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West-östlicher Divan (erschienen 1819, erweitert 1827) ist die umfangreichste Gedichtsammlung von Johann Wolfgang von Goethe. Die Gedichtsammlung ist in zwölf Bücher eingeteilt. Ein hoher Anteil der Gedichte geht auf Goethes Briefwechsel mit Marianne von Willemer zurück, von der auch einige Gedichte des Divan stammen. (aus wikipedia.de)
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Seitenzahl: 342
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West-östlicher Divan
Johann Wolfgang Goethe
Inhaltsverzeichnis:
Johann Wolfgang von Goethe – Biografie und Bibliografie
West-östlicher Divan
Buch des Sängers
Buch Hafis
Buch der Liebe
Buch der Betrachtungen
Buch des Unmuts
Buch der Sprüche
Buch des Timur
Buch Suleika
Das Schenkenbuch
Buch der Parabeln
Buch des Parsen
Buch des Paradieses
Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans
West-Östlicher Divan, J. W. Goethe
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849616618
www.jazzybee-verlag.de
Der größte Dichter deutscher Nation, geb. 28. August 1749 in Frankfurt a. M., starb 22. März 1832 in Weimar.
Goethes Geschlecht.
Die Spuren des Goetheschen Geschlechts weisen bis in die Mitte des 17. Jahrh. und ins sächsisch-thüringische Gebiet zurück (vgl. Düntzer, Goethes Stammbäume, Gotha 1894). Goethes Urgroßvater Hans Christian G. saß als Hufschmied zu Artern an der Unstrut (im Mansfeldischen); dessen Sohn Georg Friedrich, ein tatkräftiger, bewußt vorwärts strebender Mann, ließ sich 1687 in Frankfurt als Schneidermeister nieder und ward infolge seiner zweiten Heirat mit Cornelia Schellhorn, gebornen Walther, Gastwirt im »Weidenhof« (vgl. R. Jung, Georg Friedrich G., in der »Festschrift zu Goethes 150. Geburtstagsfeier, dargebracht vom Freien Deutschen Hochstift«, Frankf. 1899). Seinen jüngern Sohn, Johann Kaspar (getauft 31. Juli 1710, gest. 27. Mai 1782), ließ er die Rechte studieren, nach der Promotion in Wetzlar und Regensburg seine weitere Ausbildung suchen und nach Italien reisen. Heimgekehrt, bewarb sich Johann Kaspar G. um ein städtisches Amt, wurde aber zurückgewiesen und faßte deshalb den Entschluß, auf jede bürgerliche Anstellung in seiner Vaterstadt zu verzichten. Er wußte sich den Titel eines kaiserlichen Rates zu verschaffen und lebte bei behäbigem Wohlstand in seinem Haus am Frankfurter Hirschgraben (gegenwärtig im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts) ehrbar und ernst der Erziehung seiner Kinder und seinen künstlerischen Liebhabereien, erfuhr aber mehr und mehr in kleinlichem Tun die niederdrückenden Einflüsse eines unausgefüllten, berufslosen Daseins (vgl. Felicie Ewart, Goethes Vater, Hamb. 1899). Seine Gattin, Katharina Elisabeth (geb. 19. Febr. 1731, gest. 13. Sept. 1808), die Tochter des hochangesehenen Schultheißen Johann Wolfgang Textor, war 21 Jahre jünger als er und bildete mit ihrer naiven Lebhaftigkeit, ihrer Herzenswärme und unerschütterlichen Frische der Phantasie einen auffälligen Gegensatz zu seiner schwerfälligen Strenge. Sie, die als »Frau Rat« oder als »Frau Aja« (so hieß die Mutter der vier Haimonskinder), des großen Sohnes würdig, fortleben wird im Gedächtnis der Menschen, besaß die wunderbare Gabe, jung und alt durch die Liebenswürdigkeit ihres Herzens und ihre lebhaft-urwüchsige Rede zu fesseln. Die »Briefe von Goethes Mutter an die Herzogin Anna Amalia«, herausgegeben von Burkhardt (»Schriften der Goethe-Gesellschaft«, Bd. 1, Weim. 1885), verraten ihre unbefangene Herzlichkeit gegenüber dieser verständnisvollen Gönnerin ihres Sohnes. Und als ihr »Hätschelhans« Christiane Vulpius ohne das Band der Ehe zu der seinen machte, war sie, die es haßte, jemand zu »bemoralisieren«, ohne lange Bedenken bereit, der »Tochter« Herz und Haus zu öffnen (vgl. »Briefe von Goethes Mutter an ihren Sohn, Christiane und August v. G.«, in den »Schriften der Goethe-Gesellschaft«, Bd. 4, Weim. 1889; ferner Heinemann, Goethes Mutter, 7. Aufl., Leipz. 1904). Der älteste Sohn von Johann Kaspar und Elisabeth G. war unser Dichter; von mehreren nachgebornen Geschwistern blieb nur die Tochter Cornelia Friederike Christiane (geb. 7. Dez. 1750, seit 1773 mit J. Georg Schlosser vermählt, gest. 8. Juni 1777 in Emmendingen) am Leben; sie, dem Dichter äußerlich wie innerlich unähnlich, stand doch seinem Herzen besonders nahe (vgl. Witkowski, Cornelia, die Schwester Goethes, Frankf. 1902).
Goethes Leben bis zur Übersiedelung nach Weimar (1749–75).
Die ersten Jugendeindrücke Goethes trugen viel dazu bei, seine Phantasie anzuregen und seine geistigen Anlagen zu fördern; die Naturbilder der schönen Umgebung, die historischen Erinnerungen der verkehrsreichen Vaterstadt, vor allem aber die Ereignisse des Siebenjährigen Krieges beschäftigten den jugendlichen Geist, und als vollends im Januar 1759 die verräterisch den Franzosen übergebene Stadt unmittelbar in die Kriegsunruhen hineingezogen und jahrelangen Einquartierungen überliefert wurde, fehlte es nicht an mannigfaltigen Schauspielen, die das Kindergemüt bewegten. Im Hause von Goethes Vater war der »Königsleutnant« Graf Thoranc (G. schreibt in »Dichtung und Wahrheit« irrtümlich Thorane) untergebracht, der die höchste Polizeigewalt bei Streitigkeiten zwischen Militär und Zivil besaß (vgl. Schubart, François de Théas Comte de Thoranc, Goethes Königsleutnant, »Dichtung und Wahrheit«, 3. Buch, Münch. 1896; Grotefend, Der Königsleutnant Graf Thoranc in Frankfurt, Frankf. 1904). Reibereien und heftige Auftritte zwischen Thoranc und dem Rat G., vielfache Störungen des Unterrichts, den teils Goethes Vater selbst, teils Privatlehrer erteilten, vermehrten die Unruhe des jugendlichen Geistes. Sein Interesse für Kunst wurde durch die von Thoranc wie von dem Rat G. im Hause beschäftigten Frankfurter und Darmstädter Maler genährt; seine Liebhaberei für Drama und Bühne durch häufigen Besuch des französischen Theaters fast zu früh angeregt. Der vielseitige Unterricht war auf Realien und formale Fertigkeiten gerichtet und nicht einwandfrei, wurde aber trotz zersplitternder Reichhaltigkeit mit überraschender Leichtigkeit bewältigt. Der frühreife Geist übte sich in mannigfaltigen poetischen Versuchen, von denen uns jedoch nur spärliche und nicht viel besagende Reste erhalten sind. Das leidenschaftliche Gemüt des Fünfzehnjährigen wurde durch die Liebe zu »Gretchen« tief erregt, über die wir jedoch nur die poetisch ausgeschmückte Darstellung in »Dichtung und Wahrheit« kennen. Die peinliche Verbindung mit zweifelhaften Jünglingen geringern Standes, die wegen bedenklicher Handlungen in gerichtliche Untersuchung gezogen wurden, vermehrte den verworrenen Zustand des Jünglings, der infolgedessen auch von den Festlichkeiten bei der Krönung Josephs II. nur schattenhafte Eindrücke gewann.
