Wie die Kirche ihre Macht missbraucht - Bernd Deininger - E-Book

Wie die Kirche ihre Macht missbraucht E-Book

Bernd Deininger

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gegen den Machtmissbrauch der Kirche Wie entsteht Machtmissbrauch durch kirchliche Amtsträger gegenüber niedriger Gestellten und Laien? Welche Entwicklungen entstehen durch diesen systematischen Machtmissbrauch? Wie begünstigt oder fördert die festgelegte Hierarchie den Machtmissbrauch innerhalb der Kirche? Der renommierte Theologe und Psychoanalytiker Dr. Bernd Deininger geht diesen und anderen drängenden Fragen in seinem Buch anhand außergewöhnlicher Fälle aus dreißigjähriger Berufspraxis nach. Er fordert, dass die streng hierarchische Struktur innerhalb der Kirche einem Miteinander auf Augenhöhe weichen muss, dass der Gehorsam gegenüber Höhergestellten nicht das eigenständige Denken ersetzen darf, dass das Zölibat auf Freiwilligkeit beruhen sollte und Missbrauchsopfer im kirchlichen Rahmen Hilfe erfahren müssen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 196

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bernd Deininger

Wie die Kirche ihre Macht missbraucht

Ein Theologe und Therapeut berichtet

FISCHER E-Books

Inhalt

[Hinweis]VorwortKapitel 1 Mechanismen der MachtSchuld und SündeSukzession und Eucharistie: Konfessionelle UnterschiedeLoyalität und Abhängigkeit: Was die Kirchen im Innern zusammenhältKapitel 2 Kirche und SexualitätLust und SündeLeben ohne Lust: Der ZölibatDie Abkehr vom Körperlichen: Evangelische LustfeindlichkeitFolgen christlicher SexualmoralKapitel 3 Macht und MissbrauchHierarchie: Willkür und GehorsamInzestuöse VerhältnisseMachtstrukturen der katholischen KircheMachtstrukturen der evangelischen KircheTriebverdrängungPsychisch labile AmtsträgerKapitel 4 Reaktionen der Kirche auf MissbrauchsvorwürfeUmgang mit Missbrauchsvorwürfen in der katholischen KircheUmgang mit Missbrauchsvorwürfen in der evangelischen KircheZögern und Zaudern: Widerstände in der KircheKapitel 5 Möglichkeiten und VisionenPrävention und Hilfe: Was sich ändern lässtPräventionInterventionLustfreundlich und gleichberechtigt: Was sich ändern mussLustfreundliche KircheEigenständigkeit und SelbstbestimmungNachwortDankLiteratur

Der Schutz der Persönlichkeit ist bei der Darstellung von Behandlungsfällen besonders wichtig. Alle vorkommenden Patienten haben ihre Einwilligung zur verfremdeten Darstellung ihrer Lebensgeschichte gegeben. Darüber hinaus habe ich mich an die allgemeine Praxis klinischer Autoren gehalten, persönliche Angaben zu Geschlecht, Hautfarbe und Alter zu verfremden. In die Mehrzahl der Fälle sind katholische Amtsträger verwickelt, wenn auch in einigen evangelische Geistliche eine Rolle spielen.

Alle in diesem Buch dargestellten therapeutischen Prozesse dauerten in der Regel mehrere Jahre und nahmen zwischen 240 und 300 Stunden Therapiezeit in Anspruch. Es werden keine Behandlungsprotokolle wiedergegeben, sondern lediglich grobe Strukturen der Behandlung aufgezeigt. In allen Fällen handelt es sich um schwer traumatisierte Menschen, bei deren Behandlung das »Gehalten-Werden« im Sinne eines Containments im Vordergrund stand.

