Wie viele Schritte kann ich gehn - Michael Herold - E-Book

Wie viele Schritte kann ich gehn E-Book

Michael Herold

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Beschreibung

Michael Herolds Buch schildert in offener und ehrlicher Weise die ersten 18 Jahre seines Lebens, die er über drei Jahrzehnte ruhen ließ, bevor er sich entschloss, sie zu veröffentlichen. Dabei zeigt er auf, wie Schicksal und persönliche Unverantwortlichkeit das Leben prägen und sich wiederholende Zeichen für mögliche Veränderungen setzen können. Besonders prägend waren für Herold Erfahrungen wie sein mehrmaliges Scheitern an verschiedenen Schulen, die unerwiderte Jugendliebe, die ihn über Jahre hinweg beschäftigte, sowie eine frühe sexuelle Erfahrung mit einem Pfadfinderleiter. Ein einschneidendes Erlebnis in seiner Kindheit war die Erkrankung an Kinderlähmung und die damit verbundenen Operationen, die dazu führten, dass er ab dem sechsten Lebensjahr humpelte. Diese Behinderung machte ihn zum Ziel von Spott und Hänseleien seiner Mitschüler. Diese Erfahrungen verdeutlichen, wie schwer es ist, den richtigen Moment zur Veränderung zu erkennen und innere wie äußere Hemmschwellen zu überwinden. Die Schilderungen geben Einblick in diese schicksalhaften und prägenden Jahre, die vor dem Hintergrund einer schwierigen Zeit erzählt werden. Sie reflektieren die Bedeutung dieser Erlebnisse im Rückblick als einen großen Reichtum, der heute kaum noch zu vermitteln ist.

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Seitenzahl: 410

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Im Austausch gegen das,

was unsere Einbildungskraft uns vergebens erwarten läßt

und was wir umsonst so vergeblich zu entdecken bestrebt sind,

schenkt das Leben uns etwas,

was weit über unser Vorstellungsvermögen hinausgeht.

Marcel Proust

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Diesen ersten Teil meiner Lebensgeschichte

widme ich meiner Mutter,

entwachsen einer Generation karger Kindheit,

unsicherer orientierungsloser Zeit,

einer durch zwei Kriege gestohlene Jugend.

Dazu die Sorge um ein behindertes, verstörtes Kind,

das Kummer und Verzweiflung bereitete und das

sie dennoch liebevoll und aufopfernd umsorgte.

Vorwort

Ein ordentlicher Stadtmensch liest morgens seine Zeitung. Entweder um sich auf die tägliche Büroarbeit einzustimmen, mitreden zu können, aus Informationssucht, aus Langeweile oder, wie könnte man das vergessen, um sich zu bilden. Auch ich las viele Jahre lang die Zeitung. Dann bestellte ich sie ab. Ich hatte genug davon, jeden Morgen eine halbe Stunde lang mich mit Dingen vollzustopfen, die ich nach kürzester Zeit ohnehin nicht mehr wußte. Kurzes Nachdenken hatte mir die Einsicht vermittelt, daß diese Zeit, summiert mit der darin ruhenden Energie, weit besser genutzt werden konnte. So begann ich also meine Geschichte jeweils in dieser morgendlichen Zeit zu schreiben.

Was dann passierte war ein Nacherleben des Verschütteten, ein Aufspüren von Ereignissen aus der Tiefe meiner Erinnerungen. Diese Beschäftigung war teilweise so intensiv, vergleichbar einer Rückführung, einer inneren Versenkung, mitschreibend, miterlebend das schon Gefühlte, Durchlittene; mitfühlend das Schreckliche, mitsinnend all die gewinnbringenden Erfahrungen und bereichernden Erlebnisse, die ich damals und jetzt noch einmal machen durfte. Dieses wurde mir erleichtert durch eine Angewohnheit; ich hatte fast alle Briefe gesammelt und aufbewahrt, die ich seit meiner Jugendzeit erhalten hatte. Nicht daß ich diese aufarbeitete, es waren nur die ‚Meilensteine‘ die ich herausnahm, ergänzend das Erlebte nachzuvollziehen, die Erinnerung zu beflügeln.

Mancher könnte beim Lesen meinen, ich schwärmte und verklärte das Erleben der Natur, der Landschaften und Stimmungen in die ich hineingewachsen bin; hätte mich dieses Erleben, ohne diesen starken Einfluß gar anders entwickelt und geformt, wenn ich es nicht so intensiv und stark wahrgenommen hätte. Diesem Eindruck möchte ich entgegensetzen, daß ich weder ein Naturbursche, ein Naturapostel und Verfechter ökologischer Anliegen und auch kein Grüner bin. Könnte und hätte ich die Sinnhaftigkeit von Empfindungen, Schwingungen, energetischen Vorgängen und genaueren seelischen Kenntnissen, zum Beispiel denen eines Rudolf Steiner gehabt, hätte ich es vorgezogen, mich lieber auf dieser Ebene auszudrücken. Selbst als Walldorfschüler habe ich es versäumt, mir diese Welt der inneren Vorgänge, wie sie auch C.G.Jung beschrieben und erlebt hat, genauer anzuschauen und anzueignen. Heute bedauere ich das sehr.

Diese Lebensgeschichte begann ich mit achtunddreißig Jahren zu schreiben. Sie umfaßt den Zeitraum von meiner Geburt bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr. Das ist nicht zufällig. Einmal beendete ich das Schreiben, indem ich bis zu diesem Punkt gekommen war wegen äußerer Umstände, zum Anderen hatte ich auch nicht vor, die anschließenden Jahre mit einzubeziehen. Die Arbeit an diesen neunzehn Jahren Kindheits- und Lebensgeschichte dauerte etwa zwei Jahre. Danach blieb das Manuskript liegen und erst achtzehn Jahre später holte ich es hervor und entschloß mich, es abschreibend noch einmal sauber zu Papier zu bringen. Schon nach einigen Seiten habe ich entschieden, meine damalige Wortwahl, die Formulierungen und Satzstellungen beizubehalten und nicht mehr zu verändern. Sie entsprechen nicht nur dem Inhaltlichen, sondern spiegeln auch meine Auffassung und Formulierungsart, den Stand meiner damaligen Sichtweise und Reife wieder.

Vielleicht ist es für manchen nicht unbedeutend, ein Wort zu der Benennung von ‚Mama‘ und ‚Papa‘ zu sagen. Mindestens seit dem Beginn der Schulzeit, in der man anfängt sich Gedanken zu machen, wie drücke ich mich vor den Mitschülern aus, indem ich Vater oder Mutter anspreche, ab diesem Zeitpunkt konnte ich nicht mehr ‚Mama‘ in gleichbetonender Weise sagen, wie es Kinder tun oder Italiener sagen. Ich hatte mich dafür entschieden Mamá, mit einer langen Betonung auf dem letzten á zu sprechen. Es war nicht nur vornehm und klang gut, es wurde nicht nur dem Respekt und der Bewunderung meiner Mutter gerecht, sowie der Achtung, die ich versuchte ihr entgegenzubringen; es erlaubte mir zu signalisieren, daß ich nicht mehr das Kleinkind war, das ‚Mamma‘ sagte und dort steckengeblieben war. Das gleiche gilt sowohl auch für den Ausdruck Papá.

Viele Orte meiner Kindheit und Jugendzeit, wie ich sie damals erlebte, haben sich nicht nur völlig verändert, sie existieren überhaupt nicht mehr. Zerstörung, Profitdenken, Unwissenheit, Ignoranz, Rigorosität haben unsere Städte und Ortschaften, fünfzig Jahre nach dem Krieg, mehr verändert als im Krieg zerstört wurde. Besonders im Falle des Tuniberges im Kaiserstuhl, anläßlich der Flurbereinigungen Ende der sechziger- Anfang siebziger Jahre. Zehn Jahre später ist die gesamte Gegend um Umkirch zu einem Verkehrsknotenpunkt der Autobahn geworden und eine Besiedelung großen Ausmaßes hat in den Orten zwischen Kaiserstuhl und Freiburg eingesetzt. Dort ist fast nichts mehr von der damaligen Idylle zu erkennen

Genauso verhält es sich mit Bad Tölz. Vor etwa sieben Jahren hatte ich die Absicht meiner Tochter einiges von dem Lebensraum meiner Kindheit zu zeigen. Ich war so schockiert, angesichts dessen, was sich in dieser Stadt getan hat, ich beschloß niemals wieder dorthin zu fahren. Natürlich muß es Veränderung geben, Wandlung, aber könnte sie nicht auch mehr Qualität beinhalten? Ist das Umgehen mit unserer Umwelt ein Spiegel für das, was sich auch in unserem Inneren vollzieht?