Auf der Universität Leipzig, die G. im Oktober 1765 als Student der Rechte bezog (er nahm seine Wohnung in dem Hause »Zur Feuerkugel« zwischen der jetzigen Universitätsstraße und dem Neumarkt), wurden diese Zustände leidenschaftlicher Verwirrung im ganzen nur noch gesteigert. Die Stadt machte auf ihn einen bedeutenden Eindruck, die Universität weniger. Gellert war von hypochondrischer Schwäche schon allzusehr niedergedrückt, um dauernd und tief wirken zu können; der Betrieb der philosophischen Lehren war ungefähr derart, wie ihn Mephisto im »Faust« beschreibt, die verknöcherte Juristerei nicht besser. Der literarische Geschmack in Leipzig stand jedoch verhältnismäßig hoch: in solchem Kreise sah der Dichter ein, daß seine bisherigen Versuche nichts wert seien; er warf den größten Teil seiner Papiere ins Feuer und beherzigte fortan den Grundsatz, nur Selbsterlebtes und dieses in möglichst knapper Form zu gestalten. Freilich blieb er auch jetzt noch in konventionellen Gefühlen befangen. Sein Verkehr war nicht durchaus förderlich für ihn: an erster Stelle zu nennen ist hier der elf Jahre ältere Behrisch (s. d.), ein drolliger Pedant, kenntnisreich, aber in zweckloser Tätigkeit seine Kraft vergeudend und zu albernem Widerspruch allzusehr geneigt; anregender waren die Stunden im Hause des Buchhändlers Breitkopf, vor allem aber die bei Adam Friedrich Oeser, dem tüchtigen Maler und Direktor der Zeichenakademie; bei ihm nahm G. Unterricht und gewann durch ihn, den Freund und Anhänger Winckelmanns, Einsicht in wahrhaft lebenweckende Kunstanschauungen. Doch war sein Geschmack nicht einseitig der Antike zugewendet; bei einem Besuch in Dresden (1767) gewann der junge Dichter nicht minder tiefe Eindrücke durch die in der dortigen Galerie reich vertretenen niederländischen Maler, die doch einem ganz andern Kunstideal gehuldigt hatten. Die heißblütige Natur des Dichters verriet sich in seiner Liebe zu Käthchen Schönkopf, der anmutigen filia hospitalis auf dem Brühl, die sich aber schließlich dem eifersüchtigen Ungestüm des drängenden Jünglings entzog, und die bald nach Goethes Wegzug von Leipzig einem andern, dem Dr. Kanne, Herz und Hand schenkte. Durch das ungeregelte Leben der Leipziger Jahre zog sich der junge Dichter eine schwere Erschütterung seiner Gesundheit zu, die sich durch einen Blutsturz und andre Leiden verriet. Sein poetisches Talent war jedoch gewachsen: es gelangen ihm eine Reihe ansprechender lyrischer Gedichte, die freilich zumeist noch im Geiste der herrschenden Anakreontik gehalten waren (vgl. Strack, Goethes Leipziger Liederbuch, Gießen 1893). Die Erfahrungen mit Käthchen Schönkopf verwertete er für das an Gellert sich anschließende Schäferspiel »Die Laune des Verliebten«, und Zustände des Frankfurter Bürgerlebens spiegeln sich in der (zuerst einaktigen) Komödie »Die Mitschuldigen«, die auch in Leipzig bereits z. T. ausgeführt wurde. Aber als ein Schiffbrüchiger verließ G. im August 1768 die Stadt an der Pleiße, und der nach Frankfurt Heimgekehrte, von den Eltern mit Sorge und Beklommenheit begrüßt, kränkelte noch während des ganzen Jahres 1769. In dieser Zeit gewann er bedeutende Anregungen durch Fräulein Susanne v. Klettenberg, die tieffühlende pietistische Freundin seiner Mutter, deren hinterlassene Papiere er später im 6. Buche von »Wilhelm Meisters Lehrjahren« für die »Bekenntnisse einer schönen Seele« verwertete.
Im Frühling 1770 bezog G. die Universität Straßburg, wo er seine Studien im August 1771 zum Abschluß brachte. Anregender Verkehr mit dem Aktuar Salzmann, dem Senior des Mittagstisches, zu dem G. gehörte, u.a., vor allem aber mit Herder, der als Reisebegleiter des Prinzen von Holstein-Eutin nach Straßburg gekommen war und sich hier einer langwierigen Augenoperation unterzog, gab diesem Straßburger Aufenthalt für Goethes innere Entwickelung entscheidende Bedeutung. Herder erschloß dem jungen Dichter das Verständnis für die Volkspoesie aller Zeiten; er betrachtete die Dichtung als eine Völkergabe, die unter jedem Himmelsstrich und zu jeder Zeit gedeihen könne und insbes. von gelehrter Bildung unabhängig sei; er verstand es, feinfühlend die innersten Geheimnisse der Dichtungen klarzulegen, und er wußte ebensosehr die Poesie des Alten Testaments wie diejenige Homers, Shakespeares oder Ossians, vor allem aber diejenige des Volksliedes aller Zeiten zu verdeutlichen. Diese Lehren Herders waren epochemachend für Goethes Geist, und die rauhe ostpreußische Art und der überlegene Spott Herders trugen vollends dazu bei, das Gemüt des jungen Dichters aufzurühren. Er fand sich selbst, und er lernte an den Grenzen Frankreichs deutsche Art und deutsche Kunst inniger begreifen als in dem galanten französierenden Leipzig. Dazu kam die erste, sein Gemüt vertiefende Liebe, die Liebe zu Friederike Brion (s. d.), der Tochter des Pfarrers in Sesenheim, eine Liebe, deren beseligende Kraft sich in mehreren Gedichten (»Kleine Blumen, kleine Blätter«, »Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferd«) wundervoll offenbart. Aber ein Vorgefühl von der Kürze und Vergänglichkeit dieses Glückes trübte die letzten Tage dieser Straßburger Zeit; äußern und innern Rücksichten folgend, löste G. von Frankfurt aus, wohin er im August 1771 als Lizentiat der Rechte zurückkehrte, das einer Verlobung gleichkommende Liebesverhältnis wieder auf, nicht ohne selbst unter dem Treubruch auf das tiefste zu leiden.
