What a Way To Go - Bella Mackie - E-Book

What a Way To Go E-Book

Bella Mackie

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Beschreibung

Mit jedem erdenklichen Pomp begeht Anthony Wistern – Self-Made-Millionär, Patriarch, Womanizer – seinen 60. Geburtstag. Doch zum Höhepunkt der Party findet er sich überraschend im Jenseits wieder. Von dort aus muss er beobachten, wie „seine Lieben“ die eine oder andere Krokodilsträne angesichts seines Todes hervorpressen, sich de facto allerdings nur für eines interessieren: das Erbe. Aber wie verdammt, ist er eigentlich gestorben? So einige Partygäste hätten sicher Grund gehabt, ihm die Lichter auszublasen: betrogene Geschäftspartner, sitzengelassene Geliebte, raffzahnige Familienmitglieder. Die Polizei scheint keinerlei Interesse an Ermittlungen zu hegen. Insofern ruht Anthonys ganze Hoffnung auf einer jungen True-Crime-Bloggerin, die mit erstaunlicher Zähigkeit Nachforschungen anstellt. Fragt sich nur, mit welcher Agenda …

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Seitenzahl: 555

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Das Buch

Anthony Wistern, schillerndes Mitglied der Londoner Society, notorisch untreuer Ehemann, liebloser Vater von vier verwöhnten Kindern, findet sich am Abend seines sechzigsten Geburtstages in einem unstylishen Aufnahmezentrum wieder: Er ist tot, aber keineswegs alle Sorgen los. Wenn er nämlich nicht von der himmlischen Warte aus herausfindet, wie der Metallspieß in seinen Bauch gekommen ist, bleibt ihm die Tür ins Jenseits verschlossen.

Da sitzt er nun und muss seine verlorene Luxuswelt haargenau beobachten. Verdächtige gibt es reihenweise, kaum jemand, der nicht eine Rechnung offen hatte mit dem skrupellosen Finanzjongleur und ignoranten Familienvater. Während Anthony merkt, wie wenig er von Ehefrau Olivia vermisst wird und alle auf sein Vermögen schielen, macht sich eine junge YouTuberin an die irdische Aufklärung des Falls. Sie hat ihre eigenen Gründe, herausfinden zu wollen, wie der aufdringliche Casanova zu Tode kam. Bald stellt sich heraus, dass selbst enge Vertraute ein falsches Bild hatten …

Die Autorin

Bella Mackie, Journalistin und Autorin, hat für den Guardian, die Vogue und das ViceMagazine geschrieben. Ihr Debütroman How To Kill Your Family stürmte bereits kurz nach Erscheinen die britischen und deutschen Bestsellerlisten. Bella Mackie ist mit dem BBC-Radiomoderator Greg James verheiratet und lebt in London.

bella mackie

what a way to go

roman

Aus dem Englischen von Sylvia Bieker, Bernhard Kleinschmidt und Henriette Zeltner-Shane

Die Originalausgabe ist unter dem Titel

WHAT A WAYTOGO

bei The Borough Press, London, erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Bella Mackie

Copyright © 2024 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Umschlagmotiv: © Freepik/sergiogarciaavilasergio

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32848-1V001

www.heyne.de

Anthony

Wenn ich jetzt so zurückblicke, würde ich an dem Abend meines Todes nicht viel ändern. Wenn man vom Ende absieht, was ich natürlich nicht kann, war er ziemlich fantastisch. Bekäme man vorab die Warnung, dass man gleich ins Gras beißen wird, liefe man vielleicht schreiend rum, würde den Gott, von dem man annähme, er würde einen noch am ehesten erhören, anflehen, »ich will leben«, und auf diese Weise die kostbaren letzten Augenblicke vergeuden. Ich bin froh, dass ich nicht vorgewarnt wurde. Denn es bedeutete, dass ich den Abend damit zubrachte, Champagner wie Wasser zu saufen und über den grünen Klee gelobt zu werden, als wäre ich der Diktator eines kleinen, aber reichen Landes gewesen. Wenn ich eine Kleinigkeit bemängeln dürfte, dann die Tatsache, dass Mary Chambers acht kostbare Minuten meines letzten Abends auf Erden bekam. Sie bestand nämlich darauf, dass ich mir alles über ihr neues Wohltätigkeitsprojekt anhörte.

Natürlich hätte ihr nicht gestattet sein sollen, auch nur in meine Nähe zu kommen. Ich hätte gedacht, ich würde maximal kurz Hallo sagen und mir dann erlauben, von jemand Wichtigerem weggezogen zu werden. Und fast jeder war wichtiger als Mary Chambers. Diese unerträgliche Frau rief mehrmals die Woche erfolglos im Büro an. Niemals rief ich sie zurück, wobei sie den asteroidgroßen Wink trotzdem nicht kapierte. Sie hatte, als ihr Mann letztes Jahr starb, ein niederschmetternd großes Vermögen geerbt. Er war mitten in der Nacht nahe Portofino von seiner Yacht gekippt – das hatte ein kollektives Augenbrauenlupfen nach sich gezogen, kann ich Ihnen flüstern. Vor allem riss seine Tochter aus einer früheren Ehe die Augenbrauen hoch. Sie war stinksauer, weil sie nicht in seinem Testament stand. Erfolglos verklagte sie Mary auf ihren Anteil. Ich wusste, wie verzweifelt sie bei mir investieren wollte, und die schiere Riesigkeit ihres Vermögens brachte mich ein paarmal in Versuchung, aber am Ende entschied ich mich immer dafür, es abzulehnen. Die Frau war zu neugierig, zu wissbegierig. Ich brauchte Investoren, die nicht nachbohrten und herumschnüffelten, aber genau das war Marys ganzer Lebenszweck. Falls Mary Chambers irgendwas mit dem Tod ihres Ehemannes zu tun hatte, worauf seine Tochter weiterhin lautstark beharrte, dann hätte ich sie sehr viel interessanter gefunden, doch dafür fehlte ihr der Weitblick. Ganz ehrlich, John Chambers war ein übler Trunkenbold gewesen, der durch das Gewicht seines enormen Wansts ins Taumeln geraten und über Bord gefallen war.

Langweilig, aber kaum teuflisch. Nein, dazu war sie nicht imstande. Die Frau tat sich nur in einer einzigen Disziplin hervor: Labern. Aber irgendwie schaffte sie es auf die Liste, weil meine Frau fand, es wäre wichtig, sie dabeizuhaben. »Sie ist im Vorstand der Lamcusi Foundation!«, bekam ich zu hören, als ob das den entscheidenden Unterschied machte.

Mein großer Fehler bestand darin, vor dem Dinner Drogen zu nehmen. Danach wurde es erwartet, ja, man wurde sogar dazu angestiftet. Aber vorher? Es machte mich nachlässig. Zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, dass ich maximal gestresst war und das brennende Verlangen spürte, mich lockerzumachen. Ich hatte mich im Garten umgesehen, in dem es überall glitzerte und unglaublich schön aussah, und endlich eine Art Rausch empfunden. Olivia hatte sich selbst übertroffen. So sehr mich die monatelange Vorbereitung genervt hatte – es sah einfach fantastisch aus. Wir fingen unten beim Teich an, der dekoriert war wie ein Mittsommernachtsmärchen. Hunderte großer schimmernder Lichtkugeln waren im Geäst der Bäume rund um das Wasser befestigt. »Weiches Licht«, hatte meine Frau einen der Ausstatter früher am Tag angezischt, der den Fehler begangen hatte, die Birnen zu hell leuchten zu lassen. Ähnlich hatte sie auch den Steg, der noch am Vortag frisch gewachst worden war, damit er glänzte, mit kleineren Leuchtkugeln dekorieren lassen. Mehr von diesen Kugeln standen auf dünnen Metallstangen am Seeufer. Die Krönung bildete allerdings ein riesiges Exemplar, das heute Morgen von zehn kräftigen Kerlen auf dem Grund des Teichs platziert worden war. Meine Frau hatte eine Vision, müssen Sie wissen, wonach »Wasser von oben und von unten beleuchtet« werden sollte. Und wenn man bedenkt, wie viel wir dem Ausstatter dafür bezahlt haben, wäre es undenkbar gewesen, ihr zu erklären, das sei unmöglich. Die Glaskugel war von Hand in Italien hergestellt. Zweimal wäre sie beinah zerbrochen, beim Auspacken und als sie den Hügel hinunter zu ihrem Bestimmungsort gerollt wurde. Doch es lohnte sich. Als unsere Gäste, nachdem sie den riesigen Bogen durchschritten hatten, bei dem Anblick nach Luft schnappten, hatte ich den Beweis dafür, dass meine Geburtstagsparty noch ewig in Erinnerung bleiben würde. Und ich sollte recht behalten, wenn auch vielleicht nicht aus dem Grund, den ich mir vorgestellt hatte.

