Wie man einen autobiografischen Roman schreibt - Alexander Chee - E-Book

Wie man einen autobiografischen Roman schreibt E-Book

Alexander Chee

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Beschreibung

Der amerikanische Autor Alexander Chee spürt in diesen autobiografischen Essays dem Wechselverhältnis von Leben, Literatur und Politik nach. Chronologisch angeordnet, zeigen sie Chee, wie er vom Schüler zum Lehrer, vom Leser zum Autor heranwächst und sich dabei den widersprüchlichen Anforderungen seiner verschiedenen Identitäten stellt: als Amerikaner mit koreanischen Wurzeln, als schwuler Mann, Künstler und politischer Aktivist. Intensiv beschäftigt sich Chee mit den prägenden Erfahrungen seines Lebens, dem Tod seines Vaters, der Aids-Krise und dem Trauma des Kindesmissbrauchs, aber auch mit seinen Leidenschaften für Tarot und Rosenzucht, seinem ersten Mal in Drag und der Entstehung seines Romans "Edinburgh". So erhellend wie elegant, fügen sich die Texte in diesem Band zu einer Art Autobiografie in Fragmenten und einer Liebeserklärung an das literarische Schreiben.

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WIE MAN EINENAUTOBIOGRAFISCHENROMAN SCHREIBT

ALEXANDER CHEE

WIE MANEINENAUTOBIOGRAFISCHENROMAN SCHREIBT

ESSAYS

Aus dem Amerikanischen vonNicola Heine und Timm Stafe

Mit einem Nachwort vonDaniel Schreiber

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

How to Write an Autobiographical Novel bei Mariner Books.

© 2018 by Alexander Chee

1. Auflage

© 2020 Albino Verlag

Salzgeber Buchverlage GmbH

Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin

[email protected]

Aus dem Amerikanischen

von Nicola Heine und Timm Stafe

Umschlaggestaltung: Johann Peter Werth

Satz: Robert Schulze

Umschlagabbildung: Alexander Chee

Printed in Germany

ISBN 978-3-86300-296-1

Mehr über unsere Bücher und Autoren:

www.albino-verlag.de

Für meine Mutter und meinen Vater,

die mir das Kämpfen beigebracht haben

INHALT

Der Fluch

Der Fragesteller

Ein Schriftstellerleben

1989

Girl

Nach Peter

Meine Parade

Mr. und Mrs. B

100 Dinge über das Schreiben eines Romans

Rosenkranz und Rosengarten

Die Erbschaft

Hochstapler

Autobiografie meines Romans

Die Wächter

Wie man einen autobiografischen Roman schreibt

Wie ich ein amerikanischer Schriftsteller wurde

Danksagung

Nachwort von Daniel Schreiber

DER FLUCH

Den Sommer meines fünfzehnten Geburtstags verbrachte ich als Austauschschüler in Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Chiapas, etwa dreihundert Meilen nördlich der Grenze zu Guatemala. Meine Gastfamilie hieß Gutiérrez, und ich habe sie nie gefragt, ob die Stadt ihren Namen von ihren Vorfahren hatte, aber falls doch, hängten sie es nicht an die große Glocke, so mächtig und wohlhabend sie waren. Der Vater, Fernando, war Hafenarbeiter gewesen, einer wie die, die jetzt für ihn schufteten, und die Mutter, Cela (ausgesprochen Tsche-la), war Tanzlehrerin. Ich erlebte sie als Menschen, die das Leben lieben, und liebte sie vom ersten Augenblick an.

Ihr Sohn, Miguel Ángel, hatte das letzte Schuljahr bei mir und meiner Familie in Cape Elizabeth, Maine verbracht. Er hatte seinen Eltern viel von mir erzählt, und so empfingen sie mich wie ein Kind, das sie immer schon gekannt, aber nie kennengelernt hatten. Sie hatten ein schönes, modernes Haus mit viel glänzendem Holz, Glas und Stuck, umgeben von hohen, mit Stacheldraht gespickten Mauern und Bäumen mit weit ausladenden Kronen und sternförmig angeordneten Blättern, von denen ich später erfahren sollte, dass es Mangobäume waren.

Bei unserem ersten, so heiteren wie herzlichen Abendessen erklärte mir die Familie, dass sie während dieses Sommers kein Englisch mit mir sprechen wollte, ganz gleich, wie sehr mich das verwirren würde. Und dass ich so Spanisch lernen sollte. Ich lachte, als ich – auf Spanisch – mein Einverständnis erklärte, etwas eingeschüchtert vielleicht, aber wild entschlossen und schon jetzt eifrig darum bemüht, ihnen zu gefallen.

In jener Nacht, ich lag wach und fand lange keinen Schlaf, fielen von den Bäumen, die rings um das Haus und die ganze Straße entlang standen, die reifen Mangos herab. Das Geräusch, das sie beim Aufprall machten, schwankte je nach Reifegrad zwischen dem Ploppen eines Tennisballs und einem saftigen Klatschen, und vereinzelt war ein lautes Klirren zu hören, wenn sie eine Windschutzscheibe durchbrachen.

Wir müssen den Baum fällen, sagte meine Gastmutter am nächsten Morgen. Das sagte sie immer, wenn wieder eine Scheibe zu Bruch gegangen war, aber kein einziger Baum wurde je gefällt – als wären kaputte Windschutzscheiben der Preis, den man für die Mangos zahlen musste, die wir Tag für Tag in uns hineinschlangen. Stattdessen ließen sie den Gärtner die Früchte aufsammeln und ersetzten die Windschutzscheibe, wie man eine Tischdecke wechselt. Und das war eine meiner ersten Lektionen über das Leben der Superreichen.

Erst Jahre später, als ich von der bitteren Armut in Chiapas erfuhr – daher die mit Stacheldraht gespickten Mauern –, begann ich mich zu fragen, ob es wirklich Mangos waren, was ihre Windschutzscheiben zerstört hatte – ob den ganzen Sommer Mangosaison war.

···

Ich war einer von zwölf Schülern meiner Highschool, die den Sommer in Chiapas verbrachten, im Rahmen eines, wenn ich heute darüber nachdenke, eher seltsamen Austauschprogramms: Wir wohnten bei den mexikanischen Schülern, die ein Jahr lang bei uns gewohnt hatten, aber im Gegensatz zu ihnen mussten wir nicht zur Schule. Der Sommer an sich sollte unsere Schule sein. Wenn meine Gastfamilie mich nicht darauf eingeschworen hätte, kein Englisch zu sprechen, glaube ich kaum, dass ich viel gelernt hätte. Unser Lehrer war zur Aufsicht mitgekommen, aber Unterricht hatten wir auch bei ihm nicht. Was immer er ansonsten trieb, er begleitete uns immerhin auf die gelegentlichen Gruppenexkursionen, die uns meist zu gut besuchten Ruinen führten, und auf Einkaufsexpeditionen in Orte wie das nahe gelegene San Cristóbal de las Casas, eine stille, sonnendurchflutete Stadt, der man noch ihren früheren Glanz als ehemaliger Hauptstadt von Chiapas ansehen konnte. Für mich waren diese Ausflüge so etwas wie Fixpunkte, die sich von den ungezählten, ununterscheidbaren Tagen dazwischen abhoben, an denen ich nichts anderes tat, als durch das leere, weitläufige Haus zu geistern, während die Mitglieder der Familie Gutiérrez entweder in der Schule oder bei der Arbeit waren. Ich war fasziniert von den vielen Toupets meines Gastvaters, die in seinem Ankleidezimmer auf Plastikköpfen saßen, und dem Leben, auf das sie hindeuteten, einem mir völlig fremden, in dem es öffentliches und privates Haar gab.

Das war nur eine von vielen Beobachtungen, die ich in diesem Sommer machte, und wenn es wirkt, als hätte ich herumgeschnüffelt, dann stimmt das. Meine Inspirationsquelle waren die Bücher, die ich mitgebracht hatte, die Dune-Romane Frank Herberts – die Geschichte eines kleinen Jungen ohne Freunde, der als neuer Messias gilt und von den Bene Gesserit ausgebildet wird, einem geheimnisvollen Orden von Frauen mit übernatürlichen Kräften, die sie unter anderem durch das obsessive Registrieren kleinster Details erwerben. Der Junge war mein Held und nach Encyclopedia Brown, Sherlock Holmes und Batman nur die jüngste Inkarnation eines Heldentypus, der vom Durchschnitts- zum Übermenschen wird, weil er Dinge wahrnimmt, die anderen verborgen bleiben. Um herauszufinden, ob auch ich solche Superkräfte entwickeln konnte, musste ich als Erstes meine Beobachtungsgabe schulen.

