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Seit Tagen schon streift Matthis mit seiner Hündin Tara durch die sommerlichen Wälder Norwegens. Er sammelt Beeren, fängt Fische, macht Feuer oder schwimmt in einem der vielen Seen. Wären da nicht die Gedanken an den Streit mit den Eltern, die Worte, die er ihnen hinterhergerufen hatte, den Unfall … Wenn er nur nicht so unbeherrscht wäre! Wie aus dem Nichts taucht plötzlich ein geheimnisvolles Mädchen im Wald auf, das weiß, wie man Regenwürmer brät. Jule spricht wenig, außer wenn sie Geschichten von Trollen erzählt. Und sie verschwindet immer genauso plötzlich, wie sie aufgetaucht ist … Eine abenteuerliche Sommergeschichte über laute und leise Gefühle und das Leben in der Natur
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Seitenzahl: 159
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CORNELIA FRANZ
Mit Vignetten von Petra Baan
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Wie eine Schlange wand sich die Straße den Hang über der Schlucht hinauf. Matthis saß eingeengt zwischen der Wagentür, der Kühltasche und Tara, die vor seinen Füßen lag. Er schaute aus dem offenen Fenster. Dunkle Fichten, blauer Himmel und noch mehr Fichten, sonst gab’s nichts zu sehen. Ein kühler Wind, der nach Wald und Sommer roch, wehte ihm die Haarsträhnen aus der Stirn. Matthis machte ein finsteres Gesicht. Seit zwei Stunden zuckelten sie jetzt schon durch die Gegend. Nur weil sie um irgendeinen See herumgewandert waren, der genauso ausgesehen hatte wie all die anderen Seen hier.
»Sind wir bald da?«
»Du kennst doch die Straße«, murmelte seine Mutter, die am Steuer saß. »Du musst nicht alle drei Minuten fragen.«
»Tu ich gar nicht.« Matthis trommelte mit seiner leeren Wasserflasche einen Rhythmus auf dem Deckel der Kühltasche. Star Wars, Darth Vaders Melodie, da da da da dada, da dada.
Sein Vater ließ den Reiseführer sinken und wandte sich zu ihm um. »Das nervt!«
Matthis zuckte die Schultern. Er knabberte auf seinem Daumennagel herum und zog die Füße unter Tara hervor. »Mach dich nicht so dick«, sagte er. Tara hob eine Augenbraue und ließ ihren großen Kopf wieder auf seine Wanderschuhe sinken. Sie war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Und Benni? Der hatte auch den Daumen in den Mund gesteckt. Er machte ihm immer alles nach. Matthis drehte ihm eine lange Nase und schielte, sodass Benni kicherte.
Diese langweilige Straße nahm kein Ende. Matthis seufzte. Schließlich holte er eins der Steinchen aus seiner Hosentasche und zog die Schleuder hervor, die er in das Fach in der Tür gesteckt hatte. Er hatte die Schleuder selbst gebaut. Ein Zweig mit einer Gabel, ein dickes Gummiband und zwei feste, gut sitzende Knoten. Ohne lange nachzudenken, zielte er zum geöffneten Fenster hinaus. Zack! Das Verkehrsschild am Straßenrand schepperte. Ein schneller Blick nach vorne zu seinen Eltern. Sie hatten nichts mitbekommen. Mama war auf die engen Kurven konzentriert und darauf, ja nicht zu dicht an die Kante zu fahren. Und Papa war immer noch mit dem Reiseführer beschäftigt. Wahrscheinlich würde er gleich einen seiner Vorträge halten.
Wieder spannte Matthis das Gummiband. Ein Auge zusammenkneifend, zielte er auf die Straße. Allzu oft kam ihnen hier kein Wagen entgegen. Neben ihm straffte Benni die Schultern und starrte ihn an. Klar, Benni hatte Angst vor dem Donnerwetter, das in dem engen Auto toben würde, wenn die Eltern mitbekämen, was sein großer Bruder da machte. Benni war ein Schisser, der es nicht ertrug, wenn es Zoff gab. Und den gab es eigentlich ständig. Zu Hause genauso wie hier in Norwegen, im Urlaub, wo sie dauernd zu viert aufeinanderhockten. Ganz kribbelig wurde man davon.