München lebt, verändert sich, aber es strahlt unvermindert. Sehen wir einmal ab von dem Tourismus den es schon immer gab, von dem es auch sein Flair erhält, aber diese Welle von Menschen, wie sie manche Teile, Feste, Orte überschwemmt, in Besitz nimmt und behandelt, entspricht nicht einer schätzenden und liebenden Geste. Besonders junge Menschen dürften wieder mehr Achtung gewinnen im Umgang mit Vorgefundenem, mit dem was vormals aufgebaut und gepflegt wurde.

Stuttgart im Juni 1995

Ägyptische Stele mit der Darstellung eines an Polio erkrankten Priesters. 18. Dynastie des Pharao Amenhotep III., ca.1403-1365 v.Chr., Carlsberg Glyptotek, Copenhagen.

Um erzählen zu können was in meiner Kindheit geschah, was ich erlebte, muß ich hinabsteigen in die Tiefen meiner Erinnerung, graben im Undurchsichtigen, Verschütteten meiner damaligen Erfahrungen. Nicht geboren zu sein und doch zu leben, suchend nach dem Einzigen, dem letztlich Erlösenden inhaltgebenden Wort ‚Liebe‘, ständig ringend um Hilfe, so auch jetzt versuchend die untersten Schichten meiner Erlebnisse ans Licht zu bringen, dann möglichst fallen zu lassen, dem Konservierungsprozeß des Zudeckens und Verdrängens so schnell als möglich wieder zu überlassen.

Licht erblickte ich nicht, nur verschwiegene Dämmerung und sie hielt lange an. Fast zwanzig Jahre strahlte es nicht, erfüllte mich nur dumpfe, kerkerhafte Finsternis. Geräusche erreichten mich als forderndes Gewirr, das hin und wieder orkanartig anschwoll, mich zu Boden drückend.

Alles Erzählungen. In der Stadtstraße wohnten meine Eltern, dort wurde ich geboren. Ans Licht wollte ich nicht, nicht in diese Welt. Von dieser Mutter wollte ich nicht weg, nicht abgenabelt sein, wohl wissend, was mich alles erwarten würde und so sträubte ich mich mit allen Kräften. Meine Mutter hatte ein Geburtsgefühl, als daß ich schon ein wenig draußen war, aber ich wieder in sie hinein wollte, verweilend um dann doch hinaus zu müssen. Und dann begann es schon, ein Magenpförtnerkrampf und die Sorge der Mutter. Wochenlang nährte sie mich, alle halbe Stunde, Schlückchen für Schlückchen in mich träufelnd, zu viel hätte ich sofort wieder von mir gegeben. Mutter hatte nichts anderes zu tun als sich mir voll und ganz zuzuwenden, ich absorbierte ihre ganze Aufmerksamkeit und Fürsorge und ich bekam sie und ihre Liebe.

Später, auf den Armen meines Großvaters. Zum ersten Male konnte ich die Himbeeren greifen, die buschweise vor dem Hause wuchsen. Vielleicht zuckte ich schon damals zurück, geritzt und beschädigt von einer der Dornen, doch fiel auch der Schatten des Freiburger Münsters1 auf mich, zumindest wurde ich mit dessen Weihwasser getauft2, Wasser des Kaiserstuhls, der Rheinebene, einer göttlichen Landschaft.

Am 27. November 1944 war der Bombenangriff auf Freiburg. Vier Tage vorher hatte meine Mutter mit mir und mit meinem Bruder schwanger ihre Heimatstadt verlassen und war nach Bad Tölz3 zur Familie ihres Vaters gefahren. Sie sollte nie wieder in ihre so geliebte Stadt zurückkehren.

Bad Tölz 1945. Es hatte heftig zu schneien begonnen, unvorhergesehen. Es war die Rettung des Städtchens, in dem sich Teile der SS immer noch gegen die Amerikaner wehrten. Die große Kaserne4 am Rande der Stadt sollte bombardiert werden. Doch der Schnee fiel immer dichter, die Flugzeuge mit der Bombenlast konnten nichts mehr ausrichten.

Dann hatte ich begonnen zu begreifen, hatte zum ersten Male Erinnerliches erlebt und bewußt in mir aufgenommen. Man hatte einiges Notwendige zusammengepackt und auf einen Schlitten geladen. Meine Cousine Monika und ich wurden gut vermummt daraufgesetzt und die Familie begleitete uns, die steile Marktstraße hinunter, über die teilweise notdürftig gerichtete Isarbrücke5 in den Badeteil6 des Städtchens, in dem mein Onkel in einem herrschaftlichen Hause lebte. Der Einmarsch der Amerikaner stand bevor. Meine Mutter lag mit Wehen im Krankenhaus, in Erwartung meines Bruders. Am fünften Mai marschierten die Amerikaner ein, tags darauf wurde er geboren.

Dann wieder zurück in dem großen alten Haus, direkt neben dem Stadtturm unter dessen mächtigen Torbogen die Marktstraße zum Bahnhof verlief. Dieses Haus meiner Urgroßmutter mütterlicherseits hieß ‚Zum Herrn unterm Turm‘7 und diese Bezeichnung war auf der Frontseite des Hauses in großen Lettern aufgemalt. Ich saß im Treppenhaus von dem man über die Hofmauer hinweg die Marktstraße übersehen konnte. Staunend betrachtete ich die Soldaten und Lastwagen die in Kolonnen durch das nebenstehende Stadttor, den ‚Khanturm‘ zogen. Auf der anderen Seite des Tores hatten sie ein Schilderhäuschen errichtet in dem jeweils zwei Soldaten Wache hielten und die Vorbeikommenden kontrollierten. Alles war noch mit Schnee bedeckt und interessiert sah ich zu, wie sie sich ein kleines Feuer machten um sich aufzuwärmen, dann wieder damit beschäftigt waren, einem Lastwagen mit Holzvergaser zu helfen, durch den glitschigen Matsch gehemmt, das Tor zu passieren. Langsam begannen sich meine Gedanken zu ordnen, dennoch immer wieder unterbrochen von Dunkelheit, eindringlicher Unwissenheit, doch auch Träume erlebend, die sich langsam der Realität näherten. Den Bruder, eben erst geboren, überhaupt nicht wahrnehmend, eher noch die Cousine, mehr noch Großmutter und Urgroßmutter, Tanten, Hausmädchen und viele Onkels. Aber am innigsten wohl Anna, unsere Haushälterin. Behutsam erfahrend mit wem ich da zusammenlebte war ich doch ein Nichts, verglichen mit diesen Menschen und ihren Problemen der ersten Nachkriegsjahre.

Die Schicksale und Umstände jener Zeit waren die Ursache für das Zusammenfinden dieser großen Familie in Bad Tölz. Mein Vater und seine beiden Schwestern, sowie deren Vater waren in Würzburg8 völlig ausgebombt worden. Der Familie meines Großvaters mütterlicherseits war in Freiburg alles vernichtet9. Die Schwester meiner Mutter und gleichfalls in der Hoffnung mit ihrem zweiten Kind, ebenfalls aus Freiburg geflüchtet, während ihr Mann in russischer Gefangenschaft noch lange ausharren mußte.

