Wie die Spaghettis in den Bachstelzenweg kamen - Bernward Flenner - E-Book

Wie die Spaghettis in den Bachstelzenweg kamen E-Book

Bernward Flenner

4,9

Beschreibung

Menschen aus fremden Ländern, Menschen die von der Not in Ihrer Heimat nach Deutschland getrieben wurden – das hat es immer schon gegeben. Frankfurt 1959. Vor der Tür eines Hauses in einem bürgerlichen Wohngebiet im Stadtteil Höchst steht ein junger Italiener - neben sich einen kleinen Koffer, in der Hand einen Zettel, mit einer Adresse. Antonio ist mit Leib und Seele Schreiner und versteht sich, wie kaum ein anderer darauf, historische Möbel zu restaurieren. Doch zu Hause in Italien gibt es keine Arbeit mehr für ihn. Zufällig begegnet ihm in seinem Heimatdorf, in der Lagune von Venedig, eines Abends ein Deutscher, der dort mit seiner Familie Urlaub macht. Angeregt durch dessen Schilderungen von Deutschland, besteigt Antonio in seiner Not den Zug in Richtung Norden. Der jüngste Sohn der deutschen Familie erlebt mit seinen fünfjährigen Kinderaugen eine aufregende Wende in seinem Frankfurter Alltag als plötzlich eine italienische Familie bei ihnen einzieht. Der Junge wächst heran und durchlebt im Frankfurt der 68er Jahre eine ereignisreiche Zeit: Mädchen, Vietnamdemonstrationen, Drogen, Rockmusik... und immer wieder begegnet er Antonio, der ihm seinerzeit die Spaghetti in den Bachstelzenweg gebracht hatte. Die Geschichte erzählt von den Wirren des Erwachsenwerdens und der Suche nach Heimat – in Form eines vertrauten Lebensumfeldes und zugleich als Ort der Geborgenheit, tief im eigenen Selbst.

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Bernward Flenner, 1953 in Frankfurt am Main geboren, lebt als freier Architekt und Lehrer für Zenmeditation in Nordbayern in der Nähe von Bamberg.

Weitere Informationen unter: www.meditation-bamberg.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

4. Kapitel

Epilog

Prolog

in dem ich im Wöchnerinnenheim der Farbwerke Hoechst

AG geboren werde -

und Antonio nicht mehr weiß, wie er

seine Familie ernähren soll

1953Volksaufstand in der DDR Erstbesteigung des Mount EverestRené Carol / Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein Al Martino / Here in my heart1954Die deutsche Fußballnationalmannschaft wird in der Schweiz WeltmeisterDoris Day / Secret Love Vico Torriani / Granada1955Die Bundesrepublik Deutschland tritt der Nato bei Italien wird Mitglied der Vereinten Nationen Anwerbeabkommen für italienische Arbeitskräfte zwischen der BRD und ItalienBill Haley / Rock around the Clock Caterina Valente / Ganz Paris träumt von der Liebe1956Die russische Armee marschiert mit Panzern in Ungarn ein Harry Glas gewinnt im Skispringen in Cortina d`Ampezo die erste Olympiamedaille für die DDRElvis Presley / Love me Tender Freddy Quinn / Heimweh1957Willi Brandt wird Regierender Bürgermeister von Berlin Die Sowjetunion startet den Satteliten Sputnik ins All 35 000 Südtiroler fordern auf Schloss Sigmundskron Autonomie für ihre RegionEverly Brothers / Wake up little Suzie Caterina Valente / Wo meine Sonne scheint1958Abschaffung der Lebensmittelkarten in der DDR Elvis Presley kommt als Soldat nach DeutschlandFred Bertelmann / Der lachende Vagabund Mitch Miller / River Kwai Marsch1959Fidel Castro übernimmt die Macht in Cuba China annektiert Tibet, der Dalai Lama flieht ins ExilConny Froboess / Mr. Music Jan und Kjeld / Banjo boy

Man erzählte mir, es sei ein wunderschöner Oktobertag gewesen, damals, 1953. Draußen schien die Sonne und erinnerte mit ihrer Wärme an den Sommer, der nun vorbei war und sie tauchte, mit ihren flacher werdenden Strahlen, das sich färbende Herbstlaub in ein geheimnisvolles Licht.

Die Strahlen fielen durch das Fenster ins Zimmer, reichten bis zum Bett, in dem meine Mutter lag, die mich an diesem Tag geboren hatte.

Das Bett stand im Entbindungsheim der Farbwerke Höchst AG, und wie der Firmenname vermuten lässt, befand sich dieses im Frankfurter Stadtteil Höchst.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs lag acht Jahre zurück und es ging in Deutschland langsam wieder aufwärts. So schien meine Ankunft unter keinem schlechten Vorzeichen zu stehen.

Ich hatte drei ältere Geschwister. Meine Schwester wurde genau im Jahr des Kriegsendes geboren, meine beiden Brüder drei und vier Jahre vor mir. Mein Vater musste nach dem Abitur gleich als Soldat in den Krieg und danach noch in Kriegsgefangenschaft. So hatte er erst vor Kurzem sein Chemiestudium abgeschlossen und eine Stelle bei den Farbwerken Hoechst angetreten.

Die meisten Menschen, die in Höchst und Umgebung wohnten, arbeiteten bei den Farbwerken, manche schon seit mehreren Generationen. Unsere Familie verfügte über keine solche Tradition, trotzdem waren wir jetzt Mitglied der Firmenfamilie und durften alle angebotenen Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Hierzu gehörte auch das firmeneigene Entbindungsheim.