Matthis warf Benni einen triumphierenden Blick zu, prüfte das Kieselsteinchen mit den Fingerspitzen und legte an. Da vorne kam ein Wohnmobil die Straße runter. So langsam, dass Matthis Zeit genug hatte, genau zu zielen. Natürlich nicht auf die Windschutzscheibe. Er war ja nicht blöd. Wenn er eins der Räder traf, am besten die Radkappe, dann würde das nur ein kleines Scheppern verursachen. Da konnte überhaupt nichts passieren. Das würde der Mann am Steuer nicht einmal merken.
Die tief stehende Sonne, die zwischen den Wipfeln der Bäume aufblitzte, blendete Matthis. Er holte Luft und straffte das Gummi noch ein Stückchen mehr. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie Benni unruhig neben ihm hin und her rutschte. Auch Tara richtete sich auf.
»Musst du mal, Benni? Wir sind gleich da.« Mama wendete kurz den Kopf, entdeckte Matthis mit seiner Schleuder – und ging hoch wie eine Granate. »Bist du verrückt geworden?!«, schrie sie so aufgebracht, dass sie fast das Steuer verriss.
Im selben Moment drehte sich sein Vater um. »Matthis! Gib das Ding her!« Er griff nach der Schleuder, um sie ihm zu entreißen.
Doch Matthis zog den Arm zurück. So ungestüm, dass er Benni mit dem Ellenbogen erwischte. Benni heulte los, Tara bellte und Papa fluchte.
»Es reicht! So kann ich nicht Auto fahren!« Mama bremste abrupt. »Du bist ja wohl von allen guten Geistern verlassen, Matthis!«
Matthis senkte den Kopf, sodass ihm die langen braunen Strähnen über die Augen fielen. Oh Mann, so war es immer: Streit, Gebrüll und Geheule. Er zog die Schultern hoch, umklammerte seine Schleuder und starrte düster vor sich hin.
Seine Mutter streckte die Hand aus. »Gib mir die Schleuder«, sagte sie. Ihre Stimme klang, als wäre sie kurz davor, zu explodieren.
Matthis biss sich auf die Unterlippe. Es war eine gute Schleuder und Mama würde sie aus dem Fenster schmeißen. Das war klar. Durch den Schleier seiner Haare warf er ihr einen Blick zu.
»Gib sie mir, sofort!«
Wortlos verschränkte Matthis die Arme vor der Brust. Er hatte ja noch gar nichts gemacht. Warum funkelte sie ihn so böse an, als ob er ein Schwerverbrecher wäre?
Sein Vater verstaute den Reiseführer im Handschuhfach und drehte sich nach hinten. Matthis konnte erkennen, dass er sich bemühte, ruhig zu bleiben.
»Benni, hör bitte mit dem Geschrei auf. Du lebst ja noch«, sagte er. »Und du, Matthis, du rückst jetzt diese Schleuder raus. Sonst – passiert – gleich – ein – Unglück!« Er betonte jedes Wort so deutlich, als hielte er Matthis für begriffsstutzig.
Statt einer Antwort schob sich Matthis die Schleuder unter den Oberschenkel. Pah, ein Unglück! Er ließ sich nicht einschüchtern. Immer kamen sie ihm mit irgendwelchen Drohungen: Matthis, wenn du nicht endlich das Handy weglegst, kassieren wir es für drei Tage ein. Matthis, hör auf mit dem Gekippel am Tisch oder du gehst in dein Zimmer. Matthis, lass deinen Bruder in Ruhe, sonst gibt’s Ärger. Matthis, mach dies nicht, Matthis, mach das nicht … Er hörte schon gar nicht mehr hin.