Also, die Urgroßmutter, die Frau Hofrat, die dieses große Haus bewohnte, hatte sie alle aufgenommen und es fanden Menschen zusammen die eine Gemeinschaft bildeten, die die Not zusammengeführt hatte. Ich bemühte mich sie alle auseinanderzuhalten und so fand ich Namen und Abkürzungen die meinem kindlichen Empfinden entsprachen. Die beiden Urgroßmütter unterschied ich in Urli und Urma. Die Schwestern meines Vaters Tante Biene von Pauline und Tante Lila von Elisabeth. Die zwei Schwestern meiner Mutter Tante Tita von Christa und Tante Agi von Agathe. Von den ursprünglich neun Kindern meiner Urgroßmutter Urma waren ebenfalls einige mit Kurznamen bedacht worden. Dominierend jedoch war Tante Meisi, die meine Urgroßmutter pflegte und sich um deren Haushalt kümmerte. Frauen beherrschten meine frühen Jahre, während die Männer gefallen waren oder sich in Gefangenschaft befanden. Diese große Familie meines Großvaters mütterlicherseits, seit Urzeiten ansäßig in einer rein katholischen Stadt im Isartal, war geprägt von jener bigotten katholischen Atmosphäre, die dort einen guten Nährboden hatte. Zwar war das weltliche Leben kultiviert aber eben nur im Sinne einer vorgetäuschten Frömmigkeit. Im vorderen Teil des Hauses in dem Urma lebte, war neben jeder Türe ein Weihwasserbehälter angebracht und älter geworden, sooft ich sie besuchte wurde ich angehalten, den Finger damit zu benässen und mich zu bekreuzigen. Sollte dies nur Ausdruck innerer Frömmigkeit sein so entpuppte es sich bei näherer Betrachtung als übertriebenes Ausleben einer unverarbeiteten Innerlichkeit, einer Scheinheiligkeit, die das gesamte großbürgerliche Milieu, auch das der Verwandten und deren Umwelt miteinbezog. Nicht selten roch es nach Weihrauch, wenn der Pfarrer, der ohnehin aus und einging, die Frau Hofrat besucht hatte und alles vor Ehrfurcht erstarrt war.

Meine Welt war der hintere, zum Garten gelegene Teil des Hauses, nur verbunden durch einen Gang mit den Zimmern meiner Urgroßmutter. Dieser Bereich bestand aus etwa fünf großen Zimmern, einer riesigen, mit Solnhofer Schieferplatten bedeckten Diele, einem Bad mit einem hohen kupfernen Warmwasserbehälter, den man mit Holz anschüren mußte, einer großen Küche mit Vorraum und ein paar Stufen, die abgeschlossen von einer Schiebtüre zum hinteren Treppenhaus führte. An diesem rundgebauten Treppenhaus, das zum Garten seinen Ausgang hatte, lagen ebenfalls noch einige Zimmer. In diesem Areal sammelten sich meine Eindrücke, formte sich meine Erinnerung, fand Familie statt die um mich herumwogte.

Im Vorraum der Küche hielt ich mich meistens auf. Er war recht dunkel obwohl das Licht fast immer brannte. Ich saß hier auf dem Topf und sollte mein Geschäft machen. Stattdessen rutschte ich auf ihm herum und bohrte Staub und Dreck aus den Ritzen des dunklen Bretterbodens. Hier stand auch der Laufstall in dem mein Bruder und Vetter Andreas ihre ersten Stehversuche machten. Meine Cousine Monika und ich kletterten oft hinein und beschäftigten uns mit den beiden. Meistens aber war Anderes interessanter. Da standen, in einem großen Steinguttopf eingelegte Eier bedeckt mit Wasserglas und ein ebensolcher Bottich mit Kraut. In der Toilette nebenan stieg ich öfters auf die Klobrille, mich festhaltend an den Wasserrohren zog ich mich hoch, um hinunterzuschauen in einen tiefen quadratischen Lichtschacht, der auf der gegenüberliegenden Seite von der Flanke eines Turmes begrenzt wurde. Dieser Blick hatte etwas bedrohliches, furchterregendes, gefängnishaftes und ich war recht schnell wieder froh, die kräftig grüne Farbe der Toilettenwand zu sehen.

Jeden Morgen machte unsere Haushälterin Anna das Feuer im Herd an. Da wir Kinder auch früh auf waren, konnte ich ihr dabei zusehen. Wenn es dann soweit war, mußte sie nach einiger Zeit die Eisenringe abheben, damit ich mich davon überzeugen konnte, daß es auch brannte. Ein ebensolches Vergnügen war es, den Deckel des Wasserbeckens hochzuheben, das in den Herd eingelassen war. Die Seitenwände waren mit einer dicken Schicht von Kalkablagerungen bedeckt, durchzogen von kleinen Löchern, aus denen Bläschen aufstiegen und am herrlich warmen Wasser fühlte ich die Kraft des Feuers. Nicht selten geschah es, daß eines von uns vier Kindern Husten bekam. Man hatte hierfür ein besonderes Pfännchen, in das etwas Fett kam, bedeckt mit einem Stofflappen und auf dem Herd erhitzt wurde. Diese Schmalzwickel wurden uns auf die Brust gelegt bevor wir einschliefen. Manchesmal war es schon etwas heiß, doch vor allem roch es unangenehm nach dem erhitzten Fett.

Das Anziehen des Morgens war nicht die reine Freude, denn auch wir Buben mußten Wollstrümpfe mit Strapsen anziehen. Die Wolle juckte und biß und ich kratzte mich unaufhörlich. Später hatten wir dann einteilige Unterwäsche die mir sehr gefiel. Man konnte sie mit einem Ruck an-und ausziehen. Die Unterhemden waren mit der Unterhose verbunden und hatte sie nur noch vorne zuzuknöpfen. Am Hinterteil war sie offen geschlitzt, sodaß man sich nicht ausziehen mußte wenn man ein Bedürfnis hatte.

Es war eine magere Zeit. Schwer sich vorzustellen wie man es fertig brachte, eine so große Familie Tag für Tag zu ernähren. Sehr oft gab es Kartoffelsuppe. Anna, die sich in der Küche für uns mühte, schlief manchmal über dem Teller ein oder aß auch noch die Kartoffelschalen. Woran es nicht mangelte waren Gelberüben. Im Garten waren einige Beete davon angelegt worden. Es gab Gelberüben in jeder denkbaren Form, geraspelt, gekocht, als Suppe oder als Auflauf, meist drückte man uns noch eine rohe Rübe in die Hand. Wir waren schon ganz gelb, zumindest sah man uns an, daß wir genug davon aßen. Noch viele Jahre danach war es mir nicht möglich rohe Gelberüben hinunterzukriegen.

Nach dem Mittagessen wurden wir Kinder ins Bett gesteckt. Wir sollten schlafen, was uns auch meistens gelang. Später dann hieß es, wir sollten uns zumindest ausruhen. Die Wände unseres Zimmers waren weiß getüncht, doch über den Gittern unserer Kinderbetten schleckten wir die Farbe ab, sodaß der Unterputz sichtbar wurde. So war eine lebendige Fleckenstruktur auf der Wand entstanden. Immer wieder war es uns ein Bedürfnis, die wohl kalkhaltige Farbe zu schlecken, vielleicht mangelte es uns an solchem Stoff und ein innerer Trieb veranlaßte uns zu diesem Verhalten. Einmal machte einer von uns ins Bett. Als die Eltern nach dem überraschend ruhigen verlauf der Mittagsruhe wieder ins Zimmer kamen, hatten wir die Betten wie auch die Wände mit braunen Signaturen versehen, die Strafpredigt fiel gewaltig aus. Tagelang schnupfte meine Mutter an mir herum, immer einen eigenartigen Geruch wahrnehmend der von mir ausging. Doch erst nach einiger Zeit kam sie dahinter was mich geruchlich so veränderte. Ich hatte mir Zitronenkerne in die Ohren gesteckt die anfingen zu faulen.

Etwas größer geworden waren Zündhölzer meine besondere Leidenschaft. Ich organisierte mir Streichhölzer, die an den vielen Öfen in der Wohnung stets zu finden waren. Während ich dann mittags ruhen sollte, schlich ich ins andere Zimmer und zündelte am Ofen herum.

In den Kindergarten ging ich nicht gerne, lieber strolchte ich durchs Haus oder hielt mich im Garten auf. Doch im Winter war das etwas anderes. Der Kindergarten lag keine zweihundert Schritte von uns entfernt, über den Rehgraben10 hinweg, etwas unterhalb der Rückseite des Landratsamtes. Von dort aus fiel das Gelände steil ab bis zum Gries11, an dessen unterer Seite ein Bach mit einem Steg die Grenze bildete. Hier konnten wir stundenlang Schlitten fahren, mußten aber ständig aufpassen, nicht in den Bach zu fahren, was dann auch prompt einmal geschah, als er noch nicht ganz zugefroren war.