Und wenn ich nicht gerade in die Lektüre jener Romane versunken war, schrieb ich meine eigenen Geschichten, Geschichten, die bis heute niemand zu sehen bekommen hat, über Mutanten mit übersinnlichen Kräften, die vor einer Regierung fliehen, deren erstes Anliegen es naturgemäß ist, sie für ihre Zwecke zu missbrauchen. Im Grunde X-Men-Fanfiction, lange bevor ich wusste, dass es so etwas gibt.

Mein größter Traum war es, genau so eine Geschichte selbst zu erleben, übersinnliche Kräfte zu besitzen, die mir entweder angeboren waren oder dank meiner eifrigen Bemühungen zuwachsen würden und obwohl ich das damals so nicht hätte sagen können, hätte die Erfüllung dieses Traumes bedeutet, dass die Kämpfe, die ich auszustehen hatte, nicht umsonst gewesen waren.

Das Einzige, was in diesem Sommer für so etwas wie einen geregelten Tagesablauf sorgte, war die Stunde, die ich mit der Köchin Panchita vor dem Küchenfernseher verbrachte. Während ich mein Mittagessen verdrückte – gebratene Tortillas, bestrichen mit einer frischen, leichten Tomatensoße und mit weißem Käse bestreut –, schauten wir gemeinsam El maleficio, eine Telenovela über eine Familie wohlhabender Hexen in Oaxaca und die zahlreichen Konflikte, in die sie sich verstricken. Mir gefiel der Look dieser Seifenoper, all diese Männer und Frauen, die Dallas oder Falcon Crest entsprungen schienen und sich ständig anschrien, um dann Zaubersprüche zu murmeln und blutige Rache zu schwören, und das alles garniert mit kitschigen Videoeffekten, die ihr unwirkliches Aussehen noch unwirklicher machten. Anfangs bekam ich von den Dialogen kaum etwas mit, da ich an der Highschool erst zwei Jahre Spanisch gehabt hatte. Aber nach etwa einem Monat wurde mir beim Zuschauen plötzlich bewusst, dass ich alles verstand, was die Hexen sagten. Dann folgte Werbung, und wieder verstand ich alles. Dann die Nachrichten, und ich verstand alles. Es war, als hätte mich die Serie verhext.

Von einem Tag auf den anderen konnte ich fließend Spanisch. Ich sagte irgendwas in diesem Sinne zu Panchita, und sie hörte mir lächelnd zu, lachte und gratulierte mir. Tatsächlich, sie könne selbst kaum besser Spanisch als ich, meinte sie scherzhaft, und zur Belohnung bekam ich an diesem Tag eine Tortilla extra.

···

Mein Gastbruder Miguel Ángel schnaubte fast täglich über die Ungerechtigkeit unseres Austauschprogramms, wenn er wie immer spät von der Sommerschule heimkam und mich sah, wie ich sonnengebräunt dalag und las. Er war ein hoch aufgeschossener, schlaksiger Siebzehnjähriger, ein zuckersüßes Teenageridol mit leichten Schönheitsfehlern, die ihn nur noch liebenswerter machten. Er hatte große, herzzerreißend schiefe Schneidezähne, engere, dünnere Jeans als alle anderen und eine Leif-Garrett-Mähne. Irgendwann nach Rückkehr aus der Schule begann Miguel immer, sich für den allabendlichen Discobesuch herauszuputzen, er duschte und stellte dann sorgfältig sein Outfit zusammen. Ich fand diese Vorbereitungen fremd und faszinierend zugleich – ihm beim Auflegen von Parfüm zuzusehen, hatte etwas beinahe Mystisches.

Und ich durfte ihm bei allem zusehen.

Manchmal wurde ich so sehr zur Kamera, dass ich zusammenfuhr, wenn man mich ansprach. Ich war ein bisschen verknallt in ihn und seine Freunde, junge Männer, ausnahmslos Schönheiten, die mit ihren sechzehn oder siebzehn Jahren etwa ein oder zwei Jahre älter waren als ich und über die ich alles wissen wollte, als würde mir dieses Wissen, wie in den Dune-Romanen, Macht über die Objekte meiner Begierde verschaffen. Alles folgte einer geheimen Logik, die, wie mir schien, unter dem sanften Rhythmus von Tag und Nacht verborgen lag, und diesen Code wollte ich knacken.

Miguel und ich trafen seine Freunde an einem Aussichtspunkt über der städtischen Müllhalde, wir parkten am Hang und tranken aus dem Kofferraum Brandy mit Coca-Cola, ein klebrig-süßes Mischgetränk, wie gemacht für heiße Sommernächte, bevor alle weiterzogen in die Discos. Wenn ich mit diesen jungen Männern getrunken hatte, war ich immer etwas schläfrig vom Alkohol und besonders empfänglich für die sinnliche Atmosphäre, das fast körperlich greifbare Vorgefühl von etwas, das ganz gewiss bald kommen musste.

Die Jungs warteten alle auf ihre Mädchen, die länger brauchten, bis sie ausgehfertig waren, und wir tranken, während sie sich ankleideten und schminkten. Ich konzentrierte mich auf den Moment ihrer Ankunft, darauf, was in diesem Moment mit der Jungsgruppe am Aussichtspunkt geschehen würde. Ich wusste damals bereits, dass ich schwul bin, und suchte die Landschaft ständig nach weiteren Anzeichen dafür ab. Wonach ich suchte, war das, was in diesem Moment verschwand. Die Mädchen kamen in ihren Autos, die Scheinwerfer schwenkten über die Szenerie und tauchten uns in helles Weiß. Dann stiegen sie aus, selbstbewusst, glamourös in ihrem Make-up, die Beine glänzend, die Lippen schimmernd vor Lipgloss, die manikürten Finger- und Fußnägel funkensprühende Lichtpunkte im Dunkel der Nacht. Die Jungs knurrten ihre Hallos und grinsten dazu wie Cartoon-Wölfe.

Vor allem zwei von Miguels Freunden fesselten meine Aufmerksamkeit. Sie schienen innig ineinander verliebt, eine Art Protektorat ungezwungener Männlichkeit, dessen Existenz von allen respektiert wurde, ohne dass man es sich so ganz eingestand. Sie waren nicht das, was ich mir unter typischen Machos vorstellte, wirkten aber männlicher, als ich es je hätte sein können, und suchten stets die Nähe des anderen. Vor Ankunft der Mädchen saßen sie immer beisammen, die Arme umeinandergelegt, lässig und schön, und von dort, wo ich saß, spürte ich jeden Flecken Haut, an dem sich ihre warmen Körper berührten, als könnte ich sie mit meinen Augen abtasten. Manchmal, wenn der Abend schon etwas fortgeschritten war, legte einer den Kopf auf die Schulter des anderen, und das Bild verfolgte mich bis in die Träume. Aber sobald sie die Autos der Mädchen kommen sahen, lösten sie sich voneinander, als ob das, was war, nie gewesen wäre.

Alle waren nett zu mir, aber meines Wissens versuchte niemand, mit mir zu flirten. Ich war zu jung. Ich hatte kein Flair. Ich trug kein Goldkettchen. An mir war nichts bemerkenswert, abgesehen von meinen Augen, auf die ich stolz war und von denen mir öfter gesagt wurde, dass sie schön seien. Und die ich einsetzte, in der sicheren Gewissheit, dass sie meine Machtträume wahr machen würden. Um ehrlich zu sein, war ich wahrscheinlich ein ziemlicher Glotzer. Ich war aus Maine, hatte die üblichen braunen Haare, den üblichen Seitenscheitel und trug, wie üblich, Jeans und Poloshirts.

In den meisten meiner Notizbücher findet sich die Zeichnung eines Auges, das den Betrachter anstarrt. Manchmal starrte ich mich an, während ich es zeichnete. Manchmal hatte ich nach Fertigstellung der Zeichnung das Gefühl, dass mein Auge jetzt mich anstarrte. Ich zeichne solche Augen immer noch. Das Auge war der perfekte Talisman für einen Jungen, der glaubte, dass er im Beobachten zugleich mächtig und verborgen war.

···

Etwas tat sich oder hatte sich, wenn man so sagen kann, bereits getan. Ich fühlte mich in Mexiko zu Hause, wie ich mich noch nirgends zu Hause gefühlt hatte.

Dazu trugen auch meine neu erworbenen Sprachkenntnisse bei. Von den zwölf Schülerinnen und Schülern unserer Highschool-Gruppe war ich der einzige, der sich fließend auf Spanisch verständigen konnte – zweifellos der Hauptzweck unseres Aufenthaltes in Chiapas. Ich war außerdem der einzige asiatische, nichtweiße Schüler der Gruppe. Auf Exkursionen begannen die anderen Kinder mich zu fragen, was «die» denn gerade gesagt hätten, oder baten mich, für sie zu sprechen. Das Einzige, was sie bisher gemeistert hatten, waren einfachste Alltagssituationen – ¿Cuánto cuesta? Wie viel kostet das? –, und so verspürte ich immer ein klitzekleines Fünkchen Verachtung, wenn ich nachgab und ihnen half.