Nach den Drinks wurden wir von lächelnden jungen Frauen in ansprechend engen schwarzen Kleidern zu den Zelten geleitet. Als meine Freunde sich aus dem ersten wunderschönen Raum, den Olivia von einer Armee Lakaien hatte dekorieren lassen, in den zweiten bewegten, wo das Dinner stattfinden sollte, fing ich zum ersten Mal seit Monaten an, mich beinah sorglos zu fühlen. Du denkst, deine Sorgen wären unüberwindlich, und dann reicht dir ein Kellner ein Glas wirklich guten Weins. Du nimmst noch ein paar mehr davon, und plötzlich bist du mit George im Badezimmer, ziehst eine oder zwei Lines seines besten Pulvers und findest dich für kurze Zeit befreit von den Problemen, die dir wie ein verdammter Elefantenbulle auf der Brust gehockt hatten. Manchmal ist ein wenig Entspannung eine großartige Idee. Diese puritanische Gesellschaft, zu der wir uns anscheinend entwickelt haben, finde ich unerträglich. Denn darin hat die Wichtigkeit von Gesundheit und einem langen Leben jede Vorstellung von Spaß beseitigt. Allerdings war ich mit sechzig schon tot, von daher gebe ich zu, dass es vielleicht unklug wäre, meinen Rat ganz genau zu befolgen.

Auf dem Weg zum Tisch hielten Männer mich auf, um mir die Hand zu quetschen und auf den Rücken zu schlagen, Frauen küssten mir die Wangen und ließen ihre Finger eine Sekunde zu lang in meiner Hand liegen. Sie alle ersehnten sich eine Chance bei Wistern, und in dem Moment hätte ich nach Belieben aussuchen können. Was für ein Auftrieb für einen Mann am Rande des Abgrunds! Vielleicht käme es in Ordnung, begann ein Teil meines Gehirns zu denken. Hier waren Hunderte von Leuten, und das war nur die streng ausgesuchte Kategorie A. Wochenlang hatte Olivia Anrufe von Leuten abgewimmelt, die es nicht geschafft hatten. Sie bettelten darum, zu kommen und den Ring küssen zu dürfen. Zumindest ein paar von ihnen würden mir sicher beistehen. Ein Mann kann all das nicht auf einen Schlag verlieren. Dieses Selbstvertrauen war ein Geschenk der Drogen, das erkenne ich jetzt. Selbstsicherheit mag eine meiner Schwächen sein, aber normalerweise fehlt mir nicht jeglicher Realitätssinn. Trotzdem bin ich froh, dass ich einen Teil meines letzten Abends auf Erden mit einer Spur Hoffnung verbrachte. Die brauchte ich dringend. Doch das bedeutete, ich konzentrierte mich nicht darauf, wer sich wo befand. Während ich durch den Raum ging, stand dann plötzlich Mary Chambers direkt vor mir und winkte so hektisch, als wäre ich ein Taxi, das sie anhalten wollte.

Ich war nie ein Mann, der Wutanfälle bekam. Schließlich habe ich Tausende Pfund an diverse Martial-Arts-Experten gezahlt, die in zahlreichen Studios auf der ganzen Welt mit mir kämpften, damit ich jegliche Aggression loswürde. Ein Typ, der die Spitzenathleten der Mixed Martial Arts trainiert, erzählte mir einmal, mein rechter Haken sei zwar denen aller Leute, die er kenne, ebenbürtig, doch er müsse gezügelt werden. Viele Kerle gehen nämlich in die Finanzbranche und glauben, der Weg zum Erfolg bestünde darin, pures Testosteron auszuschwitzen. Aber es gibt einen feinen Unterschied zwischen leicht einschüchternd und tatsächlich furchterregend, und ich habe immer sorgsam darauf geachtet, auf der richtigen Seite dieser Grenze zu bleiben. Als ich jedoch sah, wie Mary Chambers darauf lauerte, sich auf mich zu stürzen, hätte ich am liebsten einem Impuls folgend dem Kellner rechts von mir eine reingehauen. Hektisch wirbelte ich herum, weil ich hoffte, jemanden, irgendwen zu finden, der mir half. Doch es war zu spät. Sie packte meinen Arm und schob sich so dicht vor mich, dass ich ihren Atem riechen konnte. Und dann passierte etwas Lustiges. Die Verzweiflung, die ich wochen-, wenn nicht monatelang zurückgehalten hatte, fiel mir wie eine Wasserbombe direkt auf den Kopf. Das würde nicht gut ausgehen. Mary Chambers fing an, in ernstem Ton über Katzen in Kriegsgebieten auf mich einzureden. Ich nickte und fühlte mich plötzlich wie eins von den Tieren. In dem Moment wurde mir klar, dass ich nichts anderes tun konnte, als in das langweilige Gesicht dieser Frau zu starren, während sie gerade »… leben in ihrem eigenen Dreck« zu mir sagte. Wahrscheinlich würde ich in den Knast kommen, dachte ich, und versuchte mir vorzustellen, wie das wäre. Müsste ich dann auch in meinem eigenen Dreck leben? Sicherlich würde Mary Chambers nicht so für mich eintreten, wie sie es jetzt innig für diese verdammten Viecher tat. Wie alle anderen pflegte sie über meine Verfehlungen zu tratschen und auf Partys meine Frau zu meiden, scheinheilig bis zuletzt, genau wie die übrigen Gäste hier. Kaum eine Seele in diesem Zelt verfügte über das geringste moralische Rückgrat – von jedem, den ich sah, hätte ich ein Sündenregister abspulen können. Rohan, Steuerhinterziehung. Jeremy, Vermieter von Elendsquartieren in gigantischem Umfang. Chuck, schlug vor einem privaten Club nur für Mitglieder irgendjemand zusammen, der ihn angerempelt hatte. Und dann war da Alice Begby, die gerade an mir vorbeiging. Die Frau konnte ihre Vorfahren bis zurück zu den Tudors verfolgen, aber irgendwann war ihre Kleptomanie derart hoffnungslos geworden, dass man ihr bei Harrods tatsächlich Hausverbot erteilte. Keiner von denen hat sich allerdings je an ihresgleichen vergriffen, sondern nur an Leuten, mit denen sie sich nie wirklich verbrüdern mussten. In dem Punkt habe ich es verkackt.

Mary Chambers musterte mich besorgt, als mir bewusst wurde, dass mir der Schweiß den Hals hinunterlief, sodass der Kragen an meiner Haut klebte. Ich schnappte mir ein weiteres Glas Champagner vom Tablett eines Kellners und winkte ab, als sie mir einen Stuhl anbot. Nach einem weiteren leidenschaftlichen Vortrag, diesmal über das elende Los von Kinderversklavung, spürte ich endlich die Hand meiner Frau auf dem Arm. Sie gab mir zu verstehen, es wäre an der Zeit fürs Abendessen. Während sie mich ans Kopfende der Tafel lotste, flüsterte sie: »Mein Gott, was für eine Langweilerin. Ich habe sie erst gesehen, als es schon zu spät war.« Mir war ein wenig übel, und ich war gereizt. Außerdem fühlte ich eine irrationale Wut auf Olivia, weil sie ihren Job nicht besser gemacht hatte.

»Scheiße noch mal, Liv, es ist unerträglich, sich mit diesen Leuten herumschlagen zu müssen. Ich hab dir doch gesagt, dass das hier ein Riesenfehler ist.« Sie kräuselte die Lippen und sah aus, als wolle sie mich zurechtweisen, aber ich ließ es nicht so weit kommen. »Erspar’s mir. Ich bin nicht in Stimmung für eine deiner endlosen Strafpredigten.« Damit schüttelte ich sie ab und erreichte meinen Platz genau in dem Moment, als der lächerliche Ansager im weißen Smoking, auf den Olivia bestanden hatte, verkündete, das Essen sei angerichtet. Eine ermüdende Auseinandersetzung mit meiner Frau hatte ich also erfolgreich vermieden, aber eine Stunde später war ich tot. Das Leben ist schon eine lustige Abfolge von Vor- und Nachteilen.

Olivia

Der Abend war blitzschnell vergangen. Drinks um sieben, Essen um neun und dazwischen Reden. Die Kinder hielten eine angemessen überschwängliche darüber, was für ein fabelhafter Vater er sei. Das klang definitiv authentisch, aber so was schafft ein Redenschreiber der Spitzenklasse eben, wenn man ihn gut genug bezahlt. Seine Mutter gab gnädigerweise nur eine kurze Würdigung von sich, in der sie ihn ziemlich eindeutig mit seinem älteren Bruder verwechselte und dauernd Andrew nannte. Das hätte keine so große Rolle gespielt, wäre Andrew nicht mit acht gestorben, was Anthony auf Jahre hinaus traumatisierte. Ich kann nicht leugnen, dass das die Stimmung kurz trübte. Alle anderen Programmpunkte des Abends liefen wie am Schnürchen, und ich spürte, wie ich mich merklich entspannte, kaum dass man die Gäste ins zweite Festzelt geleitet hatte.

Als mir die Rolle der charmanten Gastgeberin zu viel wurde, entwischte ich für eine Zigarette, und irgendwann vor dem Abendessen ging ich hinunter an den Teich, um Allegra die Beleuchtung zu zeigen. Sie war nämlich schrecklich spät gekommen und hatte die ganze Show verpasst. Am anderen Ufer sah ich meinen Mann eine Zigarre rauchen, während er mit Giles in ein Gespräch vertieft war. Wir nickten einander zu, mehr nicht. Eine reduzierte Interaktion trug zweifellos dazu bei, dass ich den Abend so genoss.