Die Vorweihnachtszeit begann mit dem Nikolausfest. Die ganze Familie versammelte sich um die Urgroßmutter, der Nikolaus und Knecht Rupprecht sollten kommen. Man wartete einige Zeit, ein paar Lieder wurden gesungen als es schließlich schellte. Der Nikolaus stapfte die Treppe herauf, hinter ihm hörbar der Krampus12. Dieser wilde Geselle hatte eine lange schwere Kette bei sich, die er rasselnd und schlagend das Treppenhaus heraufzog, unheimlichen Lärm verbreitend, daß sogar den Erwachsenen das Lächeln verging. Mein Bruder Otto war längst unter den Tisch gekrochen und war nicht wieder hervorzubekommen. Stampfend und bedrohlich die Kette rasselnd stand der Krampus neben dem Nikolaus, der ihn immer wieder zur Ruhe mahnen mußte. Nach einem Gebet öffnete der Nikolaus ein großes rotes Buch und jedem Anwesenden wurden ein paar saftige Verhaltensweisen vorgehalten. Mancher sah dabei gar nicht gut aus. Endlich wurde der riesige Sack geleert und auch mein Bruder kam zögernd aus sicherem Versteck, denn Äpfel Nüsse, Leckereien und Geschenke bedeckten den Boden. Dieser Abend, das unheimlich wilde Erscheinen des Knecht Rupprecht beängstigte nicht nur mich, es nahm mir die Freude an dem Gedanken, in den zukünftigen Jahren ähnliches zu erleben. Doch in ländlichen Kreisen war dieses rauhe Auftreten üblich. Knechte und Mägde, womöglich die eigene Frau, sollten eingeschüchtert werden. Natürlich kam in dieser Figur auch viel Heidnisches und Urwüchsiges zum Ausdruck.

Mein Großvater hatte sich wieder einmal aufgemacht vor den anstehenden Feiertagen etwas zum Essen zu besorgen. Seine Beziehungen und Bekanntschaften in der Gegend waren vielfältig. Er wollte Wild oder Fisch bringen und zog mit seinem Rucksack los. Bei seiner Rückkehr war natürlich die erste Frage was er bekommen habe. Die lakonische Antwort war: „Nur einen Fisch, mehr war nicht zu kriegen“. Bekümmert ging Großmutter zurück in die Küche nach einem Ausweg sinnend, denn so viele Personen konnten nicht an einem Fisch satt werden. Doch was war das für ein riesiger Fisch den er vom Walchense13 mitgebracht hatte. Er wurde in die Badewanne gelegt und mit nassen Tüchern bedeckt um ihn möglichst frisch zu halten. Irgendwann des nachts war plötzlich Unruhe im Haus. In Abständen, dann immer öfters hörte man ein eigenartiges ungewohntes Geräusch. Schließlich entdeckte man, daß der Fisch immer noch lebte und mit seinem Schwanz gegen die Badewanne schlug. Er hatte den Tagesausflug vom Walchensee bis zu uns lebend überstanden.

Weihnachten habe ich in schönster Erinnerung. Die riesige Diele die sich zwischen den einzelnen Zimmern erstreckte, wurde mit einem großen dunkelroten Vorhang abgeteilt, der in üppigen Falten herunterhing. Dahinter hatte man eine herrliche Tanne aufgestellt. Sie reichte vom Boden bis zur Decke und erschien uns Kindern riesig. Ein kleiner Eisenofen der sich hier befand wurde angeschürt, bis er manchmal vom Deckel an aufwärts, einschließlich einem Teil des Abzugrohres rotglühend war und sogar den großen Raum erwärmte. Das Schönste war, wir Kinder durften lange aufbleiben und uns mit den Geschenken beschäftigen.

Schon in den ersten Lebensjahren kümmerte man sich wenig um uns, da wir die meiste Zeit, sooft es das Wetter erlaubte, draußen im Freien waren. Die Natur war der wichtigste Teil meiner Kindheit, ständig draußen, erlebend die jahreszeitlichen Wechsel und deren Abhängigkeiten von ihr.

Das Bemühen der Eltern in dieser kargen Zeit das Nötigste zu beschaffen wirkte sich entsprechend aus, man hatte einfach nicht die Zeit um sich mit uns zu beschäftigen und sich uns zuzuwenden. Natürlich wurden wir angehalten mitzuhelfen und mit kleinen Aufträgen bedacht. Beim Milch holen passierte es, daß ich zehn Pfennige verlor oder die Lebensmittelmarken14verschlampte, was ein gehöriges Donnerwetter zu Folge hatte. Im Nachbarhaus befand sich eine Bäckerei. Jeden Tag ging einer von uns an den hinteren Gartenzaun und nahm zwei Laib Brot in Empfang, der uns zusätzlich und heimlich verkauft wurde. Dann war es auch ganz verständlich, daß, wenn ihn meine Tante anschnitt, sie erst einmal drei Kreuze mit dem Messer auf der Unterseite machte15.

Maria und Josef waren das Hausmeisterehepaar, richtige Bilderbuchbayern, die im großen Gartenhaus am Rande des Gartens wohnten. Im Halbkeller dieses Hauses befand sich die Waschküche. Einmal in der Woche wurde dort angeschürt und gewaschen. Riesige Holzzuber mit heißem Wasser gefüllt in denen die Wäsche umgerührt und von einem Bottich in den anderen mit großen Löffeln gehievt wurde, die aus fast weißem ausgelaugtem Holz bestanden. Dicker Dampf quoll dann aus der Flügeltüre und meistens konnte man darin auch niemanden erkennen. Nur die uns zurückweisenden Stimmen waren zu hören, es war uns verboten dorthin zu gehen, man hatte Angst wir könnten uns verbrühen.

Hausmeister Josef zu begleiten war immer erlebnisreich. Wenn ein großer Feiertag bevorstand, Fronleichnam oder das Leonhardifest, dann stieg er mit mir hinauf in den Speicher. Hier unter dem Dach lagen zwei Fahnenmasten, die durch kleine Fenster zur Marktstraße hin nach draußen geschoben wurden.

Unten bei der Urgroßmutter wurden die Enden der Fahnen an Haken befestigt und es wehten die Fahnentücher, entweder gelb-weiß oder blau-weiß gerautet wundervoll vor den Fenstern hin und her. Das Schönste auf dem Speicher waren jedoch die getrockneten Äpfel. Auf unzähligen unter dem Dach parallel gespannten Schnüren hingen die goldbraunen Apfelschnitze, einen appetitanregenden Duft verbreitend. Natürlich langte Josef jedesmal nach oben, um mir einige davon zu geben, sie schmeckten unvergleichlich.

Im Spätsommer wurde Holz gemacht. Einige Klafter Buchenholz wurden angeliefert und die etwa einen Meter langen Holzkloben im Hof an der Hauswand aufgestapelt. Tage später kam ein Ungeheuer von einer Maschine. Ein traktorähnliches Gefährt mit einem riesigen Schwungrad auf der Seite, über das ein Riemen eine Säge sowie ein ständig heruntersausendes Hackbeil unter ohrenbetäubendem Lärm bewegte. Erst wurden die Holzstücke zersägt und dann geschickt unter dem Hackbeil gedreht bis mehrere kleine Scheite auf einen ständig wachsenden Haufen geworfen wurden. Natürlich war es ein Spaß auf diesem Holzberg herumzuklettern.

Den schon sehr alten Vater meines Vaters begleitete ich oft hinüber zum Landratsamt, an dessen rückwärtiger Mauer eine Bank stand. Sobald es schön war wollte der Zweiundneunzigjährige dorthin, die herrliche Aussicht auf das Karwendelgebirge genießen und seine Tochter, meine Tante Lila, eine äußerst lustige doch auch vom Leben gezeichnete, vornehme Dame, begleitete uns. Mein Vater nannte sie oft Ruschelwange, das kommt von Rouge und Wange, denn sie machte sich gerne rote Bäckchen, polierte sich die Fingernägel16 und puderte sich das Gesicht. Ich fand das sehr absonderlich.