Da wir, wenn wir nicht gerade einen Ausflug machten, vollkommen auf uns selbst gestellt waren, verbrachte ich so viel Zeit wie möglich allein und wusste deshalb nie, was die anderen Amerikaner gerade machten. Nick Stark war der einzige, mit dem ich mich regelmäßig traf. Er hatte, wie sie alle, große Probleme mit der Aussprache und konnte sich keine Vokabeln merken, aber ich hatte mich vor allem deswegen mit ihm angefreundet, weil ich fand, dass er sehr ansprechend aussah. Von den amerikanischen Schülern war er mein bester Freund, aus Mangel an Alternativen. Nachmittags, nach meiner Fernsehstunde, gingen wir oft zusammen schwimmen, im Freibad des Tuxtla Country Club, in dem unsere Gastfamilien beide Mitglied waren, und waren infolgedessen bald vollkommen braun gebrannt, bis auf die Stellen, die unsere Badehosen notdürftig bedeckten. Ich machte mit, weil Nick mich nie auslachte und weil ich seinen Anblick sehr genoss. Wenn er seine Speedo an- oder auszog, blitzte die ungebräunte Stelle in der Umkleidekabine weiß auf, hell wie ein Kamerablitz.

Wie ich hatte auch Nick dunkle Haare und Augen, und mit geschlossenem Mund sah er aus wie viele der mexikanischen Clubmitglieder, von denen die meisten europäische Vorfahren hatten. Wenn wir schwimmen gingen, erregten wir keinerlei Aufsehen, jedenfalls nicht, solange wir schwiegen. Aber sobald Nick den Mund aufmachte, zeigte er seine riesigen, perlweißen, vollkommen geraden amerikanischen Zähne, das Ergebnis penibel eingehaltener Termine beim Kieferorthopäden. Meine waren ebenfalls groß und weiß, aber ein bisschen schief, genau wie die meiner Mutter: nicht so schief, dass ein Eingriff nötig gewesen wäre, aber schief genug, dass ich, auch dank meines unauffälligeren Akzents, als Mexikaner durchgehen konnte. Mir war bereits aufgefallen, dass die Mexikaner hier in Tuxtla nicht ganz so besessen von Zahnspangen waren wie wir in Amerika, und das galt selbst für Reiche, zumindest für die, die ich hier kennengelernt hatte. In den Siebzigerjahren war Kieferorthopädie noch eine sehr amerikanische Manie. Und das, worauf mich Nick jetzt hinweisen sollte, war mir ebenfalls schon aufgefallen: Inzwischen sah ich auch aus wie ein Mexikaner. Das heißt, eigentlich ging es sogar noch darüber hinaus.

«Du wirst immer mehr wie die», sagte er eines Tages zu mir, als wir uns nach dem Schwimmen umzogen. Ein durchdringender Geruch von Chlor und Rost hing in den kalten grünen Spinden des Country Club, und so schloss ich meinen, was den Geruch allerdings nur wenig abmilderte. Was er gesagt hatte, freute mich, und ich hätte gern mehr davon gehört, war aber abgelenkt, weil es so anregend war, ihm beim Umziehen zuzusehen. Inzwischen war mir klar geworden, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte, und ich hatte gelernt, ihn nicht allzu auffällig anzuglotzen, damit der Anschein gewahrt blieb, dass seine Schönheit mir ungefähr so gleichgültig war wie alles sonst um uns herum. Doch an diesem Tag wippte, während er sprach, sein Penis auf und ab, als ob seine Stimmbänder daran befestigt wären, ein rosiges Pink auf dem blendend weißen Streifen, der die obere Hälfte seines makellos gebräunten Körpers von der unteren trennte. Er sah aus wie ein appetitlicher Becher Fürst-Pückler-Eis.

Er hielt die marineblaue Badehose vor sich, um hineinzusteigen, und wartete offenbar darauf, dass ich mich zu ihm umdrehte.

«Was meinst du denn mit ‹wie die›?», fragte ich ihn.

Nick brauchte ein bisschen, um die Frage zu verarbeiten. Wahrscheinlich hatte er angenommen, ich wüsste schon, wie er das meinte. «Na ja, du weißt schon, du könntest dich echt als Mexikaner ausgeben. Dein Spanisch ist echt gut, du klingst original wie die.»

«Echt?» Ich setzte mich auf die Bank vor dem Spind. Nick stand da, als würde er seine Badehose nicht eher anziehen, bis er von diesem Gespräch erlöst wäre.

Oder er flirtete mit mir.

«Ja», sagte er, «ganz sicher, die würden dir das glauben, also alle, die würden dir den Mexikaner voll abnehmen.» Sein Penis wippte wieder auf und ab, und da ich jetzt saß, war er direkt auf Augenhöhe. Ich blickte hoch zu seinem Gesicht, um seine Aufmerksamkeit nicht auf das zu lenken, was meine Aufmerksamkeit fesselte, aber ich konnte ihn immer noch sehen, wie er lockend in mein Gesichtsfeld hinein- und wieder hinauswippte. Und ich hatte noch so viele Fragen: «Langweilst du dich gar nicht? Ist das nicht seltsam, dass wir keine Schule haben? Ist doch verrückt, oder? Was sich Pablo wohl dabei gedacht hat, bei der Planung unseres Sommers?» Pablo, das war unser Spanischlehrer, Mr. Castellanos, den wir immer nur Pablo nannten, nie Mr. Castellanos.

«Nein», sagte er, «ich hab hier ’ne echt tolle Zeit.» Immerhin, es wippte wieder. Schließlich zog er die Badehose dann doch hoch, und als er den Kordelzug nach innen geschoben hatte, grinste er mich an, als hätte er ein kleines Kunststück vollbracht. Dann stand ich auf, und wir gingen hinaus zum Pool.

An diesem Abend, beim Abendessen, konnte ich meiner Gastfamilie endlich von meinen neu erworbenen sprachlichen Fähigkeiten berichten, und sie überboten sich mit Bemerkungen darüber, dass ich ja wirklich der beste von allen Austauschschülern wäre und wie stolz sie das machen würde. Die anderen Amerikaner wurden der Reihe nach durchgemustert, aber keiner konnte sich mit mir messen. «Lo más bueno», sagte mein Gastvater und zeigte dabei auf mich. Cela strahlte, als sie sich gegenseitig zu ihrem Plan beglückwünschten, kein Englisch mit mir zu sprechen, und noch einmal betonten, dass ich tatsächlich genau wie ein mexicano klang. Und noch während sie das sagten, schien mir, als würden sie mich plötzlich mit anderen Augen sehen, als hätte sich ihnen plötzlich offenbart, dass ich in Wirklichkeit einer von ihnen war.

···

Der Reichtum der Familie Gutiérrez verwirrte mich. Miguels jüngste Schwester zum Beispiel besuchte ein Mädcheninternat in der Schweiz, dasselbe Internat, auf dem schon Miguels ältere Schwester gewesen war. Niemand, den ich kannte, hätte sich solche Familientraditionen leisten können. Ich hatte schon verstanden, dass Herr Gutiérrez im Fernhandel tätig war, aber wenn ich versuchte, mir vorzustellen, was das eigentlich bedeutete, sah ich vor mir nur Berge verschnürter Geldballen, die von Lastenkränen aus riesigen Schiffen gehievt wurden.

Bis dahin hatte ich keine Familie gekannt, die einen Hausboy beschäftigte. Sein Name war Uriel, er kümmerte sich um die Grünanlagen im Innenhof, wusch jeden zweiten Tag die drei Autos, sammelte die herabgefallenen Mangos ein und hatte sicherlich noch viele andere Aufgaben, bei denen ich ihn nur nicht beobachten konnte. Aufgrund der Hitze arbeitete Uriel mit freiem Oberkörper, sodass sich, wenn er die Autos abspritzte, seine Haut mit einer Glasur aus Wasser und Schweiß überzog, und in gewisser Weise war er von allen Jungs, in die ich mich in diesem Sommer verguckte, der wichtigste.

Ich hatte ihn wochenlang von meinem Fenster aus beobachtet, zu schüchtern, um mich ihm zu nähern, zu unsicher auch über meine Sprachkenntnisse, aber jetzt, da ich fließend Spanisch sprach – soweit das denn der Fall war –, lief ich schließlich doch hinunter und stellte mich ihm ein zweites Mal vor. Das erste Mal war ich ihm bei meiner Ankunft vorgestellt worden, aber wir hatten seitdem kaum ein Wort miteinander gewechselt, uns nur gelegentlich zugenickt oder grüßend zugelächelt. Er war ebenfalls schüchtern, und wenn er lächelte, war es immer, als wären wir in einem Film und plötzlich würde der Soundtrack wechseln. Er war braun gebrannt, da er Tag für Tag in der prallen Sonne arbeitete. Ich wusste, dass er den Namen eines Engels trug, eines Erzengels sogar, und umso strahlender erschien er mir.

