurückzufinden. Wenn es im Leben Wes Montgomerys eine Sternstunde gegeben hat, die für seinen endgültigen musikalischen Durchbruch sorgte, dann fand sie in dieser Nacht gegen zwei Uhr morgens im „Missile Club“ statt: „Cannonball Adderley und die beiden blinden Pianisten Shearing und Lennie Tristano betraten den Raum, und nachdem Wes sie begrüßt hatte, setzten sie sich in eine dunkle Ecke. Das Trio, bestehend aus Wes, Mel Rhyne an der Hammondorgel und Sonny Johnson am Schlagzeug begann zu spielen und bevor das erste Stück vorbei war, hatte sich Adderley nach vorne mitten vor die Bühne gesetzt. Völlig von Wes Spiel fasziniert, blieb er den Rest des Abends wie angewurzelt dort sitzen.29Cannonball Adderley war von Wes so überwältigt, dass er“, so sein Bruder Nat später, „seinen Produzenten Orrin Keepnews am liebsten mitten in der Nacht angerufen hätte, wenn es dort nur ein Telefon gegeben hätte.“30„Sie versuchten es bei einer naheliegenden Tankstelle, aber die war schon geschlossen, es war immerhin schon drei oder vier Uhr Morgens. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als Keepnews am nächsten Tag nach der Rückkehr in New York zu unterrichten.“31„Man sagte uns, dass so ein Gitarrist spät in der Nacht dort auftrat, dass er erst gegen zwei Uhr Morgens anfing. Er trat in einem Barbecue-Laden auf und wir waren so beeindruckt, dass wir unseren Produzenten anriefen, um vier Uhr morgens, und ihm sagten er solle sofort herkommen, dieser Gitarrist spiele unglaubliche Sachen, so beflügelt, und mit Oktaven und allem. Wir saßen da und hörten uns das an und dachten ,Meine Güte’, und dann fanden wir heraus dass er sogar noch nicht mal Noten lesen konnte. Wir hatten studiert! An der Universität! Sie können sich gar nicht vorstellen wie es ist, da zu sitzen und sich einzugestehen dass man nichts von dem versteht was dieser Mann da tut!“32
Orrin Keepnews war der künstlerische Leiter des Riverside Labels. Seine große Liebe zum Jazz hatte ihn mit Bill Grauer zusammengebracht, dem Chefredakteur und Herausgeber des Fachblattes für Jazzplattensammler The Record Changer, der seit 1948 existierenden „Bibel“ für die Liebhaber von Traditional-Jazzplatten. Neben seiner Tätigkeit in einem Verlag arbeitete Keepnews in seiner Freizeit bei Grauers Zeitschrift, schrieb Artikel, sorgte für die Vervielfältigung und erledigte alle möglichen Büroarbeiten. Irgendwann entschlossen sie sich, alte Jazzaufnahmen wieder zu veröffentlichen, die in den Zwanziger- und Dreißigerjahren bei obskuren Labels erschienen waren, und sicherten sich die Rechte an alten Aufnahmen die bei Gennet und Paramount erschienen waren.33 Keepnews selbst beschrieb die Entstehung des Riverside-Labels folgendermaßen: „Früher hatte es gelegentlich Wiederveröffentlichungen großer Labels und haarsträubende Raubpressungen gegeben, aber noch keine kontinuierlichen Wiederveröffentlichungen seltener Werke bekannter Jazzmusiker. Anfangs hatten wir uns zwar die Rechte an den Aufnahmen des seit Langem entschlummerten Paramount Labels gesichert, aber an die eigentlichen Originalaufnahmen heranzukommen, war ein ganz anderes Problem. Seit einem Brand Mitte der Dreißiger existierte kein einziges Paramount-Original mehr. Glücklicherweise hatten wir aufgrund unserer Tätigkeit Zugang zu erstklassig erhaltenen Shellack-Platten, und Sammler wie John Hammond halfen uns ebenfalls mit gut erhaltenem Material aus. Die Toningenieure der Reeves Sound Studios entwickelten nie dagewesene Methoden zur Aufarbeitung dieser wertvollen Musikaufnahmen, und so entstand die ,Jazz Archives’-Serie, die von Anfang an beim Publikum und bei der Kritik gut aufgenommen wurden. Sofort kamen die Rechte an den Geffen-Produktionen hinzu, herausragende Aufnahmen von Louis Armstrong, Bix Beiderbecke, King Oliver, Jelly Roll Morton u. a."34