Urma, meine Urgroßmutter, war nicht mehr in der Lage zu laufen. Sie lag den ganzen Tag im Bett. Natürlich wollte ich sie oft besuchen, doch vielfach wurde mir das verwehrt. Entweder wurde sie gewaschen, war krank, betete oder ein Geistlicher befand sich bei ihr. In dem Zimmer, in dem sie lag, waren bemerkenswerte Dinge zu sehen. Gleich neben der Türe rechts, erhob sich ein grünglasierter Kachelofen. Auf seinem Sims standen meist zwei große bauchige Gläser, in dem Einen Hagebutten, in der Anderen etwas mir Unbekanntes angesetzt war. Der Flaschenhals endete in einem gekrümmten Röhrchen, gefüllt mit einer Flüssigkeit, in dem es manchmal blubberte, wenn wieder gärende Luftblasen nach oben stiegen. Sowie die Sonne schien, stellte man die Flaschen auf das Fensterbrett und die schöne Farbigkeit der Essenz und der schimmernden Hagebutten warfen dann farbige Streifen auf den Boden. Vorne links, neben dem Fenster stand Urgroßmutters Bett, daneben ein Nachtkästchen und ein mit rotem Samt überzogener Betstuhl über dem öfters eine Priesterstola und ein Manipel17 hing. Direkt dahinter ein niederländischer Flügelaltar,18 ein sogenannter Reisealtar, der es mir besonders angetan hatte. Fast immer standen die beiden Flügel offen, bis ich dahinter kam, daß sich auf den rückwärtigen Seiten auch noch Bilder und Darstellungen befanden. Dann fragte ich sie, ob ich den Altar zumachen dürfe und mit andächtiger Vorsicht schloß ich sie, um das Verborgene zu sehen. Auch auf dem Nachtkästchen gab es etwas Besonderes. Hier lag ein schweres Silberkreuz, in dessen Mitte ein in Kreuzform geschliffener Bergkristall eingearbeitet war. Er bestand aus zwei Teilen, die in der Mitte etwas Raum ließen. Hierin eingebettet war ein Span des Kreuzes Jesu. Es war eine wundervolle Arbeit, wohl gefertigt Anfang des achtzehnten Jahrhunderts.

Oft durfte ich zu Urma ins Bett schlüpfen. Sie las mir dann etwas vor oder ich blätterte in einem Bilderbuch. Öfters saß ich an dem ovalen Barocktisch, der in der Mitte des Zimmers stand. Tante Meisi holte mir dann aus der untersten Schublade einer Kommode zwei große bunte Schachteln heraus, in der sich, sorgsam eingebettet, große bunt bemalte Figuren19 befanden. Sie alle zusammen stellten eine Jagd dar. Da waren Tiere, Rehe, Hirsche und ein Bär, Bäume und Sträucher, Treiber zu Fuß und Jäger zu Pferde. Ein Augenspektakel für mich und ich durfte das sogar anfassen und zusammenstellen wie es mir gefiel. In der zweiten Schachtel viele verschiedenartige Tiere, exotische Tiere die man unter einer Palme gruppieren konnte. Sie waren plastisch, hatten Volumen und beeindruckten durch ihr realistisches Aussehen.

Diese unversehrte Welt, in der, trotz des Krieges, meine Urgroßmutter lebte, hatte nichts zu tun mit jener, in der meine Eltern und Großeltern lebten. In dem Haus waren auch diese Bereiche fast völlig voneinander getrennt.

Meinem Vater und seinen Schwestern in Würzburg war alles restlos verbrannt bis auf drei wertvolle Bilder, einem Niederländer und zwei Ahnenportraits. Der unersetzliche Verlust einer großen Kunstsammlung20. Auch die Wohnung meines Großvaters, die sich im Herderbau21 in Freiburg befand war ebenfalls ein Raub der Flammen geworden. Nichts war geblieben außer der Kraft seiner Hände. Man war angewiesen auf die Großmut anderer, auf die Hilfsbereitschaft derer die nichts verloren hatten. Jeder war damit beschäftigt neu anzufangen, weiterzuleben, für uns Kinder zu sorgen. Doch darüber vergaß man, sich uns mehr zu widmen, sich Zeit zu nehmen, mehr auf uns einzugehen.

Mein Vater war Oberst bei der Wehrmacht gewesen, war in Frankreich, Rußland und Norwegen stationiert und in den ersten Wochen seiner Rückkehr besuchten wir ihn einige Male im Versehrtenkrankenhaus des Badeteils, in dem er einige Zeit lag. Die Schwester meiner Mutter mußte länger auf ihren Mann warten. Onkel Fritz kam erst im Februar 1946 aus russischer Gefangenschaft. Es war ein ungewöhnlich ergreifender Moment als er eines Abends plötzlich dastand. Mir war er bis dahin fremd. Bis dahin hatten sich meine Großmutter und ihre Töchter mühsam durch Nähen und Schneidern über Wasser gehalten. Nachdem dann Onkel Fritz, ein gelernter Schreiner, zurück war, ging es besser. Dort wo die rückwärtige Wendeltreppe im hinteren Teil des Hauses begann, befand sich ein großer Vorraum. Unterhalb der Treppe ging es in den muffig riechenden, dunklen Keller, auf dessen steilen Stufen meist eine dicke, grünbraunschwarze Kröte22 hockte und sich mit einem klatschenden Geräusch vorwärtsbewegte wenn man sie störte. Begleitete mich nicht jemand, so ging ich nicht da hinunter. In diesem Vorraum wurde eine Wand gezogen und eine kleine Werkstatt eingerichtet. Onkel Luitpold23 der künftige Mann von Tante Tita, Maler und Grafiker entwarf Krippen, Figuren, Leonhardiwagen, Puppenköpfe und vieles was man aus Holz fertigen konnte. Onkel Fritz wandelte diese in eine Serie aus Holz, Tante Agi und Tita bemalten die Objekte. Und sie fanden ihre Abnehmer, vor allem bei Amerikanern, die diese hübschen handwerklichen Arbeiten als Souvenirs mitnahmen und nach Amerika zu ihren Angehörigen schickten.

Oberhalb des Treppenhauses war noch ein Zimmer in dem Großmutter nähte. Manche Frauen des Städchens kamen und ließen sich aus meist mitgebrachten Stoffen neue Kleider anfertigen. Auch alte Armeedecken und Fallschirmseide war ein häufig gebrauchtes Material. Ebenso Puppen und Marionettenfiguren wurden von ihr hergestellt die guten Anklang fanden. Natürlich wurde gehandelt und getauscht. Unter dem Treppenabsatz der Schiebetüre, die den Vorraum der Küche mit dem Treppenhaus verband, an diesen Stufen konnte man ein Brett zur Seite schieben das einen Hohlraum freigab, in dem Zigaretten und Anderes versteckt wurde, wenn manchmal Besatzungssoldaten kamen und das Haus nach Waffen oder ähnlichem durchsuchten. Da sich ehemals im vorderen Teil zur Marktstraße hin die Kreisleitung24 einquartiert hatte, war es kaum verwunderlich, daß in den ersten Nachkriegswochen immer wieder Durchsuchungen stattfanden. Bei einem dieser ‚Besuche‘ passierte es auch, daß ein amerikanischer Soldat, mit der Waffe herumfuchtelnd, wütend wurde und mit seinen fünf Fingern über das wertvolle Niederländer Ölbild fuhr und es zerkratzte. Vorurteile bestätigend, es war ein Schwarzer.

Die Eindrücke verwischen sich, doch die überwiegende Dunkelheit der Zeit, die Düsternis des Hauses und zwiespältige Empfindungen ließen mich dennoch wachsen. Freudlos war die Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir miteinander sangen oder sich jemand ausgiebig mit uns beschäftigte außer unserem Kindermädchen, das wir natürlich sehr liebten. Sechs Jahre waren vergangen, die Schule machte man mir schmackhaft mit all den Belehrungen die den kommenden ‚Ernst des Lebens‘ einläuten sollten. Schulranzen, Schiefertafel, Schwamm und Lappen daran, ein paar Griffel, deren Kratzen mein Innerstes zusammenfahren ließ, alles war angeschafft worden. Im September 1948 wurde ich eingeschult. Wenige Tage dauerte meine Schulzeit. Wäre es nicht bei diesen vier Tagen geblieben, ich wäre ein anderer geworden, hätte nicht diese einschneidenden Erlebnisse gehabt. Hätte mich nicht reinigen können in Schmerzen und Einsamkeit, noch tiefer hinabsteigend mich selbst zu erfahren.