Ich war jung und naiv genug, mir einzubilden, dass wir Freunde werden könnten, und schrieb sogar eine kurze Geschichte über einen Jungen wie mich, Austauschschüler wie ich, in der wir ein Liebespaar waren. Aber das war reines Wunschdenken. Mit der Zeit wurde mir klar, dass eine Kluft zwischen uns lag, die sich auch durch noch so gute Spanischkenntnisse nicht überbrücken lassen würde. Wie sehr ich auch versuchte, mit meiner neuen Umwelt zu verschmelzen, ich war der amerikanische Gast, und daran hatte er sich zu halten, was immer er für mich empfinden mochte. Im Umgang mit mir beschränkte er sich auf höfliches Alltagsgeplänkel. Vielleicht wusste er, dass ich in ihn verknallt war, aber anmerken ließ er sich das nicht. Ich hatte damals noch nicht begriffen, dass der Klassenunterschied eine größere Barriere war als die Sprache. Er musste höflich zu mir sein, seine Gefühle spielten keine Rolle.

Ich wünschte, ich hätte mehr Fragen gestellt. Nachts in der Disco oder danach, in meinem Zimmer, dachte ich oft an Uriel. Schlief er ebenfalls im Haus, und wenn nicht, wo dann? Wo war er zu Hause und wie sah sein Leben aus? Und natürlich: Woran dachte er eigentlich die ganze Zeit? Wobei ich natürlich hoffte, dass er an mich dachte.

···

Die Exkursion, an die ich mich am besten erinnere, war die nach Palenque, eine Ausgrabungsstätte, die damals, unserem Reiseleiter zufolge, noch sehr unerschlossen, voller Skorpione und umzingelt von Kannibalen war. Unser Bus fuhr stundenlang durchs Gebirge, und ich erinnere mich an das elektrisierende Gefühl der Angst, das Gefühl, dem Tode nahe zu sein, wenn ich in einer der ungezählten Haarnadelkurven aus dem Busfenster einen Blick in den Abgrund wagte. Überall entlang der Straße zeigten Kreuze und Kerzen, dass hier jemand bei einem Unfall ums Leben gekommen war.

Palenque war eine Mayastadt, die, so erfuhren wir, im Herzen des mexikanischen Regenwaldes angelegt worden war, weil der Ort als strategisch günstig galt. Ihre steinernen Überreste hatten die Farbe des gleißend weißen Sommerhimmels. Wir stiegen aus dem Bus, und ich war ganz überwältigt vom Anblick des dichten Regenwaldes, als uns der Reiseleiter auch schon in den einzigen bisher freigelegten Tempelkeller führte, wo die anderen amerikanischen Schüler sofort zu fotografieren begannen. Das Licht prallte an der zwischen uns und den Ausgrabungsfunden errichteten Plexiglasscheibe ab, eine Aurora von Kamerablitzen. «Wir wissen so wenig von den Maya», sagte der Reiseleiter immer wieder, in einer Art Litanei. Was man damals von Palenque zu sehen bekam, ist nur ein winziger Teil dessen, was man heute sehen kann, und das wiederum ist nur ein winziger Teil dessen, was Palenque einmal war: Geschätzte neunzig Prozent der Überreste der Stadt liegen immer noch unter dichtem Urwald. Auf mich wirkte das alles aufregend neu und zugleich unvorstellbar alt. Ich war jung, und es machte mich ganz ungeduldig, dass die Welt noch nicht vollständig erschlossen war. Warum wussten wir nicht längst viel mehr über die Maya, wo es sie doch schon so lange gab?

Im Nachhinein kommt es mir vor, als sei es bei diesem Austauschprogramm vor allem darum gegangen, unsere Gestaltwahrnehmung zu schulen: Man bringe Kinder an einen Ort, wo sie rein gar nichts verstehen, und schicke sie dann kreuz und quer durch die Lande, in Begleitung von Menschen, die kaum mehr verstehen als sie. Allmählich langweilten mich diese Exkursionen, und noch immer war ich der Einzige in unserer Gruppe, der fließend Spanisch sprach. Bei diesem Ausflug empfand ich die Gegenwart der Amerikaner, wie ich sie jetzt insgeheim nannte, als besonders störend. Spanisch schien mir viel dezenter, Tonfall und Lautstärke waren anders, während mir von ihrem durchdringenden, dissonanten Englisch der Kopf dröhnte.

Auf der Rückfahrt nach Tuxtla saß Nick neben mir, schwer und weich, der Kopf auf die Seite gerollt, die Lippen im Schlaf geöffnet. Der Nervenkitzel, ihm so nahe zu sein, und die intime Kenntnis seines Körpers, die ich unseren gemeinsamen Stunden im Freibad verdankte, hielten mich die ganze Fahrt hindurch wach. Ich wollte nichts so sehr, wie ihm heimlich einen Kuss auf den Mund drücken, aber es war reine Wollust, keine Zuneigung, und ich drehte und wendete die imaginierte Szene in meinem Kopf hin und her wie einen Handschmeichler, während wir wieder durch die lebensgefährlichen Kurven rasten.

Es war ein Sommer unerfüllbarer Wünsche.

···

Der Schüler, der ich war, fand es ausgesprochen seltsam, dass wir keinen Unterricht hatten, doch tatsächlich war das Programm so effektiv, dass es sich fast als Methode empfiehlt. Ich lernte so gut Spanisch, dass ich es fließend sprechen konnte. Die Geschichten, die ich aus Langeweile schrieb, als mir der Lesestoff ausging, waren ebenfalls eine Art Meilenstein, den ich freilich erst sehr viel später als solchen erkannte: Sie waren das Erste, was ich für mich selbst schrieb, um mir eine Freude zu machen. Es gab da etwas, das ich fühlen wollte und nur fühlte, wenn ich schrieb. Ich halte das für eine der lehrreichsten Erfahrungen, die ich auf dem Weg zum Schriftsteller gemacht habe – dass ich mir, wenn ich mir selbst überlassen war und nichts mehr zu lesen hatte, die Geschichten, die ich lesen wollte, einfach selber schreiben konnte.

Und dann war da noch die Geschichte, in die ich selbst verwickelt war. Was auch immer ich glaubte, mit meinen Beobachtungsexperimenten bewirken zu können, ich sehe jetzt, dass ich ein Junge war, der sich selbst verlor, um sich in den Umrissen anderer wiederzufinden. Die Klassenkameraden, die mit mir zusammen an diesem Schüleraustausch teilnahmen, kannte ich seit der ersten Klasse, seit wir in ihre Stadt gezogen waren. Ich wäre sie liebend gerne los gewesen, aber auch mich wäre ich gerne los gewesen, oder wenigstens den Zwang, mich weiter mit mir beschäftigen zu müssen. Das konnte nicht klappen, aber immerhin habe ich es versucht.

Hier also die letzte Lektion dieses Sommers.

···

Die große Feier war für das Ende des Sommers angesetzt und bedurfte aufwendiger Vorbereitung. Ein dreitägiges Fest, der fünfundzwanzigste Hochzeitstag der engsten Freunde meiner Gastfamilie – nennen wir sie, der Einfachheit halber, die Familie Márquez. Aus aller Welt würden Gäste angeflogen kommen, um dem großen Ereignis beizuwohnen, und Cela, meine Gastmutter, verfiel immer in Tanzbewegungen, wenn sie mir von der Feier vorschwärmte. Sie unterrichtete Salsa und Merengue, und ab und an hatte ich mich überreden lassen, ein paar Schritte mit ihr zu wagen; ich erinnere mich an die Vorfreude in ihren Augen, sobald sich eine Gelegenheit zum Tanzen ergab. Sie hatte elegant geschwungene Beine, und die schnellen Bewegungen ihrer Hüften überrumpelten mich – was sie zum Lachen brachte. «Merengue, Salsa, Merengue, Salsa», skandierte sie, wie ein kleines Mädchen, das darum bettelt, einen Kuchen backen zu dürfen, und umkreiste mit schwingenden Hüften den Esstisch, wobei ihre Absätze klirrend den Fliesenboden bearbeiteten. Miguel wurde dann immer rot, und irgendwann winkelte ihr Mann die Arme an und umfasste die Taille seiner Frau.

Sie gab mir ein paarmal Unterricht, weil ich auf der Feier unbedingt tanzen sollte.