Von meiner Geburt weiß ich natürlich nichts mehr. Das erste Ereignis, woran ich mich heute erinnern kann, fand gut vier Jahre später statt.

Ich befinde mich in einem dunkelgrünen VW Käfer, der voll beladen ist mit Matratzen. Ich sitze hinter der Rückbank in einer Art Höhle, die von den Erwachsenen Hutablage genannt wird.

Diese Fahrt ist Teil eines Umzugs. Wir ziehen in ein großes altes Haus mit ganz vielen Zimmern, das mitten in einem Garten steht. Es gehört den Farbwerken, und meinem Vater ist es gelungen, dieses Haus zu mieten. Die Straße, in der wir jetzt wohnen, heißt Bachstelzenweg.

Weil das Haus so riesig ist und weil mein Vater noch nicht viel Geld verdient, ziehen meine Großeltern, die Eltern meines Vaters, mit uns in das Haus ein. Mein Opa hat bei der Eisenbahn gearbeitet und ist gerade pensioniert worden.

Im Erdgeschoss gibt es eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Esszimmer und ein großes Spielzimmer für uns Kinder.

Im ersten Stock sind das Elternschlafzimmer, der Raum, in dem wir drei Jungen gemeinsam schlafen und das Zimmer meiner großen Schwester, die schon ein eigenes Radio hat, das sie immer ganz laut dreht, wenn Schlager von ihren Lieblingssängern Peter Kraus, Caterina Valente und Silvio Francesco kommen.

Hier sind auch die beiden Räume der Großeltern, einer zum Schlafen und einer zum Wohnen. Das Wohnzimmer der Großeltern ist groß und hat an zwei Seiten viele Fenster, die in kleine Quadrate unterteilt sind, wie bei einem Wintergarten. Hier ist es immer hell und gemütlich.

Unter dem Dach ist ein großer dunkler Speicherraum, in dem alte Kisten und Möbel stehen und noch ein extra Zimmer, das Mansarde genannt wird. Es hat zwei Fenster und einen Heizkörper, wird aber nur zum Wäschebügeln benutzt, obwohl hier auch ein großes Bett und ein Kleiderschrank stehen.

Ganz unten gibt es noch viele Kellerräume: Der Heizungsraum mit dem Kohlenkeller daneben, Lagerräume, die Werkstatt, in der mein Vater und mein Opa alle möglichen Sachen reparieren und die Waschküche. Hier zündet mein Opa jede Woche einmal Feuer unter dem Kessel an und dann sind meine Mutter und meine Oma den ganzen Tag über damit beschäftigt, Wäsche zu waschen. An diesen Tagen riecht es im ganzen Keller und teilweise auch im Haus feucht nach Seifenlauge und es gibt als Mittagessen meist Erbsensuppe mit Fleischwurst.

Meine Geschwister gehen vormittags zur Schule. Ich bin dann oft bei den Großeltern, kuschle mich zur Oma ins Bett und bekomme Märchen vorgelesen oder ich sitze bei ihnen im Wohnzimmer auf dem Sofa und wir machen zusammen ein Spiel.

Manchmal gehe ich mit meiner Mutter zum Einkaufen in die Stadt. Nicht nach Frankfurt, wo die großen Kaufhäuser sind, das ist weit weg, da muss man mit dem Zug oder mit der Straßenbahn hinfahren. Wir gehen in die Höchster Innenstadt, in der es auch viele Geschäfte und auch ein Hertiekaufhaus gibt, in dem man fast alles bekommen kann: fertige Kinderkleidung oder Stoff, um welche daraus zu nähen, Spielsachen, Schulhefte für meine Geschwister und vieles mehr. Ab und zu besuche ich mit meiner Mutter das Restaurant im Hertie. Meine Mutter und ich teilen uns ein kleines Frühstück, ich trinke dazu eine Tasse mit süßer Schokolade, aus der oben ein Häufchen Schlagsahne ragt.

Auf dem Weg von unserem Haus dorthin, kommen wir an mehreren großen Bunkern aus dem Krieg vorbei. Hohe graue Betongebäude mit kleinen, dunklen Löchern statt Fenstern in der Wand und dicken verschlossenen Eingangstüren aus Eisen. Die Bunker sehen bedrohlich aus, machen mich aber auch neugierig. Wie wird es da drinnen wohl aussehen? Wie war das im Krieg, als die Menschen im Bunker waren und draußen Bomben auf die Stadt fielen?

Noch mehr erinnert daran, dass hier Krieg war: Einbeinige Männer, die mit ihrem Fahrrad die Straße entlang fahren, andere, bei denen ein leerer Jackenärmel an der Schulter nach oben gesteckt ist.

Wenn zu hause in unserer Familie das Gespräch auf den Krieg kommt, wird meist schnell ein anderes Thema gesucht. Als ich einmal bei meinen Großeltern im Wohnzimmer sitze, ist eine ältere Frau, eine Bekannte von ihnen, zu Besuch. Ich höre, wie sie sagt, ihr Sohn sei im Krieg gefallen. Damit meint sie wohl, er sei erschossen worden und dann fängt sie an zu weinen.

Als es Sommer wird, bin ich eine Zeit lang alleine mit meinen Großeltern in unserem Haus. Meine Geschwister haben Schulferien. Die Brüder machen so etwas wie eine Kur in einem Kinderheim und meine Eltern sind mit meiner Schwester im VW Käfer in Urlaub gefahren, Richtung Süden, ohne festes Ziel. Es ist die erste große Urlaubsfahrt in ihrem Leben. Irgendwann bekommen wir eine Ansichtskarte aus Italien, auf der Meer, Strand und Palmen zu sehen sind und schließlich kehren die Urlauber zurück.