Im November 1952 erschien die erste Riverside-Platte: Eine 10-Zoll-LP namens Louis Armstrong Plays The Blues mit Aufnahmen, die Anfang der Zwanziger mit der King Oliver's Creole Jazzband entstanden waren, vermutlich die ersten Aufnahmen schwarzen Jazz’ überhaupt. Anfangs ein reines „Traditional" Label, begann Riverside den Katalog um 1955 zu erweitern: Man nahm Randy Weston, Mundell Lowe und später Bill Evans unter Vertrag. Für den lächerlichen Betrag von 108 Dollar und 27 Cent kaufte Keepnews 1955 den erfolglosen Thelonious Monk vom Prestige-Label frei. Keepnews hatte den richtigen musikalischen Riecher und im Gegensatz zum enttäuschten Bob Weinstock glaubte er noch an die Möglichkeit, den schwierigen Pianisten mit seinem kantigen Stil erfolgreich verkaufen zu können, was ihm bis 1962 gelang.35 „Für unsere Künstler entwickeln wir ein langfristiges Programm", sagte Keepnews „wir denken mehr an ihre Entwicklung als an die Verkaufszahlen ihrer ersten Platten. Unser Vertrauen in das Potential von Leuten wie Monk oder Cannonball Adderley hat sich schon ausgezahlt. Jetzt wird uns klar, wie unser Vertrauen in Bill Evans, Blue Mitchell und Johnny Griffin belohnt werden wird." Keepnews schwörte auf eine entspannte Atmosphäre im Studio. Er schielte nicht auf die Uhr und glaubte, dass man den Künstler nicht in einen Zeitplan hineinpressen könne. „Es muss einem klar werden, dass manche Musiker sich immer verspäten, sogar wenn man sie anschwindelt und ihnen als Termin eine Uhrzeit nennt, die eine Stunde vor der tatsächlichen Anfangszeit liegt."36 Neben den Jazzplatten, für die Orrin Keepnews als A&R-Mann verantwortlich war, erschienen bei Riverside unter der Federführung von Bill Grauer eine Reihe von Folk-Platten und so ausgefallene Dinge wie eine LP mit den Geräuschen eines Autorennens.
Keepnews erinnert sich daran, von Cannonball Adderley nach dessen denkwürdigem Abend in Indianapolis beinahe überfallen worden zu sein: „Als Adderley von seiner Tournee zurückkam, stürzte er in das Riverside-Büro und stammelte so etwas wie: Es gibt da einen Gitarristen in Indianapolis... den mußt du unbedingt für das Label kriegen ... hier ist seine Telefonnummer! Eigentlich gehört Cannonball zu der Sorte von Leuten, die, wenn es um die Bewertung neuer Jazztalente geht, nicht leicht zu begeistern sind, daher hätte mir seine Euphorie völlig gereicht. Aber am selben Tag griff ich zu einer Ausgabe des Jazz Review, in der der Musikkritiker Gunther Schuller, im Allgemeinen ein sachlich-gemäßigter Schreiber, Superlative für Montgomery benutzte, die sonst nur von den Autoren der Klappentexte auf Schallplatten verwendet werden."37 Schuller war bereits im Frühling 1959 bei einem Aufenthalt in Indiana auf Wes aufmerksam geworden, was ihm einen längeren Artikel im Jazz Review wert war: „Ich hörte dort ein Trio aus Gitarre, Orgel und Schlagzeug von so einer überragenden