Wieder ich selbst - Birgit Abele - E-Book

Wieder ich selbst E-Book

Birgit Abele

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Beschreibung

Nach dem Abitur tritt Birgit Abele, erfüllt von jugendlicher Begeisterung, in eine katholische Gemeinschaft ein und wähnt sich dabei zunächst wie im Himmel. Unter dem Einfluss eines »Seelenführers« lernt sie, den eigenen Willen auszuschalten und vermeintlichen christlichen Idealen zu folgen. Das führt sie zunehmend in ein inneres Gefängnis. Erst nach dem völligen Zusammenbruch wird ihr bewusst, dass mit der Spiritualität der Gemeinschaft etwas Grundlegendes nicht stimmt. Es beginnt ein langer Weg der Befreiung. Auf eindrückliche Weise schildert die Autorin die massive spirituelle Manipulation, der sie ausgesetzt war, und zeigt, wie es ihr Schritt für Schritt gelang, wieder zu sich selbst zu finden und ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Ihr Zeugnis ist eine Ermutigung für alle Betroffenen und ein nachdrücklicher Appell an alle in der geistlichen Begleitung Tätigen, sich ihrer Verantwortung bewusst zu sein.

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © Alexander Metzger

Satz: Barbara Herrmann, Freiburg

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print 978-3-451-39854-4

ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-84854-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-84855-1

Die Gnade setzt die Natur voraus.

Sie zerstört sie nicht, sondern vollendet sie.

(Thomas von Aquin, S. Th. I, q. 2, a. 2 ad 1)

Inhalt

Geleitwort von Peter Hundertmark

Vorwort

1 Wie ich meine Berufung fand

2 Erste Jahre in der Gemeinschaft der Liebe

3 Auf in den Osten

4 In der geschlossenen Stadt

5 Die Krankheit

6 Zur Rekonvaleszenz in den Westen

7 Dunkle Jahre

8 Intensive Spiritualität

9 Neue Zuversicht

10 Zurück nach Deutschland

11 Der Zusammenbruch

12 Das Studium

13 Unter neuer Führung

14 Der Austritt

15 Ein neues Leben

16 Nachwort

Glossar

Anlaufstellen für Betroffene

Hilfreiche Links

Weiterführende Literatur

Epilog von Barbara Haslbeck

Geleitwort

Nach zehn Jahren Beschäftigung mit spirituellem Missbrauch dachte ich, alles schon einmal gehört zu haben. Dann lese ich dieses Buch von Birgit Abele und erlebe den Schock von neuem: wieder Horrordetails, wieder Abgründe unter dem Mantel des Frommen und Katholischen … Es ist so furchtbar leicht, einem Menschen den freien Willen, die Gesundheit, Lebensfreude und Glaubenssehnsucht zu nehmen. So erschütternd einfach. Und der Rückweg ins Leben ist so unendlich schwer und wird so unendlich schwer gemacht.

Denn wer beginnt, über Erfahrungen geistlichen Missbrauchs in Gemeinschaften zu sprechen, stößt im Umfeld rasch auf die Frage, die in die Seele schneidet wie ein Messer ins Fleisch: „Warum?“ „Warum sind Sie da hingegangen? Warum sind Sie geblieben?“ Dieses Buch erzählt davon, wie eine junge Frau voll Idealismus in eine katholische Gemeinschaft hineingegangen ist, wie sie nach und nach in ein Netz aus Manipulation und Machtmissbrauch eingesponnen wurde, wie sie schleichend ihren eigenen Willen genommen bekommt. Das Buch erzählt davon, wie sie in ein inneres Gefängnis gerät, aus dem zu entkommen fast unmöglich ist, obwohl keine Tür real abgeschlossen ist. Wer dieses Buch gelesen hat, weiß, dass er/ sie nie wieder „Warum?“ fragen darf, wenn Menschen von den Schrecknissen ihres Lebens sprechen.

Wer zu sprechen beginnt, trifft unweigerlich auf einen weiteren Widerstand: „Das war doch nur …“ bekommen die Betroffenen dann zu hören. „Das war doch nur spiritueller Missbrauch, nur spiritualisierender Quatsch, nur … und keine Schläge, kein Freiheitsentzug, keine sexuelle Gewalt.“ „Nur …“ ist eine Katastrophe. „Nur …“ ist Selbstschutz derer, die auf die Betroffenen hören sollen, Selbstschutz vor dem, was doch nicht sein kann, weil es nicht sein darf – umden Preis der erneuten Abwertung und Traumatisierung. Wie oft muss jemand von „Selbstverlust und Gottentfremdung“ (Ute Leimgruber, Barbara Haslbeck u. a.), von „Nicht mehr ich“ (DorisWagner/Reisinger) lesen, bis jeder Komparativ, jedes „nur …“, jede Umkehrung von Tätern und Opfern im Halse stecken bleibt?

Über Missbrauch zu sprechen ist die einzige Weise, auf den Pfad der Befreiung und Heilung einzubiegen. Aber die Hürde ist immens. Widerstände von außen und vernichtende Scham und Schuldgefühle von innen. Die Balance zu halten, ist so schwer und so furchtbar kräftezehrend: „Es ist mir passiert – ich war nicht schuld.“ Diese Balance zu halten ist eine der großen Stärken dieser Lebensbeschreibung.

Es gibt keinen Machtmissbrauch ohne Sprechverbote für die Betroffenen und es gibt keinen Machtmissbrauch ohne Hör- und Sehverbote im Umfeld. Wer dennoch spricht, löst sich aus dem Missbrauch. Wer Worte findet und zu sprechen wagt, nimmt dem Missbrauch seine Kraft, wer schreibt, macht die Räume für die Täter enger. Jedes Sprechen ist ein „Erzählen als Widerstand“ (Ute Leimgruber, Barbara Haslbeck u. a.). Wer schreibt, gibt sich und anderen Worte, das Unsagbare zu sagen. Es sind Bücher wie dieses, die das Potential haben, Menschen aus Machtmissbrauch und toxischen Gemeinschaften zu befreien. Wer darin die eigene Situation und Geschichte gespiegelt entdeckt, kann die Kraft bekommen, selbst auszusteigen.