Als wir am großen Tag das Haus der Familie Márquez erreichten, stand auf dem Vorplatz ein weißer Jaguar mit roter Schleife obendrauf. Dass es sich um das Geschenk des señor an seine señora handelte, bedurfte keiner weiteren Erklärung: Mr. Márquez besaß in der Stadt ein Autohaus für Luxuskarossen. Ich war mit Miguel gekommen, und wir wurden von seinem Freund Javier begrüßt, dem Sohn der Gastgeber. Javier hatte diesen trockenen Gesichtsausdruck, von dem ich inzwischen weiß, dass er bei Jugendlichen, die sich als Erzieher ihrer Eltern betätigen müssen, sehr verbreitet ist. Seine Mutter hatte sich just diesen Moment ausgesucht, um ebenfalls vor das Haus zu treten, und als sie sich die Hand vor den Mund hielt, um einen Freudenschrei zu unterdrücken, blitzte hell ihr Diamantring auf. Wer mit einem Diamanten wie diesem – dem größten, den ich je gesehen hatte – auf einer einsamen Insel strandete, bräuchte keine anderen Leuchtsignale mehr.

¿Qué onda?, sagten Miguel und Javier zueinander, und ich sagte dasselbe, die Grußformel, die hier alle Jungs untereinander verwendeten, und als ich es tat, warf mir Miguel von der Seite einen Blick zu und grinste. Du bist bereit, sagte er. Du bist bereit. Javiers Augen funkelten, als Miguel ihm die Wettbedingungen eröffnete: Ich würde versuchen, ihre Freunde aus Oaxaca davon zu überzeugen, dass ich Mexikaner war. Und wenn mir das gelänge, einen Kasten Bier bekommen.

Javier lachte. Ja, sagte er, du könntest wirklich als mestizo durchgehen.

Als ich das Wort hörte, wusste ich sofort, was es bedeutet. Gemischt. Für mich ist es ein mexikanisches Wort, ein Wort für beide Amerikas – das wahre Ich des Doppelkontinents, Nord und Süd. Und es schien mir genau das zu treffen, was ich war. Wenn es in den Vereinigten Staaten hieß, man wäre gemischt, schwangen zu viele Bedeutungen mit, die mir nichts sagten. Gemischte Gefühle waren verwirrende Gefühle, und ich war nicht verwirrt – verwirrend fand ich höchstens, dass es allen so schwerfiel, die Existenz von Menschen wie mir zu akzeptieren. So zu leben fühlte sich an, als würde man plötzlich entdecken, dass einem der Schuh am Boden festgenagelt worden war, aber nur der eine, sodass man gezwungenermaßen in einem Kreis von Möglichkeiten herumtappte, der durch die Fantasielosigkeit der anderen definiert war.

Ich starrte Javier verliebt an. Sein runder Kopf, sein schwarzer Topfschnitt, sein schmales, gerissenes Lächeln. Er führte uns durch das Haus zu den Freunden aus Oaxaca.

Es waren Bruder und Schwester, blond, grünäugig, Mexikaner rein spanischen Geblüts, wie mir Miguel erklärte. Sie sahen amerikanischer aus als ich. Ich erinnere mich nicht an ihre Namen, aber wir gaben uns die Hand, wurden einander vorgestellt und unterhielten uns.

Ich erfand eine Vergangenheit in Tijuana. Nicht weit von Amerika, aber noch nicht Amerika. Ich erinnere mich nicht daran, worüber wir im Verlauf der folgenden drei Tage sprachen. Ich erinnere mich nur daran, dass mein Akzent den Härtetest bestand. Sie schöpften keinerlei Verdacht. Als Miguel ihnen endlich reinen Wein einschenkte, waren ihr Lachen und ihr aufrichtiges Erstaunen mein wahrer Preis. Miguel und ich bekamen unser Bier und tranken es mit seinen Jungs, die sämtlich auf der Party waren, und damit war die Sache beendet. Ich hatte vielleicht ein Bier.

Drei Tage lang war «Alejandro aus Tijuana» glückliche Wirklichkeit. Er war wie ich, fühlte sich nur wohler auf der Welt. Leichter. Er rechnete nicht jederzeit damit, dass man ihn dabei ertappte, nicht das zu sein, wofür man ihn bis dahin gehalten hatte, obwohl es genau das war, worum es bei der Wette ging – nur waren die Wetteinsätze meines Lebens in den Staaten ungleich höher. In Maine war man stets darum bemüht, meine Herkunft – halb weiß, halb koreanisch – als fremd, exotisch oder irgendwie monströs erscheinen zu lassen. In Mexiko war ich einfach mestizo, und damit etwas ganz Gewöhnliches. Wenn mich die Leute ansahen, dann sahen sie mich und starrten mich nicht an wie ein Mondkalb, im Gegensatz zu meinen amerikanischen Klassenkameraden, die alle weiß waren und aus derselben Kleinstadt in Maine stammten.

Nachdem ich die Wette mit Miguel gewonnen hatte, schien der Sommer gelaufen, und die Reise endete mit einem einwöchigen Aufenthalt in Mexico City, zusammen mit meiner Familie, wo ich – nach einem Sommer, in dem ich einfach alles gegessen hatte, frisches Obst, Tacos von Straßenhändlern in Tuxtla – mir doch noch den Magen verdarb. Ich konnte nichts tun außer im Bett liegen und mir wünschen, wir hätten Mexico City ausgelassen, hätten das Land verlassen, bevor mir das hier passieren konnte. Aber dieser letzte Beweis meiner amerikanischen Verfassung erinnerte mich auch daran, dass ich gehen musste, dass ich nicht von dort stammte. Im Grunde war ich nichts als ein Hochstapler. Dieses Leben würde nie meines sein. Kein Leben außer dem, das ich bereits hatte. Amerika, mein neues Exil.

DER FRAGESTELLER

Im Jahr 1980 wurde unsere siebte Klasse von dem Parapsychologen Dr. Alex Tanous auf übersinnliche Fähigkeiten getestet, ein Ereignis, das so prägend für mich war und an das ich mich so lebhaft erinnere, dass ich mich gelegentlich frage, ob ich es mir nicht, mitsamt Tanous, schlicht ausgedacht habe. Tatsächlich aber war Tanous ebenso wenig ein Produkt meiner Fantasie wie die Stadt, in der ich aufgewachsen bin: eine konservative, außergewöhnlich schöne Stadt in Maine, Einwohnerzahl etwa 11000. Irgendwann einmal habe ich mit angehört, wie Cape Elizabeth ein «halbländlicher Vorort» genannt wurde, und so treffend mir die Bezeichnung erschien, das Wesentliche verfehlte sie: Im Nebeneinander von öffentlichen und privaten Stränden, zwei Leuchttürmen, Bauernhöfen, einem Golfplatz, einem kleinen Museum für Schiffswracks und einem aufgegebenen Marinestützpunkt wirkte die Stadt wie eine florierende Geisterstadt.

Wir hatten gute öffentliche Schulen, die sich besonders um unsere Fähigkeiten im Schwimmen und darstellenden Spiel bemühten, sodass wir in diesen Fächern regelmäßig an landesweiten Wettbewerben teilnahmen. Einen weiteren Schwerpunkt bildete, jedenfalls zu dieser Zeit, die parapsychologische Forschung. Als ich meine ehemaligen Klassenkameraden nach ihren Erinnerungen befragte, konnten sie sich nicht allein an diese, sondern an eine ganze Reihe weiterer, ähnlich angelegter Tests erinnern, die teilweise noch länger zurücklagen und von denen ich nie zuvor gehört hatte.

Kurz bevor er zu uns kam, hatte Tanous – unter dem Titel Is Your Child Psychic? – ein Buch mit seinen Forschungsergebnissen publiziert. Offenbar hatte ihm unsere Mittelstufe schon länger als Versuchsobjekt gedient, an dem er seine Theorien überprüfen konnte. Auf wessen Idee das zurückging, habe ich bis heute nicht herausfinden können. Wie ich inzwischen weiß, galten parapsychologische Fähigkeiten seinerzeit als seriöser Forschungsgegenstand, zumindest unter Republikanern, da die CIA über eine militärische Nutzung nachdachte. Aber das erklärt noch nicht, wie es zu der Entscheidung kam. Wenn ich an diesen Tag zurückdenke, fällt mir als Erstes der Moment ein, in dem uns mitgeteilt wurde, dass heute ein Herr Doktor zu uns kommen werde, und der fast schon feierliche Tonfall, mit dem wir auf seine Ankunft eingestimmt wurden. «Dr. Tanous glaubt, dass alle Kinder mit übersinnlichen Fähigkeiten zur Welt kommen», sagte unsere Lehrerin, «und dass man diese Fähigkeiten nur zu trainieren braucht. Mit Tests und Spielen, die wir alle machen können.»