Er steckte sich die Kopfhörer seines Handys in die Ohren, obwohl es gar nicht eingeschaltet war. Mit geschlossenen Augen trommelte er auf den Knien den Rhythmus, der jetzt seinen Kopf ausfüllte und alle Gedanken verstummen ließ. Da da da da dada, da dada, da da da da dada, da dada. Durch den Stoff seiner Jeans hindurch spürte er die Astgabel der Schleuder.
Plötzlich gab es einen Ruck. Als er die Augen öffnete, sah er, wie sein Vater ausstieg und um den Wagen herumging. Im nächsten Moment hatte er Matthis’ Tür aufgerissen und seinen Anschnallgurt gelöst.
»So, mein Sohn, es reicht!«
Matthis’ Herz klopfte heftiger. »Was meinst du damit?«, fragte er.
»Dass du zu Fuß weitergehen kannst. Das meine ich damit. Steig aus.«
Matthis stemmte die Knie fest gegen den Vordersitz. Er sollte zu Fuß gehen? Ganz alleine? Mitten in Norwegen, in einem fremden Land? Das würden sie nie im Leben wagen.
»Dort vorne ist der Wanderweg zur Hütte, den kennst du ja. In fünfzehn Minuten bist du da und hast dich dann wohl hoffentlich abreagiert. Viel Spaß.« Sein Vater hielt die Tür noch ein Stück weiter auf.
»Aber, Papa …« Das war Bennis Stimme, ganz weinerlich klang sie. Gleich würde er wieder anfangen zu heulen. Tara richtete sich auf. Sie sprang aus dem Auto und reckte die Nase in die Luft.
Matthis sah zu seiner Mutter hin. Doch die tat so, als würde sie das Ganze nichts angehen. Und plötzlich spürte er, wie auch in ihm die Tränen hochstiegen. Aussetzen wollten sie ihn, einfach hier in der Wildnis alleine lassen. Nein, er dachte ja gar nicht daran, auszusteigen.
»Selber viel Spaß.« Trotzig schaute er seinen Vater an.
Da packte der ihn am Arm, zog ihn aus dem Wagen und knallte die Tür zu. Eh Matthis sich’s versah, saß sein Vater wieder auf dem Beifahrersitz. »Fahr los, Tanja«, sagte er.
Mama zögerte kurz, aber dann gab sie tatsächlich Gas. So heftig fuhr sie an, dass der Staub auf der trockenen Landstraße aufwirbelte. Als könnten sie ihn nicht schnell genug loswerden.
Heiß wallte die Wut in ihm auf. »Haut bloß ab! Verschwindet! Ich will euch sowieso nie wiedersehen!«
Am hinteren Fenster zeigte sich ein kummervolles Gesicht. »Matthis!«, rief Benni mit seiner ängstlichen Kinderstimme.
»Dich auch nicht, du Schisser!«, schrie Matthis. Dann verschwand das Auto mit Benni und seinen Eltern hinter der nächsten Kurve. »Nie wieder«, murmelte Matthis. Er biss sich auf die Lippen. Nein, er würde nicht heulen. Er nicht!
Voller Zorn stand er da, mit der Schleuder unterm Arm. In hohem Bogen pfefferte er den Kiesel über die Leitplanke, die die Bergstraße von der Schlucht trennte. Er sah ihm hinterher, wie er den Abhang hinunterkollerte. Tief unten schäumte der Fluss. Der Fluss, an dem sie am nächsten Tag angeln gehen wollten. Er zog die Augenbrauen zusammen. Pah, das konnten sie vergessen. Er würde ganz bestimmt nicht mitkommen. Er würde überhaupt nie mehr was mit ihnen zusammen machen.