Wegen des schlechten Wetters und weil es sie immer weiter in die Ferne zog, sind sie in Österreich über die Alpen bis nach Italien gefahren, dann immer weiter, an einem großen See vorbei, an dessen Ufern Palmen wuchsen, bis zur Adria, wie dort das Meer heißt. In der Nähe von Venedig, in einem kleinen Dorf bei dem Städtchen Cavallino, sind sie schließlich geblieben und haben sich bei einer Familie, in deren Wohnhaus, ein Zimmer gemietet. Sie schwammen im Meer, sonnten sich am Strand und bekamen auch Kontakt zu Bewohnern des Dorfes, die sehr nett waren. Irgendwie verstanden sie sich untereinander, obwohl keiner die Sprache des anderen sprechen konnte.

Bevor sie mit dem VW Käfer die weite Heimreise antraten, kauften sie auf dem Wochenmarkt noch italienische Schuhe und ein riesiges Stück Parmesankäse als Mitbringsel für uns zu hause.

Jetzt sitzen wir alle daheim an dem großen Tisch im Esszimmer und jeder bekommt zum Versuchen ein Stückchen vom Parmesankäse abgeschnitten. Mein Vater öffnet eine bauchige Flasche mit Rotwein, die unten mit Bast umwickelt ist. Alle trinken davon und auch ich darf vom Glas meines Vaters probieren. Es schmeckt sehr sauer, aber der Parmesankäse ist fein.

Später geht meine Mutter in die Küche, stellt einen großen Topf mit Wasser auf den Herd und daneben noch einen kleineren. Sie haben noch mehr aus Italien mitgebracht. Kleine runde Konservendosen werden geöffnet und der rote Brei, der sich darin befindet, kommt mit Butter, Wasser und Gewürzen in den kleinen Topf und wird zu einer roten Soße verrührt. Als das Wasser im anderen Topf kocht, nimmt sie ein Päckchen mit ganz langen, dünnen Nudeln. Die kommen in das kochende Wasser, werden gleich umgerührt und nach einigen Minuten in ein Sieb über dem Spülstein abgegossen. Meine Mutter füllt die Nudeln und die Soße in unsere großen Porzellanschüsseln und trägt alles ins Esszimmer.

Mein Vater hat in der Zwischenzeit ein kleines Schälchen voll Parmesankäse gerieben. Jeder hat jetzt einen Suppenteller, eine Gabel und einen Löffel vor sich. Erst kommen Nudeln auf die Teller, dann ein großer Löffel Soße darüber, alles wird mit Gabel und Löffel durchgemischt und schließlich streuen wir mit einem kleinen Löffelchen Parmesankäse über die Nudeln.

Die Eltern zeigen uns, was sie in Italien gelernt haben. Mit Hilfe des Löffels müssen die Nudeln auf die Gabel aufgewickelt werden. Mir gelingt das nicht, aber irgendwie bringe ich doch die Nudeln mit der Gabel in den Mund. Es schmeckt ganz toll, genau so gut wie mein Lieblingsessen, Rouladen mit Kartoffelbrei und Rotkraut.

Alle am Tisch essen und allen schmeckt es. Dabei erzählen meine Eltern und meine Schwester vom Meer, dem Sandstrand und den netten Italienern, mit denen mein Vater manchmal zusammen Wein getrunken hat. Wir hören gespannt zu und wünschen uns, im nächsten Sommer auch mit nach Italien fahren zu dürfen.

***

Langsam gleitet das Boot durch das dunkle, ruhige Wasser der Lagune. Sie genießen die kühle Frische des Morgens, die salzige Luft, die vom offenen Meer hereinweht und sich mit dem leicht modrigen Geruch des Lagunenwassers verbindet.

Tuck, tuck, tuck..., das gleichförmige Geräusch des Motors, das sanfte Klatschen der Wellen gegen die hölzernen Bugwände, vereinzelte Möwenschreie – es sind noch nicht viele Boote unterwegs an diesem Morgen, die Lagune scheint erst langsam aus ihrem Schlaf zu erwachen. Zur Linken gleitet der Lido mit seinen prunkvollen, alten Hotelgebäuden an ihnen vorbei, in der Ferne tauchen im zarten Dunst des frühen Tages bereits die Umrisse des Glockenturms von San Marco und des Dogenpalastes auf.

Michele, der Fischer, steht hinten am Ruder, lenkt das Boot die vertraute Fahrrinne entlang, die, wie überall in Venedig, durch Baumstämme markiert ist, welche eingerammt in den weichen Untergrund weit sichtbar aus dem Wasser ragen.

Antonio sitzt wie immer vorne, den Blick geradeaus gerichtet. Doch im Gegensatz zu sonst hat er heute keinen Sinn für die Türme, Kuppeln und die prunkvollen Gebäude, auf die sie zufahren. Zu sehr ist er in seine Gedanken vertieft, zu sehr spürt er, dass der Onkel heute fehlt, mit dem er die ganzen Jahre stets gemeinsam von ihrem Lagunendorf hinüber in die Stadt, nach Venedig, gefahren ist.