Für mich war es, als wäre ein Traum in Erfüllung gegangen. Seit Langem war es mein sehnlichster Wunsch, oder mehr noch: war ich in meinem tiefsten Inneren davon überzeugt, parapsychologische Kräfte zu besitzen, und der Gedanke, dass wir alle sie besaßen und manche sich ihrer Kräfte nur bewusster waren als andere, machte mich überglücklich, zumal mir Lernen nicht schwerfiel. Den ganzen Vormittag hindurch, während wir auf Dr. Tanous warteten, träumte ich davon, als Wunderkind, als wichtige parapsychologische Ressource entdeckt und unverzüglich aus dem Klassenzimmer geführt und einem Team von Telepathen zugeteilt zu werden, das meine Fähigkeiten vervollkommnen und dann mit mir zusammen das Verbrechen bekämpfen würde – genau wie in meinen X-Men-Comics, versteht sich. Vielleicht würde man mich auch, da meine übersinnlichen Kräfte so überaus stark waren, dass sie eine Gefahr für die Stadt bedeuteten, an einen geheimen Ort weit außerhalb bringen, um sie dort genauer studieren zu können, wie in Feuerkind, meinem Lieblingsroman von Stephen King.

Mit anderen Worten: Ich wollte entdeckt werden, ich wollte, dass endlich meine wahre Geschichte begann.

Damals kreisten meine Tagträume fast immer darum, dass ich die Stadt verlassen musste. Oder um meine verborgenen Superkräfte. Ich fühlte mich in der Stadt wie ein Gefangener und hatte die Nase voll von meinen Mitschülern, die ausnahmslos weiß waren und «Guam», von wo aus wir vor sechs Jahren hergezogen waren, partout nicht aussprechen konnten. Ich hoffte immer noch, wir würden eines Tages zurückgehen.

Dann erschien Tanous in unserem Klassenzimmer: gut aussehend, freundlich, charismatisch, aber ansonsten, seltsamerweise, vollkommen unauffällig. Er trug Jackett und Krawatte, der Knoten ein bisschen unförmig, und sah genauso aus wie unsere Lehrer. Nur war er keiner.

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Der Test, an den ich mich am besten erinnere, war eine geführte Meditation, bei der wir gebeten wurden, unsere Augen zu schließen und uns vorzustellen, wir würden in Wasser versinken, immer tiefer und tiefer, um dann aus dem Wasser ins helle Licht aufzusteigen und unser Bewusstsein unter die Zeitschrift zu schicken, die aufgeschlagen, mit dem Gesicht nach unten, vor ihm lag, sodass wir das Bild auf der Doppelseite nicht sehen konnten.

Er fragte uns der Reihe nach, was wir gesehen hätten – bei mir waren es Menschen in einem Kanu, auf einem Fluss, dahinter riesige weiße Säulen –, dann drehte er die Zeitschrift um. Eine Zigarettenreklame. Die weißen Säulen, die ich gesehen hatte, waren riesige Zigaretten, davor schwamm klein, auf einem Fluss, ein Kanu.

Alle drehten sich zu mir um und starrten mich voll Misstrauen an. Ich hatte es als Einziger erraten. Und meine Vision war nicht nur ungefähr richtig gewesen, sondern ziemlich präzise. Dr. Tanous lächelte zufrieden. Er schlug eine zweite Zeitschrift auf und bat uns, die Übung zu wiederholen.

Soweit ich mich an den weiteren Verlauf des Tages erinnere, machte ich meine Sache recht gut: Ich bestand zwei der drei Zeitschriftentests und rechnete damit, dass man mich zur Belohnung sofort zu einem staatlich finanzierten Programm für parapsychologische Kriegsführung schicken würde. Oder irgendwohin, wo es interessanter wäre als in der siebten Klasse. Stattdessen ging Tanous einfach. Doch bevor er ging, brachte er uns noch ein Kartenspiel bei, mit dem wir unsere parapsychologischen Fähigkeiten trainieren sollten: Man musste fest an eine bestimmte Spielkarte denken, dann mit dem Finger an einem Kartenstapel entlangfahren und ihn an der Stelle teilen, wo er sich heiß anfühlte. War das die Karte, an die man gedacht hatte? Häufig war sie es. Ich habe das Spiel jahrelang gespielt, bis ich irgendwann die Lust daran verlor.

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Der Anfang der Geschichte, auf den ich gehofft hatte, blieb aus. Dafür begann eine andere.

Ich war, letztlich, noch ein Kind. Und wie viele Kinder wollte ich mächtiger sein als die Welt um mich herum. Ich hatte Romane gelesen von Zauberern und Magierinnen, von heroischen Drachenreitern und tot geglaubten Königssöhnen, die als einfache Bürger aufwachsen müssen, um vor ihren Feinden geschützt zu sein, und hatte gehofft, einer wie sie sein zu können. Ich hatte in der Schul- wie in der Stadtbibliothek den Gesamtbestand an mythologischer Literatur verschlungen und mir bald auch Der goldene Zweig von Sir James George Frazer ausgeliehen, eine berühmte anthropologische Abhandlung über Magie – in der Annahme allerdings, es handele sich um eine Sammlung von Zaubersprüchen. Leider fand sich nichts außer einer Art Anleitung, wie sich Druiden den Wind herbeipfeifen, und soweit ich heute pfeifen kann, geht es auf diese Anfänge zurück.

Nach der Stippvisite von Dr. Tanous begann ich, mir außerdem Bücher über Parapsychologie auszuleihen. Ich fasste den Plan, nach Schottland zu gehen, an die University of Edinburgh, und dort Parapsychologie zu studieren. Ich hätte nur allzu gern mein ganzes Leben dem Studium von Großmüttern gewidmet, die glauben, das «zweite Gesicht» zu haben. Und, natürlich, dem Studium meiner selbst.

Und dann zerriss es meine Welt, in alle Richtungen zugleich. Mein Vater hatte einen schweren Autounfall, ein Frontalzusammenstoß, bei dem das Sicherheitsglas der Windschutzscheibe nach innen statt nach außen explodierte. Nach dem Unfall war er halbseitig gelähmt, infolge seiner inneren Verletzungen. Der Fahrer neben ihm wurde weniger schwer verletzt, überlebte seine Verletzungen jedoch nicht.

Ich habe, das sehe ich jetzt, einfach versucht durchzuhalten. Wenn sich eine beliebige andere Realität angeboten hätte, ich hätte ihr sofort ewige Treue geschworen. Zum Zeitpunkt des Unfalls war ich dreizehn, und sechzehn, als mein Vater an den Spätfolgen des Unfalls starb. Wenn ich mich heute frage, warum mich von allen Spielarten des Okkulten, mit denen ich in Berührung gekommen bin, das Tarot am meisten ansprach, fällt mir die Antwort nicht schwer: Nach dem Unfall meines Vaters wollte ich die Zukunft vorhersagen können. Ich wollte mich nie wieder von einem missgünstigen Schicksal überrumpeln lassen. Ich wollte einen dieser Spiegel, mit denen man um die Ecke sehen kann, und glaube im Grunde noch immer, dass das Tarot dieser Spiegel ist. Angesichts der Ergebnisse meines parapsychologischen Tests schien nichts näher zu liegen, als mir einen Satz Tarotkarten zuzulegen – Tanous’ Kartenspiel, nur mit mehr Funktionen. Und genau das tat ich.

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In meiner Familie hält man Wahrsagerei entweder für eine Spinnerei, die man nicht ernst nehmen kann, oder nimmt sie so ernst, dass es schon wieder komisch wirkt. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie sich mein Vater einmal für eine Spendenaktion des Rotary Club als Zigeuner verkleidete und immer, wenn er gerade niemandem die Hand lesen konnte, aus dem Zelt herausguckte und mir zuzwinkerte, um den Kopf ein albernes buntes Tuch und am Ohr ein baumelnder Ohrring. Oder an seine Schwester, meine Tante, die vor Wut in Tränen ausbrach, als ihr nordkoreanischer Erfindergatte seine hoch dotierte Stellung als Chemietechniker aufgab, um sein Leben fortan dem – leider erfolglosen – Versuch zu widmen, die perfekte Glückskeksmaschine zu konstruieren. Bei ihren Besuchen brachte uns mein Onkel dann immer müllsäckeweise Ausschusskekse mit, von denen manche gleich drei Weissagungen enthielten, andere überhaupt keine. Anfangs aßen meine Freunde sie ganz gern, aber da sie schnell alt und mürbe wurden, verloren wir bald die Lust an ihnen und gingen dazu über, die Müllsäcke ungeöffnet wegzuwerfen.

Lustige Verkleidungen einmal beiseite, hat mein Vater tatsächlich aus der Hand gelesen, mir allerdings nie. Ich frage mich, ob er sich je selbst die Hand gelesen hat. Wenn er nicht so früh gestorben wäre, hätte er es mir vielleicht beigebracht, oder ich hätte ihn zumindest darum bitten können. Als ich mich der Wahrsagerei zuwandte, war es mir jedenfalls ernst damit. So ernst, dass ich Gefahr lief, mich zum Narren zu machen.