Unentschlossen sah er zum Waldweg hinüber, der zwischen den Bäumen gut zu erkennen war. Tara stupste ihn mit der Schnauze an und er kniete sich neben sie. »Du bist die Einzige, die nicht total blöd ist«, flüsterte er in ihr weiches, glattes Fell hinein. Dann stapfte er los, den Berg hinauf. Die Steinchen unter seinen Wanderstiefeln knirschten bei jedem Schritt. Und mit jedem Schritt wurden die Wut und der Schmerz in ihm ein bisschen größer. Nein, er gehörte nicht zu ihnen, das wusste er schon lange. Mama, Papa und Benni, die kamen prima miteinander aus. Nur er war immer der Störenfried. Zu laut war er, zu wild, zu ungeschickt, genauso wie in der Schule. Eigentlich war es schon immer so gewesen. Er passte nicht zu den anderen. Und deshalb konnten sie ihm gestohlen bleiben, alle!
Eigentlich hatte Matthis vorgehabt, extra zu trödeln, aber dann wurde er doch immer schneller und schneller. War er jemals allein im Wald gewesen? Obwohl Tara nicht von seiner Seite wich, kam ihm die Natur fremd und unheimlich vor. Und so brauchten sie keine Viertelstunde bis zu der Ferienhütte, in der sie seit einer Woche wohnten. Ein Hexenhäuschen aus dunklem Holz, mit niedrigem Dach und grünen Fensterläden, wie bei Hänsel und Gretel. »Fernab der Zivilisation«, hatte Papa geschwärmt. »Man kann nicht einmal ganz mit dem Wagen ranfahren.«
Matthis schaute zu der Sackgasse, in der sie immer das Auto parkten, und runzelte die Stirn. Der graue Kombi war noch nicht da. Sag bloß, jetzt ließen sie ihn mit Absicht warten. Waren sie etwa noch woanders hingefahren, nur um ihn zu ärgern? Aber hier gab es ja nichts außer Bäumen und Sträuchern. Er lief zur Hütte und drückte seine Nase an der Fensterscheibe platt. Die Wohnküche war leer, das Frühstücksgeschirr stand noch auf dem Tisch. Sie waren wirklich nicht da.
Als er sich umdrehte, war Tara schon zum Parkplatz gelaufen. Sie witterte in Richtung Straße. Vielleicht roch sie ja, dass das Auto jede Sekunde um die Kurve kommen würde. Tara hatte eine richtig gute Nase. Er lief zu ihr. »Okay«, sagte er. »Dann gehen wir ihnen jetzt entgegen.«
Tara sauste los. Sie rannten so schnell die abschüssige Straße hinunter, dass Matthis auf dem grobkörnigen Rollsplitt schlitterte. Sauer war er auf seine Eltern, weil sie ihn so lange allein ließen. Und außerdem hatte er Hunger. Eigentlich war jetzt Abendbrotzeit und es sollte den Räucherfisch geben, den sie im Kiosk beim See gekauft hatten. Na, sie mussten ja jeden Moment auftauchen.
Doch da hielt Tara an. Regungslos verharrte sie neben einem zerbeulten Steinschlagschild am Straßenrand. Als Matthis bei ihr ankam, winselte sie. Und plötzlich machte sein Herz harte, dumpfe Trommelschläge, die ihm bis in die Kehle stiegen. Er sah die schwarzen Streifen auf dem Asphalt, geschlängelt wie Slalomspuren. Er sah die Steine, die auf der Straße lagen. Grobe Felsbrocken, tausendmal größer als die Kiesel in seiner Hosentasche. Er sah das zerdrückte Gebüsch, die aufgewühlte Erde, die zerborstene Leitplanke. Und er hörte die Stille über der Schlucht. Kein Motorengeräusch, kein Reifengeprassel. Nur das Rauschen des Flusses in der Tiefe.
Matthis stand da und begriff nichts – nur, dass hier nichts war, wie es sein sollte. Langsam ging er zu der kaputten Leitplanke. Zu der Lücke, die dort nicht hingehörte. Tara schlich so dicht neben ihm her, dass sie sein Bein berührte. Vorsichtig näherten sie sich dem Abhang und beugten sich vor.