Vorwort

Als man anlässlich der Vorfälle im Berliner Canisius-Kolleg mit der Frage an mich herantrat, ob ich meine Gedanken zu Missbrauchsskandalen der Kirche in einem Buch niederschreiben wolle, zögerte ich zunächst. Viele vor mir haben die Machtausübung der Kirche schon kritisiert. Ich entschloss mich dennoch, dieses Buch zu schreiben, da sich bisher niemand zur psychischen Verfassung der Betroffenen, Täter wie Opfer, geäußert hat. Es ist so gut wie nichts darüber bekannt, aus welchen Motiven Geistliche missbrauchen. Begriffe wie »Pädophilie« geistern durch die Medien, ohne dass erklärt würde, inwiefern sie etwas mit den Taten zu tun haben. Niemand kennt die biographischen Hintergründe der Täter und Opfer, die Empfindungen aller Beteiligten gehen oft genug in allgemeiner Entrüstung unter.

Anhand von Fallbeispielen möchte ich die Dynamik veranschaulichen, die sich aus den bestehenden Machtstrukturen der Kirchen und den psychischen Dispositionen der Täter entwickelt. Diese Dynamik als selbstgemachtes Unheil zu erkennen und diesem entgegenzuwirken – was den Kirchen und den Gläubigen gemeinsam obliegt –, dazu soll dieses Buch einen Beitrag leisten. Im besten Falle liefert es Material, um eine offene Diskussion über tabuisierte Themen anzustoßen.

Ich werde erklären, worauf die Macht der kirchlichen Amtsträger beruht, und zeigen, wie die Kirche in die intimsten Lebensbereiche der Gläubigen eingreift, wie sie gläubige Laien zu Sündern macht, während sie die Amtsträger über diese erhebt. Mein Wunsch ist, dass die Kirche sich wieder zurückbesinnt auf das, was meines Erachtens ihre eigentliche Bestimmung ist: das Zusammenführen, Unterstützen und Stärken von Gläubigen im Namen der Nächstenliebe.

 

Während meine Gedanken und Thesen zum Missbrauchsskandal der Kirche auf dem Boden meiner Praxis als Psychoanalytiker und Theologe gewachsen sind, könnte es schon bald wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesem Thema geben. Ende März 2014 wurde von der Deutschen Bischofskonferenz ein Forschungsvorhaben auf den Weg gebracht, das zum Ziel hat, Faktoren zu suchen, die möglicherweise den Missbrauch von Minderjährigen begünstigen. Dies ist der zweite Anlauf der katholischen Kirche, sich den Missbrauchsfällen wissenschaftlich zu nähern. Ein früherer Versuch scheiterte 2013 daran, dass den Forschern keine freie Akteneinsicht gewährt wurde. Zudem war man sich nicht einig, ob und wie die Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten.

Das neue Forschungsvorhaben will die institutionellen Strukturen und die biographischen Muster der Täter und Opfer in den Blick nehmen, jene Faktoren, die auch ich für ausschlaggebend halte. Doch dieses Vorhaben kann nur erfolgreich sein, wenn die Täter in persönlichem Kontakt untersucht werden. Das bloße Aktenstudium der Fälle reicht nicht aus.

Wenn das Studienergebnis schließlich vorliegt, muss die katholische Kirche bereit sein, dieses auch uneingeschränkt öffentlich zu diskutieren und darauf zu reagieren – auch wenn das umfassende Eingriffe in Hierarchien und Arbeitsweisen der Kirche bedeutet. Nur so könnte diese Untersuchung den längst überfälligen Anstoß liefern, an der Machtstruktur der katholischen Kirche zu rütteln. Und sie könnte im Idealfall dazu führen, dass Mitarbeiter der Kirche nicht aufgrund ihrer Leistung und Anpassungsfähigkeit auf ihre Posten gelangen, sondern aufgrund von persönlicher Reife und sozialer Kompetenz.