Lange hatte der Onkel gezögert, konnte sich nicht entscheiden, ob er mitkommen solle. Schließlich war er heute früh zu hause geblieben und hatte ihn, Antonio, alleine losgeschickt, auf diese letzte Fahrt. Nur mit Michele im Boot brachte er die Truhe jetzt zurück, in einen der Palazzi am Canal Grande, wo sie diese vor vielen Wochen abgeholt hatten.

Irgendwann hatten sie aufgehört, die unendlich vielen Stunden zu zählen, die sie gemeinsam in ihrer Schreinerwerkstatt mit der Truhe verbracht hatten. Alle beschädigten Teile waren kunstvoll ersetzt, die Farbe des eingefügten Holzes geschickt gebeizt, geölt, gewachst und poliert worden, bis fast niemand mehr den Unterschied zum Original erkennen konnte und auch für den fehlenden Messingknauf hatten sie einen passenden Ersatz in ihrer Schatzkammer gefunden.

Nun stand die Truhe zwischen Michele und ihm im Boot und sah wieder so prächtig aus, wie an dem Tag, als sie vor über zweihundert Jahren die Werkstatt eines Schreiners in Venedig verlassen hatte.

Schon als Kind, noch bevor er in die Schule kam, war Antonio immer beim Onkel in der Werkstatt gewesen, schaute ihm zu, wie er für die Leute aus den umliegenden Dörfern Fenster, Türen, Tische und Schränke anfertigte. Irgendwann begann er mitzuhelfen, lernte den Umgang mit Schleifpapier, Polierlappen, dann mit der Säge, dem Stemmeisen, den verschiedenen Hobeln, die ordentlich aufgereiht an der Wand hinter der Werkbank hingen. Als er größer wurde, bediente er auch die Kreissäge, die der Onkel erst neu erworben hatte. Deren schnell rotierendes Sägeblatt, mit dem hohen, kreischenden Ton, wenn es in das Holz einschnitt, flößte ihm lange großen Respekt ein.

Wie selbstverständlich war er nach dem Abschluss der Schule zum Onkel in die Lehre gegangen, war selbst Schreiner geworden. Er hätte sich nie etwas Anderes vorstellen können. Schon bald hatte er alle Arbeiten genauso geschickt beherrscht, wie der Onkel selbst.

So viel Freude ihnen diese Tätigkeiten auch machten, richtig lebten der Onkel und er erst auf, wenn sie wieder einmal eines der alten, historischen Möbelstücke in Venedig abholen durften, um ihnen neues Leben einzuhauchen, um die oft beträchtlichen Spuren, welche die Zeit daran hinterlassen hatte, zu beseitigen, sie wieder so herzurichten, dass sie ihren angestammten Platz in einem der vielen Palazzi würdig einnehmen konnten.

Stets fuhren sie dann mit Michele, dem Fischer, den sie dafür bezahlten, die knappe Stunde von ihrem Dorf durch die Lagune, hinüber nach San Marco, San Polo, Dorsoduro oder einem der anderen Stadtteile Venedigs, um das Möbelstück abzuholen.

Stand es dann mitten in ihrer Werkstatt, betrachteten sie es lange von allen Seiten, öffneten die Schubladen, die Türen, untersuchten das Innere, befühlten die gewachsten oder lackierten Oberflächen, beschnupperten sie und manchmal rieb der Onkel kräftig mit der Spitze seines Zeigefingers auf dem Holz, führte ihn dann an seine Zunge und versuchte, mit dem Geschmack zu ergründen, welche Öle, Wachse oder Lacke im Laufe der vielen Jahre hier in Anwendung gekommen waren.

Sie besprachen sich, tauschten all ihre Eindrücke aus und immer mehr schienen sie dabei eins zu werden mit dem Schrank, der Truhe, der Kommode, die da vor ihnen stand und die vor so langer Zeit ein anderer Schreiner in unzähligen Stunden erschaffen hatte.

Sie begannen die Schäden zu analysieren. Da war ein Brett vom Wurm zerfressen, die Türen durch die feuchte, salzige Luft verzogen, ein gedrechselter Fuß verloren gegangen, eine Ecke durch Unachtsamkeit abgebrochen oder es fehlte ein Griff, ein Knauf aus massivem Messing. Wenn sie nach gründlichem Abwägen entschieden hatten, welche Teile ersetzt werden mussten, welche Stellen sie auszubessern oder auch nur aufzupolieren hatten, war der Zeitpunkt gekommen, die Schatzkammer des Onkels aufzusuchen, einen Raum, direkt neben der Werkstatt, in dem ein Fremder nichts als Brennholz und alte, verschmutzte Metallteile erkannt hätte.

Doch es war tatsächlich ein Schatz, der sich hier verbarg, um den sie viele angesehene Schreiner aus Venedig beneideten und den schon der Vater des Onkels, der auch Schreiner war, begonnen hatte zusammenzutragen.

Alte Hölzer von Möbeln, irgendwann einmal achtlos weggeworfen, weil sie beschädigt waren, Bretter von Fußböden, Decken, Wandverkleidungen, so alt wie die Palazzi selbst, abgefallen bei zahllosen Reparaturarbeiten im Laufe einer langen Zeit.

Kisten mit Schlössern, Schlüsseln, Scharnieren, Griffen, Türklinken, Zierbändern aus Eisen und Messing - nur der Onkel wusste genau, was sich hier alles verbarg.

Und dann war da noch der Schrank mit den vielen Fläschchen, Gläsern und Döschen voller Beizen, Ölen, Wachsen und Lacken, um die Oberflächen der erneuerten Holzteile dem Original wieder genau anpassen zu können.