Und dann liegt alles zu Tage – und die Leser:innen müssen nur glauben wollen, was sie kaum glauben können. Glauben wollen bedeutet bereit zu sein, sich existentiell erschüttern zu lassen. Jeder Bericht über geistlichen Missbrauch hat das Potential, den Glauben der Lesenden zu zerstören, ihrer Welt einen irreparablen Riss zuzufügen. Hören wollen, glauben wollen … heißt riskieren, dass die Zerstörung übergreift. Dieses Buch fordert Solidarität mit der Betroffenen und mit allen Betroffenen spirituellen Missbrauchs ein: eine Solidarität bis hinunter in die Wurzeln,die das Leben und den Glauben tragen.

Dieses Buch aber geht weiter als viele andere Berichte. Es erzählt den Weg aus der Verstrickung. Es ist nicht nur die Geschichte eines Missbrauchs, es ist vielmehr und zuerst die Geschichte einer Befreiung – einer Befreiung, die Jahre in Anspruch nimmt. Es ist die Geschichte wiedergefundener Hoffnung, wachsender Kraft, mühsamer Schritte … eine Geschichte von Versuchen, Rückschlägen, Zusammenbrüchen, Neuanfängen, Niederlagen … und Sieg. Bei aller Erschütterung, die es auslöst und auslösen will, ist es ein starkes Hoffnungsbuch, ein Überlebensmittel für die Autorin und für die Leser:innen.

Speyer, 6. Februar 2024

Peter Hundertmark

Peter Hundertmark, geb. 1963, Dr. phil., Pastoralreferent, Geistlicher Begleiter, Exerzitienbegleiter, tätig im Referat Spirituelle Bildung/Exerzitienwerk im Bischöflichen Ordinariat Speyer und auch bekannt durch den Blog https://geistlich.net.

Vorwort

Es war ein gewöhnlicher Mittwoch im Sommer 2021. Im Verlauf einer Teamsitzung an meiner Arbeitsstelle kam unsere kleine Gruppe auf das Thema „Geistlicher Missbrauch“ zu sprechen. Eine Kollegin stellte dabei die Frage in die Runde, was unter diesem Begriff genau zu verstehen sei. Ihre Worte berührten mich im Innersten. Mir wurde bewusst, wie wenig Wissen über das, was ich selbst erlebt hatte, vorhanden ist.

Seit meinem Austritt vor fünf Jahren hatte ich es weitestgehend vermieden, mich mit meinen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Ich wollte vergessen, was hinter mir lag. An diesem Tag brach eine große Wunde in mir auf. Was ich so gut verdrängt hatte, schaffte sich einen Weg ins Bewusstsein und verfolgte mich mit einer derartigen Wucht, dass ich nicht mehr dagegen ankommen konnte.

Schlag um Schlag kamen mir die erlittenen seelischen Verwundungen in Erinnerung. Ich ertappte mich dabei, wie ich innerlich begann, das Erlebte in Sätze zu formulieren. Sollte ich tatsächlich beginnen zu schreiben? Ich erkannte, dass ich gar keine andere Chance hatte, um innerlich wieder ruhig zu werden.

Genau in diese Zeit fiel ein Radunfall, der mir eine sechswöchige Krankschreibung bescherte. Nun hatte ich Zeit! Mit der Tastatur auf den Oberschenkeln – anders wäre es nicht möglich gewesen – machte ich mich ans Werk. Jeden Tag. Mir fiel es unendlich schwer, alles zu Papier zu bringen, denn ich durchlebte es noch einmal. Nach genau sechs Wochen war ich weitestgehend fertig. Ein gutes Stück Verarbeitung war geschehen!

Was sollte nun aus meinem Manuskript werden? Ich gab es mehreren Personen zu lesen, die alle von meiner Niederschrift erschüttert waren und mich zu einer Veröffentlichung ermutigten. Ich zögerte. Würde ich dadurch nicht Personen in ein schlechtes Licht rücken? Nach einem langen Abwägungsprozess entschloss ich mich letztendlich doch zu diesem Schritt. Mir war klar geworden: Wie bei der #MeToo-Bewegung angesichts sexuellen Missbrauchs braucht es auch im Hinblick auf spirituellen Missbrauch Berichte Betroffener, die das Ausmaß der Zerstörung auf allen Ebenen des Menschseins aufzeigen. Je mehr, desto besser.

Mein Buch steht für die vielen Leidtragenden, die nicht den Mut oder die Kraft haben, ihre Erfahrungen aufzuschreiben. Möge es dazu beitragen, geistlichen Missbrauch schneller zu entlarven und Opfer zu schützen. Verantwortliche in der Kirche dürfen nicht länger wegschauen oder das Phänomen bagatellisieren, denn mittlerweile ist bekannt, dass spiritueller Missbrauch genauso tief in die Persönlichkeit eingreifen und ebenso verheerende Auswirkungen auf das Selbstbild und die Lebensfähigkeit der Betroffenen haben kann wie sexueller Missbrauch.

Die Gemeinschaft, in der sich alles zugetragen hat, nenne ich hier die „Gemeinschaft der Liebe“. Um keine Rückschlüsse auf die einzelnen Personen zu ermöglichen, wurden alle Namen geändert.

1Wie ich meine Berufung fand

Frühe Kindheit

1972 wurde ich als Jüngste von drei Geschwistern in eine gutbürgerliche Mittelstandsfamilie aus dem süddeutschen ländlichen Raum hineingeboren. Der katholische Glaube wurde mir sozusagen in die Wiege gelegt: Die Taufe, später dann die Erstkommunion und Firmung waren genauso selbstverständlich wie der sonntägliche Kirchgang und das Tischgebet vor dem Mittagessen.

Die ersten drei Jahre meines Lebens verbrachte ich mit meiner Familie in einer winzigen Dachgeschosswohnung in der Stadt, mehr ließ das finanzielle Budget meiner Eltern damals nicht zu. Diese Zeit wurde von mehreren schweren Erkrankungen meiner Mutter überschattet. Lange Krankenhausaufenthalte und eine Operation führten dazu, dass meine zwei Brüder und ich immer wieder in Familien der Verwandtschaft aufgeteilt werden mussten, damit unsere Versorgung sichergestellt war. Familienhelferinnen gab es damals wohl noch nicht. Die Lage spitzte sich zu, als meine Mutter zum zweiten Mal Tuberkulose bekam und die Medikamente nicht vertrug. Die Ärzte zeigten sich ratlos. In ihrer großen Not wandte sich meine Mutter damals im Gebet an P. Josef Kentenich, den einige Jahre zuvor verstorbenen Gründer der Schönstattbewegung, den sie in ihrer Jugend kennengelernt hatte. Tatsächlich verschwanden auf seine Fürsprache hin alle Krankheitssymptome, und meine Mutter war gesund! Aus medizinischer Sicht gab es dafür keine Erklärung. Gleich darauf erhielten meine Eltern die Baugenehmigung für unser Eigenheim, das nun im Heimatdorf meiner Eltern entstehen sollte.