 

Wenn ich Dinge anspreche, die in der Kirche verbesserungswürdig sind, dann möchte ich keinesfalls so verstanden werden, als würde ich Kirche oder Religion ablehnen. Die Kirche als Institution des christlichen Glaubens hat sehr gute, wohltuende Wirkungen auf ihre Mitglieder. Der Umgang miteinander ist in der Regel achtsam und einschließend. Menschen, die sozial oder körperlich benachteiligt sind, werden ganz selbstverständlich aufgenommen. Viele Menschen finden in der Kirche Halt, wenn sie einen lieben Menschen verloren, sich von einem Partner getrennt haben oder schwer erkrankt sind. Zudem hat eine gute religiöse Verankerung nachweislich auch gesundheitliche Vorteile. Menschen, die glauben und in eine christliche Gemeinschaft eingebunden sind, sind psychisch stabiler, sie sind weniger anfällig für Bluthochdruck und Herzinfarkte, und sie haben eine höhere Lebenserwartung. Diese heilsamen Effekte der Kirche möchte ich keinesfalls unterschlagen.

Durch meinen Beruf als Psychoanalytiker habe ich aber mit Fällen zu tun, in denen die Kirche als Institution des christlichen Glaubens destruktiv auf Menschen einwirkt. Ich erlebe Christen, die wegen ihrer religiösen Bindung und dem oft damit verbundenen Über-Ich-Ideal in wahnhafte Zustände oder sogar zu Selbstmordversuchen getrieben werden. Viele haben unter dem Deckmantel der Nächstenliebe Gewalt und Missbrauch erfahren. Als Opfer betroffen sind Frauen ebenso wie Männer und sehr häufig Kinder.

 

In Deutschland wurde im Jahr 2010 öffentlich, in welchem Ausmaß Schutzbefohlene durch kirchliche Amtsträger missbraucht wurden. Ausgehend von Medienberichten über Fälle im katholischen Canisius-Kolleg in Berlin, wurde bald öffentlich, dass auch in zahlreichen anderen kirchlichen Einrichtungen Gewalt ausgeübt wurde. Seither sind viele Taten ans Licht gekommen, immer mehr Menschen brechen ihr Schweigen. Da ist zum Beispiel der katholische Pfarrer, der zu mir kam, weil er fürchtete, zum Täter zu werden. Im Laufe der Analyse stellte sich heraus, dass er als Kind selbst zum Opfer eines katholischen Geistlichen geworden war. Oder die Ordensschwester, die über viele Jahre von ihrer Oberin schikaniert wurde. Die Schwester hatte zuvor den Annäherungsversuch der Oberin abgewiesen.

Sehr oft betreffen die Fälle, mit denen ich zu tun habe, die katholische Kirche, doch ich erfahre auch von Missbrauchssituationen in evangelischen Institutionen. Schon lange beschäftigt mich die Frage, warum sich diese Missbrauchsfälle ausgerechnet in der Kirche häufen. Man darf die Ursache hierfür nicht in Glaubensinhalten suchen. Das Christentum betont maßgeblich die Liebe. Respektvoller und achtsamer Umgang miteinander steht im Vordergrund. Und genau an dieser Stelle treffen sich Kirche und Psychoanalyse, denn es gibt ein beide verbindendes Element: Liebe.

»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, heißt es in der Bibel (Lev. 1/18). Dieser zentrale Satz beinhaltet gleich zwei Gebote. Zum einen: Liebe deinen Nächsten. Zum anderen: Liebe dich selbst. Wer sich selbst nichts Gutes tun mag, der wird sich auch schwertun, anderen Gutes zu tun. Dieses biblische Doppelgebot der Liebe hat auch in der Psychoanalyse eine zentrale Funktion. Das wichtigste Ziel einer jeden Behandlung ist, dass der Analysand lernt, sich selbst zu achten und sich mit all seinen Fehlern anzunehmen. Auch er muss sich selbst lieben können, um zum Beispiel soziale Kompetenz auszubilden. Für viele Patienten ist das ein langer und schmerzhafter Weg. Menschen, die sich selbst über viele Jahre als minderwertig empfunden haben, können ihr Selbstwertgefühl nur unter großen Schwierigkeiten aufbauen. Hier kann wiederum die Kirche helfen oder präziser: die Religion. Wenn man Gott als liebendes, elterliches Wesen begreift, dann darf der Gläubige annehmen, von diesem vorbehaltlos geliebt und akzeptiert zu werden. Dieser Gott liebt jeden Einzelnen genau so, wie er ihn geschaffen hat. Für Gläubige kann die Gewissheit solcher Liebe unendlich befreiend sein. Denn wenn Gott mich mit allem, was mich ausmacht, liebt, warum sollte ich mich dann nicht lieben?

