Wiener Wohn-Sinn - Christoph Mandl - E-Book

Wiener Wohn-Sinn E-Book

Christoph Mandl

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Beschreibung

Von Herrn Paradeisers roter Nase, Herrn Jians Tai-Ji-Institut, der Hausmeisterin mit dem Coca-Cola-Zimmer und Architekt Brenners Wohnmaschine, mitten in Rudolfsheim-Fünfhaus: In Christoph Mandls Gemeindebau-Buch begegnen einem Typen, Phänomene, nahezu unbekannte Orte rund um den kommunalen Wohnbau des "Roten Wien". Der Gemeindebau stellt international nach wie vor eines der großen politischen Wunder dar, die diese Stadt hervorbrachte und die - abgewandelt und abgeschwächt - noch immer wirksam sind. Das Buch erzählt von den Tausendstundenhäusern, die armen Wohnungssuchenden übergeben wurden, denen tausend Stunden Arbeitsleistung als Eigenbeitrag abverlangt wurde, von den Gemeinschaftsküchen, dem Arbeiter-Theater und Einrichtungen wie dem Arbeiter-Radio-Bund Österreichs, die in den Gemeindebauten untergebracht waren. Es ist ein Lese- und ein Faktenbuch entstanden, das von der Geschichte über die Architektur bis hin zu den sozialen Rahmenbedingungen alle Aspekte des Phänomens "Wiener Gemeindebau" darstellt.

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Seitenzahl: 96

Veröffentlichungsjahr: 2016

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www.tredition.de

Christoph Mandl

Wiener Wohn-Sinn

Wiener Gemeindebau von den Anfängen bis

www.tredition.de

© 2016 Christoph Mandl

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-1196-7

Hardcover:

978-3-7345-1197-4

e-Book:

978-3-7345-1198-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

INHALT

Hineinspaziert ins pralle Leben

Bau-Geschichte(n). Warum es so ist, wie es ist

Geschichte und Geschichten

Der Bau an sich

Der Bau, das Biotop

Bau-Juwelen

Vor-Gebaut

Wer, wie, wo

Hineinspaziert ins pralle Leben

Der Herr Paradeiser fällt mir immer als erstes ein, wenn ich an meine persönlichen Gemeindebau-Erinnerungen denke. Jedes Mal, wenn es an der Tür im Stockwerk unter uns wild metallisch raschelte, war mein Einsatz gefragt. Herr Paradeiser, dem wohl der liebe Gott höchstpersönlich diesen typisch wienerischen Namen ob seiner weithin leuchtenden knolligen Nase verliehen haben musste, kehrte durstgestillt nach Hause. Leider fehlte ihm, abgefüllt wie er dann war, jegliches Zielvermögen für das Bedienen seines Wohnungsschlüssels. Dazu aber hatte er ja mich, den guten Nachbarn von oben. Er quittierte meine Sperrhilfe jedes Mal mit einem lallenden „Dankeschön“.

Ober uns wohnte die blade, allein erziehende Frau Swoboda mit ihrer ebenso bladen Tochter. Die hellhörigen Decken und Wände ermöglichten es mir, schon in frühen Jahren Radio Niederösterreich samt dessen bodenständiger Hitparade ausführlich kennen zu lernen. Leider aber bewegten sich die beiden Swobodas auch zwischen ihren Zimmern hin und her. Das erinnerte dann immer an schweres Möbelrücken.

Beide Erinnerungen sind verknüpft mit tiefer Dankbarkeit. Die Simmeringer Gemeindewohnung erlöste mich und meine damals noch sehr kleine Familie aus Zimmer-Küche-Altbau mit Außenklo und Innenkaltwasser im aufzuglosen vierten Stockwerk.

Luft, Licht und Sonne bedeutete die Übersiedlung, ein bisschen Grün, saubere Stiegen, eine Küche mit funktionierendem Gasherd und sogar ein Bad mit Wanne!

Diese sehr sehr persönlichen Erinnerungen an das Leben im Bau der 1970er sind wohl nichts gegen die Gefühle, die Wiener Menschen in den frühen Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts hegten, als sie aus ihren feuchten Löchern und Baracken in neue, luft- und lichtdurchflutete Wohnungen übersiedeln durften.