Als ich vier Jahre alt war, zogen wir in unser neu errichtetes Haus um, das in der letzten Häuserreihe am Rand des Dorfes entstanden war. Wir wohnten nun zusammen mit vielen anderen Familien, die ebenfalls kleine Kinder hatten, in einem Neubaugebiet. An Spielgefährten mangelte es uns nicht. Bald freundeten wir Geschwister uns mit den Nachbarkindern an und verbrachten viel Zeit draußen. Etwas älter, gründeten wir Kinderbanden, veranstalteten Schnitzeljagden oder spielten auf der Wiese hinter unserem Haus Fußball.

Zuhause führten wir ein ziemlich normales Familienleben mit allen Höhen und Tiefen. Der Glaube war ein ganz selbstverständlicher Teil unseres Lebens. Als Kind ging ich ab und zu donnerstagabends mit meiner Mutter in die Kirche. Unser Ortspfarrer, ein Schönstattpriester, hatte eine lebensgroße Statue der Gottesmutter von Fatima für unsere barocke Pfarrkirche besorgt. Diese stand an der rechten Seite am Übergang zum Altarraum und schaute mit ihrem milden und liebevollen Blick auf die Pfarrkinder herab. Dieser Blick beeindruckte mich, er strahlte etwas sehr Warmherziges aus. Ich kann mich an einen solchen Donnerstagabend erinnern, an dem ich nach der Abendmesse noch eine Kerze am Kerzenständer entzündete. Dabei überkam mich das Gefühl, in der Kirche zuhause zu sein. Ich fühlte mich so wohl, dass ich mir vorkam wie bei uns im Wohnzimmer. Am liebsten wäre ich dortgeblieben. Dieser Eindruck begleitete mich lange Zeit.

In den ersten zwei Jahren der Grundschule unterrichtete uns eine Schönstatt-Schwester in Religion. Diese konnte auf faszinierende Weise Geschichten aus der Bibel erzählen, sodass wir wie gebannt ihren Worten lauschten. Die Schwester war sehr lieb zu uns Kindern. Ihr Unterricht prägte sich tief in mein Herz ein.

Mit dem Beten hatte ich es allerdings nicht so. Den Rosenkranz fand ich langweilig, und wenn wir in der Fastenzeit oder im Advent manchmal im Rahmen einer Familienandacht zuhause ein Gesätzchen davon beteten, schien mir dieses endlos lange zu sein. Ich wartete ungeduldig, bis es endlich vorbei war. Eine persönliche Beziehung zu Gott hatte ich damals noch nicht.

Schon bald nahte die Erstkommunion. Unser schon etwas betagter Ortspfarrer übernahm jeweils den Religionsunterricht der dritten Grundschulklasse und bereitete uns auf dieses große Ereignis vor. Außerdem fanden einige Vorbereitungstreffen statt, welche Frauen aus dem Dorf gestalteten. Sie gaben uns Zettel mit einer Liste von guten Werken und den verbleibenden Tagen bis zum Fest. Für jedes durchgeführte gute Werk sollten wir einen Strich beim jeweiligen Tag machen. Da stand zum Beispiel: den Eltern gehorchen, Geschirr abtrocknen, ein Gebet sprechen usw. Weil ich mich bestmöglich auf die heilige Erstkommunion vorbereiten wollte, vollbrachte ich täglich mehrere gute Werke, sodass meine Strichliste am Ende ganz voll war. Als schließlich die Beichte vor dem großen Fest anstand, konnte ich beim Lesen des Beichtspiegels nichts finden, was ich nicht erfüllt oder Schlechtes getan hätte. Ich hatte mich wirklich sehr bemüht. Also wusste ich nicht, was ich beichten sollte. Meine Mutter versuchte mich zu überreden, trotzdem zur heiligen Beichte zu gehen, aber sie konnte mich nicht dazu bewegen, da ich nicht gewusst hätte, was ich dem Pfarrer sagen soll. So kam es, dass ich vor diesem großen Fest nicht beichtete. Heute denke ich, es hätte sich sicher etwas für den Beichtzettel finden lassen, denn heilig war ich ganz gewiss nicht. Aber als Kind verstand ich es eben nicht besser.

Auch außerhalb des Unterrichts lagen unserem Pfarrer die Kinder des Dorfes am Herzen. Er organisierte öfters Filmnachmittage für uns. Dann versammelten sich viele Kinder im großen Saal des Gemeindehauses, und ein Mann mit einer riesigen Filmrolle zeigte lustige und auch nachdenkliche Filme. Ich erinnere mich besonders an einen Film über Fatima, den wir ansahen. Erst wurde die Geschichte der Marienerscheinungen gezeigt mit dem Sonnenwunder, alles in Schwarz-Weiß. Das war sehr eindrücklich. Am Ende des Filmes ertönte ein dringlicher Appell des Filmsprechers, den Rosenkranz für die Bekehrung Russlands zu beten. Den ganzen Nachhauseweg dachte ich erschüttert über die Worte der Gottesmutter nach: „Betet den Rosenkranz, und Russland wird sich bekehren.“

In unserem Dorf bestand eine Schönstatt-Mädchengruppe, der ich ungefähr neunjährig beitrat. Diese wurde von zwei älteren Mädchen aus dem Dorf geleitet. Das Treffen im Keller des Pfarrgemeindehauses begann immer mit einem kurzen Gebet und der Schönstatt-Marienweihe „O meine Gebieterin, o meine Mutter …“, zu der wir uns vor einem Bild der Gottesmutter versammelten. Ich war allerdings froh, wenn das vorbei war, und freute mich auf den zweiten Teil, wenn wir miteinander bastelten oder Spiele machten. Das machte Spaß.