Die nächsten vier Jahre in Frankfurt und Wetzlar sind die ertragreichsten und bedeutendsten in Goethes Leben. Er wurde 28. Aug. 1771 zur Advokatur zugelassen, hatte aber nur wenig zu tun und wurde in dem Wenigen überdies von dem Vater unterstützt. Fast ganz konnte er seine Kraft der Dichtung widmen: vom Oktober bis Dezember 1771 gelang ihm die erste Niederschrift des »Götz von Berlichingen«, den er dann 1773 vollständig umarbeitete und in dieser Fassung veröffentlichte. Dem Shakespeareschen Historienstil folgend, hatte der Dichter hier ein echt deutsches Kulturgemälde von überraschender Lebenswahrheit und Lebensfülle entworfen, ein aller Regeln spottendes Werk von entzückender Frische, durch das eine neue Epoche der deutschen Dichtung eingeleitet wurde (vgl. Minor und Sauer, Studien zur G.-Philologie, Wien 1880; Weißenfels, G. im Sturm und Drang, Halle 1894, Bd. 1).
Vom Mai bis September 1772 weilte G. in Wetzlar als Praktikant bei dem gänzlich verkommenen Reichskammergericht. In einer literarisch angeregten Tischgesellschaft (darunter Gotter, v. Goué, Kestner) verbrachte er genußreiche Stunden. Vor allem aber kam sein rätselhaft tiefes und leidenschaftliches Gemütsleben zur höchsten Entwickelung in der Liebe zu Charlotte Buff, der Braut Kestners; nur dadurch, daß er rechtzeitig, ohne Abschied zu nehmen, Wetzlar verließ, wußte er der heftigen Erregung Herr zu werden (vgl. Herbst, G. in Wetzlar, Gotha 1881). Nach kurzem Aufenthalt zu Ehrenbreitstein in der Familie der Romanschriftstellerin Sophie v. Laroche kehrte G. nach Frankfurt zurück, wo er eine Reihe von Aufsätzen schrieb, weiterhin an der Herausgabe der »Frankfurter Gelehrten Anzeigen« beteiligt war, zahlreiche dramatische und sonstige Pläne entwarf und zu Anfang des Jahres 1774 in wenigen Wochen die »Leiden des jungen Werthers« niederschrieb, in denen er seine Wetzlarer Erfahrungen, die erschütternde Kunde des am 29. Okt. 1772 erfolgten Selbstmordes von Karl Wilhelm Jerusalem (s. d.) und eigne unerfreuliche Erlebnisse mit Peter Anton Brentano, dem Gatten von Maximiliane, gebornen Laroche, seiner Freundin, verwertete. Dieser Roman, der das erste europäische Buch der deutschen Literatur werden sollte und schnell in alle Kultursprachen übersetzt wurde, ist das großartigste literarische Denkmal des empfindsamen, stillen, tiefen Kulturlebens jener Zeit. Die Verfeinerung des Gefühls bei geringer Kultur des aktiven Willens gelangt in keinem andern Werke so wie hier zum Ausdruck; zugleich aber gewinnt man bei aller krankhaften Schwärmerei des Helden doch einen Ausblick auf gesunde und reine Verhältnisse einer gemütvoll sinnigen Wett (vgl. A. Kestner, G. und Werther, 2. Aufl., Stuttg. 1857; J. W. Appell, Werther und seine Zeit, Leipz. 1855; 4. Aufl. 1896; Erich Schmidt, Richardson, Rousseau und G., Jena 1875). Daneben schrieb G. übermütige dramatische Satiren: den »Prolog zu den neuesten Offenbarungen Gottes« (gegen den Aufklärer Bahrdt), das »Jahrmarktsfest zu Plundersweilern« mit mannigfaltiger literarischer Satire (vgl. M. Herrmann, Jahrmarktsfest zu Plündersweilern, Berl. 1900), den »Pater Brey« gegen Leuchsenring, den »Satyros« gegen die Rousseauschen Naturapostel, »Hanswursts Hochzeit«, »Götter, Helden und Wieland« gegen Wielands »Alceste«. Von groß angelegten Arbeiten blieben »Mahomet«, »Prometheus« und der »Ewige Jude« Fragment, jedes in seiner Art, vor allem der »Prometheus«, von höchster Genialität und eigenartigster Weltanschauung zeugend. Auch vom »Faust« entstanden 1774–75 die meisten Abschnitte des ersten Teils, darunter der erste Monolog, die Szene mit dem Erdgeist, die Wagnerszene, die Schülerszene und fast die ganze Gretchentragödie (die Kerkerszene noch in Prosa). Diese ältesten Abschnitte des Werkes, der sogen. »Urfaust«, sind erst 1887 in einer Abschrift des weimarischen Hoffräuleins Luise v. Göchhausen wieder aufgefunden und durch Erich Schmidt veröffentlicht worden (»Goethes. Faust' in ursprünglicher Gestalt«, Weim. 1887, 5. Aufl. 1901; vgl. Collin, Goethes, Faust' in seiner ältesten Gestalt, Frankf. a. M. 1896; Minor, Goethes 'Faust', Stuttg. 1901, 2 Bde.); sie bilden in der gedrängten Fülle tiefsinnigster Gedanken, in dramatisch gehobener Handlung, lyrisch vertieften Situationen und tragisch erschütternder Größe das Gewaltigste, was G. geschaffen hat. Zur Vollendung gelangte in dieser Zeit der »Clavigo« (Leipz. 1774), ein an Beaumarchais' Memoiren eng angelehntes, in acht Tagen flüchtig niedergeschriebenes Werk, das immerhin noch den großen Dichter verrät, aber den Vergleich mit seinen bessern Arbeiten nicht verträgt. Auch »Stella, ein Schauspiel für Liebende« (Berl. 1776), ein nach vielfältigen Modellen gearbeitetes, verwickeltes Stück, ist trotz der entzückenden Schilderung des Seelenlebens der Heldin im ganzen eine verfehlte Arbeit; der damals bereits weit geförderte »Egmont« gelangte in Frankfurt nicht mehr zum Abschluß.