Da ging es nicht um kleine Fragen des Komforts. Da ging es darum, ob der Nachwuchs in trockenen Räumen schlafen und so leichter der Lungentuberkulose entgehen konnte. Oder, dass man sich sein Bett

nicht mehr mit Fremden teilen musste: in den Wucher-Zinshäusern waren die Mieten so hoch, dass sogenannte Bettgeher gleichsam im Schichtbetrieb die Schlafstätten der Bewohner benutzten und dafür bezahlten.

Gemeindebau – das ist Ausdruck eines Lebensgefühls. Damals wie heute. Einmal mehr, einmal weniger, aber immer eine bestimmte Wohnform, der mehr gemeinsam ist, als nur ein gemeinsamer Hauseingang. Was die Gemeindebau-Erfinder – also die sozialdemokratischen Stadtväter und ArchitektInnen – durchaus im Sinne hatten.

Denn Gemeindebauleben bedeutete ihnen auch: organisiertes

Leben, ein Sammeln der Kräfte des Proletariats, der einfachen

Arbeiter und Bediensteten. Nicht von Ungefähr hatten viele Utopien gemeinsame neue Wohnformen als Grundlage, die auch zu neuem Leben und neuem sozialem Gefüge führen sollten.

Indizien dafür findet man auch heute noch jede Menge. Etwa das Einküchenhaus, das den Bewohnerinnen und Bewohnern die eigene Küche sparen und gemeinsame Essensversorgung gewähren sollte. Oder die alkoholfreie Gaststätte im Gemeindebau: Alkoholenthaltsamkeit war ein wichtiger Teil der Wiener Arbeiterkultur – und so suchte man auch, diese Abstinenz in eigenen Gaststätten zu leben.

Heute noch höchst anschaulich, präsent und aktiv: die zahlreichen Bibliotheken und Kindergärten, aber auch Arztordinationen, die die gute Infrastruktur der meisten Gemeindebauten ausmachen. Die berufstätigen Eltern hatten und haben nicht weit, ihre Kinder gut untergebracht zu wissen. „Daheim“, sozusagen. Die Büchereien sind erfrischende Nahversorgungs-Kultureinrichtungen im Bau und gehen höchst geschickt auf ihr Publikum und dessen Wünsche ein.

Was die Wohnformen und Wohnversuche betrifft, so waren vor allem die Wiener Architekten des frühen 20. Jahrhunderts gefragt, ihre Kreativität zu beweisen. Anton Brenner etwa schuf seine „Wohnmaschine“, seine Kollegin Margarethe Lihotzky brachte den arbeitenden Frauen – leider nicht (mehr) in Österreich, sondern in Deutschland und der Sowjetunion – die Frankfurter Küche.

Die Neugier und die Freude am Experiment sind auch heute wieder bei den städtisch geförderten Wohnhausanlagen spürbar. Radfahrer-Siedlung, Frauenstadt, Quartiers Verts, Generationenwohnen, Smart City Wohnen sind moderne Formen früherer Risikobereitschaft.

Wobei der große Unterschied beider Epochen nicht übersehen werden darf: trieb vor hundert Jahren der Wille zur revolutionären Veränderung (oder zumindest zu höchst rasanter Evolution) die städtischen Wohnhausbauer zum kommunalen Wohnbau und seinen Versuchsanordnungen, so ist es heute der eher realitätsnahe Glaube an eine sanfte Evolution hin zu einer offeneren, gerechteren und ökologischen Gesellschaft.

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Als blutjunger Journalistikstudent durfte ich für eine angesehene Wiener Tageszeitung eine Seite füllen: „Ich möcht’ da nimmer mehr weg“ hieß die große Reportage über die damals, in den Siebzigerjahren, gebaute und besiedelte Großfeldsiedlung. Ausgestattet mit einer Menge eigener Überheblichkeit und den Vorurteilen der Alt-Redakteure, die mehr vom Schreibtisch denn aus eigener Anschauung manche Dinge beurteilten, machte ich mich auf, den Satelliten zu erkunden.

Tatsächlich fanden sich die von mir angepeilten Straßen auf keinem Stadtplan. Noch schlimmer war, dass auch die Taxler, an der Schnellbahnendstelle zur zielgenauen Beförderung angefragt, auch nicht weiter wussten. Als ich dann endlich am Ziel war, beschämten mich meine Interviewpartner. Darunter auch zwei mir befreundete Jungfamilien, die in die Siedlung gezogen waren. Sie hatten trockene Räume, günstige Mieten und viel Grün und Licht gesucht, auch für ihre gerade geborenen Kinder. Sie hatten das alles in der „GFS“, wie die Großfeldsiedlung insiderisch genannt wurde, gefunden. Doch es waren nicht nur die beiden Freundesfamilien. Nahezu alle Befragten schlossen sich dem guten Befund an. So stieß ich Jungschreiber schon sehr früh an die Hürde, eine Reportage entgegen aller schlechten journalistischen Sitten tatsächlich völlig anders zu gestalten, als dies vorurteilshalber beabsichtigt war.