Nein, die Ursachen für die Häufung schrecklicher Missbrauchsfälle finden sich in den inneren Strukturen der christlichen Kirchen, denn die große, oft uneingeschränkte Macht kirchlicher Repräsentanten begünstigt den Missbrauch dieser Macht.

 

Bernd Deininger im Juni 2014

Kapitel 1Mechanismen der Macht

Der Rohrstock traf präzise, in meinen Fingern kribbelte der Schmerz. »Ich mach das nur, weil ich euch liebe«, sagte der Dekan, nachdem er mich und ein paar andere Schüler gemaßregelt hatte. Er verwies damit auf ein biblisches Gebot, in dem es sinngemäß heißt: »Wer sein Kind liebt, der züchtigt es.« Ich erinnere mich daran, wie mich das irritierte, weil sich nichts von dem, was er tat, nach Liebe anfühlte. Züchtigungen waren in meiner Kindheit und Jugend in den fünfziger Jahren nichts Ungewöhnliches, aber vom Dekan, der uns in Religion unterrichtete, erfuhr ich sie besonders häufig. Später wurde er von einem jüngeren Vikar abgelöst, der uns anwies, uns über eine Schulbank zu legen, bevor er uns aufs Gesäß schlug. Jedes Mal, wenn er das tat, schwoll eine Ader an seinem Hals bedrohlich an.

Schläge auf die Hand konnte man mit erhobenem Kopf ertragen – aber wenn man vor der gesamten Klasse den Hintern versohlt bekommt, dann ist aller Stolz dahin. Wir fühlten uns ausgeliefert und schwach. Diese schmerzhaften Erfahrungen mit kirchlichen Amtsträgern haben mich jedoch nicht davon abgehalten, gern in die Kirche zu gehen und an einen Gott zu glauben, der freundlich ist und zu mir steht. Schwieriger wurde es, als ich älter wurde. »Lasst die Finger von den Geschlechtsteilen«, gebot der Vikar immer wieder, »wenn ihr masturbiert, läuft euch das Rückenmark aus!« Allein der Gedanke an Selbstbefriedigung war schon sündig. Dieser Vikar sagte uns auch, wir sollten nicht hinter den Mädchen herstarren, mäßig essen, kein Bier trinken und uns auch sonst nicht vergnügen. Das ließ uns bedrückt und wortkarg zurück. Durch seine Worte hatte der Vikar nahezu allem, was Spaß machte, den Makel der Sündhaftigkeit angeheftet. Jedes lustvolle Erlebnis war begleitet vom Gefühl, etwas Falsches getan zu haben. Obwohl ich Gott nach wie vor für freundlich und zugewandt hielt, litt ich unter der Vorstellung, ihm zu missfallen. Hätte mich damals jemand gefragt, wie es dem Vikar gelungen war, mir alle sinnlichen Freuden derart zu vergiften, hätte ich es nicht sagen können. Heute weiß ich, woran es liegt.

Ein Repräsentant der christlichen Kirche hat durch sein Amt die Macht zu bestimmen, welche Handlungen gut und welche schlecht sind. Und als gläubiger Christ richtet man sich danach. Seit meiner Kindheit und Jugend ist nun einiges passiert. Viele Christen in Deutschland begegnen ihrer Kirche nur noch beim Besuch des Gottesdienstes am Heiligen Abend, bei Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen. Dann sehen sie einen Mann (in der evangelischen Kirche auch viele Frauen) im Talar, der zu ihnen spricht, der mit ihnen singt und ihnen zu einem Abschnitt aus der Bibel seine Gedanken vorträgt. Und selbst jene, die christlichen Zeremonien und Glaubensinhalten kaum mehr Bedeutung beimessen, begegnen diesem Menschen, der den Gottesdienst leitet und die Besucher am Ende mit einem Segen nach Hause schickt, mit Respekt. Sie schütteln ihm die Hand beim Verlassen der Kirche, und vielleicht werden sie seinen Segen annehmen – und damit anerkennen, dass dieser Geistliche in seinem Bereich über Kompetenz verfügt. Aber warum? Woher kommt der Glaube an diese Sonderstellung eines Pfarrers?