Zu dem vor allem durch den »Werther« schnell berühmt gewordenen Dichter suchten zahlreiche Schriftsteller, teils brieflich, teils persönlich Beziehungen zu gewinnen. Im Sommer 1774 machte er eine Lahn- und Rheinreise mit Lavater und Basedow; 1775 eine Reise nach der Schweiz mit den Grafen Friedrich Leopold und Christian zu Stolberg. Seit 1774 verbanden ihn freundschaftliche Beziehungen mit Fritz Jacobi und dessen Freundin Johanna Fahlmer; 1774 und 1775 kehrte Klopstock in Goethes Haus ein; Mitte Oktober 1774 erschienen Boie, im Februar 1775 Jung-Stilling, später Sulzer, Pestalozzi, Georg Zimmermann u.a. Aber das wichtigste Erlebnis dieser Zeit war Goethes Liebe zu Elisabeth (Lili) Schönemann, der Tochter eines Frankfurter Bankiers, einer ebenso schönen wie klugen 17jährigen Blondine, deren harmlose Koketterie die edelsten Gemüts- und Charakteranlagen nur leise verbarg. Sie, die vielleicht besser als irgend eine andre des Dichters Lebensweg zu schmücken verstanden hätte und seiner würdig gewesen wäre, wurde zwar seine Braut, doch führten einerseits die Ehescheu des jungen Titanen, anderseits die Verschiedenheit der Lebenssphären und Anschauungen beider Familien bald zu einer Lösung der Verlobung (vgl. E. Graf von Dürckheim, Lillis Bild, 2. Aufl., Münch. 1894). So war es denn auch in dieser Hinsicht wünschenswert, daß G. den heimischen Verhältnissen, die ihm zu eng wurden, entfloh: einer Einladung des jungen Herzogs Karl August von Weimar, dessen Bekanntschaft er schon 1774 gemacht hatte, folgend, zog er nach der thüringischen Residenz, wo er 7. Nov. eintraf, ohne zunächst zu glauben, daß er hier dauernd verweilen werde.
Vom Eintritt in Weimar bis zur Rückkehr aus Italien (1775–88).
Der Eintritt in neue Verhältnisse großen Stils und in einen Kreis hochgebildeter vornehmer Personen blieb nicht ohne tiefgehenden Einfluß auf den Dichter. Karl August, eine überschäumende Kraftnatur, hochbegabt, soldatisch derb, rastlos, aber nicht immer zweckbewußt tätig, begegnete dem jungen Dichter mit Bewunderung und größtem Vertrauen. Beide wurden bald nahe befreundet und überboten sich zum Schrecken aller Philister in oft fast bedenklich tollem Treiben. Den Mittelpunkt des Musenhofes bildete noch die Herzogin-Mutter Anna Amalia, der die Huldigungen der Dichter und Komponisten (außer G.: Wieland, Knebel, Bertuch, Herder, Einsiedel, Seckendorf u.a.) in erster Linie galten. Dagegen hielt sich die edle, sittenstrenge Herzogin Luise, von dem haltlosen Treiben peinlich berührt, mit Entschiedenheit zurück (vgl. E. v. Bojanowski, Luise, Großherzogin von Sachsen-Weimar, Stuttg. 1903). Auch von den Staatsbeamten verfolgten manche mit Kopfschütteln die Beweise unbedingter Gunst, die der Fürst des Landes dem jungen Dichter schenkte, vor allem Graf Görtz und der Minister v. Fritsch, der mit seinem Abschied drohte, als Karl August G. ein Amt im Verwaltungsdienst übertragen wollte (vgl. K. von Beaulieu-Marconnay, Karl August und der Minister v. Fritsch, Weim. 1874; Düntzer, G. und Karl August, 2. Aufl., Leipz. 1888). Aber der Herzog ließ sich nicht abhalten, G. 11. Juli mit dem Titel eines Geheimen Legationsrates im geheimen Konseil anzustellen; er übertrug ihm die Geschäfte der Wegebaukommission, der Bergwerks- und Forstverwaltung, der Kriegskommission u.a., Geschäfte, die des Dichters nicht immer würdig sein mochten, ihm aber doch die Weltkenntnis mehrten. 1782 wurde G. auf Anlaß Karl Augusts durch den Kaiser geadelt, und im selben Jahr übernahm er das Kammerpräsidium. Er selbst, der acht Jahre älter war als der Herzog, fühlte sich bald durch die zerstreuenden Vergnügungen unbefriedigt und suchte auch seinen ungestümen Herrn zu ernsterer Lebensauffassung zu bewegen.
Zu der tiefen Wandlung, die G. schon in den ersten Jahren erfuhr, trug wesentlich bei seine Liebe zu Frau von Stein, gebornen v. Schardt. Sie, die Gattin des Oberstallmeisters v. Stein, Mutter von sieben Kindern, sieben Jahre älter als G., flößte ihm ein Gefühl ein, das sich von seinen frühern Liebesregungen wesentlich unterschied. Die kränkelnde, nicht eben schöne Frau vereinte mit den edlen Formen der echten Aristokratin ein unendlich tiefes Gemüt, ungewöhnlich reiche Bildung und scharfen Verstand. Ihr Wesen spiegelt sich in den Gestalten von Iphigenie und der Prinzessin im »Tasso«, vor allem in der letztern, ab. Auch ihr begegnete der Dichter mit leidenschaftlichem Ungestüm, aber sie verstand es, sein heißes Drängen in Schranken zu halten, sein Gemüt zu klären und zu beruhigen, und ihrem Einfluß ist der weihevolle Geist der Dichtungen dieser Zeit in erster Linie zu danken.
Goethes Bemühungen gelang es, Herder dauernd nach Weimar zu ziehen, wo er die Stellung eines Generalsuperintendenten und ersten Predigers an der Stadtkirche übernahm. Andre Freunde unsers Dichters, Lenz und Klinger, machten sich in Weimar, wo sie zu Besuch erschienen, bald unmöglich; der Graf Fritz Stolberg wurde dagegen durch Klopstock, dem übertriebene Gerüchte von dem wilden Treiben der Weimaraner zu Ohren gekommen waren, bewogen, die angebotene Stellung eines Kammerherrn abzulehnen. – Außer einigen tiefgefühlten Gedichten schrieb G. in dieser Periode nur kleine Dramen, die zumeist für die Ausführung auf dem von ihm selbst geleiteten Liebhabertheater bestimmt waren: die entzückenden »Geschwister« (1776), »Lila« (1777), mit Anspielung auf das Verhältnis des Herzogs und der Herzogin, den »Triumph der Empfindsamkeit« (1778), mit starker Satire gegen die herrschende Gefühlsseligkeit, »Jeri und Bätely«, »Die Fischerin«, »Scherz, List und Rache«, vor allem aber »Iphigenie auf Tauris« (1779), welches Stück, damals in Prosa abgefaßt, bei der Ausführung sogleich tiefen Eindruck machte. Daneben gelangen dem Dichter die Anfänge des »Wilhelm Meister« und des »Torquato Tasso«, während »Elpenor« und »Die Geheimnisse« leider immer Fragment blieben. Schon seit der zweiten Schweizerreise, die G. in Gemeinschaft mit dem Herzog in den Monaten September 1779 bis Januar 1780 unternahm, war eine Wandlung seines Innern unverkennbar geworden. Der Dreißigjährige befestigte sich mehr und mehr in idealer Lebensauffassung und in dem Vorsatz zu rastloser Tätigkeit. Als dann 1781 das Noviziat seines Verhältnisses zu Frau v. Stein mit einer endgültigen Festsetzung der einzuhaltenden Grenzen abgeschlossen war, steigerte sich sein leidenschaftlicher Bildungseifer, sein tiefes Verlangen nach Veredlung seines gesamten Seins. Indessen fühlte er mehr und mehr die Hindernisse, die ihm die weimarischen Verhältnisse hierbei entgegenstellten; es war eine gewisse Ernüchterung eingetreten, die anfangs empfundene Anregung der Geschäfte war verflogen, das Verhältnis zum Herzog des öftern getrübt, vor allem aber empfand es der Dichter als schweren Druck, daß ihm die Vollendung seiner poetischen Arbeiten erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wurde. Alles dies bewog ihn, sich für längere Zeit von den Fesseln des Amtes zu befreien: mit Zustimmung des Herzogs, aber ohne Wissen andrer Personen trat er 3. Sept. 1786 von Karlsbad aus die lang erwünschte Reise nach Italien an.