Deutlich nach Mitternacht erfuhr ich, dass unten am See etwas passiert war. Die Band hatte richtig aufgedreht, und die meisten Leute befanden sich auf der Tanzfläche. Ich selbst tanze nie. Mir graut vor Betrunkensein und Kontrollverlust, und ich finde es immer megapeinlich, wenn ich Leute sehe, die ich eigentlich respektiere, wie sie sich auf einer Tanzfläche aufführen. Stattdessen hielt ich Hof im Sitzbereich um den Flügel und bemühte mich, nicht jedes Mal zu erschauern, wenn Alex Lawson sich Shimmy tanzend an mir vorbeischob. Die Frau war eine der bekanntesten Kronanwältinnen Londons und sie versuchte, Roger Simons, der zufällig Richter am High Court ist, zum Limbotanzen zu verführen. Ich zischte ihr »Würde bewahren« zu, als sie vorbeistolperte, doch sie war schon viel zu betrunken, um mir auch nur die geringste Beachtung zu schenken.

Ich unterhielt mich gerade mit meiner lieben Freundin Lou Molton darüber, wie gut der Abend gelaufen war. Sie ist eine sehr talentierte Innenarchitektin, aber ganz schlecht darin, sowohl Geld als auch Ehemänner festzuhalten. Und obwohl sie es meistens gut zu verbergen versteht, weiß ich, dass sie ziemlich neidisch auf mich ist. Sie sagte, wie wundervoll das Zelt aussehe, als Lyra sich durch die Menge drängelte und auf mich zu stürmte. Seit das Essen zu Ende war, hatte ich keins meiner Kinder mehr gesehen. Keins von ihnen war besonders wild darauf gewesen, an der Veranstaltung teilzunehmen, doch da hatte ich nicht mit mir reden lassen. Ich bestand darauf, dass sie sich von ihrer besten Seite zeigten, bis die Reden vorbei waren. Danach, hatte ich ihnen versprochen, konnten sie machen, was sie wollten.

Wie immer bei Lyra war meine erste emotionale Reaktion auf den Anblick meines dritten Kindes Verärgerung. Trotz meiner Bitten hatte sie sich entschieden, ein schwarzes Minikleid mit Turnschuhen zu tragen. Dazu genügend Augen-Make-up, um leicht pandaartig zu wirken. Kleidung drückt Respekt aus. Und Lyra zieht sich immer so an, als würde sie ihr Gegenüber verhöhnen. Vielleicht verhöhnt sie damit aber auch nur mich.

»Irgendwas stimmt nicht – Fred und Giles sind unten am See. Dad ist verletzt.« Das sagte sie so laut, dass es die Musik übertönte und einige Leute sich zu uns umdrehten. Ich gab ein leises Pscht von mir, um sie wissen zu lassen, dass sie gerade eine Szene machte. Doch wie immer ignorierte sie meine Wünsche und zog mich am Arm, bis mir nichts anderes übrig blieb, als ihr zu folgen. Lou war dicht hinter uns, versessen darauf, für jegliches potenzielles Drama parat zu stehen. Als wir den Weg hinunter zum Teich erreichten, hatten sich uns schon einige andere angeschlossen. Ich blickte mich um und sah Hamish McWirter sowie einige Frauen, die ich nur vom Sehen, aber nicht namentlich kannte – der Club der jüngeren Zweitfrauen und Freundinnen. Eifrig liefen sie uns hinterher. Wir brauchten nur ein paar Minuten, aber es kam mir viel länger vor, weil meine Absätze ständig in dem verdammten Kies versanken, auf den Fred bestanden hatte. Ich war für Sandstein gewesen, aber da hatte er mir stirnrunzelnd erklärt, für einen Garten sei das ein zu gewalttätiges Material, was auch immer das bedeutete. Keiner hätte jetzt unten am Teich sein sollen. Ich hatte noch ein wundervolles Feuerwerk auf der Rasenfläche vor dem Haus geplant, um das Ende des Abends zu signalisieren. Zudem wollte ich nicht, dass die Leute auseinanderliefen und dadurch meinen sorgsam ausgearbeiteten Plan ruinierten. Das Feuerwerk würde diesen ganzen Wahnsinn auf eine wirklich atemberaubende Weise illuminieren. Es mochte schönere Häuser in den Cotswolds geben, aber alle neideten mir meine Extravaganz.

Ich hatte schon immer gewusst, dass Anthony die Sache irgendwie verderben würde, weil er nie etwas ernstnehmen konnte. Ich hatte die Party für ihn gegeben, als Feier unserer Familie und unseres Erfolgs, und er war abgehauen, um unten am Teich irgendwelchen Unfug zu treiben. Jetzt bemühte ich mich, meinen Zorn im Zaum zu halten, während ich so viele Leute herbeieilen sah, die wissen wollten, was er jetzt wieder angestellt hatte. Aber die Gereiztheit wollte nicht weichen, und ich wurde die mürrische Miene nicht los, die sich auf mein Gesicht gelegt hatte. Dabei machte ein mürrischer Ausdruck dermaßen alt.

Jemand hinter mir keuchte: »Er ist im Teich!« In dem verdammten Teich. Die Kinder hatten sich einen Pool gewünscht und darum gebettelt, aber ich finde so was unerträglich hässlich. Pools sind etwas für Villen in Südfrankreich, aber nicht für die Cotswolds, wo es viel regnet und erst ab Juli richtig heiß wird. Stattdessen hatte ich diesen Teich graben, mit Trinkwasser füllen und allwöchentlich vom Gärtner betreuen lassen. Wenn sie unbedingt schwimmen wollten, hatte ich ihnen erklärt, konnten sie es darin tun. Meinem Sohn muss man zugutehalten, dass er die Herausforderung annahm und jeden Morgen hineinsprang. Die anderen weigerten sich beleidigt, auch nur in die Nähe zu gehen. Vor allem Anthony war ein Weichei, was kaltes Wasser betraf, und traute sich in seinem ganzen Leben nur zweimal rein. Ich wünschte, ich hätte meine ursprüngliche Idee durchgesetzt und an der Stelle einen Irrgarten angelegt. So ein Labyrinth fand ich schon immer chic, aber Anthony murmelte nur, wenn er ein Wochenende damit verbringen wolle, sich zu verirren, dann würde er das auf Ibiza tun. Damit war die Diskussion beendet.

Die Szene sah beinah aus wie ein Renaissancegemälde. Giles und Freddy standen beide im Wasser, und zwar mit erhobenen Händen, als würden sie ein unsichtbares Orchester dirigieren. Zwischen ihnen befand sich mein Mann in einer unmöglichen Haltung, als schwebte er irgendwie auf dem Wasser. Sein Gesicht befand sich unter der Wasserfläche, während die Arme neben seinem Kopf trieben wie bei einem Kind, das toter Mann spielt. Seine Beine hingen schlaff herunter. »Er wurde aufgespießt!«, heulte eine Frau in einem ziemlich offenherzigen roten Kleid. Hamish brachte sie zum Schweigen, dabei hatte sie recht. Mein Mann steckte durchbohrt auf einem dieser Metallstäbe, die die wunderschönen Leuchtkugeln am Ufer des See trugen. Aufgespießt wie ein Fisch.

Ich trat näher und bemerkte die Uhr an seinem Handgelenk, die ich ihm erst am Vortag geschenkt hatte. Der Verkäufer hatte sich lang und breit darüber ausgelassen, dass man mit ihr hundert Fuß tief tauchen könne. Allerdings ist ein Teich in den Cotswolds nichts im Vergleich zum klaren blauen Wasser des Mittelmeers. Typisch Anthony, so nachlässig damit umzugehen. Einige Leute schrien jetzt. Ich fuhr herum und brachte sie mit einem finsteren Blick zum Schweigen.

»Er ist tot«, sagte Fred, als ob die blutige Stange das nicht ohnehin jedem verraten hätte. Er ist schon immer jemand, der das Offensichtliche ausspricht. Ein sehr schlichtes Gemüt und nicht ganz das, was ich mir als meinen einzigen Sohn gewünscht hätte, wobei die anderen auch nicht gerade Mitglieder bei MENSA sind. Ich schaffte es nicht, den Blick von der Leuchtkugel zu nehmen, die unter Wasser schimmerte und das Blut beleuchtete. Das war eigentlich das Schlimmste an der Sache. Man würde meinen, es sei der Anblick von Anthony, der wie eine gruselige Schlenkerpuppe auf einem Metallstab steckte, aber das dunkelrote Wasser war irgendwie noch schockierender. Auch wenn ich bei den Planern auf sanftes Licht bestanden hatte, war es alles andere als das.

Hamish war angetreten, um die Schar von Zweitfrauen zu trösten. Für meinen Geschmack etwas zu eifrig. Lyra rannte zu ihrem Bruder, stolperte am Ufer allerdings und fiel auf die Knie. Pragmatisch wie immer gab Giles sein Bestes, um alle von der Leiche fernzuhalten, wobei er da ziemlich wenig zu tun bekam. Keiner hatte es eilig, sich diesem Horror weiter zu nähern. Diese verdammten Lichtkugeln funktionierten prächtig und erleuchteten die Szenerie beinah wie geplant.

