Wildrosensommer - Gabriella Engelmann - E-Book + Hörbuch

Wildrosensommer E-Book

Gabriella Engelmann

4,3
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Licht der glitzernden Nachmittagssonne sieht es beinahe aus wie ein Schlösschen. Ein verwunschenes Schlösschen mitten auf der Elbe. Tatsächlich aber ist es ein Hausboot, das der allein erziehenden Mutter Aurelia in einem Bildband ins Auge fällt. Nun lässt die Sehnsucht nach einem idyllischen Zuhause wie diesem sie nicht mehr los. Denn seit dem plötzlichen Verschwinden ihres Mannes Nic fühlt Aurelia sich einsam und entwurzelt. Als sich wenig später die Gelegenheit ergibt, dieses Hausboot zu kaufen, sieht sie darin einen Wink des Schicksals – und zieht schon wenige Wochen später mit ihren widerstrebenden Töchtern, Katze Momo ,und vielen Träumen im Gepäck von München vor die Tore Hamburgs. Für die gelernte Floristin sind die Vier- und Marschlande mit ihren Rosenhöfen, alten Bauernkaten, Deichen und zahllosen Gärten ein Paradies. Doch auch Rosen im Paradies haben ihre Dornen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 461

Bewertungen
4,3 (56 Bewertungen)
31
13
12
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gabriella Engelmann

Wildrosensommer

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Im Licht der glitzernden Nachmittagssonne sieht es beinahe aus wie ein Schlösschen. Ein verwunschenes Schlösschen mitten auf der Elbe. Tatsächlich aber ist es ein Hausboot, das der allein erziehenden Mutter Aurelia in einem Bildband ins Auge fällt. Nun lässt die Sehnsucht nach einem idyllischen Zuhause wie diesem sie nicht mehr los. Denn seit dem plötzlichen Verschwinden ihres Mannes Nic fühlt Aurelia sich einsam und entwurzelt. Als sich wenig später die Gelegenheit ergibt, dieses Hausboot zu kaufen, sieht sie darin einen Wink des Schicksals – und zieht schon wenige Wochen später mit ihren widerstrebenden Töchtern, Katze Molly und vielen Träumen im Gepäck von München vor die Tore Hamburgs. Für die gelernte Floristin sind die Vier- und Marschlande mit ihren Rosenhöfen, alten Bauernkaten, Deichen und zahllosen Gärten ein Paradies. Doch auch Rosen im Paradies haben ihre Dornen …

Inhaltsübersicht

PrologTeil eins1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelTeil zwei11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. KapitelTeil drei26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. KapitelEpilogWildrosensommer-RezepteAurelias RosentorteZutaten Biskuitteig:Zutaten Cremetopping:Zubereitung Biskuitteig:Zubereitung Cremetopping:Kandierte RosenblütenblätterZutaten:Zubereitung:Aurelias SeelentrösterHeiße Milch mit Rosenzucker oder RosenhonigRosenhonigRosensaftRosenzuckerAurelias RosenbadesalzAurelias Rosen-Lavendel-BadeölAromaöl SeelenheilRhabarberchutney mit KürbisZutaten:Zubereitung:Erdbeer-Rhabarber-KonfitüreZutaten:Zubereitung:Omas MatjessalatZutaten:Für die Soße:Zubereitung:Marschländer GrünkohlsuppeZutaten:Zubereitung:DanksagungQuellenverzeichnis
[home]

Prolog

Das Hausboot war in die Jahre gekommen und verströmte einen nostalgischen Charme. Träge schaukelte es auf dem graugrün schimmernden Wasser des Flusses. Die frisch geputzten Bullaugen blinkten und blitzten in der Nachmittagssonne, als wollten sie den Menschen, die am Ankerplatz vorbeiflanierten und es bestaunten, zuzwinkern.

Der ehemals weiße Anstrich war ein wenig verblasst, und an manchen Stellen hatten der Regen und das Flusswasser der Farbe einen feinen Grünstich verliehen. Dadurch besaß das Boot jene Patina, die davon zeugte, dass es nicht mehr ganz neu war, sondern – im Gegenteil – eine Menge Geschichten zu erzählen hatte.

Wenn man vor dem Boot stand, blickte man direkt auf das Flussdelta, das von sattgrünen Wiesen und hohen Bäumen umrahmt wurde. Dahinter leuchteten goldgelb weite Rapsfelder.

»Wunderschön, auf diesem Boot müsste man wohnen«, flüsterten verzückte Stimmen. »Oder zumindest eine lange Reise damit unternehmen«, wisperten andere.

Jeder, der hierherkam, spürte, dass dies ein ganz besonderer Ort war, der einen magischen Zauber verströmte.

Ein Ort, an dem man intuitiv leise sprach und sich fühlte, als wäre man aus der Zeit gefallen.

Doch auch Orte der Ruhe können durch Ereignisse erschüttert werden, die keiner vorhersehen kann.

Oft genügt ein winziger Funke, um etwas in Brand zu setzen.

Und dann ist nichts mehr, wie es vorher war.

Wer hätte gedacht, dass ebenjenes Hausboot eines Tages zu einer Art Fliegendem Holländer werden würde, einem Geisterschiff, das besitzerlos auf dem Wasser dümpelt?

Und so stand es einen Tag später in der Zeitung zu lesen:

 

Gestern Nachmittag riss sich ein Hausbootponton während eines Unwetters von seinem Liegeplatz los. Starke Sturmböen trieben das zweistöckige Hausboot flussaufwärts, wo der tonnenschwere Koloss gegen einen Steg mit Privatyachten krachte. Bei dem schweren Aufprall wurden mehrere Segelboote beschädigt. Die örtliche Feuerwehr und die Wasserschutzpolizei rückten mit einem Großaufgebot an. Nach einer aufwendigen Bergungsaktion liegt das beschädigte Hausboot nun wieder an seinem ursprünglichen Ankerplatz.

Nach dem Besitzer wird noch gesucht.

Von ihm fehlt jede Spur.

[home]

Teil eins

1.

Wenn du eine Rose schaust, sag, ich lass sie grüßen.

Mama, was gibt’s zu essen? Wir haben Hunger! Außerdem bist du wieder mal zu spät.« Mollys waldseegrüne Augen schauten mich vorwurfsvoll an, kaum dass ich einen Fuß durch die Tür unserer Münchner Altbauwohnung gesetzt hatte.

»Und du musst mir noch Geld für den Klassenausflug geben«, forderte Louisa, die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkt.

Da war es wieder, dieses schlechte Gewissen, das seit zwei Jahren an mir klebte wie eine ganz besonders hartnäckige Klette. Ein ebenso mürrischer Begleiter meines Lebens wie meine ältere Tochter Louisa. Ob es der Hunger war, der ihr die Laune verhagelt hatte, oder ob ihr die Hormone zu schaffen machten, ich wusste es nicht. Fünfzehneinhalb Jahre alt zu sein war nicht einfach. Erst recht nicht als Tochter einer Mutter, die häufig zu spät nach Hause kam und auch sonst viel beschäftigt war.