Während dieser in Italien verbrachten Zeit vollendete sich die innere Wandlung des Dichters (vgl. »Tagebücher und Briefe Goethes aus Italien an Frau v. Stein und Herder« in den »Schriften der Goethe-Gesellschaft«, Bd. 2, Weim. 1886; R. Haarhaus, Auf Goethes Spuren in Italien, Leipz. 1896 bis 1897, 3 Bde.). Es war eine ernst aufgefaßte Bildungsreise, während deren die Kunstbetrachtungen im Vordergrund standen, eine Reise, die des Dichters ästhetische Weltanschauung zur Reise brachte. Über München und den Brenner fuhr er nach Verona und Venedig, der durch Palladios Meisterwerke geschmückten Stadt, in der er über 14 Tage verweilte; nach kurzem Aufenthalt in Ferrara und Bologna eilte er nach Rom, wo er 29. Okt. 1786 durch die Porta del popolo einzog. Im Verkehr mit deutschen Künstlern, Bury, Schütz, Dannecker, Lips, Trippel, Reiffenstein, Heinrich Meyer, mit Angelika Kauffmann und dem Dichter Karl Philipp Moritz, unter historischen wie kunsthistorischen Studien, die Schätze des Vatikans emsig würdigend und vor allem Michelangelos Größe tief erfassend, verbrachte er hier bedeutungsvolle Monate. Am 22. Febr. 1787 reiste er nach Neapel weiter, wo statt der Kunst nunmehr das bunte, südlich-bewegte Volkstreiben mit Bewunderung verfolgt wurde. Mit dem Maler Heinrich Kniep, der ihm außer Philipp Hackert hier in Neapel Anregungen bot, fuhr G. 29. März nach Sizilien weiter, dessen Naturwunder, Kunstschätze und Altertümer ihm Eindrücke gaben, die er als »unzerstörlichen Schatz seines Lebens« betrachtete. Auf der Rückkehr verbrachte er die zweite Hälfte des Mai wieder in Neapel, dann die Zeit vom Juni 1787 bis zum April 1788 abermals in Rom, wo Angelika Kauffmann ein Ölbild, Trippel die berühmte Apollobüste des Dichters schuf. Hier in Rom, wo er seine Kräfte wiederum den mit tiefstem Ernst betriebenen Bildungsinteressen widmete, gewann er in Maddalena Riggi, der »schönen Mailänderin«, eine bewundernd zu ihm ausschauende Freundin, in der jugendlichen Faostina Antonini die Geliebte, die neben Christiane Vulpius in den »Römischen Elegien« verewigt wurde (vgl. Carletta, G. a Roma, Rom 1899). Der Gewinn der Reise bestand in einer Vertiefung seiner Kunstanschauungen und in allseitiger Bereicherung seines innern Lebens; er hatte die Umarbeitung der »Iphigenie«, des »Egmont« und mehrerer Singspiele der frühern Zeit vollendet, die des »Tasso« wesentlich gefördert, die Arbeit am »Faust« fortgeführt und daneben neue bedeutende Pläne, wie den der »Nausikaa«, entworfen.
Von der Rückkehr aus Italien bis zu Schillers Tod (1788–1805).
Nach diesen reichen Jahren der italienischen Reise folgte eine schmerzliche Reaktion. Namentlich Frau v. Stein hatte dem Dichter die heimliche Flucht verübelt; nur spärliche und z. T. heftig grollende Briefe hatte sie ihm nach Italien gesandt; auch den am 18. Juni 1788 Heimkehrenden empfing sie mit Zurückhaltung, ja Kälte, und wenn er mit Begeisterung von den herrlichen Eindrücken Italiens erzählte, fühlte sie sich hierdurch verletzt. Dazu kam, daß G. bald nach seiner Rückkehr den Liebesbund mit Christiane Vulpius einging, die ihm als Bittstellerin für ihren Bruder, den Verfasser des »Rinaldo Rinaldini«, im Park zu Weimar begegnet war und seine sinnliche Natur durch ihre Jugendfrische und Schönheit entzückte. Frau v. Stein konnte dem Dichter den Verstoß gegen die Sitte nicht verzeihen, und so kam es im Sommer 1789 zu dem Goethes Seele tief erschütternden Bruch mit der Frau, die ihm für seine geistige Entwickelung mehr geboten hatte als irgend eine andre. Auch der Mißerfolg der ersten Sammlung seiner »Schriften«, die 1787–90 bei Göschen in Leipzig erschienen und den Himburgschen Nachdruck beseitigen sollten, verstimmte ihn; vollends aber war ihm die große Erscheinung der französischen Revolution, da er weiter schaute als die andern, von Anfang an peinlich und bedrückend. G., dessen höchstes Streben auf die Steigerung und Vertiefung des individuellen Lebens gerichtet war, besaß geringeres Verständnis für die Bewegungen des Gesamtbewußtseins, die Erhebung der Massen. Im Frühjahr 1790 war er, dem Christiane 25. Dez. 1789 den ersten Sohn geschenkt hatte, zur Begrüßung der Herzogin Anna Amalia abermals nach Italien und zwar nach Venedig gereist, wo er 31. März eintraf. Aber der Zauber der Lagunenstadt und des südlichen Volkes waren für ihn diesmal entschwunden; seine Liebe für Italien hatte einen tödlichen Stoß erfahren. »Ich bin«, so schrieb er, »ein wenig intoleranter gegen das Sauleben dieser Nation als das vorige Mal.« Die »Venezianischen Epigramme« legen Zeugnis von dieser verbitterten Stimmung ab. Im Juli 1790 folgte G. seinem Herzog in das schlesische Lager, wo König Friedrich Wilhelm II eine diplomatisch-militärische Intervention zu unrühmlichem Abschluß brachte. Zwei Jahre später beteiligte sich G., wiederum im Gefolge seines Herzogs, an dem Feldzug nach Frankreich, der freilich noch viel jämmerlicher endete und z. T. von dem Dichter eindrucksvoll beschrieben wurde. Auch 1793 war er bei der Belagerung von Mainz, die er ebenfalls beschrieb, zugegen. In dieser Zeit waren ihm außer den unvergleichlichen »Römischen Elegien« der »Reineke Fuchs« und der Abschluß des »Tasso« gelungen. Im »Reineke Fuchs« lieferte er eine durch den Hexameter besonders glücklich gehobene Neubearbeitung des niederdeutschen Werkes; im »Tasso« schuf er ein Meisterwerk, in dem er die Psychologie des Dichters, das Schwanken zwischen Traum und Wirklichkeit, mit unvergleichlich tiefer Divination erschloß. Daneben suchte er in dem dramatisch wirksamen, aber peinlichen »Groß-Cophta«, dem »Bürgergeneral«, den unvollendeten »Aufgeregten« und der »Reise der Sohne Megaprazons« die Eindrücke des ihm unheimlichen Zeitlebens ohne Erfolg poetisch zu ergründen.