Lou machte auf dem Absatz kehrt und rannte zum Zelt zurück, wobei sie uns über die Schulter noch zubrüllte, sie würde Hilfe holen. Was für ein Feigling. Und ich? Ich rührte mich nicht. Keinen Millimeter. Viele Male hatte ich meinem Mann in Augenblicken größter Wut den Tod gewünscht. Ich hatte mir sogar überlegt, wie das passieren könne, sorgsam Szenarien entworfen, in denen er von einer wütenden Welle ins Meer hinausgezogen wurde oder bei einem schrecklichen Hubschrauberunfall knusprig verbrutzelte. Aber das waren nur normale Fantasien, wie wir Frauen sie in den vielen Krisenmomenten langer Ehen eben haben. Nach einem Martini zu viel erzählte mir Jessica De Palmer, die großartige Freundin meiner Mutter, einmal, sie tröste sich damit, dass ihr Mann wahrscheinlich wie alle anderen Männer in seiner Familie an einem schweren Herzinfarkt sterben würde. Sie scherzte noch, dass sie sehr darauf achte, dass die Haushälterin möglichst ungesund koche, um diesen Prozess zu beschleunigen. Wie das Schicksal es wollte, überlebte William De Palmer seine Frau und ist jetzt mit einer viel jüngeren verheiratet, die ihn zu einem gesunden Lebensstil verdonnert und Alkohol verboten hat. Ich vermute, er wäre jetzt doch lieber tot.

Wenn’s drauf ankommt, kann ich sehr pragmatisch sein. Manche mögen das kalt nennen, mehr als eine Zeitung hat mich schon »eiskalt« genannt, doch es ist nützlich, wenn man imstande ist, unnötige Gefühle auszublenden, sofern sie einen am Handeln hindern würden. Zwei Dinge kamen mir sofort in den Sinn. Erstens schwor ich mir, vor diesen Zweitfrauen mit ihrem Katzenjammer weder zu weinen noch zu heulen. Ich wusste nur zu gut, wie gern sie über diejenigen tratschten, die vor ihnen da gewesen waren. Sie hätten ihre Freude daran, sich die Mäuler über meine verheerende Verzweiflung zu zerreißen, wenn ich auch nur eine Spur Gefühl zeigen würde. Und außerdem trat mein Mutterinstinkt in Aktion. Der mag zwar irgendwie schwächer sein als der mancher Frauen, denn ich war nie so besessen von meinen Kindern wie andere – schließlich bestimmt dein Nachwuchs trotz allem nicht deinen Charakter –, aber irgendwo in mir existiert er eben doch.

Kommt hierher, herrschte ich Lyra und Freddy so streng an, dass sie trotz ihres Schocks sofort aufstanden und zu mir liefen. Zurück ins Haus, wir gehen zurück ins Haus, sagte ich und packte sie bei den Händen. Wir schoben uns zwischen den Zweitfrauen und Freundinnen durch, von denen viele jetzt tatsächlich weinten. Vermutlich aus Trauer über die verlorene Gelegenheit. So stapften wir den Kiesweg hinauf und auf die blinkenden Lichter der Zelte zu. Ich erinnere mich, dass die Band gerade »Oh what a night« anstimmte, als wir näher kamen. Wie zutreffend, auf finstere Weise. »Nicht da lang«, bat Lyra. Ich verstand ihr Bedürfnis, und die Vorstellung, an Hunderten von Leuten vorbei zu müssen, die größtenteils betrunken waren, schien unerträglich. Aber ich würde nicht zulassen, dass Clara und Jemima es von irgendwelchen entfernten Bekannten erfuhren oder, noch schlimmer, jemand vom Personal es ihnen sagte. Die Therapeutenrechnungen, die ich für meine Kinder berappte, waren ohnehin schon Wucher, warum das noch verschlimmern?

Wir marschierten über die Tanzfläche und stießen dabei gegen Feiernde. Freddy war voller Matsch und auch Lyra ziemlich verdreckt, was sie noch mehr als sonst wie eine Landstreicherin aussehen ließ. Ich bemühte mich zu lächeln, als könnte das meine Gäste irgendwie beschwichtigen. Anthonys Persönliche Assistentin tanzte mit einem Mann, den ich nicht kannte, und wackelte eine Spur zu obszön mit den Hüften. Als ich vorbeiging, fing sie meinen Blick auf, und ich sah, wie ihr Gesichtsausdruck sich von verführerisch in überrascht änderte. Als Reaktion verschwand mein Lächeln. Ich verabscheute Lainey sehr, und das Letzte, was ich wollte, war, dass sie uns folgte und mit ihrer leicht atemlosen Stimme, die immer meinen Blutdruck in die Höhe jagt, ihre Hilfe anbot. Also schüttelte ich rasch den Kopf, woraufhin sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann vor sich richtete. Der war definitiv auf sie fixiert und starrte derart hingebungsvoll in ihr Dekolleté, dass er davon Migräne kriegen würde, wenn er nicht aufpasste. Endlich entdeckten wir Clara. Sie war die Jüngste und saß mit ihrer Freundin Willa an der Bar. Offenbar hatte sie die Party für sich schon abgehakt und nutzte jetzt die Gelegenheit, sich so schnell wie möglich zu betrinken. Ich erklärte nur: »Wir müssen gehen.« Dann zog ich sie vom Barhocker und ignorierte ihre wütenden Proteste.

Schließlich tauchte auch Lyra, die kurz verschwunden war, als wir das Zelt betraten, wieder neben mir auf. Sie hatte Will mitgebracht, der ungewöhnlich nervös wirkte. Ich unterdrückte meine Missbilligung. Er war zwar Jemimas Ehemann und musste als solcher wohl zur engsten Familie gezählt werden, aber das hatte ich nie wirklich akzeptiert. Der Mann war ein Waschlappen, und mich ärgerte, dass die Leute in ihm einen Wistern sahen, was er selbst mit Sicherheit bekräftigte.

Er wisse nicht, wo seine Frau sei, faselte er, und ich warf ihm daraufhin einen derart wütenden Blick zu, dass er tatsächlich zusammenzuckte. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte mir das eine Spur Genugtuung verschafft, aber in jenem Moment war es leider vergeudet.

Ich wusste, dass wir nicht viel länger in dem Zelt bleiben konnten. Aus dem Augenwinkel sah ich Richard Price auf mich zu stolzieren. Offenbar war er für sich zu dem Schluss gekommen, was auch immer da passiere, sollte ihn in gewisser Weise involvieren. Ich hob den Arm zu einer abwehrenden Geste und schob meine Familie aus dem Zelt. Die letzten Meter zum Haus rannten wir praktisch. Fred hatte die Arme um seine Schwestern gelegt, und Will streckte mir eine Hand hin, die er rasch wieder zurückzog, da ich sie ignorierte. Als wir die Terrassentüren zum Wohnzimmer erreichten, kam Jemima gerade herein. Sie trug einen Bademantel und hatte ein Handtuch um ihre Haare geschlungen. Während sie uns überrascht ansah, hörte ich von der Einfahrt schon die Sirenen der Polizei.

Die Wahrheit

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An dem Abend, als das alles passierte, war ich nur drei Meilen und doch eine ganze Welt entfernt in meinem alten Kinderzimmer. Zu Beginn meines Studiums hatte ich hartnäckig behauptet, nicht mehr nach Hause zu kommen, weshalb ich die meisten meiner Sachen weggeworfen hatte. Was sollte ich damit, wenn ich ein aufregendes Erwachsenenleben in London führte? Jetzt bedauerte ich das bitterlich, vor allem weil meine Mutter den Raum in ihr Strickzimmer verwandelt und die Wände mit kitschigen Tapeten zugekleistert hatte. Kleine Muscheln, die unbestreitbar wie Penisse aussahen. Unmöglich, sie nicht anzustarren. Ich saß bis spät in die Nacht am Schreibtisch und sah mir auf dem Laptop eine Doku über einen Mörder in Crawley an, der Menschen tötete, indem er ihnen Luftballons über den Kopf zog. Der Film trug den fantasievollen Titel Balloon Beast, und wenn ich ehrlich bin, war er nicht besonders fesselnd. Keine Ahnung, ob ein Luftballon die effektivste Art ist, jemanden zu töten. Der Typ vermasselte es jedenfalls dreimal und musste dann ein Messer benutzen, um den Job zu Ende zu bringen. Man hätte ihn einfach »Der Messermörder« nennen sollen, aber was wäre daran Besonderes gewesen?

Der Laptop-Bildschirm hatte immer noch einen Riss, weil ich den Rechner vor einem halben Jahr auf den Boden geworfen hatte. Aus Wut, denn ich sah rot, als mich der machthungrige Moderator des True-Crime-Forums Sleuth Seekers wegen zu vieler Posts gesperrt hatte. Wenn ich rot sehen sage, meine ich das wörtlich. Wenn ich wütend werde, glüht ein greller Feuerball vor meinem Gesicht. Wie kann man einer Person vorwerfen, dass sie zu viele Fragen stellt? Sind wir nicht dazu da, ein bisschen tiefer zu graben als alle anderen? Geht’s nicht genau darum? Der Moderator meinte, das sei Spam, ich würde zu oft posten und anderen Leuten keine Chance lassen. Offenbar gibt es sogar in einem Forum für True Crime einen selbst ernannten Anführer, der entschlossen ist, die Massen zum Schweigen zu bringen, wenn es ihm nicht passt. Das gilt sogar für die aktivste Userin, auf die sich andere verlassen, wenn es um News zu einem neuen Fall geht.

Nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen hatte, kam ich zu dem Schluss, dass das Forum in letzter Zeit sowieso langweilig geworden war. Zu viel Fokus auf die immer gleichen alten amerikanischen Serienmörder. Und alle folgten dem blutigen Trend, je grausamer, desto besser. Die meisten wollten bloß Unterhaltung, sie waren nicht wirklich an Ungerechtigkeit interessiert, sondern daran, sich in ihrer Mittagspause mit etwas zu beschäftigen, das bewirkte, dass sich ihr eigenes Leben besser anfühlte. Wenn die meine Arbeit nicht zu schätzen wussten, würde ich eben woanders hingehen.