»Du hast uns Pfannkuchensuppe versprochen«, maulte Molly, die zuweilen so kindlich wirkte, als sei sie noch sechs. Dabei hatte sie vor zwei Monaten ihren elften Geburtstag gefeiert. An manchen Tagen wiederum gebärdete sie sich wie eine Erwachsene. Eine erwachsene Diva.

»Dann holt doch bitte schon mal die Pfannkuchen aus dem Kühlschrank und schneidet sie in Streifen. Ich bin in drei Minuten bei euch und koche die Brühe, okay?«

Drei Minuten – welch ein Witz!

Was konnte man in dieser kurzen Zeit schon anfangen?

Weder ein entspannendes Bad nehmen noch duschen, geschweige denn ein kleines Nickerchen machen. Dabei hätte ich das dringend gebraucht, um mich den Anforderungen, die an diesem Abend garantiert auf mich warteten, mit frischer Energie zu stellen. Gedankenverloren wusch ich mir im Badezimmer die Hände und genoss es, sie erst mit duftender Rosenseife einzuschäumen und anschließend heißes Wasser darüberlaufen zu lassen. Wenn ich nach meiner Arbeit am Blumenstand auf dem Viktualienmarkt nach Hause kam, waren meine Hände stets eiskalt. Das lag zum einen daran, dass mein Kreislauf nach dem stundenlangen Stehen irgendwann schlappmachte. Außerdem mussten Coco und ich die Blumen und Pflanzen jeden Abend in einem Kühlraum verstauen, um sie frisch zu halten.

Sahst auch schon mal besser aus, sagte ich zu mir selbst, als ich in den Spiegel schaute und den Knoten löste, den ich tagsüber zum Blumenbinden trug. Früher hatte man mich meist zehn Jahre jünger geschätzt, als ich wirklich war.

»Mensch, Aurelia, das hätte ich nie gedacht«, war eines von vielen Komplimenten, das meine Seele umschmeichelte wie ein Seidentuch, wenn ich mein wahres Alter verriet.

»Sag mal, welche Creme nimmst du denn? Die ist doch sicher furchtbar teuer, oder?«, lautete die Frage derer, die meinen frischen Teint kostspieligen Markenartikeln zuschrieben.

Dabei benutzte ich seit langem entweder günstige Cremes aus der Drogerie oder Naturkosmetik, die ich selbst herstellte.

Doch obwohl ich immer noch dieselben Pflegeprodukte verwendete, hatte sich etwas verändert.

Heute sah man mir mein wahres Alter an.

Zweiundvierzig war in meinem Fall nicht das neue Zweiunddreißig, sondern schlicht, was es in Wirklichkeit war: das Alter einer Frau, die zu alt war, um in den angesagten Münchner Clubs die Nacht zum Tag zu machen. Und zu jung, um keinen Hunger mehr auf das Leben zu verspüren.

Auch wenn dieser Hunger mir in den vergangenen Jahren immer mehr abhandengekommen war. Kaum merklich war er zu einer leisen Ahnung dessen geschrumpft, was ich früher lautstark in die Welt gebrüllt und vom Schicksal eingefordert hatte.

»Mama, kommst du? Ich finde das Glas mit der Gemüsebrühe nicht.« Aufgeschreckt durch das energische Klopfen an der Badezimmertür und Louisas Drängen, schaute ich auf meine Armbanduhr, die ich auf die schmale Ablage über dem Waschbecken gelegt hatte.

Wo war die letzte Viertelstunde geblieben?

Im Schlund des Zeitfressers, der jeden Tag einen Großteil meiner Stunden gierig in sich hineinstopfte wie ein hungriger Wolf? Oder hatte ich vor lauter Müdigkeit im Stehen geschlafen?

»Bin sofort bei euch«, antwortete ich in einem Tonfall, der meiner Familie suggerieren sollte, ich hätte die Dinge im Griff. Dann entdeckte ich lange, hellblonde Haare auf dem Fußboden und hob sie seufzend auf. Molly hatte sich mal wieder gebürstet, ohne sich um die Folgen zu scheren. Auf diesem hässlichen, anthrazitfarbenen Linoleum sah man leider einfach alles. Seit Monaten schon nahm ich mir vor, ihn herauszureißen und durch eine schönere Auslegware zu ersetzen. Noch einfacher wäre es allerdings, umzuziehen, denn dieses Bad war viel zu winzig für uns alle. Genau wie unsere Wohnung. Doch ich hatte kein Geld, um mir einen solchen Luxus zu leisten. Und nicht genug Zeit, um hier mehr als das Allernötigste zu machen.

»Na, ihr zwei? Wie war’s in der Schule?«, fragte ich, als wir schließlich gemeinsam am Küchentisch saßen. Als ich die Teller auffüllte, musste ich an Lena, meine österreichische Freundin aus Kindheitstagen, denken. Frittatensuppe hieß die heiße Brühe mit den Pfannkuchenstreifen in ihrer Heimat. Während ich auf die Antwort wartete, häufelte ich kleingehackte Petersilie und Schnittlauch in die Suppenterrinen aus blau-weiß gepunkteter Keramik. Dieses hübsche Geschirr hatte ich letztes Jahr günstig auf der Auer Dult erstanden.

»Igitt! Ich hasse Schnittlauch«, rief Molly empört, tunkte den Löffel in ihre Terrine und fischte die frischen Kräuter mit angewiderter Miene wieder heraus.

»Seit wann das denn?«, fragte ich, nahm ihr den Löffel aus der Hand und verteilte seinen Inhalt über meine Suppe.

»Seit immer schon«, antwortete Molly schnippisch.

»Ach, du spinnst doch«, widersprach nun auch Louisa. »Vorgestern hast du dir noch eine Extraportion Schnittlauch auf deine Butterbrezn gemacht.«

Diesen Einwand – dessen Korrektheit ich bestätigen konnte – überging Molly hoheitsvoll und streichelte stattdessen demonstrativ Momo, die soeben maunzend in die Küche getapst war und nun Mollys Knöchel umschmeichelte.

»Hat sie schon ihr Futter bekommen?«

Louisa und Molly schauten einander fragend an, woraus ich schloss, dass keine der beiden daran gedacht hatte, Momo zu füttern. Dabei hatten sie mir das Kätzchen vor drei Monaten unter Tränen abgebettelt und versprochen, sich immer, immer rührend um Momo zu kümmern.

»Du hast keine Arbeit damit, versprochen«, hatte Louisa behauptet, und Molly hatte mit ihrem »Bütte, liebste Mama, bütte« mein Herz ebenso zum Schmelzen gebracht wie die kleine, pechschwarze Mischlingskatze mit den rötlichen Flecken, die Nachbarn den Mädchen geschenkt hatten.