In der Freizeit ging ich meinen eigenen Interessen nach. Ich lernte Klavier, war im Sportverein, liebte das Spielen mit den Nachbarkindern und las für mein Leben gern Bücher. Ich glaube, irgendwann hatte ich fast alle Bücher der Schulbibliothek gelesen.

Leider kam es in der Grundschule oft vor, dass weniger begabte Schüler/innen von unseren Klassenlehrer/inn/en vor der ganzen Klasse bloßgestellt wurden. Das tat mir sehr weh, und ich litt förmlich mit ihnen mit. Vielleicht lagen mir gerade deshalb die schwächeren Schüler/innen sehr am Herzen. In meiner Freizeit erteilte ich gleich mehreren Klassenkamerad/ inn/en Nachhilfeunterricht, damit sie ihre Leistungen verbessern konnten.

Immer wieder sprach unsere Mutter, die einer SchönstattMüttergruppe angehörte, mit uns Kindern über den Glauben. Diese Gespräche waren interessant, und ich konnte viel davon für mich mitnehmen. Mich beeindruckte, wie geradlinig meine Eltern ihren Weg mit Gott gingen. Heute kann ich sagen, dass sie einen bodenständigen Glauben hatten, der ihnen half, die Schwierigkeiten des Lebens zu bewältigen.

Religiöse Rituale gehörten ganz selbstverständlich zu unserem Alltag. Bevor wir morgens aus dem Haus gingen, versammelte meine Mutter uns Kinder im Hausgang und machte uns mit Weihwasser ein Kreuzchen auf die Stirn. Es folgte noch ein kurzes Gebet zum Schutzengel, das allerdings manchmal ausfallen musste, wenn wir schon spät dran waren. Aber zumindest das Weihwasser war obligatorisch!

Abends, wenn wir uns schon im Bett befanden, kam meist meine Mutter noch zu uns und betete ein kurzes Abendgebet oder sang ein Lied, z. B. „Müde bin ich, geh zur Ruh“. Ganz besonders schätzte ich es, wenn sie sich Zeit nahm, um noch mit uns zu reden.

Am Palmsonntag war es in unserem Dorf Brauch, lange Holzstangen mit buntem Stanniolpapier und Buchszweigen zu schmücken und dann in der Dorfkirche aufzustellen. Dabei bestand ein heimlicher Wettbewerb, wer den längsten sogenannten „Palmen“ hatte. Eines Jahres setzten wir uns als Familie das Ziel, den längsten Palmen zu kreieren. Mein Vater besorgte eine sehr lange Holzstange. Diese legte er in unserem damals noch nicht ausgebauten Dachgeschoss der Länge nach auf Stützen, und schon Wochen vor dem Palmsonntag begannen wir mit dem Schmücken. Es war ein richtiges Familienprojekt. Endlich kam der große Tag. Stolz trugen wir alle zusammen unseren perfekt geschmückten Palmen in die Kirche. Doch als wir ihn aufstellen wollten, kam die böse Überraschung: Er stellte sich als zu hoch heraus und bog sich an der Kirchendecke um! Da half nichts, mein Vater musste die Säge holen und ihn kürzen. Am Ende war er allerdings einige Zentimeter kürzer als ein anderer Palmen, der ganz genau bis zur Kirchendecke reichte. So waren wir also mit unserem Übereifer etwas übers Ziel hinausgeschossen.

Unsere Eltern gaben uns ein gutes Beispiel in der Nächstenliebe. Immer wieder lud meine Mutter alleinstehende Personen aus dem Dorf zum Essen ein oder besuchte einsame Menschen im Altenheim. Als meine Großmutter väterlicherseits pflegebedürftig wurde, holten sie meine Eltern zu uns nach Hause und pflegten sie über viele Jahre hinweg. Dies war sehr zeitintensiv, da sie als Parkinson-Patientin im Endstadium völlig gelähmt war und sich nicht mehr bewegen konnte.

In der Realschule

Obwohl ich eine Empfehlung fürs Gymnasium hatte und eine der Besten meiner Klasse war, sollte ich auf den Wunsch meiner Eltern hin eine Mädchenrealschule besuchen. Sie erachteten es als sinnvoll, dass ich als Mädchen auch lebenspraktische Dinge wie Kochen und Nähen lernte, außerdem genoss die Schule ein hohes Ansehen und stand unter der Leitung von Ordensschwestern. In der fünften Klasse wurde eine Gitarren-AG angeboten, in der ich Gitarre spielen lernte, was mir viel Freude bereitete. Des Weiteren machte eine Ordensschwester ein Angebot für Altflöte, das ich ebenfalls wahrnahm, und schließlich durfte ich sogar in der Schülerband auf dem E-Piano mitspielen.

Ansonsten fühlte ich mich in der Schule allerdings nicht wohl. Wir hatten mehrere ältere Ordensschwestern als Lehrerinnen, die wohl mit dem Unterrichten überfordert waren. Immer wieder gingen sie uns Schülerinnen grob an. Ich erinnere mich an eine Situation im Werkunterricht: Im Werkraum, einem dunklen Kellerraum, sollten wir einen Schwan aus Ton modellieren. Dabei hielt bei mir der lange Hals nicht und brach immer wieder ab. Als die Schwester zu mir kam, schimpfte sie mich deswegen und stellte mich als dumm hin. Ich brach daraufhin in Tränen aus. Aus Angst vor ihr beugte ich mich unter den Tisch und tat, als würde ich dort etwas Heruntergefallenes suchen, damit sie meine Tränen nicht sehen konnte. Die ganze Atmosphäre im Unterricht erlebte ich als angespannt, wir Kinder hatten oft Angst. Auch ansonsten nahm ich die Einstellung der Schwestern als engstirnig wahr.

Nicht nur in der Schule, sondern sogar in den Sommerferien begegnete ich Ordensschwestern. Da eine Freundin meiner Mutter bei den Schönstattschwestern eingetreten war und tolle Jugendfreizeiten organisierte, nahm ich in den Sommerferien mehrere Jahre hintereinander an einer solchen Mädchenfreizeit teil. Das Programm gefiel mir gut, aber die Atmosphäre im Kloster erlebte ich auch hier als sehr eng. So nahm eine ältere Ordensschwester Anstoß an meiner kurzen Hose, die nicht über das Knie reiche und daher nicht angemessen für ein Kloster sei. Ich war verwirrt und konnte dies nicht nachvollziehen, da mir meine kurze Hose, die ja knapp über dem Knie geendet hatte, keineswegs als unanständig erschien. Schließlich ließ ich sie im Koffer liegen und zog nur noch eine längere Hose an, die ich Gott sei Dank auch dabeihatte.