Ich hätte einen Podcast starten sollen und könnte mich immer noch dafür ohrfeigen, es nicht getan zu haben, bevor die durch die Decke gingen und jeder Idiot damit anfing. Die verdammten Crime Kittens haben Millionen Zuhörer und scheffeln tonnenweise Geld. Dabei tun die nichts anderes als Wikipedia-Artikel über Morde von vor Jahrzehnten wiederzukäuen.

Stattdessen fing ich mit einem Channel bei YouTube an und brachte mir bei, wie TikTok funktioniert. Anfangs waren meine Zahlen nicht vielversprechend, aber langsam habe ich mir eine kleine Schar von Followern aufgebaut – Leute, die tatsächlich helfen wollen, Verbrechen aufzuklären, anstatt nur auf ihren Ärschen zu hocken und sich schlecht zusammengestoppelte Dokus anzuschauen, um sich zu gruseln. Aber es reichte mir nicht, wie alle anderen einfach nur die Fälle zu verfolgen. Ich wollte mir echtes Gehör verschaffen. Dafür brauchte ich meine eigene Story. Eine, die, wie sich herausstellte, exakt in jenem Augenblick passierte, direkt die Straße runter und noch dazu einem Mann, den ich nur zu gut kannte.

Anthony

Es ist wirklich das Krasseste, in einer Minute noch am Leben zu sein und in der nächsten schon tot. Die lassen einem hier nicht genug Zeit, um das zu kapieren, und glauben Sie mir, wenn Sie sich im Aufnahmezentrum wiederfinden, dann brauchen Sie erst mal einen Moment. Ich halte mich ja eigentlich für einen Mann, der mit jeder Situation zurechtkommt. Aber ohne jegliche Erklärung, was da gerade passierte, dachte ich, dass ich anscheinend gerade den Verstand verliere. Oder dass einer der Burschen mir zwielichtigen Stoff angedreht hat. Wie konnte ich in einer Minute noch auf einem rauschenden Fest mir selbst zu Ehren gewesen sein und in der nächsten in einem beigefarbenen, fensterlosen Raum?

Tatsächlich wusste ich anfangs nicht, dass ich gestorben war. Das dauerte ein paar Stunden. Zuerst dachte ich, ich muss im Knast sein. Die trostlose Einrichtung erinnerte mich an irgendwelche Low-Budget-Filme, die im Gefängnis spielen, und ich machte mich schon auf die unvermeidlichen Anschuldigungen gefasst. Aber es gab kein Wachpersonal und ich trug keine Handschellen. Während ich in einem Wartezimmer hockte, fielen mir große, laminierte Schilder ins Auge. Auf denen standen Sachen wie: »Sie sind in Sicherheit. Bitte bewahren Sie Ruhe und warten Sie, bis ein Mitarbeiter Ihnen die Lage erklärt.« Oder: »Bedrängen Sie unsere Ehrenamtlichen nicht, denn sie sind sehr beschäftigt und werden Ihre Nummer aufrufen, wenn es so weit ist.« Ich blickte auf meine Hände und siehe da, ich hielt einen Zettel mit der Nummer 69 zwischen den Fingern. Meine Lieblingszahl, scherzte ich, worüber niemand lachte. Die Dame neben mir weinte laut, was mich unendlich nervte, während ein Kerl in einem Regenmantel zusammengekrümmt am Boden lag, als wäre er betrunken. Vielleicht hatten die Drogen mir ja wirklich einen Streich gespielt, und dies alles war einfach eine seltsame Halluzination, die ich aushalten musste. Jedes Mal, wenn ich zum Empfang ging, um zu fragen, was los sei, schüttelte ein junges Mädchen mit strähnigen Haaren nur den Kopf und erklärte, ich solle warten, bis ich dran sei.

Als meine Nummer endlich aufgerufen wurde, führte eine Frau, die ein Twinset trug, mich in ein weiteres fensterloses Zimmer, wo ich seltsamerweise ganz leise von irgendwoher »Come on Eileen« hörte. Die stellvertretende Leiterin des Aufnahmezentrums (denn das stand auf ihrem kleinen laminierten Ausweis) rollte mit den Augen und sagte zu der Rezeptionistin, sie solle etwas Angemesseneres spielen (»Die müssen sich beruhigen, Cathy, das ist doch keine Party«), bevor sie die Tür schloss.

Ein paar Papiere wurden zusammengeschoben, auffälligerweise ohne ein Lächeln. Die Ansprache war kurz und vage. »Willkommen im Aufnahmezentrum, ich bin Susan. Es tut mir sehr leid, dass Sie bei uns sind, und ich kann mir vorstellen, dass das, was ich gleich sagen werde, ein Schock für Sie ist, aber Sie bekommen alles erklärt, sobald und wenn es sich als nötig erweist.« Dann wartet sie exakt drei Sekunden, bis sie mir sagt, dass ich tot bin und mich aktuell im sensiblen Zwischenreich zwischen Dies- und Jenseits befinde. Wie man sich vorstellen kann, hatte ich eine Menge Fragen. Eine verdammte Schande, so eine Halluzination, bei der diese langweilige Frau mir mehrfach erklärt, ich sei tot, sich aber weigert, mir Einzelheiten zu nennen. Man würde meinen, es gäbe rosafarbene Elefanten oder zumindest irgendeine Orgie, an der man in nüchternem Zustand nicht teilnehmen kann. Aber selbst während ich mich daran klammerte, wusste irgendwas in mir, dass es sich nicht um einen Traum handelte. Es fühlte sich auf düstere Weise real an, von dem billigen Linoleumfußboden bis zum Poster an der Wand, dessen Ecken sich aufrollten. Darauf war ein Sonnenuntergang mit einem unspezifischen Ozean zu sehen, und der Text lautete: »Wo du nach dem Tod hinkommst, hängt davon ab, wo du im Leben warst.« In meinem Fall konnte das alles heißen – Capri, St. Tropez oder die Insel neben Richard Bransons Necker Island, die, wie alle insgeheim zugeben, viel hübscher ist als sein kleiner Felsstummel. Aber nicht hierhin. Nicht an einen Ort, wo man Dexys Midnight Runners spielt.

Es gab ein gereiztes Hin und Hin, in dessen Verlauf sie mir sagte, ich müsse mich daran erinnern, wie ich gestorben sei, bevor ich auf die »nächste Stufe« gelangen könne. Ich erwiderte mehrfach, sie solle diesen Blödsinn lassen. Da wurde sie ziemlich ungeduldig und sagte, es wäre gut für mich, wenn ich meinen Tod lieber früher als später akzeptierte. Schließlich stand ich auf und trat an ihren Schreibtisch, um nach einem Telefon zu suchen. Meine Anwälte würden das klären. Ich zahle doch nicht Tausende Pfund pro Stunde an eine Kanzlei mit dem Spitznamen »die Hyänen«, um Zeit in einem Büro des mittleren Managements mit so einer Frau zu verbringen. Aber da war kein Telefon. Die Frau seufzte erneut und stand auf.

»Wie ich sehe, muss ich es Ihnen wohl zeigen, Mr. Wistern.« Damit stieß sie ihre Hand in meinen Bauch. Das fühlte sich kalt an. Als hätte sie mir Wasser in den Bauch gekippt. Ich blickte an mir runter. Ihre Hand steckte in meinem Bauch, und ich sah dort, wo sich mein Nabel befand, nur noch ihr Handgelenk herausragen.

»Körperverletzung«, brüllte ich und wich vor ihr zurück. »Das ist eindeutig Körperverletzung. Das lasse ich mir nicht gefallen. Was für einen Schwindel Sie da auch immer veranstalten, ich nehme Ihnen das nicht ab. Ich verlange, mit der verantwortlichen Person zu sprechen.« Anstatt sich zu entschuldigen oder wegen meines Ausbruchs erschrocken zu sein, schmunzelte diese dumme Frau nur.

»Ich dachte, dass ich Sie damit überzeugen kann. Ich habe meine Hand in ihren Bauch gesteckt, Mr. Wistern. Weil unsere leiblichen Körper nicht mehr existieren, hat Ihnen das keinen Schaden zugefügt. Insofern müssen Sie doch begreifen, dass Sie nicht mehr am Leben sind.«

»Ich will Ihren Chef sprechen«, sagte ich entschlossen, woraufhin sie wieder seufzte.

»Die Leitung ist gerade nicht verfügbar, aber ich werde sie wissen lassen, dass Sie sobald als möglich mit ihr zu sprechen wünschen. Jetzt, fürchte ich, muss ich die nächste Person aufnehmen, denn wir sind heute ungewöhnlich beschäftigt. Eine Diensthabende wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen.«

Ich wurde, immer noch fluchend, hinausbegleitet und von einer Frau in einem Arbeitsoverall zu meinem neuen Schlafquartier gebracht. »Hoffentlich sind Sie nur für kurze Zeit hier«, sagte sie, als sie mir eine Plastiktüte mit neuen Klamotten und Schuhen gab. »Sobald die Einzelheiten Ihres Todes geklärt sind, kommen Sie an den nächsten Ort. Das müssen Sie nur rauskriegen.« Als ich fragte, was sie damit meine, zwinkerte sie mir zu und ging davon.