Seit Momos Einzug lagen in der Wohnung Bällchen aus Stoff oder Gummi herum, genau wie kleine Krümel von Katzenstreu, das Momo auf samtweichen Pfötchen überall verteilte.

Ein wenig genervt legte ich den Löffel beiseite. »Okay, dann werde ich Momo nachher zu fressen geben. Aber das ist das letzte Mal, habt ihr mich verstanden?«

Molly und Louisa nickten schweigend, während sie weiter ihre Suppe löffelten.

»Also, wie war’s heute in der Schule? Habt ihr eure Mathearbeit zurückbekommen?« Der letzte Teil meiner Frage galt Louisa, die gut in Sprachen, Sport und Kunst war, dafür aber ein Totalausfall in Naturwissenschaften. Ihr Gesicht verdunkelte sich schlagartig. Kein gutes Zeichen.

»Ich habe eine Fünf bekommen«, murmelte sie betreten. Ihr welliges, dunkelbraunes Haar fiel ihr wie ein seidiger Vorhang vors Gesicht. Auch Molly schaute angestrengt auf den Boden zu Momo.

Im Grunde meines Herzens hatte ich alles Verständnis der Welt für dieses schulische Problem, da ich selbst nie gut in Mathematik gewesen war. Als Mutter konnte ich die schlechte Note jedoch auf keinen Fall unkommentiert durchgehen lassen.

»Dann wird es jetzt aber allerhöchste Zeit für Nachhilfe, sonst bleibst du dieses Jahr noch sitzen«, sagte ich deshalb in so strengem Ton, dass Nic stolz auf mich gewesen wäre. Doch Nic war, wie immer in den letzten beiden Jahren, nie dabei, wenn es um wichtige Themen wie schlechte Zensuren oder kostspielige Klassenreisen ging. Ich würde später, wenn die Mädchen im Bett waren, über diese Dinge mit ihm sprechen müssen.

Nachdem ich Louisa Geld für den Klassenausflug an den Starnberger See gegeben und sowohl Momo gefüttert als auch die Katzentoilette gesäubert hatte, kehrte allmählich Ruhe in unserer kleinen Wohnung ein. Meine Töchter waren in ihre Zimmer verschwunden, kaum dass sie den Tisch abgeräumt und das Geschirr in die Spülmaschine gestellt hatten.

Bevor ich es mir mit einem Becher Tee auf dem Sofa gemütlich machte, wollte ich jedoch bei Molly nach dem Rechten sehen. »Soll ich dir noch etwas vorlesen?«, fragte ich und kippte das Fenster, um zu lüften, bevor meine Kleine einschlief. Zurzeit war Molly geradezu hingerissen von einer Pferdebuchreihe, und es würde sicher nicht lange dauern, bis sie sich ein Pferd wünschte. Oder zumindest Reitunterricht.

»Heute lese ich selber«, gab Molly – versunken in die Lektüre – zur Antwort. Ich beugte mich über sie, gab ihr erst einen Kuss auf die Stirn und dann einen auf die Nase. »Grrr, das kitzelt«, schimpfte Molly und wand sich kichernd unter ihrer Bettdecke.

»Schlaf schön und träum süß, meine kleine Motte«, entgegnete ich, weil mein Töchterchen eine echte Nachteule war und häufig nachts herumgeisterte, wie eine Motte, die das Licht sucht. »Mach nicht mehr so lange, hörst du?«

»Ja, ja. Nacht, Mama«, antwortete Molly, ohne jedoch den Blick von ihrem Buch zu heben.

Aus Louisas Zimmer ertönte leises Murmeln, bestimmt hatte sie den Fernseher laufen oder schaute irgendeine Serie auf YouTube. Zurück in der Küche, kochte ich mir einen Früchtetee. Dann schaute ich auf die Uhr: kurz vor halb zehn – sicher würde Nic gleich kommen.

Nic, meine große Liebe.

Mein Anker im Leben. Mein Ein und Alles.

»Hallo, meine Schöne«, sagte er, als er endlich da war, und strahlte mich an. »Wie war dein Tag?« Dass nach so vielen Jahren immer noch so viel Liebe zu mir in seinen Augen stand, grenzte für mich an ein Wunder.

Ich erzählte von Louisas schlechter Zensur in Mathe, davon, dass die Mädchen wie üblich vergessen hatten, Momo zu füttern, und von kleinen Begebenheiten aus meinem Alltag als Floristin.

»Und was ist das Beste, was dir heute passiert ist?«, fragte Nic und streichelte zärtlich meine Hand.

Ich überlegte kurz. Außer der Tatsache, dass mein Liebster endlich da war und ich nun den anstrengenden Tag gemeinsam mit ihm ausklingen lassen konnte?

»Ich habe heute ein Kompliment dafür bekommen, dass ich so ein tolles Gespür für die Bedürfnisse meiner Kunden habe«, erzählte ich und musste bei der Erinnerung an Cocos Lob lächeln. Sie war wirklich eine wundervolle Chefin. Ich schätzte mich glücklich, dass wir nicht nur gut zusammenarbeiteten, sondern dass sie mir auch stets eine verlässliche Freundin war.

»Ja, das hast du, mein Schatz«, stimmte Nic Coco zu. »Und das ist nur einer von vielen Gründen, warum ich dich so sehr liebe.«

2.

Der liebe Frühling kommt mit hellem Klange …

Guten Morgen«, begrüßte ich Sandra, die Besitzerin des Friseursalons in der Utzschneiderstraße, die – wie jeden Morgen – ihren Kaffee auf der Straße trank. Egal ob es schneite, stürmte oder die Sonne schien. Ich war gerade auf dem Weg zur Arbeit, blieb jedoch stehen, als ich sie sah.

Bis vor kurzem hatte sie vor ihrem Salon Kette geraucht. Doch seit einiger Zeit achtete die Mittfünfzigerin sehr auf ihre Gesundheit und hatte sich das Rauchen abgewöhnt. Bis auf den morgendlichen Milchkaffee trank sie den ganzen Tag über neben Wasser ausschließlich selbst zubereitete Smoothies aus Früchten und Gemüse vom Viktualienmarkt. Sie hatte eine Abmachung mit einem Marktstandbesitzer: Vitamine im Tausch gegen Haareschneiden. Ein Arrangement, das beide glücklich machte.

»Morgen, Aurelia«, grüßte Sandra fröhlich lächelnd zurück. »Ist das nicht ein herrliches Wetter?«

Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute in den tiefblauen Himmel, der sich über München spannte. Kaiserwetter nannte man das in Bayern, auch wenn der Ausdruck ursprünglich vom österreichischen Kaiser Franz Joseph dem Ersten stammte, wie Lenas Mutter mir mal erzählt hatte.