Obwohl ich viel mit Ordensschwestern im Kontakt war, kam mir nie der Gedanke, in ein Kloster zu gehen. Meine diesbezüglichen Erfahrungen gestalteten sich als eher abschreckend. Für mich war klar, einmal zu heiraten und Kinder zu bekommen.

Im Gymnasium

Manchmal, wenn wir einen schulfreien Tag hatten, durfte ich mit meinen Brüdern ins Gymnasium mitkommen und mich in ihren Unterricht setzen. Da ging es ganz anders zu! Das Miteinander war viel lebendiger, schon allein dadurch, dass die Klassen gemischt waren. Das gefiel mir! Nach der siebten Klasse wechselte ich schließlich von der Realschule aufs Gymnasium. Drei meiner Freundinnen kamen mit. Ich lebte auf. Die Jungs in unserer Klasse waren zwar sehr frech und stellten alle möglichen Dinge an, um uns „Neue“ zu ärgern, aber irgendwie fühlte ich mich dort freier. Mich gegen die Jungs behaupten zu müssen, tat mir gut, denn ich war eher schüchtern.

Mein Kinderglaube verlor im Laufe der Pubertät immer mehr an Bedeutung. Mit fünfzehn hörte ich sogar vollständig auf zu beten. Mir sagte die Kirche nichts mehr. Ich ging zwar sonntags mit zur heiligen Messe, konnte aber nicht mehr viel damit anfangen. Stattdessen begann ich mich für esoterische Bücher zu interessieren. Besonders ein Buch über Geistheilung fand ich spannend. Dort stand, jeder könne diese Fähigkeiten erwerben. Ich begann zu meditieren. In dieser Zeit hatte ich meinen ersten „Freund“, ein Junge aus meiner Klasse. Allerdings endete unsere Freundschaft, wie dies in diesem Alter üblich ist, nach einigen Wochen wieder. Die neuen Erfahrungen verwirrten mich. Ich wusste nicht mehr, was ich wollte, und musste meine eigenen Werte erst finden.

Mir war die innere Orientierung abhandengekommen. Eine unendliche Sehnsucht nach Liebe durchdrang mich, daher suchte ich bei den Menschen nach Erfüllung. Doch innerlich war ich verwirrt und unglücklich. Zunehmend verlor ich den Kontakt zu mir selbst und bemerkte, wie ich immer egoistischer wurde. Als ich schließlich schon daran dachte, mich von meiner langjährigen Freundin Beate zu trennen, in der Annahme, nicht mehr zu ihr zu passen, erschrak ich über mich selbst. Mir wurde bewusst, dass ich mich auf einem Irrweg befand, und ich spürte, dass ich wieder Halt im Leben brauchte. Deshalb wandte ich mich Gott mit der Bitte zu, er möge mir helfen.

Die Bekehrung

Vielleicht etwas naiv, aber durchaus mit gutem Erfolg, stellte ich mich vor mein Bücherregal, schloss meine Augen und bat Gott, mir ein Buch zu zeigen, das mir weiterhelfen solle. Mein Finger fiel auf ein Buch der heiligen Birgitta von Schweden, welches ich einmal zum Namenstag geschenkt bekommen hatte. Dieses fristete völlig unberührt und etwas verstaubt sein Dasein im Regal. Ich war eher enttäuscht und begann anfangs ziemlich uninteressiert darin zu lesen, aber mit der Zeit begann mich das Buch zu faszinieren. Die große Liebe der heiligen Birgitta, ihr Leben als Familienmutter und dann als Ordensfrau zogen mich an. Ihr Vorbild schien mir nachahmenswert. Ja, ich wollte so werden wie sie! Mit großer Mühe fing ich wieder an zu beten. Die esoterischen Bücher verbrannte ich, ich war ein für alle Mal von diesem Gedankengut geheilt. Schließlich ging ich nach über einem Jahr wieder zur Beichte. Es kostete mich unglaublich viel Überwindung, alles auszusprechen, aber danach fühlte ich mich erleichtert und glücklich wie lange nicht mehr! Ich lebte wieder mit Gott, und das machte mich sehr froh. Jetzt baute ich mein Lebenshaus auf Fels. Mir wurde klar: Wenn ich eine Beziehung will, dann soll sie auf Gott gegründet sein. Das Ideal meiner Mutter, „rein“ in die Ehe zu gehen, bekam einen Sinn.

Von nun an interessierte mich alles, was mit dem katholischen Glauben zu tun hatte. Meine Mutter stand damals in Kontakt zu einer älteren Frau, die ein riesiges Regal voll mit katholischer Literatur hatte. Ich ging öfters mit zu ihr und kam jedes Mal mit einem Stapel neuer Bücher zurück: Fatima, Lourdes, Garabandal, Montechiari – was es da nicht alles zu entdecken gab! Mir ging eine neue Welt auf. Man solle viel beten, um die Wünsche der Gottesmutter zu erfüllen, da ansonsten schlimme Dinge geschehen würden, das prägte sich mir ein! Vor allem der Rosenkranz sei sehr mächtig, las ich da. Ich erinnere mich, wie ich eines Abends in meinem Zimmer saß, eine Kerze anzündete und versuchte, einen Rosenkranz zu beten. Die Gebete musste ich ablesen, da ich sie nicht auswendig konnte. Das Ganze dauerte schließlich über eine Stunde und war ziemlich mühsam. Aber ich hatte es geschafft! Von da an betete ich öfters den Rosenkranz, und allmählich gewöhnte ich mich daran.