Während ich auf einem bemerkenswert unbequemen Einzelbett hockte, blickte ich auf meinen Bauch. An dem war keine Spur von irgendwas zu sehen. Die Erkenntnis überfiel mich, und zwar verdammt heftig. So war also der Tod. Nicht, wie ich mir vorgestellt hatte, ein schwarzes Loch aus Nichts, sondern etwas, das Ähnlichkeit mit einem heruntergekommenen Hostel hatte. Sollte sich herausstellen, dass der Himmel von einer Art Hippie-Kommune geführt wurde, wollte ich nichts damit zu tun haben.

Ich griff nach der Broschüre, die die Diensthabende mir ausgehändigt hatte. »Ihr Ableben verarbeiten«. Auf der Titelseite war die Skizze einer Person zu sehen, die eine Faust gen Himmel schüttelte. Daneben stand: »Warum es so wichtig ist zu akzeptieren, wie Sie gestorben sind.« Das Ganze war in einer Sprache verfasst, die einem achtjährigen Kind angemessen war. »Du wirst traurig sein, wenn du erfährst, dass du tot bist, und das ist okay! Der Verstand schaltet in den letzten Augenblicken des Lebens ab, um dich zu schützen – der Tod kann oft sehr schmerzhaft sein. Gut gemacht, Gehirn! Als Folge gibt es normalerweise eine Lücke von ungefähr dreißig Minuten in deinem Gedächtnis. Jetzt musst du Detektiv spielen und rauskriegen, wie du die zurückbekommst. Die meisten Leute sterben an einer Krankheit, vielleicht willst du da als Erstes suchen? Oder vielleicht bist du bei einem Verkehrsunfall gestorben. Autsch! Die angebotenen Meditationssitzungen werden entscheidend sein, um diese Momente hervorzuholen. Sie sind freiwillig, aber sehr wichtig.« Warum musste ich rauskriegen, wie ich gestorben war? »Wir verstehen, dass es vielleicht albern erscheint, sich erinnern zu müssen, aber Tausende Jahre Erfahrung haben uns gezeigt, dass Menschen, die ohne dieses Wissen ins nächste Stadium des Lebens nach dem Tod kommen, oft sehr beunruhigt und wütend sind, was der ganzen Gemeinschaft Probleme macht! Zu wissen, wie du gestorben bist, bedeutet in gewisser Weise, zu wissen, wie du gelebt hast. Wir hoffen, du verstehst, dass dieses Wissen, so schmerzhaft es sein mag, dir helfen wird, dein bestes Leben im Jenseits zu leben.«

Auf der Rückseite stand eine stumpfe Auflistung von Bedingungen. »Die Erinnerung muss umfassend und vollständig sein, eine vage Vermutung oder eine halbe Erinnerung wird nicht akzeptiert. Du kannst deine Antwort so oft einreichen, wie du möchtest, aber nur eine zutreffende und detaillierte Beschreibung wird akzeptiert. Sollte dein Tod traumatisch gewesen sein, gibt es therapeutische Hilfe, aber sei gewarnt – die Warteliste ist aktuell sehr lang. Bitte keine anderen Leute um Hilfe.«

Angewidert warf ich den Prospekt auf den Boden.

Dann meldete sich mein Ehrgeiz. Selbst wenn es hier nur um die dümmste Sache ging, die ich je gehört hatte, würde ich als Gewinner daraus hervorgehen – Erfolg lag einfach in meiner Natur. Ich erinnerte mich an die Party zurück. Eine Party zur Feier meines sechzigsten Geburtstags. Konzipiert, um meinen Status, meinen Erfolg und meine Macht hervorzuheben. Was für ein Abend, um ins Gras zu beißen. Trotzdem bedeutete es vielleicht wieder eine Glückssträhne für mich, wenn Status, Erfolg und Macht keine Rolle mehr spielten. Oder andersherum: Weil ich wusste, wie viele der Gäste mich inbrünstig gehasst hatten, war ich vielleicht ermordet worden. Jetzt wurde die Sache ja doch spannend.

Anthony

Vince zeigte mir den Betrachtungsraum. Er war ebenfalls ein »Insasse«, wie er sich nannte, und dem Aussehen nach jemand, der fast sicher gesessen hatte und wusste, wovon er sprach.

Nischen mit dünnen Trennwänden und spartanischen Schreibtischen, auf denen sich nur Monitore und Mousepads befanden. »Von hier aus kannst du sie alle sehen«, erklärte Vince. »Sehen, wie sie damit klarkommen, dass du jetzt braunes Brot bist.« Ich sah ihn verständnislos an, und er grinste. »Braunes Brot, tot. Nur ein kleiner Scherz, um die Stimmung zu heben, Kumpel. Aber sei vorsichtig – manchmal erwischst du sie bei Sachen, die du lieber nicht gesehen hättest. Dreißig Jahre verheiratet, aber bis gestern hatte ich keine Ahnung, dass meine Alte so viel furzt.« Er schüttelte sich gespielt und marschierte davon.

Auf dem Monitor lief schon ein Video. Meine Familie. Es war total seltsam, sie alle im Wohnzimmer sitzen zu sehen, meine fassungslose Frau und die verdreckten Kinder, und zu wissen, dass dreihundert unserer engsten Freunde nur wenige Meter entfernt in den Zelten Wein becherten und tanzten. Zu wissen, dass meine Leiche irgendwo in der Nähe war. Ein Bild vom See blitzte in meiner Erinnerung auf. War ich ertrunken? Zumindest wollte ich ein paar Tränen sehen oder vielleicht sogar ein paar zerrissene Kleider. Für meinen Geschmack sahen sie für die Situation alle viel zu entspannt aus. Ich konnte leise Fetzen der Musik hören und konzentrierte mich darauf, den Song zu erkennen, um mich von meiner Verärgerung abzulenken. »A Way To Make A Living …« Dolly Parton! Der DJ verstieß gegen meinen ausdrücklichen Wunsch, nämlich von der Playlist abzuweichen, die ich meinen wunderbaren Kumpel Johnny hatte zusammenstellen lassen. Er war ein Musiker, der auf der ganzen Welt für volle Konzertsäle sorgte, und hätte nie etwas dermaßen Kitschiges ausgesucht. Schließlich war das der sechzigste Geburtstag eines erfolgreichen Mannes und kein Junggesellinnenabend in Southend.

Meine Kinder saßen auf verschiedene Sitzmöbel verteilt. Die Füße von Lyra, deren Gesicht alle Farbe verloren hatte, lagen auf einem Tisch. Fast als wollte sie, dass ihre Mutter eine Bemerkung dazu machte. Sie war schon immer mein Liebling, nicht zuletzt weil sie es zu einer Kunstform erhoben hat, Liv auf die Palme zu bringen. Dann war da Clara, die mit gesenktem Kopf viel zu laut schluchzte. Fred stand an der Terrassentür, als wollte er sich möglichst weit von den anderen fernhalten. Jemima saß auf dem Sofa, ein Handtuch neben sich, dessen Nässe in das Polster einzog. Olivia warf unserer ältesten Tochter tödliche Blicke zu, was diese entweder nicht merkte oder ignorierte.

Will, der gerade noch auf dem Flur mit einem Polizisten gesprochen hatte, kam genau in dem Moment rein, als die Musik endlich aufhörte. »Äh, sie erklären jetzt gerade, was passiert ist«, sagte er und wischte sich die Stirn, als hätte er bis eben körperlich gearbeitet. »Also, sie gehen nicht ins Detail, aber die Gäste müssen ja erfahren, dass irgendetwas nicht ganz in Ordnung ist.«

Clara schaute erbost auf. »Nicht ganz in Ordnung? Dad ist tot, Will. Könntest du mal nicht so tun, als wäre das eine verdammte kleine Unannehmlichkeit?« Er wurde knallrot und entschuldigte sich sofort. Mein Schwiegersohn hatte noch nie Rückgrat bewiesen, aber dass er jetzt vor einem hysterischen Teenager kapitulierte, war in meinen Augen ein neuer Tiefpunkt. Jemima sah das offenbar genauso, denn sie verzog das Gesicht, während ihr Mann sprach.

»Und Lainey ist draußen. Sie ist sehr mitgenommen. Soll ich sie hereinbitten? Ich glaube nicht, dass sie ein Auto hat oder …« Er verstummte, als er die Miene seiner Frau sah. Jemima besitzt wirklich das Talent ihrer Mutter für Blicke, die einen Mann auf der Stelle zu Staub zerfallen lassen können.

»Mein Gott, Will, warum lädst du nicht auch noch die Caterer ein, reinzukommen?«

Olivia ließ sich nicht einmal herab, darauf zu antworten, und mein Schwiegersohn verstand den Wink.

»Was zum Teufel ist überhaupt passiert?« Lyra nahm schwungvoll die Füße vom Tisch und beugte sich vor. Ich bemerkte, dass ihre Hände zitterten. »Wie kam es dazu, dass Dad von so einer Metallstange aufgespießt wurde? Das ist doch – Irrsinn. Geradezu komisch. Anthony fucking Wistern, harpuniert.« Sie schüttelte den Kopf und ich begann zu würgen. Ich war aufgespießt worden. Ich erinnerte mich daran, gefallen zu sein und dass ich den See auf mich zukommen sah, dann war da ein scharfer Stich unterhalb meiner Rippen. Die Erinnerung verblasste, aber der Schrecken blieb. Wie zum Teufel war das passiert? Wie konnte in heutigen Zeiten noch jemand gepfählt werden?