Diese Begebenheit prägte nicht nur mein späteres journalistisches Arbeiten und Denken – sie ließ mich künftig auch bei manchen Dingen sehr genau hinsehen.

Berliner Hof in Ottakring

Ob an der Peripherie oder in den Innenstadtbezirken, die prächtigen Gemeindebau-Hoffeste der Siebzigerjahre sind vorurteilslos Begegnungsakte gewesen, Manifestationen des Selbstbewusstseins derer im Bau, teils auch noch mit sehr politischen, sehr aufklärerischen Elementen in der guten Tradition der Geburtsstunde der Gemeindebauten.

Während man vielen Bauwerken und Denkmälern kritisch vorhält, „bloß Monumente“ zu sein, ohne konkrete Lebensäußerungen, galt das bei den Gemeindebauten von Anfang an nie. Die Häuser, meist benannt nach großen PolitikerInnen, KünstlerInnen, WissenschafterInnen, später auch nach couragierten und selbstaufopfernden WiderstandskämpferInnen, boten immer auch Gelegenheit zur Erinnerung an große Persönlichkeiten. George Washington, Hugo Breitner, Anton Wildgans, Giacomo Matteotti, Alfons Petzold, Franz Jonas, Käthe Leichter, Joseph Madersperger und viele hunderte andere bleiben in Erinnerung, werden täglich wahr genommen, sind oft Teil der Heimatkunde oder politischen Bildung. Nicht selten sind die Gemeindebau-Namen auch sehr klare Statements für bewusste politische und menschliche Haltungen.

Als noch sehr junger Lokalreporter hatte ich einmal den Auftrag bekommen, über die feierliche Benennung einer Simmeringer Gemeindebausiedlung zu schreiben, den damals neu errichteten Salvador Allende Hof. Im Gegensatz zu heute war damals der chilenische Präsident und Revolutionär, der der grausamen Militärdiktatur ein Ende gesetzt hatte, bei weitem nicht allgemein anerkannt. Neben erdfarbenen Rechtspolitikern gab es noch eine starke Minderheit in der Wiener Bevölkerung, die sich gegen die Benennung des Baus nach dem charismatischen Politiker aussprach.

Mein damals sicher nicht gering entwickelter journalistischer wie auch gesellschaftspolitischer Elan ließ mich in die Tasten greifen und zu einer Lobeshymne auf Allende und die Hofbenennung ausholen. Der nach Erscheinen entstandene redaktionsinterne Wirbel war nicht von schlechten Eltern und ich schrammte nur knapp an einem Hinauswurf vorbei.

Spätestens seit diesem Ereignis wurde mir bewusst, welch starke Kraft Symbole und symbolische Ereignisse und das Geben von Namen haben können.

Wiens Gemeindebauten prägten und prägen – und sollen auch in der Zukunft prägend sein.

Nicht nur gewesenes Proletariat und Rotes Wien. Nicht nur sozialnostalgisches Erinnerungsmaterial. Oder Austragungsorte von sozialen und herkunftsbedingten Spannungen. Heimstätte von Menschen, die an der sozialen Untergrenze kämpfen.

Gemeindebauten haben immer auch viele unterschiedliche Personen und Persönlichkeiten beherbergt. Künstlerinnen, Dichter, Schrulle, Genies. Ganz besonders aber soziale Menschen, die das Miteinander-Reden wie selbstverständlich gepflegt haben und heute immer noch pflegen.

Die Hausmeisterinnen und Hausmeister gehören zu diesen „Kommunikatoren“, die weit mehr als nur Besenschwingen zu ihrer Mission zählen. Sehr viel Herz, sehr viel Witz, mitunter ein sehr guter Magen machen eine gute Hausmeisterin, einen guten Hausmeister, aus. Sie sind übrigens wieder im Kommen, und die Menschen im Gemeindebau freuen sich darauf, dass wieder „wer da“ sein wird, der mehr darstellt, als eine Putzkraft.