Qualität, dass es kaum zu glauben ist, dass noch keiner der New Yorker Musiker, Musikjournalisten oder Kritiker von ihnen gehört oder geschrieben hätte. Es ist typisch amerikanisch, dass wir in unserem Land einerseits ein großes Potenzial an Begabungen haben, aber gleichzeitig unsere Talente ignorieren oder verschwenden. Leider denken wir in New York immer nur an New York, wenn wir an Jazz denken, genau wie die Jazzkritiker eine Generation zuvor immer nur an New Orleans dachten. Wer weiß, was für Lokaltalente unbekannt blieben, nur weil sie niemals auf Platte zu hören waren. (...) Was man am leichtesten über Wes Montgomery sagen kann, ist, dass es sich bei ihm um einen ausgesprochen spektakulären Gitarristen handelt. Indem er sich von Anfang an ein unerreichbares Ziel setzt, hält er den Zuhörer die ganze Zeit über vorne auf der Kante seines Stuhls gebannt, während er selbst über sechs bis zehn Chorusse jede musikalische Hürde mit Bravour nimmt und sich zum Höhepunkt vorarbeitet. Das ist sowohl physisch als auch musikalisch faszinierend. Den ganzen Abend über leisteten sich Montgomery und Rhyne Duelle in jagenden Soli und Simultanimprovisationen. An einem Punkt steigerte sich Montgomery in ein völlig abgehobenes Blockakkordsolo hinein, nur um festzustellen, dass sein Solo Ton für Ton nachgespielt wurde – von Rhyne an der Orgel. Als Wes merkte, was gespielt wurde, stieg er selbst wieder ein und spielte sein Solo unisono gemeinsam mit Rhyne zu Ende. In solchen Momenten wirkten die Drei wie verhext. Leider ist eine derartige ,musikantische’ Spielfreude heutzutage allzu selten geworden. Wes Montgomery gehört zu den fröhlichsten Musikern, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin.“38
Keepnews griff also nach der Lektüre dieses denkwürdigen Artikels sofort zum Telefon: „Ich erinnere mich daran, bei Montgomerys zu Hause angerufen zu haben und eine Nachricht bei irgendeinem Kind (unvermeidlich) hinterlassen zu haben. Dann flog ich nach Indianapolis und checkte in einem Hotel ein, das ich kaum brauchen würde. Am Abend fand ich dann die Turf Bar, gewissermaßen die örtliche Montgomery-Zentrale, einen großen, ovalen Raum, in dessen Mitte sich die Bar und die ,Bar-Band’ befanden. Ich setzte mich auf einen Barhocker direkt vor Wes, und es war nur eine Frage von Sekunden, bis mir klar wurde, dass ich hier etwas völlig anderes hörte als eine Bar-Band. Ich erinnere mich immer noch daran, dass trotz meiner völlig gesunden Augen sein Daumen bei den schnellen Stücken regelrecht flimmerte. Ich war sofort völlig von Wes überzeugt, und meine Überzeugung verstärkte sich im Verlauf des Abends – der ganzen Nacht: Gegen Mitternacht, als Wes in der Turf Bar fertig war, gab es eine kurze Pause zum Essen und Unterhalten, und dann ging es im Missile Room weiter, dem illegalen, aber geduldeten After-Hours-Club, in dem die Adderleys Wes gehört hatten. Montgomery spielte und ich lauschte bis etwa sechs Uhr früh, als der Morgen über dem Mittleren Westen dämmerte und mir langsam mulmig wurde. Ich zückte den Vertrag, den ich die ganze Nacht über in meiner Jacke gehabt hatte. Es war der dreiseitige Standardvertrag der Amerikanischen Musikergewerkschaft, bereits ausgestellt, mit dem Datum vom 23. September 1959 und meiner Unterschrift versehen, und ab sofort war Wes Montgomery exklusiv bei Riverside unter Vertrag.“39