Ich bin dann letztlich doch nicht nach Edinburgh gegangen, sondern an die Wesleyan University, im Connecticut River Valley, ein paar Stunden südlich von Maine. Ein Abschluss in Parapsychologie war damit ausgeschlossen, aber das schien mir auch nicht länger vonnöten. An der Wesleyan fand sich immer jemand, der einem beispielsweise die Karten legte, weil dort alle erdenklichen Glaubensrichtungen vertreten waren. Im Laufe einer einzigen Woche konnte man an einer Messe und einem Seder teilnehmen, die halbe Nacht das Ouijabrett befragen, sich die Karten legen lassen, einem Mondritual der Wicca beiwohnen und nach dem Aufstehen die heilige Kommunion empfangen, und wenn dich deswegen einer schief ansah, Schwamm drüber. Widersprüche wurden stolz verteidigt, und ich beteiligte mich nach Kräften. Als ich aufs College gehen sollte, war ich immer noch wie elektrisiert vor Trauer – der Schock und die Taubheit unmittelbar nach dem Tod meines Vaters waren abgeklungen, und jetzt stürzten die Gefühle alle zugleich auf mich ein. Das Erste, was ich mit meinem staatlichen Treuhandfonds machte (mein Vater hatte kein Testament hinterlassen), war, einen Alfa-Romeo-Händler aufzusuchen, per Scheck ein neues Coupé zu kaufen und mit dem Auto zum College zu fahren, wo ich es immer nur mein Feuerzeug auf Rädern nannte. Ich tat, als könne mir nichts gleichgültiger sein als Geld, wie eine Figur aus Wiedersehen mit Brideshead, und das auch dann noch, als ich schon längst, voll verschämter Zerknirschung, einen Job angenommen hatte und zweimal die Woche ab sieben Uhr morgens Sandwiches belegte, in einem Feinkostgeschäft ganz in der Nähe des Campus. Wenn mir ein Kommilitone beim Anblick meines Autos unter die Nase rieb, wie privilegiert ich doch sei – das Herumhacken auf Klassenunterschieden ersetzte bei uns die ansonsten üblichen Initiationsrituale –, zuckte ich nur mit den Schultern und sagte: «Du hast ja so recht. Ich bin privilegiert. Sogar so privilegiert, dass mein Vater schon tot ist.» Was den lieben Kommilitonen mit Gewissheit in die Flucht schlug.

Aber das war ja auch Zweck der Übung.

Mein erstes Tarotblatt war das Crowley-Tarot, die geistige Frucht der Verbindung von Aleister Crowley, dem berühmten Okkultisten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, mit Lady Frieda Harris. Crowley war ein bisexueller, opiumrauchender Männer- und Frauenschwarm, ein Wildfang mit verwegenem Wuschelhaar, und Harris seine Geliebte. Männer wie Crowley bereiteten mir damals regelmäßig großes Kopfzerbrechen, und er war keine Ausnahme. Rückblickend passten die Karten perfekt zu mir, sie waren wie ein teurer Sportwagen, den man sich zulegt, nur um endlich einen guten Zigarettenanzünder zu besitzen. Crowley und Harris hatten versucht, das esoterische und okkulte Wissen von Jahrhunderten in einem einzigen Kartenspiel zu bündeln, sodass es dem Adepten bei regelmäßigem Gebrauch auch als Gedächtnisstütze dienen konnte: Beim Kartenlegen wurde man zugleich mit den untergründigen Beziehungen zwischen archaischen Göttern und Göttinnen, Tierkreiszeichen, Planeten und alchemistischen Sigillen vertraut gemacht. Die Karten waren wie achtundsiebzig Fenster ins Geheimherz der Welt, verborgen irgendwo jenseits des Äthers, tief unter der Haut der Existenz.

Vieles von dem, was ich an Literatur liebe, liebe ich auch am Tarot – das Widerspiel von Archetypen, verborgene Motive, Geheimnisse, die ans Licht kommen. Ich kaufte die Karten aus demselben Grund, aus dem ich zuvor das Auto gekauft hatte: Um mich nicht länger wie eine Romanfigur zu fühlen, die hilflos von einem erbarmungslosen Schicksal herumgeschubst wird. Ich wollte die Macht über mein Schicksal zurückgewinnen. Ich wollte über den Horizont meines Lebens hinauslinsen und sehen, was da auf mich zugerollt kam. Ich wollte die Hauptfigur dieser Geschichte sein. Und ihr Autor. Und wenn ich einen Roman über jemand wie mich schreiben würde, wäre genau das der Punkt, wo er vom rechten Weg abkommt.

Ihrem Wunsch gemäß wurde das von Crowley und Harris entworfene Tarotblatt erst posthum veröffentlicht, was entfernt an den bekannten Entschluss E. M. Forsters erinnert, seinen Roman Maurice zurückzuhalten, sodass ihn bis zu seinem Tode nur engste Freunde zu lesen bekamen. Forster ging es dabei um seine Sexualität; ich habe nie herausfinden können, was Crowley und Harris zu verbergen hatten.

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Angeblich musste man seine ersten Tarotkarten geschenkt bekommen, aber so lange wollte ich nicht warten. Und also begab ich mich eines schönen Tages in meinem zweiten Studienjahr zum Magic Shop, einem kleinen violetten Häuschen unweit des Feinkostgeschäfts, fest entschlossen, mir endlich mein Crowley-Tarot zu besorgen. Die Traumfänger schlugen gegen die Tür, als ich den Laden betrat, mit einem Freund im Schlepptau, der die Karten für mich kaufen sollte – ich wollte mein Geschenk bekommen, wann ich wollte, und dieser Moment war jetzt gekommen. Als mir mein Freund die Karten überreichte, jubelte etwas in mir auf – ein Gefühl von Macht, genau wie ich es mir erhofft hatte. Aber gleichzeitig fühlte ich mich, als hätte ich mich auf verbotenes Gelände vorgewagt, und während ich mit meinen Karten nach Hause ging, um sie auf dem Tisch auszubreiten, ganz begierig darauf, sie zu beherrschen, gewann mal das eine, mal das andere Gefühl die Oberhand – und so ist es bis heute geblieben.

Ich hatte nie das Bedürfnis, mich mit der Geschichte des Tarots zu befassen. Ich habe mich nie gefragt: Woher kommt das? Von Anfang an fühlten sich die Karten an, als hätte es sie immer schon gegeben. Aber dem ist nicht so.

Laut der Standardversion, wie man sie auf den gängigen Webseiten für Tarotinteressierte findet, hat das Tarot seinen Ursprung im Triunfo, einem Kartenspiel, das sich im fünfzehnten Jahrhundert beim italienischen Adel großer Beliebtheit erfreute. Obwohl von esoterischem, okkultem Wissen beeinflusst, hatte es mit Wahrsagerei oder Aberglauben nichts zu tun. Erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde es zu dem, was es heute ist, vor allem dank der Bemühungen der Society of the Golden Dawn, einer Gruppe von Spiritisten, der auch Crowley und Harris angehörten. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, das gesamte esoterische Wissen, die ägyptische Mythologie, die Astrologie, die Kabbala et cetera zu systematisieren, und nutzten das Tarot, um ihre Schüler in alledem zu unterweisen.

Das System des Tarots mag uralt wirken, ist aber eher ein Mittel zur Erkundung archaischer Denksysteme als selbst eines. Tarotblätter gibt es inzwischen in allen erdenklichen Varianten, das Tarot in seiner heutigen Form ist jedoch nicht älter als etwa einhundert Jahre.

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Als ich damals anfing, mir das Kartenlegen beizubringen, ging es mir zunächst um die Grundlagen – insbesondere das Zehnersystem, das sogenannte Keltische Kreuz, das wahrscheinlich gängigste Legesystem. Zu Beginn zeigt es den Fragesteller – die Person, die sich die Karten legen lässt – am Rande eines schicksalhaften Abgrunds, wobei die Karten jeweils für unterschiedliche Aspekte stehen: den Fragesteller selbst, seine Situation, was ihn durchkreuzt, was ihn krönt, was unter ihm liegt, die jüngste Vergangenheit, die nahe Zukunft, Hindernisse, Verbündete, Hoffnungen und das Endergebnis. Um das Kreuz zu legen, mischt man die Karten, hebt ab und legt sie dann entweder von oben ab oder fächert sie auf, um dem Fragesteller die Wahl zu überlassen, lässt sich die ausgewählte Karte reichen und legt sie an ihren Platz.

Meinem Tarotblatt war eine Art Anleitung beigelegt, der ich die Empfehlung entnahm, die Karten in die Hand zu nehmen, den Fragesteller um geistigen Beistand zu bitten und dann schweigend ein paar Sekunden verstreichen zu lassen, bevor man sie auslegte. Genauso machte ich es, wobei ich zusätzlich die Augen geschlossen hielt. Anfangs war mir das ein bisschen peinlich, aber das hatte viel mit meiner damaligen Verfassung und wenig mit der Geste selbst zu tun, wie mir scheint. Heute finde ich sie tröstlich.