»Für April wirklich genial«, antwortete ich und atmete tief ein. Die Blüten der umstehenden Bäume verströmten ihren intensiven Duft und schenkten unserer grauen, öden Straße einen Hauch von Frühling, auch wenn wir gerade mal neun Grad hatten. »Ich hoffe, das bleibt so. Louisa fährt morgen nämlich mit ihrer Klasse an den Starnberger See.«

»Oh, wie toll, da war ich schon ewig nicht mehr.« Sandra schaute so verträumt in die Ferne, als sähe sie dort weiße Segelboote auf dem See schaukeln.

»Du arbeitest halt zu viel«, entgegnete ich, da Sandra neben ihrer Arbeit im Friseursalon ehrenamtlich Perücken für Krebspatienten herstellte, was sie viel Zeit und Kraft kostete. »Gönn dir hin und wieder eine Pause, gerade jetzt, wo es endlich wieder schön wird.«

»Das sagt grad die Richtige«, entgegnete Sandra lachend. »Wann bist du denn das letzte Mal aus der Stadt herausgekommen?«

Ich dachte nach.

Das war lange her – viel zu lange.

»Du, ich muss leider …«, sagte ich, weil ich sonst zu spät zur Arbeit kommen würde. »Hab einen schönen Tag. Bis später.«

Nachdenklich ging ich an einem Zeitschriftenkiosk vorbei, dem ein kleiner Cupcake-Laden, ein Secondhandshop und schließlich ein Schmuckladen folgte, der ganz untypisch für diese eher konservative, bürgerliche Wohngegend war. Ich beschloss, gar nicht erst ins Fenster zu schauen, um nicht in Versuchung zu kommen, mich in eine der wunderhübschen filigranen Ketten oder Ohrringe zu verlieben. Für solchen Schnickschnack fehlte mir das Geld.

Als ich an Cocos Stand ankam, war die gerade dabei, die frischen Blumen, die sie frühmorgens auf dem Großmarkt gekauft hatte, in Kübel zu stellen. Ich war Coco sehr dankbar dafür, dass ich erst da sein musste, nachdem Molly und Louisa pünktlich – und mit Pausenbroten versorgt – zur Schule gegangen waren. Wie immer begrüßten wir beide uns mit einem Küsschen auf die Wange. Coco duftete jeden Tag anders und immer nach Blüten. Heute waren es Veilchen.

»Und? Alles klar bei euch daheim?«, wollte Coco wissen und stemmte die Hände in die Hüften. »Was für eine Note hat Louisa für die Mathearbeit bekommen?« Als gute Freundin und Ersatz-Oma meiner beiden Mädchen war Coco stets auf dem neuesten Stand, was Molly und Louisa betraf.

»Eine Fünf«, antwortete ich düster. »Ich versuche, heute Nachmittag ihren Lehrer zu erreichen, um ihn zu fragen, wie es jetzt weitergeht und ob er einen guten Tipp für Nachhilfe hat. Ich mag gar nicht daran denken, was das wieder alles kostet.«

Coco nickte mitfühlend, ihr Doppelkinn ruhte dabei gemütlich auf ihrem Brustbein. Heute trug sie ein nachtblaues, relativ enges Kleid, das ihren mehr als üppigen Busen und ihre mollige Figur geradezu dramatisch betonte. Ihre Haare – rabenschwarz gefärbt – waren zu einem klassischen Pagenkopf frisiert. Coco war das, was man gemeinhin ein Vollweib nannte. Eigentlich hieß sie Cornelia Müller, aber dieser Name war ihr immer schon zu spießig und profan gewesen. Die nur knapp einen Meter sechzig große Coco war zu Höherem bestimmt, hatte lange Jahre mit einem reichen Liebhaber in Paris gelebt und war vor fünf Jahren wieder zu ihren bayerischen Wurzeln zurückgekehrt. Der Mann ihres Herzens hatte die im Laufe der Jahre immer rundlicher und natürlich älter werdende Coco gegen eine blonde, hohlwangige Gazelle ausgetauscht, die an der Sorbonne studierte. Wenn man die sechzigjährige Coco fragte, was sie gelernt oder wo sie studiert hatte, antwortete sie stets: »An der Schule des Lebens.« Zum Verkauf von Blumen war sie durch einen reinen Zufall gekommen, im Gegensatz zu mir, die den Beruf der Floristin von der Pike auf gelernt hatte.

Ich hatte Coco zum ersten Mal vor drei Jahren auf dem Viktualienmarkt getroffen, als ich an ihrem Stand einen Blumenstrauß kaufte. Und ich war heilfroh, als sie mir wenig später einen Job anbot, als ich dringend einen brauchte. Seit dieser Zeit waren wir beide nahezu unzertrennlich, obwohl wir nicht unterschiedlicher hätten sein können. Sie hatte eine angenehm mütterliche Art und verströmte Optimismus und gute Laune in Momenten, in denen andere sich am liebsten die Kugel gegeben hätten. Auch ihren Abstieg von Paris nach München nahm sie mit der ihr wesenseigenen Grandezza.

Dein Kerl hat dich wegen einer anderen verlassen?

Wein ihm keine Träne nach, das macht nur hässlich.

Deine finanzielle Zukunft liegt gerade in Trümmern?

Ach was, keine Panik. Es kommt immer was Neues!

A bisserl was geht immer, lautete ihre Devise, gemäß dem Motto von Monaco Franze, der Kultfigur aus der Feder Helmut Dietls, mit der ich groß geworden war.

»Wenn du eine kleine Finanzspritze für Louisa brauchst, ist das kein Problem«, bot Coco an.

»Danke, das ist total lieb, aber ich versuche erst mal, so klarzukommen. Bestimmt gibt es irgendeinen Zuschuss für Nachhilfe, ich muss mich einfach nur drum kümmern.«

In diesem Moment näherte sich eine wunderschöne, hochschwangere Frau dem Stand. Meinem Gefühl nach stand sie kurz vor der Entbindung.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ich, als sie unschlüssig vor den prall gefüllten Blumenkübeln mit farbenfrohem Inhalt auf und ab ging. Was auch immer sie sich jetzt aussuchte, es durfte auf gar keinen Fall so intensiv duften wie Lilien oder Hyazinthen.

»Ich bin zum Kaffee bei einer Freundin eingeladen und möchte ihr einen hübschen Strauß schenken«, antwortete die Kundin. »Irgendetwas im Wert von fünfzehn Euro.«

»Wie wär’s mit einer Mischung aus Ranunkeln, Chrysanthemen und Lupinen?«, schlug ich vor und deutete auf die pastellfarbenen Blumen. »Die halten sich besonders lange und sehen außerdem traumhaft aus.« Da die Kundin zustimmend nickte, nahm ich von allen drei Sorten einige Stengel aus dem Wasser, befreite sie vom unteren Blattgrün und schnitt sie an. Dann umwickelte ich sie mit hellem Blumenbast. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Dame sich über den runden Bauch strich.