Neuen Inhalt und unerwartet reiche Anregungen erfuhr G. durch die freundschaftliche Verbindung mit Schiller. Am 13. Juni 1794 richtete dieser an G. die Aufforderung, sich an der neuen Zeitschrift »Die Horen« zu beteiligen; am 24. sprach G. seine Zustimmung aus. Im Juli und August kam es zu einer Annäherung, und vollends nach Empfang von Schillers tiefdringendem Briefe vom 22. Aug. 1794 erkannte G., welch unerwarteter Gewinn ihm durch die neue Freundschaft erwuchs. Hatten doch beide zuvor teils abwartend, teils ablehnend einander aus der Ferne beobachtet; jetzt war ihre Entwickelung zu dem Punkte gelangt, wo sie einander ganz nahe gerückt waren und im Innersten verstanden. Der Freundschaftsbund, der allen Intrigen unedler Neider, wie z. B. Kotzebues, zum Trotz ungetrübt fortbestand, ward beiden Männern zum Segen. G. erfuhr von Schiller vielfältigste Anregung zu poetischer Arbeit: soz. B. war es Schillers Verdienst, daß der immer noch fragmentarische »Faust« wieder aufgenommen und zum Abschluß gebracht wurde. Dagegen endete das schon früher mehrmals getrübte Verhältnis zu Herder 1796 durch Herders Schuld mit einer dauernden Entfremdung der einstigen Freunde. Neue Aufgaben waren dem Dichter seit 1791 durch die Begründung des ständigen Hoftheaters, dessen Leitung ihm oblag, erwachsen. Jetzt, unter Schillers Anteil, besonders seit dessen Übersiedelung nach Weimar (1799), gelang es unserm Dichter, den idealistischen Stil des Théâtre Français mit einigen Umbildungen und Vertiefungen auf seiner Bühne heimisch zu machen und sie, unter Schillers Anteil, zu einer viel bewunderten Musteranstalt zu erheben. Daneben nahmen ihn die Verwaltungsgeschäfte für die Universität Jena, die Begründung der »Neuen Jenaer allgemeinen Literaturzeitung«, die immer reger betriebenen tiefdringenden naturwissenschaftlichen Studien und anderes in Anspruch. Unter seinen poetischen Arbeiten ist die Vollendung von »Wilhelm Meisters Lehrjahren« (1794–96, 4 Bde.) in erster Linie zu nennen. In diesem Werke schuf G. den ersten epochemachenden Bildungsroman der deutschen Literatur; ursprünglich beabsichtigte er nur eine Schilderung des Theaterwesens jener Zeit zu geben, später führte er jedoch seinen Helden aus dieser Sphäre in die mit immer wärmerm Anteil geschilderte adlige Welt empor und ließ ihn, von einem Milieu zum andern fortschreitend, eine immer reichere und klarere Bildung des Geistes und Herzens gewinnen. Inhalt wie Darstellung des Werkes wurden von entscheidendem Einfluß auf die Produktion der romantischen Schule. Noch weit höher erhob sich G. in »Hermann und Dorothea« (1797), dem Muster des idyllischen Epos, das durch Plastik der Darstellung, Lebenswahrheit, Tiefe des Gefühls und Vollendung des poetischen Stils unerreicht dasteht und, wie Schiller schrieb, den Gipfel der gesamten neuern Kunst bezeichnet (vgl. W. v. Humboldts »Ästhetische Versuche«, s. Humboldt 1); Cholevius, Ästhetische und historische Einleitung nebst fortlaufender Erläuterung zu »Hermann und Dorothea«, 3. Aufl., Leipz. 1897; V. Hehn, Über Goethes »Hermann und Dorothea«, 2. Aufl., Stuttg. 1898). Ihm gegenüber fällt der Versuch einer engern Anlehnung an Homer, den G. in der »Achilleis« machte, ab, und die »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« sind des Dichters zum großen Teil kaum würdig; nur das entzückende »Märchen«, das den Schluß bildet, verrät die große Fülle seiner Kraft. Während weiterhin eine Reihe vortrefflicher Balladen, die er im Wettkampf mit Schiller, namentlich 1797, schrieb, in weitesten Kreisen beliebt geworden sind, ist dagegen die allzu stark stilisierte »Natürliche Tochter« (1803), in der G. noch einmal die Erscheinungen der französischen Revolution widerspiegelte, wohl wegen der unklaren und unabgeschlossenen Handlung dem Verständnis des Publikums niemals nahe gerückt, obwohl G. in der Heldin Eugenie einen besonders anziehenden und eigenartigen Frauencharakter schilderte. Mit Schiller gemeinsam schrieb er 1796 die ungeheures Aufsehen erregenden »Xenien«, in denen sich beide mit Überlegenheit, Witz und heiligem Ernst gegen die Schäden und Rückständigkeiten des literarischen und wissenschaftlichen Lebens der Zeit wandten (vgl. Boas, Schiller und G. im Xenienkampf, Stuttg. 1851, 2 Tle.; »Xenien 1796«, hrsg. von Erich Schmidt u. Bernh. Suphan, in den »Schriften der Goethe-Gesellschaft«, Bd. 8, Weim. 1893). Mit Eifer förderte G. in dieser Zeit seine kunsttheoretischen und kunsthistorischen Studien: er bearbeitete »Benvenuto Cellinis Leben«, schrieb eine größere Anzahl bedeutender Aufsätze für die Zeitschrift »Propyläen«, die er 1798 bis 1800 herausgab, wandte sich in den Anmerkungen zu Diderots »Versuch über die Malerei« (1799) gegen den Naturalismus in der Kunst und schrieb ein biographisch-kritisches Meisterwerk in seinem »Winckelmann und sein Jahrhundert« (1805). Dabei befestigte er sich ebenso wie in seinen poetischen Werken mehr und mehr in den Tendenzen des klassizistischen Stils.