In allen Lebenslagen sind gute Manieren der Schlüssel zum Erfolg, und das gilt auch und gerade im Umgang mit dem Okkulten.

Im Tarot unterscheidet man zwei Typen von Karten, die Großen und die Kleinen Arkana. Die Großen Arkana, durchnummeriert von 0 (Der Narr) bis 21 (Die Welt), bilden zusammen den Weg des Narren, eine spirituelle Reise, die in zweiundzwanzig Schritten zur Vollendung führt: von der Unschuld, der ersten Karte, zur Meisterschaft, die von der letzten Karte symbolisiert wird. Für die Deutung sind diese Karten im Allgemeinen von größerem Gewicht als die Kleinen Arkana. Die Großen Arkana sind so etwas wie Götter, die Kleinen eher Normalsterbliche.

Die Kleinen Arkana sind in vier Farben unterteilt, in der Standardversion: Münzen, Schwerter, Stäbe und Kelche. Münzen sind Geld, Gedanken, die in die Tat umgesetzt, Gegenstand geworden sind, Arbeit, für die man bezahlt wird. Schwerter sind der Verstand, der Intellekt, die Wissenschaft, Pläne. Stäbe sind das Feuer des Geistes, Kreativität, schöpferische Leidenschaft, Inspiration. Kelche sind Emotionen, die Tiefen des Unbewussten, ein Maß für Trauer und Freude. Jede Farbe besteht aus zehn durchnummerierten Zahlen- und vier Bildkarten: Page (oder Prinzessin), Ritter (oder Prinz), Dame und König. Insgesamt sind es sechsundfünfzig Farbkarten.

Man deckt die Karten beim Auslegen auf und versucht dabei, sich den Symbolgehalt der Karten zu vergegenwärtigen und zugleich die flüchtigen Eindrücke festzuhalten, die sich beim Berühren der Karten einstellen. Die Karten hängen miteinander zusammen wie Szenen oder Kapitel einer übergreifenden Geschichte, und die Deutung hat die Aufgabe, diesen übergreifenden Zusammenhang herzustellen. Das macht Kartenlesen – was immer es einem sonst sagen mag – zu einer hervorragenden Übung im freien Erzählen.

Für alle Karten gibt es eine Standarddeutung oder -assoziation: Zerstörung, Kreativität, eine Affäre, eine Geliebte, ein blonder Mann, ein dunkelhaariger, Weiterziehen und so weiter. Aber es gibt auch Welten in Welten und Muster zu erlernen: Manche Farben sind untereinander verfeindet, alle Karten haben je nach Position eine andere Bedeutung und Zahlenwerte eine Bedeutung auch unabhängig von der Farbe. Und dazu kommen noch die Deutungen für auf dem Kopf stehende Karten, vorausgesetzt, man arbeitet mit solchen umgekehrten Karten, was einige Tarotleser tun, andere jedoch nicht.

Der Freund, der mir die Karten gekauft hatte, war mein Zimmernachbar auf dem College und bester Freund Aaron, und sobald wir zurück in unserem Zimmer waren, bat er mich um eine Sitzung. Ich willigte ein. Ich legte meine Hand auf den Stapel, schloss die Augen und bat stumm, wie in der Anleitung beschrieben, um Wahrheit und Schutz. Als ich die Augen wieder öffnete, sah mich Aaron erwartungsvoll an. Ich mischte die Karten, fächerte sie auf und bat ihn, mit seiner nichtdominanten Hand immer die Karten auszuwählen, die sich heiß anfühlten.

Das war meine Version der Anweisungen, die uns der Parapsychologe Dr. Tanous für sein Kartenspiel hinterlassen hatte, in einer schon halb vergessenen Vergangenheit.

Wir legten die Karten aus, eine nach der anderen, und ich deutete sie, so gut ich eben konnte. Dann erschien das Tetragrammaton.

«Heftig», sagte Aaron, ohne einen Hauch seiner üblichen Ironie.

Das Tetragrammaton steht symbolisch für den Namen Gottes und wird verwendet, wenn man meint, dass der wahre Name Gottes in keiner Sprache ausgesprochen oder aufgeschrieben werden kann. Die ganz in Rot und Schwarz gehaltene Karte wirkte kraftvoll und dramatisch. Sie ist in keinem Tarotblatt außer Crowleys enthalten. Laut meiner Anleitung hatte die Karte keine Bedeutung und konnte deswegen auch beim Kartenlesen keine haben. Und doch war sie im Spiel und machte, wie sie da vor uns lag, sehr stark den Eindruck, als hätte sie uns etwas mitzuteilen.

Hier endlich witterten wir Betrug.

An andere Einzelheiten der Sitzung kann ich mich nicht erinnern, nur dass Aaron am Ende meinte: «Komm, machen wir’s noch mal, nur so zum Spaß. Nur um zu sehen, was passiert.»

«Um zu sehen, ob die gleichen Karten kommen?»

«Ja», sagte er und grinste.

Ich mischte besonders gründlich und breitete die Karten in einer langen Reihe vor mir aus. Er zog sich jeweils eine Karte und reichte sie mir, und ich deckte sie an ihrer Position auf.

Sieben der zehn ausgelegten Karten waren dieselben, und fünf lagen wieder an derselben Stelle, darunter auch dasTetragrammaton, der Name Gottes, wobei es uns eher vorkam, als dröhnte uns die Stimme Gottes in den Ohren: «Kehrt um!»

«Ach du Scheiße», sagte Aaron.

Ich war ganz seiner Meinung. Wir sammelten hastig die Karten ein.

Und dann, viel später, packte ich sie wieder aus. Und legte sie mir, zum allerersten Mal.

···

Das Gefühl, dass etwas Wirklichkeit wird, dass etwas durch die Karten zu einem spricht, ist wahrscheinlich das, was im Umgang mit dem Tarot am schwersten zu meistern ist. Man liest die Karten, weil man den Kontakt zu etwas Übermenschlichem sucht. Man stellt Fragen und wünscht sich, dass die Karten antworten. Kompliziert wird es, wenn sie es tatsächlich tun.

Im Allgemeinen erscheinen einem die Karten immer dann als besonders bedeutungsvoll, wenn sie unterschwellige Ambivalenzen oder Ängste, all das also, was man normalerweise vor sich selbst verborgen hält, Zug um Zug offenlegen. Übersinnliche Fähigkeiten braucht man dazu keine, ja sie können sogar hinderlich sein, weil sie vom Kern der Sache wegführen. Der Fragesteller ist nicht verpflichtet, einem mitzuteilen, worum es ihm bei der Sitzung geht, und kann sich auch auf gelegentliches Nicken beschränken, während man ihm erzählt, was man in den Karten sieht. Oft ist es von Vorteil, wenn sich der Fragesteller über seine Motive ausschweigt, denn je weniger man über seine Person weiß, desto geringer die Gefahr, dass man beim Deuten der Karten von Vorannahmen beeinflusst wird. Informationen verdichten sich zu einem Bild des Fragestellers, und dieses Bild trübt, was andernfalls eine bessere Deutung geworden wäre. Denn der Lesende soll dem Zuhörer einen Bedeutungszusammenhang, eine Geschichte anbieten, die allgemein genug gehalten ist, dass der Fragesteller sie mit seiner eigenen Wahrheit ausfüllen kann. Beim Tarot liegt die wahre Macht beim Fragesteller.

Deshalb sollte man auch, meiner Erfahrung nach und wenn es sich irgend vermeiden lässt, nie jemandem die Karten legen, in den man verliebt ist. Denn selbst, wenn man sich um professionelle Distanz bemüht, wird die Geschichte, die man erzählt, beeinflusst sein von dem, was man über sein Gegenüber weiß oder was man sich für die Zukunft erhofft. Und gerade Menschen, die man wirklich liebt, verdienen diese Distanz.

Als Aaron und ich, bei unserem zweiten Versuch, siebenmal wieder dieselben Karten erwischten, war das ein Schock. Ich hatte den Stapel wirklich gründlich durchgemischt, er hatte jede Karte einzeln gezogen, die Karten waren nagelneu und durch nichts voneinander zu unterscheiden – so was konnte einfach nicht passieren. Ihr neuerliches Erscheinen – das konnte kein Zufall sein, offenbar musste man uns alles zweimal sagen – schien uns nicht bloß unwahrscheinlich, soweit wir uns an statistischen Erwägungen orientierten, sondern wirkte wie ein Zähnefletschen: als ob das, was ich da unvorsichtigerweise ein zweites Mal befragt hatte, die Herausforderung angenommen und unser durchsichtiges Spiel mitgespielt hätte, nur um uns verspotten und verhöhnen zu können. Wie ich die Karten wegräumte, gruselte es mich bei der Vorstellung, dass es da etwas geben sollte, was mir antwortete. Doch als ich sie dann wieder hervorholte, war ich bereit, mit diesem Etwas zu sprechen, was immer es war.