Und mit einem Mal erblickte ich eine schwarze, elliptische Erscheinung um die Silhouette der Frau, ähnlich wie ein Trauerflor. Ich blinzelte ein paarmal, um das vermeintliche Trugbild zu verscheuchen, doch es blieb.

»Das sieht toll aus«, sagte die Kundin und lächelte zufrieden. Dann nahm sie ihre Sonnenbrille ab, um sie mit einem Taschentuch zu putzen. Unter ihren blauen Augen lagen tiefe, dunkle Schatten – und mir wurde mit einem Mal eiskalt.

»Das freut mich«, antwortete ich mit klopfendem Herzen.

Was um Himmels willen ging hier vor?

Ich überreichte ihr den in cremefarbenes Papier gewickelten Strauß, kassierte und gab mechanisch das Wechselgeld heraus. Nachdem die Kundin sich verabschiedet hatte, war ich kaum fähig, mich zu rühren.

»Was ist los? Hast du ein Gespenst gesehen?«, fragte Coco und schaute mich prüfend an.

Ich murmelte »So ähnlich« und überlegte, ob ich ihr von dieser Erscheinung erzählen sollte.

»Schätzchen, du bist weiß wie die Wand! Was ist los?« Wenn Coco diesen Ton anschlug, war jeder Widerstand zwecklos. Also erzählte ich ihr stammelnd von meiner Beobachtung, obwohl das Ganze vollkommen absurd klang. Coco sagte eine Weile lang gar nichts, legte lediglich ihren Kopf schief.

»Du hältst mich für verrückt, nicht wahr?«, fragte ich.

»Nein, das tue ich nicht«, antwortete sie und tätschelte liebevoll meine Hand. »Komm, wir setzen uns einen Augenblick. Aber vorher koche ich uns noch einen starken Kaffee.«

Während sie in der Miniküche im hinteren Teil des befestigten Standhäuschens herumhantierte, bediente ich weitere Kunden. Zum Glück wollten alle nur vorgebundene Sträuße, so dass ich mich nicht besonders konzentrieren musste. Kurze Zeit später tauchte Coco mit zwei Bechern in der Hand auf und stellte sie auf das wackelige, runde Emaille-Tischchen, an dem wir im Sommer saßen, wenn gerade nichts zu tun war. An sich war es noch zu kühl, um sich hinzusetzen, aber Coco reichte mir eine Fleecedecke und hüllte sich selbst in eine zweite. »Also … ich habe nachgedacht«, sagte sie und pustete in ihren dampfenden Kaffee. »Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass du so etwas wie eine Vision gehabt haben musst. Wahrscheinlich hast du die Aura dieser Kundin gesehen, anders kann ich mir das, was du beschrieben hast, nicht erklären.«

Die Aura?! Eine Vision?!

Das klang total verrückt. Und gruselig!

»Seit der Sache mit Nic bist du noch feinfühliger und dünnhäutiger geworden, als du es eh schon warst. Und du hattest immer schon ein sehr gutes Gespür für Menschen und deine gesamte Umgebung. Du hörst nun mal die Flöhe husten, bevor sie es wirklich tun, Aurelia. Vielleicht ist diese Frau ja krank oder hat Kummer, und du hast das intuitiv erfasst. Kein Grund, sich einen Kopf zu machen. Aber …«

Mein Herzschlag setzte einen kurzen Moment aus, weil ich ahnte, was jetzt kam. »… das ist meiner Meinung nach ein Zeichen dafür, dass du dich allmählich mit den Realitäten auseinandersetzen und die Dinge akzeptieren solltest, wie sie sind. Bei allem Verständnis für dich und deine Situation glaube ich nicht, dass es auf Dauer gesund ist, wie du dich verhältst. Du machst dir etwas vor, und das weißt du auch.«

 

Als ich nach der Arbeit nach Hause ging, hallten Cocos Worte immer noch in meinen Ohren nach.

Entsprechend fehlte mir der Sinn für die Schönheiten des Münchner Marktes, eines Wahrzeichens der Stadt. Normalerweise drehte ich abends noch eine Runde, bevor ich mich auf den Heimweg machte, und plauderte mit den Nachbarn, die ihre verführerischen Waren unter den grünen Dächern ihrer befestigten Stände anboten. Ich kostete bei Sándor ungarische Delikatessen, bekam bei Katharinas Früchtestand Obst für die Mädchen geschenkt oder erfreute mich im Sommer am Anblick der tiefblauen Heidelbeeren, die appetitlich in runden Holzkörbchen feilgeboten wurden. Ich mochte es, wenn sich der süßliche Duft ungarischer Paprika mit dem von frischen Kräutern, Erdbeeren oder hausgemachten würzigen Würsten vermischte, und warf gern einen Blick auf die hübschen geflochtenen Kränze aus Getreide und getrockneten Blumen. Wenn die Zeit es zuließ, lief ich auch an den Ständen vorbei, die bunt bemalte Herzen aus Holz in ihrem Angebot hatten oder kleine Tierchen aus Stroh, die Molly so sehr liebte und von denen ich ihr ab und zu eines schenkte.

Danach schlenderte ich normalerweise zu den Bronzefiguren der Münchner Komiker Liesl Karlstadt, Weiß Ferdl und Karl Valentin, die unter majestätischen Kastanienbäumen standen, und kaufte noch ein leckeres Sonnenblumenbrot bei der Hofpfisterei. Zuletzt umrundete ich den Biergarten, um den der Markt angelegt war, und schaute auf den gigantisch hohen Maibaum, auf den ich als Kind immer hatte klettern wollen, um von da aus auf ganz München blicken zu können.

All das war tägliche Routine, die manch einer vielleicht als langweilig bezeichnet hätte. Doch für mich bedeutete sie Sicherheit in einer unsicheren Lebenssituation.

Heute allerdings ließ ich meine Runde über den Markt ausfallen. Cocos Worte gingen mir einfach nicht aus dem Kopf. Sie hatte ja recht.

Natürlich machte ich mir seit zwei Jahren etwas vor, das wusste ich ganz genau.

Aber ich konnte nicht anders. Ich würde sonst verrückt werden.

Und so ließ ich es auch an diesem Abend wieder zu, dass Nic auf meinem Sofa Platz nahm und mir das Gefühl gab, der wichtigste Mensch in seinem Leben zu sein.

Ja, ich würde mich den Dingen stellen, und ich würde irgendwann loslassen – aber noch nicht jetzt.

Jetzt brauchte ich Kraft für meine Töchter und mich.

3.

Liebe stirbt nie.

Obwohl ich an diesem Samstag ausnahmsweise freihatte, erwachte ich, wie jeden Morgen, um sechs Uhr.

Ich hielt die Lider bewusst noch einen Moment geschlossen, denn ich hatte einen schönen Traum gehabt und wollte ihn am liebsten gar nicht mehr loslassen.