Wenn sie hier alles gefunden hatten, was sie für die anstehende Aufgabe brauchten, begannen sie ihr Werk. Vorsichtig entfernten sie beschädigte Teile, fertigten aus alten, passenden Hölzern genauestens Ersatz, dabei immer bemüht, auch nicht den Bruchteil eines Millimeters von den ursprünglichen Formen abzuweichen.

Und während sie so in ihre Arbeit vertieft waren und entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit nur noch das Notwendige dabei besprachen, kam ihnen immer mehr das Gefühl für die Zeit abhanden. Erst war es die Uhr, die sie ignorierten, dann beachteten sie auch nicht mehr den Stand der Sonne, die nachmittags direkt durch das Werkstattfenster fiel.

Da gab es dann nur noch die Tätigkeiten, die sie gerade verrichteten, mit der Feile, der Säge, dem Schleifpapier, dabei der Duft von Sägemehl, Firnis und Leim, das Geräusch des Hobels, wenn er über das Holz glitt, des Hammers, der auf das Stemmeisen traf, oder das leichte Quietschen, des im Kreise bewegten Poliertuchs.

Und wie durch Zauberhand verwandelte sich die Truhe, die sie alt und schadhaft aus Venedig geholt hatten, allmählich in ein strahlendes Kunstwerk und der Meister, der es vor so langer Zeit erschaffen hatte, schien zu ihnen zu sprechen, ja, bisweilen vermeinten sie tatsächlich seine Stimme zu hören.

Oft beendete erst die Dämmerung des Abends, die ihnen das Licht nahm, ihre Arbeit für den Tag.

Manchmal war es aber auch die Tante, die zu später Stunde die Werkstatt betrat und von ihnen erst bemerkt wurde, als sie ihre kräftige Stimme erhob: „Verhungern werden wir noch alle wegen euch, wegen eurem alten Zeug da!

Wo ist die Tür, die du für Lorenzo machen solltest? Er wartet schon seit Tagen darauf, und du hast noch nicht einmal damit angefangen. Nichts mehr seht ihr, außer dem alten, wurmstichigen Ding da, das nur noch dazu taugt, kleingehackt und im Ofen verbrannt zu werden.

Du weißt genau, dass Lorenzo seine Rechnungen immer sofort, ohne zu handeln begleicht. Nicht so wie deine reichen Kunden aus Venedig, die auf ihrem Geld sitzen und dir oft nur ein Trinkgeld geben, das gerade reicht, um Michele für die Überfahrt zu bezahlen.“

Während die Tante immerfort weiterschimpfte und lamentierte, tauschten der Onkel und er heimlich Blicke aus.

Eigentlich mussten sie der Tante ja recht geben. Noch nie hatte der Onkel all die vielen Stunden, die sie mit solch einem Möbelstück verbrachten, auf eine Rechnung geschrieben. Vielleicht die Hälfte davon, manchmal auch weniger und trotzdem klagten ihre Auftraggeber stets darüber, wie teuer es geworden sei, gaben ihnen nur einen Teil des Geldes oder vertrösteten sie und der Onkel musste aufs neue nach Venedig fahren und vorsprechen, bis er seinen Lohn endlich in den Händen hielt.

Nein, leben konnten sie nicht von diesen Arbeiten, dass wussten sie schon. Aber ohne sie, ohne die vielen Stunden des Einswerdens mit den alten Meisterstücken konnten sie sich ein Leben überhaupt nicht vorstellen.

Antonio erschrickt, als Micheles Stimme ihn aus seinen Gedanken reißt: „Antonio, wo müssen wir heute hin, wo soll ich entlang fahren?“

Vor ihnen ist die Kuppel von Santa Maria della Salute zu sehen, der Kirche, welche die Venezianer vor vierhundert Jahren nach der Pestepidemie gebaut hatten. Hier teilt sich das Wasser. Links geht es den Canale della Giudecca entlang, vorbei an der Hauptinsel, rechts führt der Canal Grande direkt in das Herz der Stadt.

„Rechts, rechts, Michele, in den Canal Grande, der Palast bei der Accademiabrücke, du weißt schon.“

Während Michele sicher durch den dichten Verkehr des Canal Grande lenkt, hindurch zwischen Vaporetti, Gondeln und den vielen Lieferboten, versinkt Antonio wieder in seine Gedanken.

Letztes Jahr, wenige Monate, nachdem er, Antonio, geheiratet hatte, war die Tante an der Lunge erkrankt, hatte Blut gehustet. Sie gingen zum Arzt, kauften Medikamente und schließlich musste die Tante ins Krankenhaus. Viel Geld war für dies alles zu bezahlen gewesen. Bald schon waren die geringen Ersparnisse aufgebraucht. Dann lieh der Onkel sich etwas von Freunden und Verwandten und schließlich wusste er nicht mehr, woher er das Geld für die weiteren Rechnungen nehmen sollte.

Und als er, der nie um einen Ratschlag verlegen war, der immer so viel lachte und stets für jeden einen von Herzen kommenden, freundlichen Satz bereit hielt, als er nicht mehr wusste, wie es weiter gehen sollte, bekam er unerwarteten Besuch.

Ein Schreiner, den er schon lange kannte, der in Venedig eine große Werkstatt unterhielt, bot ihm einen stattlichen Betrag, für den in Jahrzehnten zusammengetragenen Inhalt der Schatzkammer. Der Onkel wusste gleich, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war, sich zu trennen von all den alten Hölzern und Beschlägen, den Fläschchen und Döschen, sich zu trennen von seiner Leidenschaft, die nichts einbrachte und ihm die Zeit raubte, die er brauchte, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen.