Man unterstellt einem Pfarrer, dass er mehr über Gott weiß als andere. Als Theologe hat er seine Religion zu seinem Beruf gemacht. Er hat die Bibel nicht nur gelesen, sondern studiert. Diesen Sachverstand auf einem bestimmten Gebiet gesteht man beispielsweise auch einem Automechaniker zu, wenn man sein Auto in die Werkstatt bringt. Der Mechaniker hat sein Handwerk erlernt und verfügt damit in der Regel über bestimmte Kompetenzen. Aber es gibt einen bedeutenden Unterschied zur Kompetenz eines Pfarrers. Wenn mein Auto nach einer Reparatur in der Werkstatt noch immer nicht fährt, bekomme ich Zweifel am Können des Mechanikers. Die Arbeit eines Pfarrers aber lässt sich nicht in dieser Weise beurteilen. Die Religion bietet keine überprüfbaren Erklärungen für das Geschehen in der Welt, sie befasst sich mit dem Unerklärlichen. Man kann Gott nicht sehen, und seine Wege, heißt es, seien unergründlich. Alles, was ein Geistlicher tut, tut er im Namen Gottes, aber es gibt kein messbares Ergebnis seiner Arbeit. An die Kompetenz des Pfarrers muss man glauben. Das gibt ihm eine ganz besondere Art von Macht. Selbst Zweifelnden fällt es schwer, sich dieser Autorität zu entziehen, sobald sie sich in das System Kirche begeben.

Der Soziologe Max Weber definiert Macht sinngemäß als die Chance, den eigenen Willen auch gegen Widerstände durchzusetzen. Die Macht einer Kirche beruht auf Ritualen und religiösem Mythos.

Rituale, als bedeutungsvolle, symbolische Handlungen, die genauen Regeln folgen, prägen das kirchliche Miteinander. In der christlichen Kirche bekreuzigt man sich, man feiert zusammen das Abendmahl, die Eheschließung und die Taufe. Diese Handlungen folgen dabei einer genau einzuhaltenden Reihenfolge. Festgelegte Handlungsfolgen wie diese reduzieren Unsicherheit und schaffen Gemeinsamkeit. Durch Rituale bleibt der Gläubige selbst in Situationen, die ihn überfordern, handlungsfähig. Wer beispielsweise nach einer fragwürdigen Tat nicht weiß, wohin mit seinen Gewissensbissen, hat die Möglichkeit, zu beichten. Wer den Tod eines geliebten Menschen betrauert, hat die Möglichkeit, sich im Rahmen eines Begräbnisgottesdienstes von ihm zu verabschieden. Doch wirksam sind diese Rituale nur, wenn sie ein Geistlicher durchführt, andernfalls sind sie ohne Belang und verlieren ihre Bedeutung. Deshalb ist es so wichtig, dass man der Kirche vertraut und ihr Glauben schenkt. Der Gläubige tritt hier Macht an die Kirche ab. Sigmund Freud vergleicht kirchliche Rituale übrigens mit denen eines Zwangsneurotikers. Das zwanghafte Handeln nach genau festgelegten Regeln weist seiner Ansicht nach Parallelen zu den immer gleichen Abläufen auf, mit denen Christen sich bekreuzigen, getauft werden oder das Abendmahl einnehmen. Vor diesem Hintergrund betrachtete er Religion als »kollektive Zwangsneurose«.

Über die Bildung von Mythen wird die Welt in einen Sinnzusammenhang gebracht. Fragen nach dem Tod, dem Leben und der ungleichen Verteilung von Glück und Leid sind existentiell, lassen sich jedoch nicht beantworten. Das, was Menschen nicht als unerklärlich hinnehmen wollen, findet im Mythos eine Antwort. Im Christentum erklärt beispielsweise der Schöpfungsmythos, dass die Welt entstand, indem Gott sie in sieben Tagen erschuf. Glaubt man daran, gibt es keine Fragen mehr. Der Gläubige legt die Deutungshoheit über die Welt in die Hände der Kirchen und fügt sich ihrer Weltsicht. Auch damit gibt er der Kirche Macht.