In diesem Traum war ich mit Nic, Molly, Louisa und sogar Momo auf einem Hausboot von der Oder an die Ostsee unterwegs gewesen. Die Kinder hatten den größten Spaß bei einem Bummeltrip auf Rügen gehabt, wohingegen Nic und ich uns kaum an den stillen Buchten und schroffen Felsküsten hatten sattsehen können. Nics glückliches Lachen, weil er kaum etwas mehr liebte, als auf dem Wasser zu sein, die zarten Fältchen um seine unwirklich waldseegrünen Augen und seine Begeisterungsfähigkeit hatten so lebendig und echt gewirkt, dass es mir schwerfiel zu glauben, dass dies alles nur ein Traum gewesen war.

»Irgendwann werden wir diese Reise zusammen machen«, murmelte ich, immer noch mit geschlossenen Lidern. Diese Tageszeit war ein kostbares Geschenk, für das ich unglaublich dankbar war. Über unserer kleinen Wohnung lag absolute Stille, alles hatte seine Ordnung. Um sieben würde das Klappern der Mülltonnen, die immer samstags abgeholt wurden, anzeigen, dass in unserem Wohnviertel ein neuer Tag anbrach. Das Läuten der Glocken der Fraunhofer Kirche, das Zwitschern der Frühlingsvögel, das Getratsche der Nachbarn auf der Straße, all diese Geräusche gaben mir das wohlige Gefühl von heimatlicher Geborgenheit. Und das süße Maunzen von Momo erinnerte mich daran, dass die kleine Katze gefüttert werden musste und es allmählich an der Zeit war, aufzustehen.

Danach würde ich frische Semmeln holen, die Wohnung putzen, meine Steuererklärung machen und später das Abendessen kochen, zu dem ich Coco eingeladen hatte. Anschließend wollte sie mich in Schumann’s Bar am Odeonsplatz ausführen, weil sie fand, dass es höchste Zeit war, mal wieder ein bisschen Nachtluft zu schnuppern und sich unter die Münchner Schickeria zu mischen. Ich selbst hätte mir diesen Luxus nicht leisten können, aber Coco verdiente mit dem Verkauf von Blumen eine Menge Geld und liebte es, anderen Menschen eine Freude zu machen. Und ich liebte die Gegend um den Hofgarten mit seiner Blütenpracht, dem Pavillon und dem romantischen Flair, das mich ein wenig an Paris erinnerte. Die glücklichen Bilder aus dem Traum noch immer vor Augen, schwang ich mich aus den Federn und stellte mich einem neuen Tag.

 

»Na hoffentlich schlafen Louisa und Molly auch und schauen nicht die halbe Nacht lang schräge Sachen auf DVD oder YouTube«, sagte ich am Abend zu Coco und überflog das Angebot der umfangreichen Cocktailkarte von Schumann’s, als wir um kurz nach zehn dort ankamen. »Weißt du schon, was du nimmst?«

Ich ging äußerst selten aus und hatte deshalb nur eine vage Ahnung von den In-Drinks, die von Jahr zu Jahr wechselten. Zurzeit wurden Gin und Tonic Water in allen Variationen gehypt, das hatte sich mittlerweile sogar bis zu mir herumgesprochen. Doch mir war es egal, welches Getränk gerade en vogue war, ich wollte, dass es schmeckte – gerade wenn es so furchtbar viel kostete. Also würde ich den Klassiker, einen Cosmopolitan, nehmen.

»Ich versuche mal den Gin Basil Smash«, antwortete Coco.

Neugierig las ich mir die Liste der Zutaten durch: Gin, Basilikum, Zitronensaft, Zuckersirup und Eis. Bis auf die Idee mit dem Basilikum erschien mir das Ganze nicht wirklich neu, aber wenn Coco Spaß daran hatte … »Und denk bitte nicht an deine beiden Mäuse, die tanzen jetzt eh schon auf dem Tisch. Lass sie Filme gucken, für die sie zu jung sind, oder sich den Magen mit zu viel Chips und Schoki verderben. Mach dich locker, Aurelia, das gehört dazu. Davon stirbt keiner.«

Ich dachte kurz an Nic und verspürte ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust.

»Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?«, unterbrachen zwei Herren in schicken Anzügen unser Gespräch und deuteten auf die beiden freien Plätze neben uns.

Coco musterte beide unverhohlen und nickte dann erfreut. An sich hätte sie mich in ihre Entscheidung einbeziehen müssen. Aber so war Coco: lebenshungrig und immer auf der Suche nach neuen Abenteuern.

»Dürfen wir Sie denn auch zu Ihren Drinks einladen?«, fragte einer der beiden, den ich auf Anfang sechzig schätzte.

Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollten, doch Coco antwortete grinsend: »Aber natürlich, wozu geht man schließlich in eine Bar?« Der Jüngere der beiden schaute ebenso verlegen drein, wie ich mich gerade fühlte. Unsere Blicke kreuzten sich für den Bruchteil einer Sekunde. »Wo kommen Sie beide denn her? Sie sehen so aus, als seien Sie auf Geschäftsreise hier«, fuhr Coco fort.

»Das stimmt«, antwortete der Ältere und stellte sich selbst als Rolf Hansen vor. Der andere war Frank Wagner. Beide kamen aus Hamburg, arbeiteten dort für eine Reederei und waren aus beruflichen Gründen in München.

Nachdem wir ebenfalls unsere Namen genannt hatten, plauderten wir ein Weilchen über die Unterschiede zwischen beiden Städten. Ein schier unerschöpfliches Thema und zum Glück unverfänglich.

In Gedanken an Nic und unseren Wochenend-Trip nach Hamburg vor vielen Jahren wurde ich traurig. Heute Abend ohne ihn sein zu müssen fühlte sich an, als fehlte ein Teil von mir.

Wie glücklich waren wir damals gewesen, wie unendlich verliebt! Wir hatten geglaubt, nichts und niemand könne uns und unsere Liebe je erschüttern!

»Wann waren Sie denn zuletzt in Hamburg?«, fragte Frank Wagner, dessen goldener Ehering aufblitzte, als er sein Bierglas nahm und daraus trank. »Und mögen Sie Musicals?«

»Grundsätzlich mag ich fast alles, was romantisch ist«, antwortete ich. »Ich habe bislang allerdings nur Phantom der Oper gesehen, das mochte ich sehr. Mein letzter Hamburg-Besuch ist schon eine ganze Weile her. Um ehrlich zu sein, kann ich gar nicht sagen, wie lange.«

Wie viel Zeit war vergangen, seit Nic und ich die Gelegenheit gehabt hatten, entspannt zu reisen?

Das musste Jahre her sein.

So viel hatte sich seitdem verändert.

So viel war seitdem passiert.