Daher hat es schon seine Richtigkeit, wenn das Kapitel über Menschen hinter den Türschildern „Bau-Juwelen“ heißt. Es sind Rohdiamanten und Juwelen. Künstlerische, kreative, fleißige, prominente oder ganz versteckt lebende Menschen, die alle dem Bau ihren Charakter und ihre Persönlichkeit leihen.

Der Gemeindebau ist in den vergangenen Jahren mehr und mehr

zu einer „Problemzone“ der Stadtpolitik geworden.

Viel zu wenig wurde weitergesagt, welch hohes Potenzial an sozialen, kreativen und humanen Werten im Gemeindebau nach wie vor steckt. Wobei auch die negativen Seiten bzw. Entwicklungen nicht verschwiegen oder „schöngeredet“ werden sollen.

Der Gemeindebau ist aber ganz besonders auch:

Ort, von dem aus sich (junge) Menschen in Ruhe und ohne allzu hohe wirtschaftliche Belastungen weiter entwickeln können

Ort, der Begegnungen ermöglicht und Gemeinsamkeiten bietet

Ort, der Identität und Familiengefühl herstellen kann

Ort, an dem Geschichten und Geschichte geschrieben wurde

Ort, der das Selbstbewusstsein und das Rückgrat der Stadt bildet(e).

Gemeindebauten sind heute ganz besonders wieder: pralles Leben, Kultur hautnah und unvermutet. Das sind auch Kleinodien in Architektur und Menschlichkeit.

Zunehmend besinnen sich die Menschen des Lebensgefühls, das Gemeindebau ja auch bedeutet: Gemeinschaftsleben, nicht nur als Belastung, sondern als große Chance des Miteinander, wo es doch trotz Klimaerwärmung so kalt geworden ist.

Bau-Geschichte(n). Warum es so ist, wie es ist.

Verkehrte Idylle. Der Herr geht zielstrebig in die dunkle Hauseinfahrt. Brandmayrgasse 27, Bezirk Margareten. Er zeigt auf ein schon recht verwittertes, ehemals schwarzes, Holzbrett, das an der Mauer der Durchfahrt mit inzwischen rostig gewordenen Schrauben montiert worden war.

Eigentlich ist es ja die Stelle, an der in praktisch allen Gemeindebauten Jahreszahl der Errichtung, damals amtierender Bürgermeister und verantwortlicher Stadtrat sowie Architekt des Gebäudes vermerkt sind.

„Dieser Bau ist der letzte, der vor der Naziherrschaft als Gemeindebau errichtet worden ist“, sagt der heimatkundige Bezirksbewohner. Dort aber setzte sich der Ständestaat, Vorläufer der Nazidiktatur in Österreich, auf den letzten vor der Hitlerzeit errichteten Gemeindebau, und wollte seine zweifelhafte Größe verewigen.

Wieder draußen, um die Ecke gegangen, zeigt der Bezirksvater auf das zwischen erstem und zweitem Stock gelegene Keramikbild: „Dort haben die Austrofaschisten eine Familie mit vier Kindern darstellen lassen“, erklärt er. Das ursprüngliche „Kunstwerk“ ist jedoch mit einer Plexiglashülle versehen, auf der in Spiegelschrift, also verkehrt, das Wort „Idylle“ zu lesen ist.

Der blond-blauäugige Bub auf dem Keramikbild hatte ursprünglich einen Wimpel mit dem Hakenkreuz in Händen. Immerhin wurde dieses Naziemblem nach Ende der Schreckenszeit 1945 entfernt. Lange Zeit schien es jedoch niemanden zu stören, dass der Bub die Uniform der Hitlerjugend trug. So dauerte es bis ins 3. Jahrtausend, bis man sich dazu durchringen konnte, über die Lösung des Problems – Nazikunst auf dem Gemeindebau – nachzudenken. Richtigerweise wollte man die - wenn auch traurige und furchtbare – Geschichte nicht einfach ausradieren, was mit der Entfernung des Bildes ein Leichtes gewesen wäre.

So kam es zur Ausschreibung eines Wettbewerbes, 2002, aus der die Künstlerin Ulrike Lienbacher siegreich hervorging. Die geniale Idee, die Idylle der Nazifamilie einfach durch das verkehrt geschriebene Wort „Idylle“ ad Absurdum zu führen, macht das Haus neben dem Wohnzweck zu einem wichtigen Denkmal.

Wohnen – früher wie heute ein gefühlsbetontes Thema. So ist jeder einzelne Wohnbau mehr als ein Haufen Steine. Er spiegelt sehr genau Menschen, Politik und Gesellschaft wider.