Zuerst sah er nur den weiß schäumenden Fluss, die Stromschnellen, die dunklen Bäume an seinem Ufer. Dann erst nahm er das ganze Bild in sich auf. Der graue Kombi. Das Auto, das sie schon so lange hatten, wie er zurückdenken konnte. Das Auto, aus dem er keine halbe Stunde zuvor ausgestiegen war. Das Auto, mit dem Mama, Papa und Benni davongefahren waren. Dieses Auto lag dort unten zwischen den Bäumen. Eingedrückt wie ein Spielzeug, das jemand weggeworfen hatte. So klein sah es aus von hier.
Still war es um Matthis herum. Nicht einmal mehr der Fluss war zu hören, denn in seinem Kopf rauschte es lauter. Sekunde um Sekunde starrte er hinunter zu dem hellgrauen Fleck zwischen den Bäumen. Doch dann bellte Tara und jetzt reagierte er.
»Ich komme!«, schrie er. »Wartet, ich helfe euch! Mama, Papa! Benni! Wir kommen!« Ohne zu zögern, rutschte und schlitterte er den Hang hinunter und Tara folgte ihm.
In wilden Sprüngen ging es abwärts. Er hielt sich an Felsbrocken und Gestrüpp fest, blieb an einer Baumwurzel hängen, verlor den Halt und überschlug sich. Heftig pochte ihm das Herz gegen die Rippen. Nach Luft ringend presste er sich gegen den Boden und schaute in die Tiefe, wo die Spur, die das Auto hinterlassen hatte, deutlich zu sehen war.
Tara stand ein Stück weiter oberhalb. Sie traute sich nicht mehr weiter und bellte wie verrückt. Doch Matthis gab nicht auf. Er konzentrierte sich, überprüfte jeden Tritt, bevor er den Fuß aufsetzte. Doch dann war Schluss. So glatt und abschüssig war der Felsen, dass er keinen Zentimeter weiterkam. Auch Tara wusste das. Sie reckte den Kopf nach ihm und bellte aufgeregt.
»Hallooo!«, rief Matthis in die Schlucht hinab. »Mama, Papa! Hört ihr mich?!«
Doch es kam keine Antwort. Das Auto konnte er von dieser Stelle aus nicht mehr sehen und so kletterte er vorsichtig wieder ein Stück die Wand hinauf. Nur nicht abrutschen!
Als er bei Tara ankam, liefen ihm die Tränen übers Gesicht. »Ich schaffe es nicht«, weinte er. »Es geht nicht.« Nebeneinander saßen sie auf einem Stück Moos und sahen nach unten. Der Wagen lag immer noch da wie zuvor. Nichts bewegte sich dort, kein Geräusch war zu hören, kein Hilferuf.
Wie gelähmt hockte Matthis über der Schlucht, die Hacken in den Boden gestemmt. Was sollte er nur tun? Hatte denn keiner mitgekriegt, dass ein Unfall passiert war? Wieso kam denn niemand zu Hilfe? Verzweifelt schlang er die Arme um Tara, die vor Aufregung zitterte. Dann riss er sich zusammen. Das Handy! Er hatte ja sein Handy dabei. Mit fahrigen Fingern schaltete er es ein und wählte den Notruf.
Als er die unbekannten norwegischen Laute hörte, stockte er. Doch dann platzte es aus ihm heraus. »Hier ist Matthis!«, rief er, ohne darüber nachzudenken, ob man ihn überhaupt verstand. »Unser Auto ist abgestürzt! Ich wollte das doch nicht! Das Auto liegt unten am Fluss und ich hab versucht, zu ihnen zu kommen, aber es ging nicht! Kommen Sie bitte schnell! Es ist die Straße, die zum Ferienhaus führt. Ich hab solche Angst. Mama und Papa und Benni …«
Hilflos brach er ab. So ging das nicht. Reiß dich zusammen, Matthis! Er nahm einen neuen Anlauf. »My familiy! Please help. The car … it is … it is down near the river. Wo die Stromschnellen sind … We live Hus Blabaer, beim Jonsdottersee. Please help!«
Die Stimme am anderen Ende versuchte, ihn zu beruhigen. Doch die freundlichen Worte gaben ihm den Rest. Die Tränen überschwemmten ihn und er konnte nur noch schluchzen. »We will find you, Matthis, and help your family. We will come«, hörte er noch, bevor er das Handy sinken ließ. Es würde Hilfe kommen, endlich!