»Ich würde mir gern die Fortsetzung vom Phantom der Oper anschauen«, mischte sich nun auch Coco in das Gespräch über Musicals ein. »Liebe stirbt nie … Ist das nicht ein großartiger Titel für eine Show?«

»Dann machen Sie das doch«, sagte Rolf Hansen und lächelte Coco herausfordernd an. »Hamburg ist immer eine Reise wert.« Ich suchte seinen Ringfinger nach einem Hinweis ab, ob er verheiratet war, damit Coco gar nicht erst in die Bredouille geriet. Doch da war nichts zu sehen.

»Passen Sie nur auf, ich nehme Sie beim Wort«, entgegnete Coco schelmisch lächelnd und schürzte ihre rubinrot bemalten Lippen. Sie sah mal wieder zum Anbeißen aus. »In welchem Stadtteil wohnen Sie denn? Ach was, lassen Sie mich raten: bestimmt in den Elbvororten.«

Bilder von Nic und mir tauchten auf, wie eine Foto-Collage aus längst vergangenen Zeiten:

Nic und ich, wie wir eng umschlungen an der Reling der Elbfähre in Richtung Museumshafen Oevelgönne stehen. Natürlich hatte er auch in Hamburg jede Gelegenheit genutzt, um auf dem Wasser zu sein. Damals war ich mit Louisa schwanger gewesen.

Wir beide – Hand in Hand – barfuß am Elbstrand. Über uns ein strahlend blauer Himmel, im Hintergrund die Silhouetten der Hafenkräne.

Nics flapsige Bemerkung über mein Gejapse, als ich mich einen der steilen Wege im Blankeneser Treppenviertel nach oben quälte und er mich schlussendlich nach oben schieben musste.

Das gemeinsame Abendessen bei einem urigen, kleinen Italiener, bei dem Nic allerdings zu viel Rotwein getrunken hatte und so melancholisch geworden war, dass wir uns am Ende des traumschönen Tages gestritten hatten.

Dies war der leidvolle Auftakt zu vielen schwierigen Phasen in unserer Beziehung gewesen, wovon ich zu diesem Zeitpunkt zum Glück noch nichts ahnte.

»Aurelia, hallo. Schläfst du schon?«

Cocos Frage riss mich unvermittelt aus meinen Erinnerungen, und ich erschrak.

Wie lange hatte ich mich wieder in meinen Fantasien verloren?

Würde das denn niemals aufhören?

Coco hatte vollkommen recht! Ich musste beginnen, mich den Realitäten zu stellen und nach vorne schauen statt immer nur zurück.

Morgen jährte sich der Tag zum zweiten Mal.

Vielleicht sollte ich dieses Datum zum Anlass nehmen, endlich loszulassen.

Und mich mit dem Gedanken anfreunden, dass mein Leben – und das meiner Töchter – in Zukunft ohne Nic würde stattfinden müssen.

Nic existierte nämlich seit nunmehr zwei Jahren nur noch als Wunschbild in meinem Kopf. Und in meinem Herzen.

Denn er war seit zwei Jahren spurlos aus unserem Leben verschwunden …

4.

Wohin du auch gehst, geh mit deinem ganzen Herzen.

Während Louisa und Molly am Sonntagnachmittag bei ihren Freundinnen waren, verbrachte ich den Tag damit, in der Wohnung klar Schiff zu machen.

Übermüdet und emotional verkatert vom gestrigen Abend starrte ich die Fenster an, die dringend mal wieder geputzt werden mussten. Die Sonne brachte jeden Regentropfen und jede Schliere, verursacht durch den letzten Aprilsturm, erbarmungslos zum Vorschein.

Putzen und aufräumen half eigentlich immer, wenn es mir nicht gut ging. Noch besser war allerdings ausmisten, denn das bedeutete, Ballast abzuwerfen, und zwar in jeglicher Hinsicht.

Ob ich es wagen sollte, mir die Koffer und Kartons mit Nics Sachen anzuschauen? War es nicht endlich an der Zeit, alles zu verschenken, womit man anderen noch eine Freude machen konnte? Oder bedeutete ein solcher Akt, dass ich wirklich einen Schlussstrich unter unser gemeinsames Leben zog und die Hoffnung auf ein Wiedersehen vollends begrub?

Um noch ein bisschen Zeit zu schinden, beschloss ich, mich zuerst an den Fenstern auszutoben. Während ich die Scheiben putzte, dachte ich fortwährend an Nic und all die schönen Jahre, die wir miteinander hatten.

Da meine Eltern vor langer Zeit während eines Skiurlaubes bei einem Lawinenunglück verstorben waren, waren Nic und meine Töchter meine Familie gewesen, obwohl Nic und ich nicht verheiratet waren. Nic war als Halbwaise von seiner Mutter erzogen worden, pflegte aber kein enges Verhältnis zu ihr. Angeblich litt sie seit seiner Geburt unter starken psychischen Problemen. Nic hatte mir zwar wiederholt einen Antrag gemacht, doch ich hatte mich nie recht dazu durchringen können, den Bund fürs Leben zu schließen, wie es so schön hieß. Jemandem zu versprechen, in guten wie in schlechten Tagen für ihn da zu sein – und das bis ans Lebensende –, war eine große Verantwortung. Und ich hatte schon genug damit zu tun, seine Krankheit zu verkraften und sie mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen.

In den vergangenen Jahren waren seelische Erkrankungen zum Glück von der Gesellschaft immer stärker akzeptiert worden. Man hielt diese Diagnose nicht mehr so verschämt geheim, wie es früher mal üblich gewesen war, insbesondere bei Männern. Angstzustände, bipolare Störungen, Burnout-Syndrom, all diese Probleme wurden in den Medien thematisiert, und das war auch gut so, denn so konnte man besser mit ihnen leben. Und sie im einen oder anderen Fall auch heilen.

An den Tag, als unser Hausarzt Nic Depressionen attestiert hatte, konnte ich mich noch gut erinnern.

Ich hatte Nic als zupackenden, dynamischen Mann und erfolgreichen Ingenieur kennengelernt, und wir hatten viele glückliche gemeinsame Jahre verbracht. Doch nach der Geburt von Louisa bekam unsere heile Welt erste Risse. Nachdem auch Molly auf der Welt war, zog Nic sich immer häufiger zurück. Nach Monaten, in denen er antriebslos gewesen war, beinahe ständig geschlafen und sogar das Interesse am Wassersport und Segeln verloren hatte, war es anfangs richtiggehend befreiend gewesen, endlich einen Namen für das Monster zu haben, das unser Familienglück und unsere Liebe bedrohte.

Wenn man den Feind kennt, kann man ihn auch bekämpfen, hatte ich gedacht. Oft fehlten nämlich bei Patienten mit dieser Erkrankung lediglich bestimmte Botenstoffe, und man konnte dieses Defizit mit Hilfe von Antidepressiva verhältnismäßig gut in den Griff bekommen. Doch im Fall von Nic lagen die Dinge bedauerlicherweise anders. Die Medikamente zeigten unliebsame Nebenwirkungen, die seine Verfassung eher verschlechterten als verbesserten.