»Wirklich?« Das war wieder Will, der in seltsam hoher Tonlage sprach. »Für mich klingt das irgendwie nach etwas, das Anthony ähnlich sieht. Ein Abgang mit maximaler Aufmerksamkeit. Als alter Mann in seinem eigenen Bett zu sterben, wäre ihm viel zu langweilig gewesen, könnte ich mir vorstellen.«

Man würde denken, dass es unmöglich wäre, nicht mehr darüber nachzudenken, dass man aufgespießt wurde, nachdem man gerade daran erinnert worden ist, aber plötzlich schob sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund. Will, der sich mit einem entschuldigenden Lächeln an mich ranpirschte, während ich gerade mit Rufus Loewe eine schöne Montecristo rauchte. Weil ich schon wusste, was er wollte, entfernte ich mich nur widerwillig und verpasste dabei das Ende einer großartigen Geschichte, die mein Freund gerade erzählte. Über eine Schule, die pleite war und die er soeben mit dem Versprechen gekauft hatte, sie zu retten. »Diese Kids hocken in einer 1-A-Immobilie im besten Teil Londons. Allein aus der Aula mache ich eine Wohnung mit drei Schlafzimmern!«

Nachdem ich Will ein Stück den Rasen runter begleitet hatte, sagte mein Schwiegersohn mit gedämpfter Stimme: »Können wir kurz darüber reden, dass ich mir meinen Anteil wieder auszahle? Ich weiß, du warst in letzter Zeit sehr beschäftigt, aber ich fürchte, es ist ziemlich dringend.«

Ich hätte herablassend reagieren sollen, damit er sich dumm vorkam, so was zu fragen. Aber ich vermochte nicht immer zu verbergen, wie sehr er mich nervte. Und so konnte ich meine eigene Verärgerung darüber, dass ich ihn hatte investieren lassen, nicht kaschieren. In einem schwachen Moment, nach einem langen Mittagessen zu Ostern, eingelullt von einer hübschen Flasche Chateau Ausone und einem Nickerchen in der Sonne, hatte ich seinem Betteln schließlich nachgegeben. An dem Tag hatte er sich vor Dankbarkeit gewunden, aber jetzt hörte ich heraus, wie verbittert er war. Zufrieden damit, dass ich mich an diesen Augenblick erfolgreich erinnerte, kehrte mein Gedächtnis zu der Erinnerung zurück, dass ich aufgespießt worden war. Mir wurde erneut leicht übel.

»Denkst du, ich habe monatelang diese Party organisiert, damit mein Mann auf spannende Weise sterben konnte? Er war betrunken und ist eindeutig vom Steg gefallen, William.« Olivia bedachte ihn mit einem Blick voll kalter Wut. Derart ausgebremst stotterte er irgendwas von wegen, er stünde noch unter Schock. »Ihm fehlte überhaupt nichts, abgesehen von der Riesenmenge Alkohol, die er sich reingekippt hatte.«

»Genau, William«, sagte Lyra, die da nur zu gern mitmachte. »Dass du unterstellst, er wäre in irgendeiner Form lebensmüde gewesen, finde ich schrecklich. Er war so fröhlich wie immer.« Olivia nickte, obwohl sie wusste, dass es nicht stimmte. In dem Monat vor meinem Tod hatten wir häufiger gestritten als in unserer ganzen übrigen Ehe. Sie war sehr kalt zu mir, und ich vermutete, dass sie von einer anderen Frau ausging. Daraufhin erklärte ich ihr, das sei absurd. Es hielt sie nicht davon ab, rumzuschnüffeln. Eines Abends, als sie dachte, ich schliefe schon, ertappte ich sie in meinem Arbeitszimmer, wo sie durch meinen Laptop scrollte. Der Schein des Bildschirms beleuchtete ihr Gesicht. Dort würde sie nie irgendwelche Beweise finden. Ich war doch nicht so dumm, außereheliche Kommunikation auf meinem Laptop zu speichern. Ein zweites Handy ist das, was ein kluger Mann besitzt. Manchmal sogar ein drittes, wenn du es wirklich auf die Spitze treiben willst.

»Aber what the fuck? What the fuck?« Jemima schaukelte jetzt ein bisschen vor und zurück. »Fred, warst du dort?«, fragte sie beinah zu schnell. »Du hast uns noch nicht gesagt, was du gesehen hast.« Aller Augen richteten sich auf die Gestalt am Fenster, doch die drehte sich nicht um. Es trat eine Pause ein, bevor er antwortete.

»Ich hörte Giles schreien, also rannte ich vom Wald hinunter, um zu sehen, was los war. Er war in den Teich gewatet. Ich habe im ersten Moment noch gar nichts begriffen, und dann sah ich …« Mein Sohn verstummte und atmete laut aus, als fürchte er, die Fassung zu verlieren. Als Nächstes riss er am Türgriff und trat in den Garten hinaus, bevor irgendwer ihn daran hindern konnte.

»Zurück zu seinen Baumfreunden«, bemerkte Lyra. »Seinen einzigen richtigen Freunden.« Will lief ihm nach, weil es ihm immer ein Anliegen ist, zu beweisen, wie nützlich er sein kann.

Clara schrieb irgendwas in ihr Handy und ich verrenkte mir den Hals, um es zu lesen. »RIP Dad«, hatte sie über ein Selfie mit tränenüberströmtem Gesicht geschrieben. Unsere Jüngste war total aufmerksamkeitsgeil. Einmal brachte sie es so weit, dass im Skiurlaub ein Sessellift wegen ihr anhalten musste. Sie war aus dem Sessel geklettert, um ein Selfie von sich zu schießen, während sie daran runterhing. Aber meinen Tod als Content zu benutzen war ein neuer Tiefpunkt. »Vielleicht wurde er ermordet«, schlug sie vor, wobei sie sich nicht mal die Mühe machte, aufzuschauen. Ermordet. Na klar, na klar, das ist passiert! Clara mochte eine Egomanin sein, aber sie war nicht blöd. Wer zum Teufel hatte ausgeheckt, mich umzubringen? Ich fühlte mich ehrlich gekränkt und merkte, dass das Sodbrennen, das mich so oft quälte, in meiner Brust hochstieg. Sodbrennen, wenn du tot bist, das ist doch ein besonders grausamer Scherz. Es ist nicht in Ordnung, einen Mann auf seiner eigenen Geburtstagsparty zu töten. Einen fairen Kampf, mehr verlange ich gar nicht.

»Wie absurd ihr alle seid.« Nachdem nur noch die Mädchen übrig sind, hat meine Frau beim Sprechen die Augen geschlossen, als wollte sie alle ausblenden. Dadurch wirkt die Atmosphäre noch giftiger.

Nichts erzeugt mehr Sehnsucht nach Söhnen als die Tatsache, drei Töchter zu haben, selbst wenn die so seltsam wären wie Fred. »Er wurde nicht ermordet. Das hier ist kein Kinofilm.« Warum war Olivia so scharf drauf, das Offensichtliche auszuschließen? Die Besessenheit dieser Frau, bloß keine Szene zu machen, trübt ihren logischen Verstand. Aufgespießt, Livvy.

»Äääh, machst du Witze? Denkst du, er ist bloß gestolpert und auf eine Metallstange gefallen? Hast du schon mal eine True-Crime-Doku gesehen?« Jetzt war Claras Aufmerksamkeit gefesselt, und sie starrte ihre Mutter an, als wäre die geistig minderbemittelt.

»Ach, verschon uns mit deiner abartigen Sucht nach True Crime. Hier geht’s nicht um irgendeine Tramperin am Arsch der Welt in Nebraska. Es könnte leicht aus Versehen passiert sein«, feuerte Jemima zurück. »Die Nachrichten sind ständig voll von außergewöhnlichen Unfällen, bei denen Leute zerquetscht werden oder in irgendwelche Maschinen geraten.«

»Ja, aber diese Leute sind nicht Dad, Jem.« Lyra schenkte sich ein Glas Wein ein, und ich war verzweifelt neidisch. »Diese Leute arbeiten tatsächlich unter gefährlichen Bedingungen. Dad hingegen arbeitete an einem Handy. Manchmal sogar an zwei.« Immer dazu aufgelegt, in dieser Wunde zu stochern, sah sie ihre Mutter vielsagend an.

»Also, mit seinem Job muss er sich Feinde gemacht haben«, sagte Clara, die gerade ihren Eyeliner mit kräftigen, schwungvollen Strichen nachzog. »Er hat eine Menge Kohle gemacht, und das ist Grund Nummer eins, warum Leute umgebracht werden. Das auf einer Geburtstagsparty zu tun, ist so klassisch. Psychos lieben es, sich hervorzutun, das weiß doch jeder. Diese Frau in Bristol, die letztes Jahr ihren Mann umgebracht hat, die hat ihn auch auf seiner eigenen Geburtstagsparty vergiftet. Mit Rattengift in einem Espresso Martini.« Lyra schüttelte angewidert den Kopf. »Espresso Martinis sind derart abgeschmackt. Stellt euch mal vor, so seinen Abgang zu machen.«

Meine Frau stieß einen Schrei der Empörung aus, den ich nur zu gut kannte. »Das reicht! Es war ein Unfall, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ein schrecklicher, dummer Unfall.« Sie schwieg und sah dabei unsere Kinder an, als wäre es das erste Mal. Und dann sagte sie etwas so Lächerliches, dass ich beinah vom Stuhl fiel. »Wer weiß? Vielleicht hat Will zum ersten Mal in seinem mittelmäßigen Leben ja recht. Er war nicht glücklich darüber, sechzig zu werden. Das Altwerden ist für einen Mann manchmal schlimmer als für Frauen. Wir sind schon lange vorher irrelevant, während sie mit Hochgeschwindigkeit von der Klippe stürzen.«

Aus dem Gesichtsausdruck meiner Frau konnte ich schließen, dass sie selbst nicht wirklich glaubte, was sie da redete. Schließlich erreichen Männer mit sechzig ihre Glanzzeit, also warum verzapfte sie so einen Unsinn?