Ich hatte aber auch Angst wegen der Prophezeiungen, von denen die Bücher handelten. Eine gute geistliche Begleitung hätte hier Abhilfe schaffen können. Aber ich wusste nicht, an wen ich mich hätte wenden können. Meine Brüder gehörten zu dieser Zeit der KPE an, sprich der Katholischen Pfadfinderschaft Europas. Wie gern wäre ich auch Teil dieser Bewegung geworden, aber bei uns gab es leider keine Mädchengruppe. Heute bin ich froh darüber, denn was meine Brüder erzählten, zeugte im Nachhinein betrachtet keineswegs von einer gesunden Spiritualität.

Medjugorje

Über die Pfadfindergruppe meiner Brüder hörte ich zum ersten Mal von den Marienerscheinungen in Medjugorje. Aus unserer Gegend fuhren erste Pilgerbusse dorthin. Ein Busunternehmen der Region organisierte bald einen Jugendbus, zu dem meine Freundin Beate und ich uns umgehend anmeldeten. Was ich dort erlebte, war überwältigend. Ich sah viele Jugendliche aus aller Welt, die sehr glücklich schienen. Wir machten das übliche Pilgerprogramm mit. Eines Nachmittags bei der Anbetung in der völlig überfüllten Pfarrkirche erlebte ich plötzlich wie nie zuvor die Liebe Gottes zu mir. Ein Gefühl unbeschreiblicher Zärtlichkeit erfüllte mich durch und durch. Das war endlich die Liebe, die ich immer gesucht hatte! Diese Erfahrung veränderte mein Leben. Ich erkannte, dass Gott meine tiefste Sehnsucht erfüllen konnte. Damals kam mir zum ersten Mal der Gedanke, vielleicht einmal mein Leben ganz ihm zu schenken. Unendlich glücklich kehrte ich nach Hause zurück.

Von nun an fuhren Beate und ich jedes Jahr zum Jugendfestival nach Medjugorje, das für uns immer einen Höhepunkt im Jahreslauf darstellte. Einige Jugendliche aus unserer Gegend zeigten sich wie wir begeistert von ihren dortigen Erfahrungen. Nach unserer zweiten Busfahrt schlossen wir uns zusammen und gründeten einen kleinen Gebetskreis, der sich künftig wöchentlich in verschiedenen Häusern traf. Dieser Kreis wurde für mich fortan zu einer geistigen Kraftquelle.

Ich bemühte mich, die Botschaften der Gottesmutter zu leben, und betete die empfohlenen drei Rosenkränze pro Tag. Das empfand ich als gar nicht so schwierig, wie ich anfangs befürchtet hatte. Die monatliche Beichte in der nächstgelegenen Stadt wurde selbstverständlich, und ich besuchte, wenn es irgendwie möglich war, täglich die heilige Messe. Mit einer älteren Frau aus unserem Dorf konnte ich jeden Morgen in die Frühmesse mitfahren und somit schon vor der Schule den Gottesdienst besuchen. Auch Beate kam, und wir liefen danach gemeinsam zum Unterricht. Das waren sehr schöne Erfahrungen. Wenn es einmal nicht klappte, etwa weil die Frau krank war, fehlte mir etwas Wesentliches.

Bald darauf fuhren auch meine Eltern nach Medjugorje. Von da an bemühten auch sie sich, mehr zu beten. Wenn sie morgens, bevor mein Vater zur Arbeit ging, zusammen meine Oma wuschen und verpflegten, beteten sie nebenher gemeinsam den Rosenkranz. Ich freute mich, dass wir nun zusammen diesen Weg gingen. Wir gründeten gemeinsam mit meinen Eltern, zwei meiner Freundinnen und einigen anderen Erwachsenen aus der Gegend einen kleinen Hausgebetskreis. Dieser traf sich einmal pro Monat in den verschiedenen Häusern. Die Treffen empfand ich als schön und stärkend. Nach dem gemeinsamen Gebet und Gesang, zu dem ich Gitarre spielte, tauschten wir uns aus und aßen eine Kleinigkeit.

Innerer Kampf

Im Gebet erlebte ich nun immer öfters diese intensive Liebe Gottes zu mir. Wenn ich die Heilige Schrift aufschlug, traf ich nicht selten auf wunderschöne Stellen des Liebeswerbens Gottes um meine Seele, viele davon aus dem Alten Testament oder den Psalmen. Ich war dann zutiefst ergriffen und fragte mich: Wollte Gott etwa, dass ich ihm mein Leben schenke? Ich fühlte mich von diesem Gedanken angezogen. Aber gleichzeitig wollte ich nichts davon wissen. Denn ich hatte vor zu heiraten und eine Familie zu gründen. Ohne die Liebe und Zärtlichkeit eines Mannes zu leben, schien mir nicht möglich. In mir begann ein heftiger innerer Kampf, der sich über mehrere Jahre hinzog. An einem Tag war ich mir sicher zu heiraten, am nächsten konnte ich mir vorstellen, in ein Kloster zu gehen.

Die erste Begegnung mit der Gemeinschaft der Liebe

Im Sommer 1991 nahm ich gemeinsam mit Beate und einigen Freundinnen aus der Gebetsgruppe am Weltjugendtag in Tschenstochau teil, damals war ich 18 Jahre alt und stand kurz vor dem Abitur. Von einer Wallfahrtsstätte in Süddeutschland aus fuhren mehrere Jugendbusse dorthin. Für mich war es die erste Fahrt nach Osteuropa. Die einfachen Häuser und das ärmliche Aussehen der Bevölkerung in Polen hinterließen in mir einen tiefen Eindruck. Mit der Zeit fanden wir heraus, dass sich unter den Jugendlichen junge Schwestern und Brüder einer geistlichen Gemeinschaft befanden. Wir beobachteten sie genau und versuchten herauszufinden, wer von ihnen dazugehörte. In Tschenstochau angekommen, wurden wir in einer Schule untergebracht, da unsere ursprünglich geplante Unterkunft durch ein Versehen doppelt gebucht worden war. Isomatte an Isomatte schliefen wir in Schlafsäcken auf dem Boden der Klassenzimmer. Die sanitären Anlagen bestanden aus einer Schultoilette pro Etage. Duschen gab es keine. In unserem Zimmer lag auch Jenny, eine der Schwestern dieser Gemeinschaft.