Die Tante kam aus dem Krankenhaus, wurde gesund und der Onkel fing wieder an zu lachen. Doch sein Lachen hatte sich verändert. Etwas von der Unbekümmertheit und Grenzenlosigkeit, mit der er früher den ganzen Raum der Werkstatt ausgefüllt, soviel Zuversicht ausgestrahlt hatte, etwas davon war verloren gegangen.

Und dann, als sie diese letzte Truhe, die jetzt schon so lange bei ihnen in der Werkstatt stand, fertiggestellt hatten, nahm der Onkel ihn beiseite. Entgegen aller Gewohnheit schenkte er am Vormittag zwei Gläser voll Rotwein und begann zu reden, zögernd, langsam, mit einer Stimme, die sich fast so anhörte, als hätte der Onkel Mühe, beim Sprechen seine Tränen zu unterdrücken.

Umständlich erklärte er, wie schlecht die Geschäfte gingen, dass er ihm ja schon manchmal einen Teil des Lohnes schuldig bleiben musste, dass Antonio ja jetzt auch verheiratet sei, sie schon bald ihr erstes Kind erwarten würden...

Da fiel ihm Antonio ins Wort, erlöste den Onkel vom Reden, das ihm heute so unendlich schwer zu fallen schien.

Er wüsste doch, wie es um die Werkstatt bestellt sei, dass die Arbeit nicht ausreiche, um zwei Familien zu ernähren. Schon lange habe er geahnt, dass es so nicht weiter gehen könne. Er werde sicher eine andere Arbeit finden, vielleicht nicht hier im Dorf, aber bestimmt in einer der großen Städte, wo schon einige ihrer Bekannten hingezogen seien.

Da hatte der Onkel ihn in seine Arme genommen: „Mein Junge, wie sehr wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass dich das Glück nie verlässt auf deinem weiteren Weg. Und wenn du mich einmal brauchen solltest, du weißt, ich bin immer für dich da.“

Danach hatte sich Antonio auf den Heimweg begeben und obwohl er solch ein Gespräch schon seit langem hatte kommen sehen war ihm, während er so entlang ging, als sei der Boden unter seinen Füßen verschwunden, als tauche er mit jedem Schritt in ein unendlich tiefes Loch ein. So lange er denken konnte war die Werkstatt des Onkels sein eigentliches zu hause gewesen, hatte er sich nie vorstellen können, etwas anderes als Schreiner zu sein.

Er begann, sich umzuhören, doch schnell stellte sich heraus, dass es weit und breit keine Arbeit in einer Schreinerei gab und um selbst eine Werkstatt zu eröffnen fehlte ihm das Geld.

Sein Leben, das bisher in so klaren Bahnen verlaufen war, begann kompliziert zu werden.

Eines Abends machte er sich auf den Weg, seine Cousine zu besuchen, die am anderen Ende des Dorfes wohnte, von wo es nur wenige Meter bis zum Meer waren. Sie arbeitete schon seit längerem auf dem Campingplatz, der sich beim Strand befand und auf den in letzter Zeit immer wieder Urlauber aus anderen Ländern, meist aus Deutschland, kamen. Seine Cousine hatte sogar etwas Deutsch gelernt und seit letztem Jahr vermietete sie an die Fremden auch Zimmer in ihrem Haus. Deutschland, von dort kamen nicht nur Touristen, in dieses Land waren auch schon Leute aus den umliegenden Dörfern gefahren, um dort zu arbeiten.

In Verona gab es eine Behörde, die Italiener nach Deutschland vermittelte, davon hatte Antonio gehört und auch, dass man dort ärztlich untersucht würde, dass man viele Formulare ausfüllen und amtliche Papiere mitbringen musste. Es schien alles sehr kompliziert zu sein, dort in Verona.

Er hatte auch davon gehört, dass es möglich sei, als Tourist nach Deutschland zu gelangen und dann dort selbst nach einer Arbeit zu suchen. Aber wo sollte er hinfahren, wo wohnen, wen nach einer Arbeit fragen, wo er doch kein Wort Deutsch sprach. Und wollte er überhaupt dorthin, in dieses Land, wo er niemanden kannte, wo es so kalt sein sollte und wo er nichts verstand.

Vielleicht konnte ihm seine Cousine weiterhelfen. Sie hatte schon so viele Menschen aus Deutschland kennengelernt.

Als er die Küche im Haus der Cousine betrat, saßen dort fremde Leute am Tisch: Ein Mann, eine Frau, beide etwa um die vierzig und ein vielleicht fünfzehnjähriges Mädchen. Alle drei trugen kurze Sommerkleidung und an den Füßen Sandalen.

Der Mann hatte ein Glas mit Rotwein vor sich stehen, die Frau und das Mädchen jeweils eines mit Limonade.

„Ah, Antonio, Cousin, komm herein, setz dich zu uns. Das ist die Familie Flenner, aus Deutschland, aus Frankfurt.“

Er setzte sich. Die Cousine schenkte ihm Rotwein ein und dann hob der deutsche Mann sein Glas, hielt es ihm entgegen und sagte „Prost“.

Auch Antonio hob sein Weinglas: „Salute“, und obwohl er sonst nicht viel Wein trank, leerte er es heute fast auf einen Zug aus, so dass die Cousine ihm gleich nachschenkte.