Es waren noch wenige Wochen bis zu meinem sechsten Geburtstag. Der erste Teil meines Nicht-Lebens, das der Dämmerung, schien vorbei, doch es sollte nicht heller sondern dunkler werden. Und wenn Dunkelheit erst sichtbar wird durch den Kontrast des Lichtes, so war nicht einmal das kleinste Aufflammen eines Lichtes, eines Strahles in der Ferne wahrzunehmen. Wasser friere zu Eis, wenn Gedanken das erahnt hätten was auf mich zukommen sollte.

Ich schlief und träumte und erwachte mit Schmerzen. Die Traumgedanken hatten sie nicht mit ins Vergessen genommen. Sie waren da und schwollen an mich zu verzehren, mich mitzureißen in die Finsternis, der ich suchte zu entfliehen. Schmerzen hatten mich aufgeweckt, Schmerzen undefinierbar, nicht in meinem Kopf, in meinem Körper, doch auch die Gedanken waren davon befallen. Ich rief meine Mutter, angstvoll, zögernd, die anderen nicht wecken wollend. Ratlosigkeit war ihre Reaktion, doch auch Linderung kam von ihr. Seit einiger Zeit arbeitete sie bei den Amerikanern. Sie sprach perfekt englisch25. Von dort brachte sie uns seltene Male Lollipops mit. Große, dunkelrote Lutscher an einem Holzstiel. An sie klammerte ich mich und sie halfen mir, die Dämmerung lutschend zu erreichen. Dann war Zuversicht auf Hilfe, auf Wissen, auf jemanden der aussprach was geschehen war. Der Arzt kam am frühen Morgen. Auf dem Bettrand sitzend untersuchte er mich, dann sollte ich aufstehen und ihm ein paar Schritte entgegenkommen. Ich schaffte das Aufstehen, doch beim ersten Schritt brach ich zusammen, haltlos niederstürzend. Die Untersuchung war zuende, die Hoffnung meiner Eltern auf eine harmlose Erklärung auch. Das Ende, doch Hoffnung, Anfang, Neubeginn ebenso. Dies nicht begreifend war zunächst nur Erstarrung und Lähmung. Auch ich war davon befallen, ich hatte Kinderlähmung26.

Zuvor spürte ich es nicht, bemerkte nicht was Zuneigung, Liebe bedeutete. Jetzt empfand ich ein wenig davon, erahnte wohl, was das Leben noch zu geben hatte und klammerte mich daran. Schmerz, Leid, Unglück, verzweifeltes Suchen nach Liebe waren eine Einheit geworden, gehörten zusammen und zusammengehörig erfuhr ich sie zum ersten Male. Mehr beglückend, geläutert daraus hervorzugehen. Mit diesem kurzen Öffnen der Türe zu den strahlenden Tagen des Lebens, wurde ich auf eine Bahre gehoben, in einen Krankenwagen geladen und in ein Krankenhaus nach Bad Wiessee27 gebracht. Ohne zu wissen was kommen würde, hinabtauchend, vom Strudel der Einsamkeit und Verzweiflung verschlungen. Ich lebte nicht mehr. Einmal erwachte ich in warmem Wasser, Hände mich haltend, langsam mich bewegend. Dann wieder Stille und einen Blick meiner Mutter nach Tagen erhaschend durch ein kleines Fenster in der Türe zu meinem Zimmer. Abgesondert, isoliert, war ich alleine gelassen. Narkotisiert vergingen die Tage, Monate; aus der Betäubung erwachend ein paarmal, wieder das junge Gesicht der Mutter durch die Scheibe erblickend. Einmal brachte sie mir ein Buch28, das für mich fast zur Reliquie werden sollte. Es war ein altes Buch das sich wesentlich von den Büchern unterschied die ich bisher kannte. Der Umschlag in Öltunk- oder Marmorpapier mit einer schönen Musterung. Es hatte einen Lederrücken mit ebensolchen Ecken, gebunden natürlich mit Kapitälchen. Im Inneren kamen Bilder auf mich zu, unglaubliche nie gesehene Dinge erweckten mich und meine Phantasie. Auf feinem handgeschöpftem Papier, der Text zweisprachig deutsch und französisch, spielten sich unerhörte Dinge ab. Vorsichtig umblätternd eröffnete sich mir eine handkolorierte Welt, die lange Zeit meine Träume bestimmen sollte. Blumen in schönster Pracht, daneben abgebildet eine junge Pflanze, ihr Samen ihre Frucht; exotische Schmetterlinge, Falter, Nachtfalter, als Raupe und als Kokon. Eine beängstigende Tierwelt, tausende von Metern unter dem Meere lebende gräßliche Fischwesen, die meine Phantasie jahrelang plagten. Meerestiere, Quallen und andere verschiedenartigste Vorkommnisse. Die Ansichten fremder Städte und Länder. Ausbrüche von Vulkanen. Bebilderte Seiten über exotische Völker, Othellos und Inuit. Und dann ein Wal, auftauchend, ein Ruderboot mit den verzweifelten Fischern darin, mit seiner Schwanzflosse hochwirbelnd und umstürzend in der Luft. Hier stimmte alles, die Farben, das Geschehende, die nicht zu verstehende Schrift des Französischen, das Fremdartige, ja, sogar der Geruch des Buches war eine andere, eine nie erahnte Welt der Wunder und des Staunens. Immer wieder besprach ich Mama, mir dieses Buch einmal zu schenken. Sie versprach es, doch dazu sollte es nie kommen.

Das Leben wieder erreichend war ein halbes Jahr vergangen. Als müßte alles bisher Errungene von Neuem beginnen, neu geboren, wieder Laufen zu lernen. Das rechte Bein bis zur Hüfte gelähmt, die Muskeln gehorchten mir nicht mehr, sie waren abgestorben. Stiefel wurden angefertigt, eine Metallschine links und rechts aus ihnen ragend, oben mit Leder überzogen und mit einer Schnalle versehen. Um überhaupt ein wenig humpeln zu können, mußte ich jeden Morgen diese Schiene um mein Bein schnallen. der Fuß konnte mich nicht mehr tragen. Es war eine Stütze29 mit der ich lernen konnte zu gehen, mühsam in Begleitung mir ständig helfen zu lassen, damit ich nicht umfalle. Was hier Stütze war, wurde für mich zur schmerzenden Behinderung. Nicht verstehend, daß ich mich alleine nur damit fortbewegen konnte, verabscheute ich alles. Man sah es, alle bemerkten es und starrten mich an und ich konnte mich nicht durchsetzen, daß man mir lange Hosen anzog. Das gab es ja auch nicht. Buben hatten nun einmal kurze Hosen anzuziehen, Lederhosen mit einem Edelweiß am Hosenträger, wie unendlich unwichtig und an meinem rechten Bein, diese häßliche, Blicke anziehende Apparatur.

Erneut kam ich in die erste Klasse, ein Jahr später. In den ersten Wochen wurde ich von unserem Kindermädchen hingebracht und abgeholt, mit der Zeit mich alleine überlassend. Lernend, erfahrend erlebte ich die Schule, mich der üblichen autoritären Disziplin unterwerfend. Die Hände auf der Schulbank, die Daumen nach unten, ständig gegenwärtig kraftvoller Tatzen, noch schlimmer, vorne mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke zu stehen. War dies einmal geschehen, schrieen alle nach der Schule und deuteten auf einen, sodaß auch noch andere aufmerksam wurden: „Eckensteher – Eckensteher“. Ich hörte auch anderes, ständig auf der Flucht davor: „Humpelmayer, Hinkebein, könnst‘ scho‘ längst verheirat‘ sein, Deine Frau die Sau, kocht die Wanzen im Kakao“. Oder „Michä Machä brunzt ins Kachä, s‘Kachä rinnt, da Michä stinkt, da Michä läft davo und sie frog‘n wo?“. ‚Hinkebein‘ – das war das Schlimmste. Was mußte ich tun um ihre Sympathie zu erringen, was konte ich tun, um akzeptiert zu werden? Nicht geboren zu sein war sicher besser, angenehmer als das. Ich lebte mit der Verzweiflung, mit der ständigen Beschäftigung dies irgendwie ungeschehen, unsichtbar zu machen, zu überwinden. Nebel war um mich, dicht und undurchdringlich, eine Wand, an der gerufene Töne und Hilfeschreie abprallten und doch auf mich zurückkamen, mich wie befangen niedermachten. Unerklärliches, in dem ich nicht weitersah, keinen Horizont, kein Ende, nicht die Spur eines Lichtes. Wenn ich hinuntersah zum Boden, zur hilfreich krustigen Erde auf der ich stehen sollte, erblickte ich meine Lederstiefel, mein dünnes beschientes Bein. Wenn nicht Verzweiflung war, dann kindlich unverstandener Zorn und Leere. Ich stand daneben, abseits, während die anderen turnten und tobten, ich befand mich abseits, jenseits mir selbst.