Das Besondere am Christentum ist sein Monotheismus. Die christliche Kirche gründet ihren Machtanspruch auf die Allmacht eines einzigen Gottes. Dieser lässt seinen Willen geschehen und leitet so die Geschicke dieser Welt. Die Gläubigen können sich auf ihn verlassen, er wird sich um sie kümmern. Alles, was geschieht, steht in einem großen Sinnzusammenhang, den nur er kennt. Sigmund Freud deutet die Vorstellung eines allmächtigen Gottes als Sehnsucht nach dem großartigen Vater. Der Gläubige kann auf diesen Gott vertrauen und sein Schicksal in dessen Hände legen.

Durch ihr Amt schreibt man Klerikern eine enge Verbindung zu Gott und damit die Fähigkeit zu, Gottes Wort auszulegen. Durch ihre Nähe zu Gott partizipieren sie an seiner Macht, und Teilhaber großer Macht nehmen sich als auserwählt wahr, so Sigmund Freud. Freud beschreibt auch, was passiert, wenn diese Macht zum eigenen Vorteil benutzt und missbraucht wird. Solche Taten lösen beim Täter Schuldgefühle aus, die eine Ideologie der eigenen Sündhaftigkeit, Unterwerfung und Selbstbestrafung entstehen lassen. Diese destruktive, oft verdrängte Seite wird nach meiner Erfahrung an gläubige Laien weitergegeben.

Schuld und Sünde

Die Macht der Amtsträger christlicher Kirchen zeigt sich darin, dass sie Gläubige dazu bringen, der christlichen Lehre zu folgen. Wer abweicht, also sündigt, ist schuldig und verdient eine Strafe. Bis heute fühlen sich Christen schlecht, wenn sie eine vermeintliche Sünde begangen haben, wobei mir wichtig ist zu erwähnen, dass der Begriff Sünde eigentlich nicht mehr ganz zeitgemäß ist. Innerhalb der Religionsgemeinschaften wird er zwar noch verwendet, aber in den Religionswissenschaften ist er inzwischen durch den Begriff »Schuld« ersetzt. Deshalb verwende ich Schuld und Sünde synonym.

Der biblische Sündenfall Adams und Evas markiert den Beginn der Schuldhaftigkeit des Menschen. Als Erben kommen wir nach christlichem Verständnis bereits sündig auf die Welt. Diese Urschuld ist unabänderlich und kann im Laufe eines Lebens durch Verstöße gegen Gottes Gebote noch potenziert werden. Einige dieser zahlreichen Gebote sind kaum einzuhalten. Für viele mag es keine große Überwindung darstellen, dem fünften Gebot, »Du sollst nicht töten«, oder dem siebten, »Du sollst nicht stehlen«, zu folgen. Aber wie ist es mit dem zehnten Gebot? Dort steht: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.« Schafft man es immer, ohne Neid auf das nagelneue Auto des Freundes zu gucken oder auf seine schicke Altbauwohnung oder den tollen Job?

Wie schwer es ist, allen Geboten nachzukommen, wird in der christlichen Sexualmoral deutlich. Es ist interessant, was Papst Johannes Paul II. im Jahr 1992 im Katechismus der katholischen Kirche zum Thema schreibt. Neben Prostitution, Vergewaltigung und Pornographie werden auch Masturbation, Unzucht und Unkeuschheit verurteilt. Zur Unkeuschheit steht hier: »Unkeuschheit ist ein ungeregelter Genuß der geschlechtlichen Lust oder ein ungeordnetes Verlangen nach ihr. Die Geschlechtslust ist dann ungeordnet, wenn sie um ihrer selbst willen angestrebt und dabei von ihrer inneren Hinordnung auf Weitergabe des Lebens und auf liebende Vereinigung losgelöst wird.« Zusammengefasst wird jede sexuelle Handlung, die nicht innerhalb der Ehe, in echter Liebe und zur Zeugung eines Kindes geschieht, missbilligt. Fatal für die Gläubigen ist, dass nicht nur die begangene Tat als sündhaft gilt, sondern schon der Gedanke daran oder der Wunsch danach eine Sünde ist. Dies wird mit biblischen Sätzen belegt wie: »Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen.« (Mt. 15,19) Im Schuldbekenntnis, das in den Ablauf des Gottesdiensts eingebunden ist, bekennen sich die Gläubigen schuldig, und zwar ausdrücklich in »Gedanken, Worten und Werken«.

Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären fest entschlossen, eine Diät einzuhalten, um endlich ein paar Pfunde loszuwerden, und es würde schon der Gedanke an Schokoladeneis, Braten oder Kartoffelchips ausreichen, um diese Diät zu brechen. In diesem Fall wäre die Diät von vornherein sinnlos. Die allerwenigsten können sich aussuchen, woran sie denken und woran nicht. Wenn Sie einmal versuchen, für eine halbe Stunde nicht an Schokoladeneis zu denken, werden Sie feststellen, wie schwierig es ist, seine Gedanken zu beherrschen. Selbst wenn Sie sich eigentlich nichts aus Schokoladeneis machen, werden Ihre Gedanken wie von selbst um die Süßspeise kreisen. Dagegen gelingt es vielen Menschen sehr wohl, kein Schokoladeneis zu essen. Ebenso sind Raucher in der Lage, das Rauchen aufzugeben, aber den Gedanken an Zigaretten können sie sich nicht verbieten. Mit dem Gebot, sündige Gedanken nicht zu denken, wird den gläubigen Christen etwas abverlangt, was nicht machbar ist, und das seit vielen hundert Jahren über viele Generationen. Was aber geschieht mit Menschen, die ständig mit einem moralischen Ideal konfrontiert sind, dem sie faktisch nicht entsprechen können?

Freud beschäftigt sich unter anderem auch mit dem Einfluss des Gewissens auf die psychische Gesundheit eines Menschen und teilt den psychischen Apparat in drei Instanzen: das Ich, das Über-Ich und das Es. Das Ich umfasst alles, was ich jetzt in diesem Moment bewusst über mich sagen kann. Mit Es bezeichnet er die Triebe eines Menschen, im Wesentlichen sind das der Aggressions- und der Sexualtrieb. Das Über-Ich schließlich ist die moralische Instanz oder auch das Gewissen und kann als Gegenspieler des Es angesehen werden. Im positiven Sinne sorgt das Über-Ich dafür, dass sich ein Mensch sozialverträglich verhält, dass er beispielsweise im Streit nicht aus Wut einfach zuschlägt, sondern mit Worten argumentiert. Ist das Über-Ich aber sehr stark ausgebildet, wird man schon beim kleinsten Verstoß gegen eine Wertvorstellung von seinem schlechten Gewissen gequält.

Wenn aber kaum ein Unterschied zwischen einer sündigen Tat und dem Wunsch danach gemacht wird, wird das strafende Über-Ich gestärkt. Das Resultat sind Schuldgefühle, die so stark werden können, dass sich pathologische Symptome ausbilden. Wenn meine Patienten an Schuldgefühlen leiden, dann oftmals nicht, weil sie etwas Schlimmes getan haben, sondern weil sie sich etwas wünschen, was sie sich ihrer Meinung nach nicht wünschen dürfen, oder weil sie Phantasien haben, die sie als schlecht empfinden. Psychoanalytiker unterscheiden hier zwischen einem real begründeten Schuldgefühl und einem irrealen. Real begründet ist ein Schuldgefühl, wenn es die Folge einer ausgeführten Tat ist. Irreal ist es, wenn es nicht auf einer realen Tat basiert. Ich erlebe in meiner Praxis Menschen, die sich allein aufgrund ihrer Existenz schuldig fühlen. Sie haben den Eindruck, eigentlich nicht auf der Welt sein zu dürfen. Manche meinen, sie müssten sich für alles entschuldigen, weil sie mit jeder einzelnen Bewegung Platz in der Welt einnehmen, den andere brauchen. Einige fürchten, die Liebe ihrer Eltern zu verlieren, wenn sie allzu frei agieren, und fühlen sich deshalb schuldig. Es kommt sogar vor, dass Opfer von schwerem Missbrauch die Schuldgefühle des Täters übernehmen, nur um den Täter nicht verurteilen zu müssen. Das kann passieren, wenn der Täter aus dem unmittelbaren familiären Umfeld kommt oder eine Person ist, der durch moralische Integrität Respekt gebührt. Wenn ich Menschen mit derartigen Schuldgefühlen behandle, ist es meine Aufgabe, dem Analysanden diese bewusstzumachen und ihm dabei zu helfen, zwischen real begründeten und irrealen Schuldgefühlen zu unterscheiden.