Goethes Leben und Schaffen seit Schillers Tod (1805–32).
Nach Schillers frühem Tod, der G. auf das tiefste erschütterte, vereinsamte er mehr und mehr. Unter den Kriegsunruhen, die nach der Schlacht bei Jena (14. Okt. 1806) auch die Stadt Weimar bedrückten, litt G. schwer. Christiane Vulpius, die sich in den Tagen schwerster Not und Aufregung tapfer bewährt hatte, führte er 19. Okt. 1806 vor den Traualtar. In eben diesem Jahre begann die erste Cottaische Ausgabe seiner Werke zu erscheinen, in die auch der vollendete erste Teil des »Faust« aufgenommen war, den der Dichter unter Schillers regem Anteil in den Jahren 1797–1800 abgeschlossen hatte, und der nunmehr von einer neuen, nach nationaler Erhebung sich sehnenden Zeit als ein Wunderwerk deutscher Geisteskraft gepriesen wurde, während die fragmentarische Veröffentlichung vom Jahre 1790 fast unbeachtet vorübergegangen war. Im Winter 1807/08, den G. größtenteils in Jena verbrachte, gewann er einen tiefen Eindruck von der jungfräulichen Anmut Minna Herzliebs, der Pflegetochter des Buchhändlers Frommann (vgl. Gaedertz, Goethes Minchen, 2. Aufl., Brem. 1889), und er hielt ihr Charakterbild in der Ottilie der »Wahlverwandtschaften« fest, dem tiefsinnigen, kunstvoll komponierten Roman, den er 1809 niederschrieb und 1810 veröffentlichte. Das große Problem der Ehescheidung wird hier von G. in gedankenreicher Darstellung an vier von vielseitigem und tiefstem Innenleben erfüllten Personen geistvoll und durchaus mit der Forderung sittlicher Entsagung behandelt. In der Zeit der Napoleonischen Vorherrschaft zeigte sich G. in nationalen Dingen kleingläubig und als ein entschiedener Bewunderer des französischen Kaisers, der im Oktober 1808 auf der Erfurter Konferenz den Dichter mit großer Auszeichnung behandelte (vgl. Andreas Fischer, G. und Napoleon, 2. Aufl., Frauens. 1900). Auch 1813 war G. von der großen Volksbewegung nur schwach berührt, 1814 durch neue Erfolge Napoleons, 1815 durch seine Rückkehr von Elba peinlich bewegt. Den individuellen Bildungsinteressen ganz und gar sich hingebend, suchte er mit erstaunlicher Kraft immer weitere Bildungskreise zu eröffnen, immer höhere Ideale auszubilden. Sein Streben, auch das geistige Leben in seiner organischen Entwickelung wie einen Naturprozeß aufzufassen, bewährte sich glänzend in »Dichtung und Wahrheit«, der ungemein gedankenreichen, anschaulichen und ansprechenden Lebensgeschichte, deren erste drei Bände 1811–14 erschienen und vor allem die Entwickelung von Goethes Weltanschauung und seinem künstlerischen Vermögen deutlich vergegenwärtigen; der vierte, schwächere Band kam erst 1832, nach Goethes Tode, heraus (vgl. Alt, Studien zur Entstehungsgeschichte von Goethes »Dichtung und Wahrheit«, Berl. 1898). Das »Vorspiel 1807« verrät den gleichen Eifer nach Vertiefung der individuellen Bildung, die »Pandora« in mächtig antikisierender Darstellung die Hoffnung auf die Wiederkehr der Schönheit und des Glücks.
Eine neue Wendung wurde dem Schaffen des Dichters gegeben, nachdem ihm durch die Hafis-Übersetzung J. v. Hammers die Poesie des Orients eröffnet worden war; das Erlernte unmittelbar zu bedeutsamster Produktion verwertend, schrieb G. die wunderbar tiefgedachten und tiefgefühlten Gedichte des »Westöstlichen Diwan« (1819), in denen eine resolute Lebensauffassung, poetische Hingabe an Liebe und Wein, insbes. aber tiefsinnige Religiosität zum Ausdruck gelangt sind. Wichtigste Lebensanregungen boten ihm zu den wundervollen Liebesliedern des Suleika-Zyklus die glücklichen Stunden, die er in Frankfurt 1814 und 1815 mit der anmutigen und talentvollen Marianne v. Willemer und ihrem Gatten verbrachte (vgl. »Briefwechsel zwischen G. und Marianne v. Willemer«, Stuttg. 1877, 2. Aufl. 1878). 1816 wurde der Dichter durch den Tod seiner Frau tief ergriffen. 1817 legte er die Leitung des weimarischen Hoftheaters, die ihm schon lange keine Freude mehr bereitet hatte, nieder, da er unter den Intrigen der Jagemann (Frau v. Heygendorf), der Geliebten des Herzogs, viel zu leiden gehabt hatte; schließlich gab eine Äußerlichkeit den Ausschlag: der Großherzog hatte gegen Goethes Anordnung befohlen, daß ein Effektstück, »Der Hund des Aubry«, in dem ein dressierter Pudel mitwirken sollte, gespielt werde. Hierauf nahm G. grollend seine Entlassung und schied aus einer Stellung, in der er mit großem Erfolg 26 Jahre lang gewirkt hatte. Noch einmal wurde er von tiefer Liebesleidenschaft ergriffen zu der jugendlichen Ulrike v. Levetzow, mit der er 1822 und 1823 in Marienbad und Karlsbad glückliche Stunden verbrachte, und der er in seiner berühmten »Trilogie der Leidenschaft« ergreifende Verse voll jugendlicher Glut widmete. Doch mehr und mehr machte sich nun das Alter bemerklich. Die fünfzigste Wiederkehr des Tages, an dem er zuerst Weimar betreten hatte, der 7. Nov. 1825, wurde feierlich begangen, wie denn der greise Dichter vom Inland und Ausland wie ein Fürst verehrt und als der größte Mann seiner Zeit anerkannt wurde. Schwere Schicksalsschläge bewegten seine letzten Jahre: 1828 starb sein fürstlicher Freund Karl August, 1829 die edle Großherzogin Luise, 1830 Goethes Sohn August, der ihm freilich infolge seines ungeregelten Lebens viel Kummer bereitet hatte. In rastloser, immer mehr sich ausbreitender Tätigkeit suchte er der niederdrückenden Schmerzen Herr zu werden. Viel beschäftigte ihn der Gedanke der Weltliteratur, d.h. eines internationalen Austausches literarischer Meisterwerke, und wie er selbst alles Gute aus der Fremde mit Dank und Gewinn aufnahm, so übten seine Dichtungen immer gewaltigere Nachwirkung in allen Kulturländern. Die letzten Lebensjahre waren der Vollendung von »Wilhelm Meisters Wanderjahren« und des zweiten Teiles vom »Faust« gewidmet: in den erstern bot G. ein Werk von zumeist nur wenig ansprechender Darstellung, aber außerordentlich tiefem Gehalt; einige der eingestreuten Novellen, namentlich »Der Mann von fünfzig Jahren«, sind zwar auch durch die poetische Form anziehend, aber mehr als die konkrete Darstellung wirken die gewaltigen theoretischen Erörterungen über Erziehung, Wirtschafts- und Staatsleben. Im zweiten Teile des »Faust«, der erst nach dem Tode des Dichters, 1832, erschien, wird der Held aus der kleinen in die große Welt des Staatslebens eingeführt, dann in dem 3. Akt, der Helena-Tragödie, mit der Welt der Schönheit und des klassischen Geistes vermählt, um schließlich in den letzten Akten zu rastloser, gemeinnütziger Tätigkeit glorreich fortzuschreiten. In hier und da schwer verständlichen Symbolen und Allegorien, häufig aber auch in unmittelbar tiefergreifender Darstellung führte der Dichter sein vor 60 Jahren begonnenes Meisterwerk zu glücklichstem Abschluß. Wenige Monate darauf, 22. März 1832, schied er sanft und schmerzlos aus dem Leben.