Wenig hätte ich gebraucht und doch soviel, als daß sie im Stande gewesen wären es zu geben. Liebe im Anwesend sein. Mama war selten da. Sie verdiente Geld, sie arbeitete in einem Labor bei den Amerikanern. Mein Bruder Otto und Vetter Andreas, inzwischen auch größer geworden, wir waren uns selbst überlassen. Wir spielten Hochzeit. Monika verkleideten wir als Braut, stundenlang erfanden wir Ereignisse die sich darum drehten, oder einer von uns war Pfarrer, Otto und Andreas die Ministranten. Einen Hocker hatten wir als Altar geschmückt, hingebungsvoll nahmen wir die Sache ernst und keiner durfte uns dabei stören. Für mich war es Vergessen, Verdrängung der Wirklichkeit, Wirklichkeit war Spiel, war ein anderes Geschehen, Wirklichkeit empfand ich in mir, in meiner Phantasie. So war auch Verlockendes im Aufstellen von Zinnsoldaten30. Sie stammten noch von meinem Großvater. Im Nachtkästchen der Biedermeiermöbel lagen sie in etlichen Schachteln. Lange brauchte ich um sie aufzustellen, mir ausdenkend, wer wen anzugreifen hatte, wer das Kommando hatte und wo die Kanonen stehen und die Granateinschläge erfolgen sollten. Die weißuniformierten Infanteristen mit der gelben Fahne und dem Trompeter voran, gegen die blauen Grenadiere und Kanoniere, seitlich hervorpreschend Husaren auf weißen Pferden, Säbel über den Köpfen schwingend. Danach kam mancher Soldat mit abgeschlagenem Fuß oder verbogenen Arm wieder in die Schachtel zurück.

Auf der gegenüberliegenden Seite wurde der kleine Garten hinter dem Hause begrenzt vom Mühlbach31. Hier war meine Welt zuende, richtig zuende, denn über der Mauer begann das wirkliche Jenseits. Mal rauschten, fast donnerten riesige Wassermassen den eingefaßten Bach hinunter, dann wieder plätscherte nur ein kleines Rinnsal sich in Pfützen sammelnd. Oft bestieg ich das Spalier der Birnbäume um auf die Mauer zu klettern, hinunterzusehen, grünbraunes Gewässer erblickend, die Mauern links und rechts von Algen überzogen, hoch aufsteigend zum Mühlturm, der die andere Seite des Baches begrenzte. Zwischen Mauer und Mühlturm, inmitten reißend schäumenden Wassers, siedelten meine ersten Alpträume. Aus Mauerspalten hervorschießend, ausspeiend und pressend die Wassermassen unter dröhnendem Lärm mich bedrohend. Ich, liegend zwischen wehrartig zusammengefügten Mauern, fast erdrückt von ihnen, unter und über mir die tosenden Wasser. Dem ausgesetzt mußte ich standhalten, nein geschehend, erlebend, duldend, die Traumsituation nicht erkennend versuchte ich die helleren Tage anzuhäufen.

Die andere Seite des Mühlturmes war ebenfalls ein Gebiet in das ich ungern ging, es war mir unheimlich und fremd. Ein steil abfallender Weg, steinbrockenbesät führte daran vorbei, bedeckt von gehäckseltem Stroh, meist schwer beladene Getreidewagen vor einer Laderampe den Weg versperrend.

In der Südecke des Gartens wuchs eine riesige Linde, ein mächtiger, schon archaischer Baum mit dickem Stamm. Ich hatte immer ein besonderes Gefühl in seiner Nähe zu sein, dies nicht erklären könnend, gab er mir Schutz, vielleicht kam es daher, da mein Großvater erzählte, sein Vater habe ihn gepflanzt als er ein kleiner Bub war. Auch Ehrfurcht und Bewunderung vor dem Herangewachsenen erahnte ich, wohl etwas von dem Geheimnis der sich entfaltenden Natur. In der Mitte des Gartens, eingefaßt von einer handbreiten Steinbefestigung ein großes Beet auf dem einige Erdbeeren, etliche Sträucher Johannisbeeren, sowie ein großer Apfelbaum wuchsen. Hier hatte man auch Blumen gepflanzt, Jahr für Jahr erblühte der rosarote Flox. Einige Schritte davon entfernt war ein rundes Wasserbassin in den Boden eingelassen. Der Springbrunnen funktionierte nicht mehr, auch das Gitter das einst runherum befestigt war stand jetzt an der Hauswand. Es sah nicht nur wie ein Röhnrad aus, wir Kinder benutzen es auch als solches, sehr zum Verdruß der Eltern.

Dort wo die Einfahrt zum Hof, um die Hausecke herum in den Garten führte, stand ein großer, zweistöckiger Holzschuppen, dessen vordere Seite bis zur Marktstraße reichte. In ihm war ein kleiner Laden eingerichtet, in dem die Sachen die Großmutter herstellte zum Verkauf angeboten wurden. An der hinteren Gartenseite führte eine Holztreppe auf einen Umgang, der noch vom Dach überragt wurde. Am Fuße der Treppe brauchte man nur eine Türe zu öffnen und man befand sich in einem Plumps-Klo alter bayerischer Art. Alles war mit Holz verschalt, für mich ein bevorzugter Ort, wenn ich nicht ins Haus wollte. Anschließend an diesen Schuppen hatte eine Nachbarin einen Hühnerstall. Jeden Morgen in aller Frühe sprach sie laut mit ihren Tieren. Sie war wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf, unbeirrbar sprach sie jedes Tier an, lockend, schmeichelnd, ihre eigenen Sorgen dazwischen ihnen mitteilend, sie wie ihre Kinder behandelnd. Dann wieder Ruhe bis zum Mittag. Hörte man sie einmal nicht, war sicher etwas nicht in Ordnung.

Mein Bruder und ich hatten zunächst ein kleines Zimmer neben dem unserer Eltern. Doch da waren noch mein Vetter und meine gleichaltrige Cousine. Größer geworden entschloß man sich, uns ein gemeinsames Kinderzimmer zu geben. Das Kindermädchen hatte es damit leichter sich um uns zu kümmern und zusammenzuhalten. Immer wieder hatten wir verschiedene Kindermädchen, doch mit einem verstanden wir uns besonders gut. Sie nahm uns mit, wenn sie ihren Liebsten beim Eishockey spielen sehen wollte, hob uns auch hoch, damit wir über einen Bretterzaun blickend die Eishockeyspieler sehen konnten, die mit eigenartigen Stöcken eine schwarze Scheibe herumschoben. Ängstlich verhielt sie sich bei Gewittern. Dann wurden Gewitterkerzen32 angezündet und sie saß zusammenzuckend bei uns sobald es donnerte. Oft waren die plötzlich auftauchenden Gewitter von naturgewaltiger Heftigkeit. Ein ins Haus einschlagender Blitz verwandelte eine Ecke unseres Kinderzimmers in eine glühende Bahn, als er an der außengelegenen Dachrinne herunterfuhr, sodaß ich annahm, alles stünde nun in Glut und Flammen. So nah und unmittelbar konfrontiert, verlor ich allen Schrecken vor Gewittern, schlimmer konnte es nicht kommen.

Der Weg zum Friedhof, auf dem ich eine der Tanten begleitete, wurde mir immer geläufiger. Man ging oft dorthin uns mitnehmend, die Gruft und Gräber unserer Vorfahren erklärend. Auch Großmutter besuchte hinund wieder das Grab ihrer Mutter, die erst vor kurzer Zeit gestorben war. Mich berührte das, hatte ich auch an sie, meine zweite Urgroßmutter33 einige lebendige Erinnerungen, als ich sie mehrmals im Krankenhaus besuchte bevor sie starb.