Einmal sprachen wir sie an und stellten ihr Fragen über ihre Gemeinschaft. Jenny nahm sich viel Zeit und erlaubte uns, ab sofort zum täglichen Gebetstreff, bei dem sich die Mitglieder der Gemeinschaft draußen auf dem Rasen versammelten, zu kommen. Das empfanden wir als große Ehre. Die Schwestern und Brüder sangen Lieder und beteten einige Gesätzchen des Rosenkranzes, zu dem sie freie Betrachtungen formulierten. Noch nie hatte ich auf diese Weise den Rosenkranz gebetet, es gab dem Gebet eine große Tiefe und Innigkeit. Die Erinnerung daran prägte sich mir ein. Als das Jugendtreffen vorbei war, verloren wir den Kontakt zu Jenny, die damals in Italien lebte.

Berufung

Nach den Sommerferien begann mein letztes Schuljahr. Ich fing an, mich intensiv mit der Frage zu befassen, welchen Beruf ich ergreifen möchte. Nach so vielen Jahren des Lernens wuchs in mir der Wunsch, etwas Praktisches zu machen. Da ich mir immer noch nicht sicher war, ob ich einmal heiraten oder in einen Orden eintreten würde, sollte es idealerweise etwas sein, das für beide Optionen passte. Meine Mutter interessierte sich damals sehr für Naturheilkunde, stellte selbst Tinkturen und Salben her und übte Fußreflexzonenmassage aus. Dieser Bereich interessierte mich. Ich hatte vor, in ihre Fußstapfen zu treten und eine Heilpraktiker-Praxis zu eröffnen. Schließlich entschied ich mich für eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Sollte ich Heilpraktikerin werden, wäre dies eine sehr gute Grundlage für diesen Beruf, und wenn ich in einen Orden ginge, könnte ich diese Ausbildung auf jeden Fall gut anwenden. Da meine Freundin Beate Kinderkrankenschwester werden wollte, wählten wir beide das gleiche Krankenhaus für unsere Ausbildung. Wir entschieden uns für das missionsärztliche Institut in Würzburg, das einen sehr guten Ruf hatte. Durch eine Medjugorje-Fahrt kannten wir bereits mehrere junge Menschen in dieser Gegend, mit denen wir den Kontakt hielten. Außerdem befanden sich dort mehrere Gebetskreise und ein reichhaltiges geistliches Angebot, was wir als wichtig erachteten.

Das letzte Schuljahr vor dem Abitur gestaltete sich lernintensiv, und auch mein Freizeitprogramm war gut gefüllt: Aerobic, zwei Gebetskreise, ein Bibelkreis, Anbetung und Kirchenchor. Mein tägliches Programm kannte keine Lücken. Nachdem endlich die große Hürde des Abiturs geschafft war, fühlte ich mich frei wie noch nie! Nun konnte ich endlich mit meinem Leben machen, was ich wollte.

Mit Beate und Miriam, einer weiteren Freundin, unternahmen wir erst einmal eine Fahrt nach Frankreich, wo wir verschiedene Orte besuchten und am Jugendtreffen der Gemeinschaft Emmanuel teilnahmen. Dort fühlten wir uns allerdings nicht so wohl, uns fehlte die spirituelle Tiefe und mehr Zeiten für Stille. Daher reisten wir verfrüht ab.

Darauf folgte eine Reise nach Italien, ebenfalls mit Beate und Miriam. Hier planten wir verschiedene Gemeinschaften und Klöster in unser Programm ein, um uns diese anzuschauen. Denn auch die beiden überlegten sich, vielleicht in einen Orden einzutreten. Darunter war auch die Gemeinschaft der Liebe. Allerdings besuchten wir nur eine Außenstation der Gemeinschaft, da sich in den anderen Niederlassungen viele in der Sommermission in Russland aufhielten. Durch die Umstände befand sich hier gerade nur eine Schwester im Einsatz, die andere hatte Urlaub. So bekamen wir vom Gemeinschaftsleben nicht viel mit. Wir sahen, dass die Schwester mit Arbeit überhäuft war. Sie tat mir deswegen leid, und wir halfen ihr. „Nein, so ein Leben wollte ich nicht“, dachte ich mir. Mich zog es eher in einen kontemplativen Orden, bei dem nicht so viele Ablenkungen von außen die innige Beziehung zu Gott störten.

In Italien schauten wir uns auch die „Oasi della Pace“ an, eine kontemplative Gemeinschaft, die durch Medjugorje entstanden war. Diese entsprach meinen Vorstellungen mehr. Tatsächlich hätte ich mir damals ein Leben in dieser Kommunität vorstellen können.

Wieder zurück von unserer Reise, wurde für mich die Frage, wie ich mich entscheiden würde, immer drängender. Bei einer Anbetung an einem Wallfahrtsort verstand ich schließlich, dass Jesus mich ganz für sich wolle. Ich erlebte dies innerlich wie einen „Heiratsantrag“ von ihm. Sein Werben war mächtig, aber auch mein innerer Widerstand.Auf alles verzichten: Mann, Freunde, Freiheit, wie sollte ich das schaffen? Schließlich tätigte ich einen großen Willensakt: Ich rang mich durch zu einem Ja zu Jesus, irgendwoher kam die Kraft dazu. Dieser ging durch mein ganzes Inneres hindurch, zerriss mich fast, aber schließlich war sie da: eine unendliche, riesige Freude, ganz und gar Jesus zu gehören. Ich hatte mich für ihn entschieden, er erwählte mich als seine Braut, welch ein Privileg! Ich war überglücklich.

Leider hatte ich in dieser Zeit keine geistliche Begleitung. Ich wusste nicht, dass es in einer solchen Frage gut gewesen wäre, mich mit einem Seelsorger zu besprechen und mich ihm zu öffnen. Daher behielt ich mein „Geheimnis“ für mich, wollte erst mal sehen, wie sich alles entwickelte. Wenn ich dann wüsste, wo ich eintreten würde, könne ich anfangen darüber zu sprechen, schien mir. Nur Beate weihte ich ein.

Mein Leben war ab diesem Moment anders. Ich hatte mich für ein gottgeweihtes Leben entschieden. Meine eigenen Pläne stellte ich also zurück, um herauszufinden, wo Gott mich haben wollte. Da meine Ausbildung erst im nächsten Frühling beginnen sollte, stand mir zunächst ein halbes Jahr zur freien Verfügung. Ich wollte diese Zeit nützen, um meine Beziehung zu Jesus zu vertiefen und mir verschiedene Klöster anzuschauen, damit ich eine gute Wahl treffen konnte.