Es war schon beinahe Nacht, als die Rettungswagen und das Polizeiauto in der Nähe des Autos anhielten. Sie hatten den Talweg am Fluss entlang genommen, der gar keine richtige Straße war, und über eine Stunde gebraucht. Eine Stunde, in der die Zeit quälend langsam verstrich. Diese Sommernächte, in denen es nie ganz dunkel wurde, waren unheimlich. Gerade so, als würde der Tag niemals zu Ende gehen.
Matthis hatte noch ein paar vergebliche Versuche unternommen, in die Schlucht hinabzuklettern. Aber er hatte keine Chance gehabt. Von seinem Platz in der Felswand aus beobachtete er jetzt, wie die Männer dort unten im Licht der Scheinwerfer die verbeulten Türen des Kombis aufstemmten. Dumpf und schwer schlug sein Herz, als sie drei Tragen aus ihren Wagen zogen. Erst holten sie die Eltern aus dem Auto, dann Benni. Lebten sie noch? Mit brennenden Augen starrte Matthis in das im Dämmerlicht liegende Tal. Er konnte nicht viel erkennen. Sie waren zu weit weg.
Doch dann sah er, wie sich die Sanitäter über Benni beugten und wie er den Kopf hob, um sich umzuschauen. »Wo ist Matthis?«, fragte er bestimmt, weil er immer wissen wollte, wo sein großer Bruder war. Auch Mama bewegte sich! Und Papa versuchte sogar, wieder von der Trage aufzustehen. »Sie leben! Sie leben! Jetzt bringen sie sie ins Krankenhaus, Tara.« Der eiserne Ring, der seine Brust umklammert hatte, lockerte sich ein bisschen. Er sprang auf und winkte wie wild. »Hallo, hallo, Mama, Papa! Hier bin ich! Hiiier!«
Aber niemand reagierte. Hörten sie ihn nicht, weil der Fluss dort so laut rauschte und der Wind so durch die Bäume fegte? Selbst als Tara bellte, schien das keiner zu merken. Warum schauten sie nicht ein einziges Mal hoch? Vielleicht hatten sie keine Sekunde Zeit, sich umzusehen. Und auch die Polizisten waren nur damit beschäftigt, die Gegend am Fluss abzusuchen. Die dachten bestimmt, er wäre auch dort irgendwo. Er hatte ja mit keinem Wort erwähnt, dass er vorher ausgestiegen war.
Die Sanitäter brachten die Trage mit Benni zum Wagen und Matthis sprang wieder auf. »Haaaalloo, haaaalloo, heeey, Benniiii!« In seiner Aufregung zappelte Matthis so, dass er ins Rutschen kam. Er schlitterte bergab, bis er sich an einen Strauch klammern konnte. Gerade noch rechtzeitig vor der steil abfallenden Kante … Sein Herz jagte vor Schreck.
Tara kam jaulend zu ihm gekrochen. Als sie ihm die Hände abschleckte, merkte Matthis, dass ihm das Blut aus den aufgerissenen Fingern tropfte. Egal!
»Sie fahren weg«, sagte er. »Sie fahren weg, Tara.«
Die Rettungswagen wurden kleiner und kleiner und verschwanden schließlich zwischen den Bäumen am Flussufer. Nur das Polizeiauto stand noch neben dem Wrack. Plötzlich fühlte er sich so verlassen, dass ihm die Tränen kamen. Wie sollte er hier jemals heil rauskommen? Der Aufstieg zur Straße war doch genauso gefährlich wie der Abstieg in die Schlucht.