Vertrauter wurde mir die nähere Umgebung. Ob es der Weg vorbei an der Mühlfeldkirche34 zum Bahnhof war, oder in entgegengesetzter Richtung, die Marktstraße hinunter, über die Isarbrücke hinauf zur Franziskanerkirche35 und der dahintergelegenen Wetterstation in den Badeteil. Erforschend streunte ich in Tölz umher, selbständiger werdend, doch vorsichtig mich zurückhaltend.

Von der Stadtpfarrkirche36 aus, einige Treppen hinabsteigend, gelangte man ins ‚Gries‘. Hier, zwischen alten Häusern die sich zu einem kleinen Platz erweiterten, stand ein Brunnen mit einer Floriansfigur, brennende zu seinen Füßen stehende Häuser löschend. Dann die Isarbrücke. Nicht nur, daß man von ihr aus die naheliegende Flößerei sehen konnte und manches Floß beobachtete das zwischen den Pfeilern hindurchschießend erst auf der anderen Seite der Brücke sich schnell entfernend richtig wahrnehmen konnte, das Aufregende war, stellte man sich ganz vorne an einen Pfeiler dicht an das Geländer, dann, starr ins Wasser blickend konnte man meinen, man stehe auf einem Schiff, das sich durch die Flut vorwärts bewege. Mindestens einmal im Jahr hatte die Isar Hochwasser, denn der Sylvensteinspeicher37war noch nicht gebaut. Graubraune Wassermassen zwängten sich dann unter der Brücke hindurch, Geäst und Gestrüpp an den Pfeilern zurücklassend. Die am jenseitigen Ufer stehenden Häuser, die Metzgerei und vieles mehr, standen dann unter Wasser und von den Weidenbüschen, die sonst das Ufer säumten, war überhaupt nichts mehr zu sehen.

An den Wochenenden hatte Großvater manchmal Zeit mit uns längere Spaziergänge zu machen. Dann ging es zum Walger Franz38 mit seiner großen Forellenzucht oder zum Klammerweiher39. Dieser Weiher und der Weg dorthin war immer für Überraschungen gut. Alles war unverdorbene Natur. Ein schmaler Weg zwischen Bäumen und abgezäunten Wiesen führte aus Tölz hinaus. Es war ein mit Schilf üppig bewachsener Tümpel, aufgestautes Wasser von einem kleinen Bach, bevölkert von Fröschen, Kaulquappen, Kröten, Ringelnattern und schillernden Libellen. An seinem rechten Ufer führte der Weg weiter, an Büschen vorbei etwas ansteigend, zu einem dichten Tannenwald, in den wir öfters gingen um Schwammerl zu suchen. Wie leicht war es Pfifferlinge und andere Pilze zu finden. Mich öfters bückend zupfte ich einige weiße oder rosa Blüten von Taubnesseln ab, um ihren süßen Saft auszulutschen. Bevor man in den Wald gelangen konnte mußte man ein Gatter öffnen, in dem Kühe oder Pferde weideten, die dann neugierig auf uns zukamen und um Zucker bettelten. Großvater hatte immer etwas in der Tasche, meistens ein Stück altes Brot das er ihnen geben konnte. Auf dieser Weide standen einige riesige Bäume, Tannen und Eichen. Diese Bäume waren unser besonderes Ziel, denn sie hatten eine unglaublich dicke Rinde und Großvater half mir, davon ein Stück abzuschneiden, um ein Schiffchen zu schnitzen. Er erlaubte das aber nicht so oft, er meinte dann, das sei nicht gut für die Bäume. Die Folge war, den nächsten Ausflug zum Klammerweiher von ihm erbittend um das Rindenschiff mit dem gebastelten Segel darauf schwimmen zu sehen. Diese Spaziergänge, so anstrengend sie für mich waren, mit dem schwachen Bein mitzukommen, erfüllten mich trotzdem ungemein. Nicht nur daß ich ihn vieles fragen konnte, er öffnete mir die Augen für Unbekanntes, für viele Schönheiten der Natur, an denen ich sonst achtlos vorbeigegangen wäre.

Kleinere Spaziergänge führten uns auch auf den Kalvarienberg40.Über unzählige Stufen ging es beträchtlich bergan. Eine langansteigende Treppe war unterbrochen von kleinen weißen Stationskapellen in denen der Leidensweg Christi dargestellt war. Häufig knieten Frauen auf dem Boden, den Rosenkranz in den Händen haltend, sich so Stufe um Stufe emporbetend und dort, wo die Stufen größere Abstände bildeten, auf den Knieen weiterrutschend, büßten und lösten sie ihr Gelübde ein. Ein unverständlicher Vorgang für mich, denn die Treppe schien mir unendlich lang. Oben angekommen sah man zur Rechten, zwischen hoch aufwachsenden Büschen einen Kalvarienberg mit einer großen Kreuzigungsgruppe, mannshohe Figuren aus Stein. Von der Stirnseite der Kirche aus öffnete sich ein weiter Blick auf das Isartal und das Karwendelgebirge41. Bei dieser sich mir bietenden Aussicht fragte ich mich oft, was wohl dahinter, jenseits der Berge kommen würde. Lange konnte ich es hier aushalten, die Wolkengruppen oder hochaufsteigende Gewitterwolken über mich hinwegziehend zu beobachten. Der Platz vor der Kirche mit dieser unvergleichlichen Aussicht war abgeschirmt durch ein festes Geländer, auf dem sich eine Blechtafel mit den eingezeichneten Bergspitzen und dem Panorama des Karwendel befand. Danach, steil abfallendes Gelände hinunter zur Isar, unten begrenzt von einem Buchengehölz auf der Anhöhe des felsigen Isarufers. An dieser Abbruchkante war ehemals ein Bauer mit seinem Fuhrwerk abgestürzt, die Pferde scheuten und hatte sich dabei mehrmals überschlagen. Aus Dankbarkeit für sein Überleben und infolge eines Gelübdes, hatte er nach seiner Rettung hier eine Kapelle errichten lassen. Natürlich mußte Großvater mehrmals diese Geschichte in farbigen Bildern erzählen. Diese Leonhardikapelle42, abseits der großen Kirche stehend ist dem Schutzpatron der Tiere gewidmet und ist natürlich ein besonderer Anziehungspunkt. Um seine Außenmauern spannte sich eine Eisenkette, im Inneren berichteten Motivtafeln43 in anschaulichen Bildern von den verschiedensten Errettungen aus Not, Feuersbrunst oder wundersamen Heilungen. Diese Bilder der kleinen Kapelle beschäftigten meine Träume. Man war eingefangen mitzuerleben, welche Rolle gottgläubiger Bauernkatholizismus im täglichen Leben dieser Menschen spielte. Mich erinnernd an sichtbar gewordenen Aberglauben, heidnisches erahnend, wenn man an einen Bauerhof kam und an dessen Stalltüre Mistgabel und Rechen kreuzweise übereinandergestellt waren. Die große Kirche war mir etwas unheimlich, was mir Kirchen sonst nicht sind. Wann immer ich sie betrat, sie war menschenleer. Auch konnte man seitwärts in ihr noch einige Stufen emporgehen, was ihr etwas Undurchschaubares verlieh. Einmal im Jahr führt der Leonhardiritt44 auf diesen Kalvarienberg des Glaubens. Hunderte von Pferden hatte man herausgeputzt, aufgespannt vor alte wundervoll bemalte Kastenwagen45, die in einer langen Prozession hinauf zu dieser Kapelle zogen, den jährlichen Segen erhaltend, Tier und Wagen einschließend, gleichsam als Versicherung gegen kommendes Unglück. Der Leonhardiritt, meist bei sanfter Oktobersonne, war ein einmaliges Schauspiel. Die Rößer angefeuert zogen diese die bemalten Wagen mit den darinsitzenden trachtentragenden und geschmückten Frauen und Bäuerinnen den steilen Weg bergan. Hinten auf dem Wagen stehend der ‚Brettelhupfer‘, wichtigster Mann bei der ganzen Angelegenheit. Immer dann, wenn die Prozession stockte, sprang er herunter, drehte die Bremse des Wagens zu oder schob einen Keil unter die hinteren Räder. Da entstand natürlich der Wusch auch einmal so einer zu sein. An einem dieser Leonhardifeste durfte ich auch mitmachen. Da Urgroßmutter aus dem Kolberbräu46