Goethes Gesamtbild.
Ausgestattet mit dem ungewöhnlichsten anschaulich gegenständlichen Denken und lebendigster Regsamkeit des Gefühls, gelangte G. zu der Größe und Neuheit seines Schaffens, insbes. durch den mit Inbrunst erfaßten Gedanken von der in allen Erscheinungen der Welt lebendig wirkenden Kraft der Natur oder Gottes. Frühzeitig, durch Rousseau, mehr aber noch durch Spinoza, dessen »Ethik« er 1773 kennen lernte, angeregt, suchte er die Natur als ein Ganzes zu begreifen und nicht nur das einzelne Erschaffene, sondern die in allem wirkende Kraft, die lebendige Bewegung, das rastlose Werden und Wachsen zu würdigen. Von früher Jugend an tiefbewegt durch die Geheimnisse des religiösen Glaubens, mit denen er bis an sein Ende immer weiter gerungen hat, gelangte er doch schon in jungen Jahren zu der Erkenntnis von der Überlegenheit der pantheistischen Anschauungsweise. Gott und die Welt sind ihm eins; mit poetischer Andacht erkennt er in den einzelnen Erscheinungen Manifestationen »jenes Urlichts droben, das unsichtbar alle Welt erleuchtet«. Selten ist daher ein so törichtes Wort ausgesprochen, wie das von dem »großen Heiden« G. Er war in Wahrheit ein tief religiöser Mann, wenn freilich dem orthodoxen Bekenntnis beider christlicher Konfessionen oft grollend abgeneigt (vgl. Filtsch, Goethes religiöse Entwickelung, Gotha 1894; Keuchel, Goethes Religion u. Goethes »Faust«, Riga 1899; Vogel, Goethes Selbstzeugnisse über seine Stellung zur Religion, 3. Aufl., Leipz. 1903).
Im innern Zusammenhang mit diesen Grundanschauungen steht Goethes Beschäftigung mit den Naturwissenschaften (vgl. Steiner, Goethes Weltanschauung, Weim. 1897); sein Streben ging dahin, das Geheimnis der wirkenden göttlichen Kraft allseitig zu erschließen. Das zeigen schon seine hymnenartig begeisterten Aufsätze »Die Natur« und »Der Granit«; mehr aber kommt es zum Ausdruck in den Arbeiten zur Naturwissenschaft im allgemeinen und in den Spezialuntersuchungen auf dem Gebiete der Botanik, der Morphologie, Mineralogie, Meteorologie und insbes. der Farbenlehre. In den Arbeiten zur Naturwissenschaft überhaupt hat G. als ein Vorläufer Darwins den Gedanken einer organischen Entwickelung der Natur von einfachen zu immer vollkommenern Gebilden mit Klarheit ausgesprochen und verteidigt. Ihm ist der einheitliche Zusammenhang alles Erschaffenen deutlich geworden, wenn freilich er die Darwinschen Erklärungsgründe und Gesetze von der Zuchtwahl, Anpassung und dem Kampf ums Dasein nicht herangezogen und erschlossen hat. Von diesem Standpunkt aus erblickte er in dem Blatte das ursprünglichste Organ der Gewächse und entwickelte die durchaus anschauliche Idee einer Urpflanze (vgl. Bliedner, G. und die Urpflanze, Frankf a. M. 1901); von diesem Standpunkt aus machte er die Entdeckung, daß der Schädel als Fortbildung der Wirbelsäule aufzufassen sei, und indem er die regelmäßig sich fortsetzende Entwickelung von den niedern Tieren zum Menschen im Auge behielt, erkannte er, daß der Zwischenknochen (os intermaxillare), den man bisher beim Menschen nicht beobachtet hatte, auch bei diesem in Resten sich erhalten habe, und daß also die von frühern Anatomen aufgestellte Behauptung, in dem Fehlen dieses Knochens zeige sich der Unterschied zwischen Mensch und Tier, zu Unrecht gemacht worden sei. Wenig Anerkennung hat Goethes umfangreiches Werk über die Farbenlehre (1810) erfahren, in dem er die von Newton aufgestellte Theorie bekämpfte. Dagegen zeugen die geologischen und auch die, namentlich von G. in seinem Greisenalter gepflegten, meteorologischen Studien wiederum von der Lebendigkeit seiner fruchtbringend selbständigen Betrachtung.
Wie Goethes naturwissenschaftliches Denken mit seinem religiös-philosophischen zusammenhängt, so hat es auch auf sein poetisches Schaffen ebenso stark wie bedeutsam zurückgewirkt. Ihm schien es die höchste Aufgabe, die menschliche Seele in ihren mannigfaltigen Typen nach den in der Wirklichkeit geltenden Gesetzen, gleichsam im Sinne der schaffenden Natur, von innen heraus neu erstehen zu lassen; er will dem Erdgeist das Gesetz seines Schaffens ablauschen und im Sinn und Auftrag der natura naturans eine neue Welt bilden, gleich seinem Prometheus. Aber nicht das Gewordene, sondern das Werdende ist ihm immer der vorzüglichste Gegenstand seines Interesses. Indem er die treibenden Kräfte erkennt und erfaßt, hält er sich frei von aller Unsicherheit der die Natur bloß nachahmenden Künstler; er baut eine neue Welt auf, aber nach dem Gesetz der wirklichen. Hiermit ist auch bereits angedeutet, daß G. mit innerer Notwendigkeit sich von der naturalistischen und realistischen Darstellungsweise schließlich abwenden und der idealistischen Kunst zuwenden mußte, die nicht die zufälligen Einzelheiten des Gewordenen, sondern die wesentlichen, treibenden Ideen in ihren Darstellungen festzuhalten sich bemüht.