„Der Dottore Flenner arbeitet in Deutschland in einer großen Fabrik, wo sie Farben herstellen“, erklärte die Cousine und dann setzte sie die Unterhaltung mit den drei Fremden fort, so gut es ihre Deutschkenntnisse erlaubten.

Antonio saß dabei und verstand nichts von dem, was die anderen miteinander redeten, doch in seinem Kopf begann es zu arbeiteten, tauchten Fragen auf, immer mehr. So vieles hätte er gerne gewusst über Deutschland und ob es dort wirklich überall Arbeit gab.

Irgendwann stand die Cousine auf, machte sich am Herd zu schaffen und begann in einer Pfanne kleine Fische zu braten.

Antonio war jetzt alleine mit den drei Deutschen am Tisch. Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann sah der fremde Mann ihn an und sagte etwas in der Sprache, die Antonio nicht verstand.

„Der Dottore möchte wissen, was du arbeitest, was dein Beruf ist“, übersetzte die Cousine vom Herd aus. Antonio schaute dem Mann kurz in die Augen, dann deutete er auf die Zimmertüre, den Tisch und den Schrank hinter ihnen.

„Das, das habe ich alles selbst gebaut, das ist mein Beruf“

„Tischler, ich glaube er ist Tischler“, sagte der Mann auf Deutsch zu Frau und Tochter gewandt, so, als wolle er ihnen etwas aus dieser fremden Sprache übersetzen, die er selbst gar nicht verstand.

Tischler, das war also das deutsche Wort für seinen Beruf, Tischler, das würde er sich merken.

Nachdem sie gemeinsam die knusprig braunen Fische aufgegessen hatten, ebenso das frische Weißbrot, welches mit auf dem Tisch stand, gingen die Frau und das Mädchen nach oben in ihr Zimmer. Der Mann, der jetzt schon einige Gläser Wein getrunken hatte und dabei immer gesprächiger geworden war, blieb noch sitzen, während die Cousine die Gläser nachschenkte und dazu einen Teller mit kleinen Käsestücken, Salami- und Schinkenscheiben auf den Tisch stellte.

So gut es ging, übersetzte sie zwischen Antonio und dem Deutschen, der plötzlich anfing, in einer Sprache zu reden, die manchmal ihrer eigenen ähnlich war. Es musste wohl Latein sein, was sie da hörten, denn es klang so, als würde der Priester am Sonntag in der Kirche die Messe lesen. Und da nun auch der Wein mithalf, verstanden sie sich immer besser untereinander.

Arbeit gäbe es mehr als genug in Deutschland. Überall werde gebaut: neue, hohe Häuser mit Wohnungen für Familien und in der Stadt seien immer noch zahlreiche Gebäude vom Krieg zerstört, die jetzt wieder aufgebaut würden.

Antonio sah die vielen neuen Häuser, dachte dabei an die unzähligen Fenster und Türen, die hierfür gebraucht wurden und die vielen Tischler, die diese Fenster und Türen herstellen mussten.

Während die Gläser neu gefüllt wurden, erzählte der Dottore weiter.

Es sei oft schwierig, überhaupt qualifizierte Arbeiter zu bekommen. In dem Unternehmen, bei dem er beschäftigt sei, hätten sie zwar noch nicht solche Sorgen, aber den Arbeitern würde dort auch viel geboten von der Firma: Häuser und Wohnungen, ein Schwimmbad, eine Bücherei, sogar Fahrräder, um von der Arbeit nach Hause zu fahren.

Es war schon lange dunkel, als sie sich schließlich vom Tisch erhoben. Der Dottore bedankte sich herzlich für das Essen und den Wein. Wenn sie einmal nach Deutschland, nach Frankfurt kommen sollten, seien sie auch in seinem Haus immer herzlich willkommen, sagte er noch, bevor er zum Schlafen nach oben ging.

Auf dem Heimweg ließen Antonio die Bilder von den vielen neuen Häusern in Deutschland, den vielen neuen Fenstern und Türen nicht mehr los. Frankfurt, das musste eine sehr große Stadt sein, so groß, wie er noch nie eine in seinem Leben gesehen hatte.

Ein leichter, dumpfer Schlag beendet Antonios Gedanken. Michele hat das Boot seitlich an den hölzernen Anleger gelenkt, hinter dem sich der wasserseitige Zugang des Palazzo befindet und hält schon den Strick in der Hand, um das Boot zu vertäuen.

„Binde du es vorne fest“, ruft er Antonio zu und dann beginnen sie damit, die schwere Truhe aus dem Boot zu laden.

***

Bei uns in Höchst gehen jetzt die Sommerferien zu Ende. Für meine großen Geschwister fängt die Schule wieder an. Mein Vater fährt jeden Morgen zur Arbeit und manchmal kommt er in der Mittagspause schnell zum Essen vorbei. Meine Mutter geht vormittags immer einkaufen. Ich begleite sie, oder ich bleibe in dieser Zeit daheim bei den Großeltern.

An einem solchen Vormittag klingelt es an der Haustüre. Meine Oma öffnet. Vor der Tür steht ein Mann mit schwarzen Haaren und einem kleinen Koffer in der Hand.

Ohne ihn zu grüßen, sagt meine Großmutter gleich: „Wir kaufen nichts“. Sie meint, er sei einer von den Männern, die von Haus zu Haus ziehen und Rasierklingen, Schnürsenkel oder ähnliche Dinge zum Kauf anbieten.