Hält man sich vor Augen, wie schwer es ist, christlichen Moralvorstellungen zu genügen und Sünden zu vermeiden, wird die Frage interessant, wie man die auf sich geladene Schuld nun wieder loswird. Aus eigener Kraft kann sich der gläubige Christ nicht von der Sünde befreien, er bedarf dazu Gottes Gnade, und die wiederum kann nur ein Amtsträger der Kirche in der Beichte vermitteln.

In der Beichte gesteht der Pönitent, das ist der Beichtende, seine Sünden und bereut sie aufrichtig, der Beichtvater legt gegebenenfalls die Form der Buße fest und erteilt die Absolution. Man wird regelmäßig angehalten, sein Gewissen zu erforschen, es gibt sogar Kataloge mit möglichen Sünden, anhand deren man dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen kann. Die katholische Kirche ermöglicht den Gläubigen, im Einzelgespräch mit einem Geistlichen im Beichtstuhl, ihre Sünden zu bekennen. In der evangelischen Kirche wird die Beichte oft in den Gottesdienst eingebettet, dann beichtet jeder still für sich und erhält nachher gemeinsam mit allen anderen Kirchgängern die Absolution. Dieses Ritual, sich seines Fehlverhaltens bewusstzuwerden, es zu bereuen und danach davon freigesprochen zu werden, kann einen entlastenden Charakter haben. In der intimen Zweisamkeit eines Beichtstuhls herrscht aber zugleich ein extremes Machtgefälle. Der Beichtende begibt sich im Moment der Beichte in die Hände des Beichtvaters, um sein Gewissen zu erleichtern und sich von seiner Schuld zu befreien. Mehr als einmal habe ich Patienten behandelt, die erleben mussten, dass die Macht, die sie ihrem Beichtvater in diesem Moment gaben, missbraucht wurde. In den Fallgeschichten wird noch deutlich werden, wie häufig gerade die Intimität der Beichte genutzt wird, um unter dem Deckmantel der Nächstenliebe Gewalt auszuüben.

Nach der christlichen Morallehre sind Gläubige von Geburt an Sünder und hören bis zu ihrem Tod nicht auf, sich zu versündigen. Sie fühlen sich permanent schuldig und Gott und der Kirche als Sünder ausgeliefert. Dabei könnte der christliche Glaube durch die neutestamentarische Botschaft eine ungemein schuldbewältigende Wirkung haben. Dieser Glaube kann helfen, irrationale Gefühlsanteile der empfundenen Schuld von den real gerechtfertigten zu unterscheiden. Dieser Glaube kann mit aller Kraft dazu beitragen, die persönliche Tatschuld eines Gläubigen zu minimieren. Leider benutzen viele Amtsträger christlicher Kirchen die verhängnisvolle Vermischung von irrealem Schuldgefühl und real begründeter Schuld, um ihre Macht über Gläubige zu stärken. Und die Menschen sind sehr oft gewillt zu tun, was von ihnen verlangt wird, wenn man dafür ihr schlechtes Gewissen erleichtert, und sei es nur für kurze Zeit.