»Er war definitiv wütender als sonst«, erwiderte Lyra, deren Weinglas fast schon wieder leer war. »Als ich letzten Monat da war, kam ich bei seinem Büro vorbei und Judy, die gerade ihre Sachen zusammenpackte, ließ mich direkt reingehen. Er war am Telefon und zischte jemand auf seltsame Weise an. Als hätte er lieber geschrien, wenn das gegangen wäre. Und als er mich sah, legte er auf und schnauzte mich richtig dafür an, dass ich nicht angeklopft hatte.«

Ich erinnerte mich daran. Natürlich hatte sie Geld gewollt, denn sie kam nie einfach so in mein Büro, um zu plaudern. Ich hatte sie wütend weggeschickt, weil ich mich nicht beruhigen konnte und von allen Seiten bedrängt fühlte. Judy war an dem Tag früh gegangen. Noch eine Frau, deren Gefühle ich anscheinend zu berücksichtigen hatte, wenn ich irgendeine Entscheidung treffen wollte. Aber nichts davon würde deinen Vater dazu bringen, sich auf eine Metallstange zu werfen, brüllte ich vergeblich. Meine Familie verfiel für eine Minute in Schweigen. Alle schienen in ihre eigenen Gedanken versunken. Die Stille wurde von einem Explosionsgeräusch durchbrochen. Dann flammte der Himmel vor der Terrasse in geradezu wütend roten Strahlen auf. Clara und Lyra kreischten wie Todesfeen, während Jemima sich auf den Boden fallen ließ und unter den Tisch kroch. Nur meine Frau blieb unbeeindruckt, während Schüsse rund ums Haus krachten.

»Das ist ein Katharinenrad. Den Feuerwerkern hat niemand Bescheid gesagt«, erklärte sie beinah desinteressiert. Wieder ein lauter Knall, dann erschienen die Ziffern 6 und 0 grellrot am Himmel, zitterten und verschwanden. »Das geht jetzt noch zehn Minuten. Wir können es uns genauso gut ansehen.«

Jemima tauchte unter dem Tisch auf und setzte sich zurück aufs Sofa. Sie sah jetzt ruhiger aus, als sie nach dem Handtuch griff und wieder begann, ihr Haar trockenzurubbeln. Plötzlich wurde mir bewusst, wie seltsam es war, dass sie sich im Haus befunden und geduscht hatte, während die Party in vollem Gang war. Per Gedankenübertragung versuchte ich, Olivia aus der Trance zu reißen, in der sie sich gerade befand, damit sie fragte, was Jemima eigentlich gemacht hatte. Doch da ging die Tür auf und zwei Polizisten traten ein.

Die Wahrheit

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Ich dachte über mein Leben nach, als heute Morgen die Sonne aufging, während ich nach Mums Frühstück aufräumte und zum dritten Mal in dieser Woche ihr Bett abzog. Mir waren drei kurze Jahre an der Uni vergönnt gewesen, bevor ich gezwungenermaßen zurückkam, um Mum zu unterstützen. Ich stellte mir vor, wie das Leben sich entfalten und mir alles bieten würde, doch das Aufregendste, was mir in letzter Zeit passiert ist, war ein Radfahrer, der in unseren Vorgarten gestürzt war, wo er einer von Mums Dekoelfen die Flügel abbrach. Ich bat ihn tatsächlich zu einer Tasse Tee herein. Erst später wurde mir bewusst, dass er außer Mum die einzige Person war, mit der ich seit drei Tagen gesprochen hatte. Er lehnte mein Angebot übrigens höflich ab. Vielleicht dachte er, ich würde flirten, aber selbst in meinem verzweifelten Zustand wäre ein von Kopf bis Fuß in Lycra gekleideter Mann nicht das Richtige für mich. Trotzdem blieb er danach noch zwei Tage lang unser Gesprächsthema, was beweist, wie langweilig das Leben in Chipping Marston sein kann.

Es hilft nicht gerade, so viel Zeit online zu verbringen, aber hier gibt es nichts anderes zu tun. All meine Freunde posten Fotos, die zeigen, wie sie das Leben leben, das ich mir für mich vorgestellt hatte, und es kotzt mich an, aber ich kann den Blick nicht abwenden. Morgen wird es anders sein, lautet mein Mantra, an das ich mich so verzweifelt klammere. Etwas wird dieser Tage passieren. Das murmelte ich heute Morgen vor mich hin, während ich den Müll sortierte und mich an diese blöde Beteuerung mir selbst gegenüber krallte, als ginge es um mein Leben. Und dann, nur eine Stunde später, passierte genau das.

Erstmals hatte ich in einem Gruppenchat um neun Uhr morgens davon gehört, als jemand, der sich Openeye822 nannte, postete, eine Person sei bei einer Hausparty in Oxfordshire getötet worden. Die Gruppe ist absolut anonym und besteht aus mehr als 1500 Leuten. Das kann manchmal ein bisschen viel sein. Die Idioten posten ständig, normalerweise sind sie besessen von Fällen, die keinen interessieren. Frau wird von ihrem Mann getötet – traurig, aber normal. Die Polizei hakt solche Fälle relativ schnell ab, und wir können uns auch nicht mit jedem Mord befassen, oder? Manchmal stelle ich den Chat auf stumm, aber an dem Morgen war Mum wieder eingeschlafen und mich langweilte der Tag bereits dermaßen, dass ich ins Bett zurückkehrte und anfing, den Chat durchzuscrollen. Natürlich weckte der Post meine Aufmerksamkeit, weil das gleich bei mir um die Ecke ist. Es fühlte sich ein bisschen an wie ein Lottogewinn. Vor nur vier Monaten fand ein Nutzer, der sich InspectorMadshit nannte, heraus, dass eine Frau im Kanal direkt neben seinem Haus gefunden worden war. Er wurde in den Nachrichten interviewt, nachdem er unter einer Brücke einen Schlüsselbund entdeckt hatte, den die Polizei bisher übersehen hatte. Er hatte sich das Kajak seiner Partnerin geschnappt, sobald es dunkel wurde, und alles live gestreamt. Anschließend war InspectorMadshit (oder Darren English, wie er in den Nachrichten genannt wurde) ein bisschen der Held im Chat. Aber ich fand es unerträglich, dass er sich jetzt aufführte, als wäre er eine große Nummer. Weil er die Anonymität nicht mehr brauchte, hatte er sich angewöhnt, Gruppenfotos mit sich selbst bei »Observierungen« zu verschicken. Einmal postete er ein Bild von der Reportage, die die Lokalzeitung über ihn gebracht hatte. Es hing gerahmt über seinem Kamin.

Ich hatte nach Einzelheiten gefragt. Die gingen schon Minuten später ein. Es war ein großes Haus, nur ein paar Meilen von mir entfernt, und die Polizei bereits am Tatort. »Das ist vertraulich und zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich nicht mehr sagen.« Ärgerlich, aber verständlich, wenn die Person in den Fall involviert war. Zwanzig Minuten später postete jemand anders, alles stünde bei Twitter, worauf OpenEye nicht mehr antwortete. So viel zum Thema Insiderwissen. Jemand hatte ein Foto von der Straße gepostet, die Polizeiautos hell erleuchteten. Fast sofort erkannte ich, was allgemein »Millionaires Row«, Millionärsgasse, genannt wurde. All die wunderschönen Häuser außerhalb der Stadt, ursprünglich gebaut für Fabrikanten und niederen Landadel. Londoner hatten sie sich gekrallt und Glasanbauten, Tennisplätze sowie riesige Tore hinzugefügt, sodass man von der Straße aus eigentlich gar nichts mehr sah. Ich konnte da problemlos mit dem Fahrrad hinkommen.

Vielleicht war es ja nichts, doch es lag zu sehr in meiner Nähe, als dass ich es hätte ignorieren können – eine reiche Erbin, die von einem Balkon gestoßen wird oder ein durchgedrehter Teenager, der nach einem Streit seine Mum umlegt. So was passiert. Schauen Sie sich ausreichend Crime-Dokus an, und dann werden Sie sehen, wie dünn der Vorhang zwischen zivilisiert und unzivilisiert ist.

Ich sah kurz nach Mum, die immer noch fest schlief, und fuhr mit dem Rad zu der Adresse. Die Straße kannte ich gut. Auf dem Weg zum Lieblings-Gartencenter meines Vaters hatte ich sie eine Million Mal genommen. Sobald die ersten Tore kamen, schüttelte er den Kopf und machte die immer gleiche langweilige Bemerkung, dass Einheimische finanziell ausgestochen würden.