Doch der Mann packt keine Waren aus. Er hält ein Papier in der Hand und will meiner Oma etwas sagen, aber wir können ihn nicht verstehen. Er redet in einer ganz anderen Sprache. Dann kommt der Opa dazu. Der fremde Mann steht auf dem Bürgersteig, ihm gegenüber meine Großeltern, dazwischen das geschlossene Gartentor. Ich höre, wie der Mann etwas sagt, das wie „Doktore Flenner“ klingt. Er hält meinem Opa den Zettel entgegen, deutet mit dem Finger darauf.

Mein Opa liest: Dr. Karl-Heinz Flenner, Bachstelzenweg 5, Frankfurt am Main / Höchst. Es ist die Handschrift meines Vaters.

Jetzt wird die Gartentüre geöffnet und der Fremde darf eintreten. Meine Großeltern sind unsicher, sie wissen nicht, was sie mit dem Mann machen sollen, doch dann bitten sie ihn ins Haus. Er bekommt einen Stuhl am Küchentisch angeboten und ein Glas Sprudelwasser. Dort sitzt er noch vor dem Glas, als meine Mutter bald darauf vom Einkaufen zurück kommt. Die Großeltern erwarten sie schon und berichten von dem Fremden.

Meine Mutter geht in die Küche, bleibt erstaunt an der Türe stehen, dann begrüßt sie den Mann, der da am Tisch sitzt. Sie scheint ihn zu kennen und beginnt, sich mit ihm zu verständigen. Jeder spricht in seiner Sprache und dabei bewegen sie dauernd die Arme und Hände. Dann sagt der Mann ein deutsches Wort: „Arbeit“, zeigt auf sich und sagt „Tischler“.

Meine Mutter wendet sich an uns: „Das ist Antonio aus Italien, der Cousin von der Frau, bei der wir im Urlaub gewohnt haben. Ich glaube, er will hier in Deutschland arbeiten.“

Meine Oma hat das Mittagsessen fertig und da kommt auch mein Vater zum Essen nach Hause. Meine Mutter erzählt ihm gleich im Flur von unserem Gast. Erst macht mein Vater ein merkwürdiges Gesicht, doch dann geht er ins Esszimmer, wo Antonio schon mit uns Kindern und den Großeltern am Tisch sitzt.

Mein Vater hat vor langer Zeit in der Schule Französisch und Latein gelernt, Italienisch spricht er nicht. Doch es gelingt ihm recht gut, sich mit Antonio zu verständigen, der mit uns jetzt gemeinsam zu Mittag isst.

Irgendwann erklärt er uns, dass Antonio tatsächlich nach Deutschland gekommen sei, um hier zu arbeiten und dass er jetzt eine Arbeitsstelle und auch einen Platz zum Wohnen bräuchte. Nach dem Essen müssen wir Kinder aus dem Zimmer, die Erwachsenen haben noch etwas zu besprechen und dann erfahren wir, dass der Mann aus Italien die nächsten Tage bei uns bleiben wird.

Oben im Dach ist ja noch die Mansarde, in der neben den zu bügelnden Wäschebergen das alte Doppelbett steht. Bis jetzt ist es noch nie benutzt worden. Dort kann Antonio erst einmal schlafen.

Wir haben kein Telefon, und so beginnt mein Vater am nächsten Tag von seinem Büro aus, eine Arbeitsstelle für unseren Gast zu suchen. Schon kurze Zeit später beginnt Antonio bei einer Baufirma in der Nähe von Höchst zu arbeiten.

Bald darauf ist der erste Mensch aus einem fremden Land, den ich in meinem Leben kennen gelernt habe, auch schon wieder aus unserem Haus verschwunden. Seine Firma hat ihm eine andere Unterkunft besorgt.

Erstes Kapitel

in dem ich das erste Mal im Leben in einem fremden Bett

schlafe -

und Antonio mit einer kleinen Säge seine Kollegen beeindruckt

1960John F. Kennedy wird zum Präsidenten der USA gewählt Im Rahmen der Entkolonialisierung des afrikanischen Kontinents wird auch Italienisch-Somaliland unabhängig In Amerika kommt die Antibabypille auf den Markt Das erste deutsche Versuchskernkraftwerk geht in Betrieb Die XVII. Olympischen Sommerspiele finden in Rom stattRocco Granata / Marina, Marina Heidi Brühl / Wir wollen niemals auseinadergehn

Es ist Ostern und die Schulferien meiner Geschwister gehen gerade zu Ende. Osterferien sind etwas Besonderes. Vor den Ferien gibt es Zeugnisse, und danach beginnt ein neues Schuljahr. Dieses Ostern fängt auch für mich die Schule an. Ein paar Tage zuvor habe ich vom Augenarzt eine Brille verschrieben bekommen. Der Besuch beim Optiker dauert nicht lange, denn es gibt für alle Kinder das gleiche Brillengestell.

An meinem ersten Schultag mache ich mich früh, zusammen mit meiner Mutter, auf den Weg, in meinen Armen eine große Schultüte. Ich bin neugierig und möchte wissen, was da alles drin ist, doch ich darf jetzt noch nicht hineinschauen.

Wir müssen etwa fünfzehn Minuten laufen, dann kommen wir zu einem großen, grauen Gebäude, der Volksschule. Es gibt einen Haupteingang, durch den alle Kinder gehen und noch einen kleinen, an dem ein großes blaues Schild mit der Aufschrift „Stadtbad“ hängt. Ich frage meine Mutter, ob hier ein Schwimmbad sei. „Nein“ sagt sie, „da gibt es nur Badewannen im Keller. Die sind für Leute, die zu hause kein Badezimmer haben“.