Ich bat Gott um ein Zeichen, wie und wo ich dieses halbe Jahr verbringen solle. In diesem Anliegen begann ich auch die 33tägige Vorbereitung auf die Marienweihe nach dem heiligen Ludwig Grignion von Montfort. Nach einem Praktikum im Krankenhaus half ich meinen Eltern zunächst beim Garten-Umgraben. Jeden Tag wartete ich auf das „Zeichen“. Es ließ nicht lange auf sich warten: Meine Freundin Melanie fragte mich, ob ich mit ihr zusammen die „Gemeinschaft der Liebe“ besuchen möchte. Diese befand sich seit kurzem in einer Niederlassung in Süddeutschland. Da sie nicht allein fahren durfte, erklärte ich mich gerne bereit mitzukommen. Ich war gespannt.

Der Besuch

Wenig später fuhren wir mit dem Zug zur Niederlassung. Jenny, die jetzt auch dort lebte, und eine andere Schwester holten uns ab. Wir wurden auf italienische Art begrüßt, das heißt, Wange auf Wange,und das auf beiden Seiten. Auch alle anderen Schwestern begrüßten uns so. Das empfand ich als ungewohnt, aber schön. Hier lebten ungefähr fünfzehn junge, fröhliche Schwestern. Sie wohnten in einem großen, urigen Haus, das den Sommer über Kindern aus dem Kinderheim zur Erholung diente und von einem großen Grundstück mit Laubbäumen umschlossen wurde. Die Toiletten und Waschbecken waren kindgerecht und deshalb sehr niedrig. Das störte uns aber nicht weiter.

Die Schwestern zeigten uns Fotoalben von der Gemeinschaft. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, wie jung und glücklich alle Schwestern auf den Fotos aussahen. Wir erfuhren von den verschiedenen Niederlassungen der Gemeinschaft in Italien, Österreich und der Slowakei. Obwohl die Schwestern betonten, von der „Göttlichen Vorsehung“ zu leben, das heißt von Spenden, wohnten sie in schön eingerichteten Häusern. Mich überraschte sehr, wie dies möglich sei.

Tagsüber nahmen wir an den Gebetszeiten der Schwestern teil. Die tiefe Spiritualität und die schöne Gestaltung der Gebete mit vielen Liedern sprachen mich im tiefsten Herzen an. In der übrigen Zeit halfen wir bei der Apfelernte und sammelten kistenweise Äpfel von den umliegenden Bäumen. Auch verarbeiteten wir viele Kilo Bohnen, welche die Schwestern geschenkt bekommen hatten. So funktioniert also die Göttliche Vorsehung, dachte ich! Wir durften die Schwestern duzen, einschließlich der Generaloberin Moni. Sie setzte sich zu uns, putzte mit uns Bohnen ein und begann ein zwangloses Gespräch. Das war so ganz anders, als ich es in den Klöstern, die ich von früher her kannte, erlebt hatte: unkompliziert, fröhlich und herzlich. Solche Schwestern hatte ich noch nicht kennengelernt. Sie kümmerten sich liebevoll um Melanie und mich.

Schließlich war unser Aufenthalt vorbei, und wir wollten wieder abfahren. Die Schwestern erwarteten allerdings für den Abend dieses Tages hohen Besuch: Georg, der Mitbegründer der Gemeinschaft, sollte kommen und zum ersten Mal nach sehr langer Zeit die Schwestern besuchen. Jenny sagte uns, wir hätten Glück, gerade jetzt bei ihnen zu sein, denn dies sei ein ganz besonderes Ereignis. Sie drängte uns, noch einen Tag länger zu bleiben, um Georg kennen zu lernen. Dies sei eine einmalige Gelegenheit, die wir nicht verstreichen lassen sollten. Wir ließen uns überreden. Jenny erzählte uns, Georg sei Lehrer und unterrichte in der Slowakei an einem Gymnasium. Außerdem habe er Theologie studiert und wolle Priester werden. Alle freuten sich riesig, und so war ich sehr gespannt auf „Georg“. Am Abend reiste er an, mit einem Köfferchen in der Hand, eher klein und schmächtig und Anfang vierzig. Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt und konnte im ersten Moment nichts Besonderes an ihm finden.

Am nächsten Tag bot sich die Gelegenheit, Gespräche mit Georg zu führen. Viele der Schwestern nahmen das Angebot wahr. Jenny legte auch Melanie und mir nahe, mit ihm zu sprechen. Ich zögerte zunächst, denn Melanie hatte von einer Schwester gehört, Georg könne einem sagen, ob man eine Berufung für das gottgeweihte Leben habe. Eigentlich wollte ich nicht mit ihm darüber sprechen und meine Entscheidung erst noch für mich behalten, um ungebunden zu sein. Ich sagte Jenny, ich wisse gar nicht, was ich mit ihm besprechen solle, doch sie meinte, ich könne einfach mal zu ihm ins Zimmer gehen, der Rest würde sich dann ergeben. Ein Gespräch mit ihm sei etwas ganz Besonderes, daher sei es gut, die Gelegenheit zu nützen. Also gab ich nach. Ich war unendlich aufgeregt. Würde er mir meine innere Wahrnehmung bestätigen? Schließlich war ich an der Reihe. Georg bat mich, mich zu setzen, und fragte mich, was ich so mache. Als ich ihm erzählte, dass ich gerade freie Zeit zur Verfügung habe, bot er mir an, eine gewisse Zeit in der Gemeinschaft zu verbringen, wenn ich das wolle. Er ließ mir das aber ganz frei. Ich war sehr froh, dass er mir nichts über meine Berufung gesagt hatte.

Sein Angebot gefiel mir. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es möglich war, unverbindlich in einer Gemeinschaft mitzuleben, und fand das sehr großzügig. Also vereinbarte ich mit der Generaloberin Moni, dass ich bald kommen und bis Weihnachten bleiben würde. Nun mussten wir aber wirklich abreisen, denn am nächsten Tag feierte ich meinen 20. Geburtstag. Auch Melanie gefiel es in der Gemeinschaft sehr gut. Sie blieb weiterhin in Kontakt mit den Schwestern, während sie ihre Altenpflegeausbildung absolvierte.

Kloster auf Zeit