»Hier ist der Anrufbeantworter der Familie Förster. Wir sind gerade nicht da oder können nicht ans Telefon kommen. Nachrichten bitte nach dem Pieps, wir rufen dann zurück.«

Mollys süße, kindliche Stimme hallte durch die Wohnung, weil nach mehrmaligem Klingeln unser Anrufbeantworter angesprungen war. Es hatte damals mehrerer Anläufe bedurft, bis sie den Text fehlerfrei aufs Band gesprochen hatte. Nic und Molly hatten sich wegen der vielen Versprecher vor Lachen gekugelt, genau wie Louisa und ich.

»Ich bin’s, Coco. Wollte mal hören, wie es dir heute geht. Nun geh schon ran, Aurelia, ich weiß, dass du da bist.«

Seufzend legte ich das Putzzeug beiseite und ging in den Flur, wo unsere Festnetzstation auf einem Tischchen stand. Momo rieb maunzend ihr Köpfchen an meinem Knöchel.

»Ertappt«, sagte ich zu Coco, nachdem ich abgenommen hatte. »Ich hatte mich zwar gerade dazu aufgerafft, mich endlich mal an die Fenster zu machen, aber eine kleine Quatsch-Pause mit dir ist trotzdem drin.« Ich klemmte mir den Hörer zwischen Ohr und Schulter und ging dann in die Küche. Ein Kaffee war jetzt genau das Richtige. Um Zeit zu sparen, entschied ich mich für die Instant-Variante aus dem Glas.

»Wenn du fertig bist, kannst du gleich bei mir vorbeikommen und hier weiterputzen«, sagte Coco, und ich konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören. Ebenso wie einen gewissen Triumph. »Dreimal darfst du raten, wer mich vorhin angerufen und zu einem Wochenende nach Hamburg eingeladen hat.«

Da brauchte ich nicht lange zu überlegen.

»Hey, das ist ja super. Rolf Hansen scheint ein Mann der Tat zu sein. Finde ich gut.«

»Und er ist stinkereich«, antwortete Coco in diesem schwärmerischen Tonfall, den sie stets anschlug, wenn sie von ihren Pariser Zeiten erzählte. Ihren Erzählungen nach hatte sie in Frankreich wie eine echte Bohemienne gelebt: Besuche in den schicksten Restaurants, Theatern und Museen hatten auf der Tagesordnung gestanden – oder wonach ihr und ihrem wohlhabenden Gönner gerade der Sinn gestanden hatte.

»Also nicht, dass mir das wichtig wäre …«

Ich schmunzelte, weil ich genau wusste, dass Coco ziemliche Ansprüche hatte. Ihre Affäre mit einem deutlich jüngeren, mittellosen Musiker hatte gerade so lange gedauert, wie ich gebraucht hatte, mir seinen Namen zu merken.

Schade drum, er war ein himmlischer Liebhaber mit grandiosem Durchhaltevermögen, hatte sie theatralisch geseufzt, nachdem sie ihm den Laufpass gegeben hatte. Aber ich hatte auf Dauer keine Lust, seine Mama zu spielen und ihm zu sagen, wo es im Leben langgeht. Das muss er schon selbst wissen.

»Und? Wann fährst du?«, fragte ich und versuchte, mir die bunt schillernde Coco bei den eher konservativen Hanseaten vorzustellen.

»Am Freitag«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Hast du Lust, mitzukommen?«

Cocos Frage überraschte mich – und traf einen Nerv. Wann war ich das letzte Mal verreist? Noch dazu ohne Kinder. Doch sosehr ich mich nach ein wenig Abwechslung und Zeit für mich sehnte, genau das war der springende Punkt. »Und was ist mit Molly und Louisa? Oder hast du die schon vergessen?«

Einen Moment war es still in der Leitung. »Du könntest Sandra bitten, ein Auge auf deine Süßen zu haben«, schlug Coco schließlich vor. »Ist doch nur ein klitzekleines, winziges Wochenende. Komm schon, sag ja, und ich buche uns beiden einen Flug.«

Ich zögerte. »Ich weiß nicht recht … ich habe gerade beschlossen, mir endlich Nics Sachen vorzuknöpfen und reinen Tisch zu machen. Das wird bestimmt eine ganze Weile dauern … außerdem vergisst du, dass ich am Stand gebraucht werde. Erst recht, wenn du in Hamburg bist.«

»Dann machen wir es einfach so: Ich bin in einer Viertelstunde bei dir. Zu zweit haben wir das doch alles ruck, zuck erledigt. Und dann machen wir uns zur Belohnung ein nettes Wochenende in Hamburg, lassen uns in einem schönen Hotel verwöhnen und feiern deinen Schritt in ein neues Leben. Keine Widerrede, ich bin gleich da.«

Und zack, war die Leitung auch schon tot. Ich trank meinen Kaffee in einem Zug leer und kicherte leise vor mich hin.

Coco war eine echte Marke. Dass sie liebend gern das Leben ihrer Mitmenschen durcheinanderwirbelte, wusste ich. Und dieses Mal traf es offensichtlich mich.

 

»Wie lange warst du nicht mehr hier oben?«, fragte sie, nachdem wir in den fünften Stock gestiegen waren. Anstatt zu antworten, öffnete ich das Vorhängeschloss des Drahtgitters, vor das Nic notdürftig ein paar Pappen geklebt hatte, um zu verhindern, dass jedermann in unseren Speicher schauen konnte. »Lass mich raten – seit zwei Jahren?«, mutmaßte Coco.

Ich nickte und musste niesen, weil der Staub und der muffige Geruch meine Nase kitzelten. Dann knipste ich das Licht an. Vor mir lag ein ganzes Universum längst vergangener Tage: Mollys Laufrad, Louisas Schlitten, ein alter Kaninchenstall und eine Puppenstube, die Nic damals für die Mädchen gebaut hatte. Diese hatte ich – im Gegensatz zu den anderen Dingen – sorgfältig mit einer Folie abgedeckt und an den Seiten abgeklebt, so dass kein noch so winziges Körnchen Staub eindringen konnte. In diesem Fall war ich ausnahmsweise penibel gewesen, denn bei der Puppenstube handelte es sich um weit mehr als nur ein Spielzeug.

»Was für ein Schmuckstück!«, sagte Coco mit Ehrfurcht in der Stimme und tänzelte auf ihren hochhackigen Leo-Print-Pumps um das Häuschen, das auf einem alten Campingtisch thronte. »Aber wieso steht es denn hier oben? Das gehört ja fast schon ins Museum.«

»Die Mädchen waren aus dem Alter raus und hatten keine Lust mehr, damit zu spielen«, antwortete ich, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Tatsache war, dass dieses Puppenhaus Nics ganze Liebe für seine beiden Töchter symbolisierte. Er hatte Stunden damit zugebracht, es zu bauen und zusammen mit Louisa und Molly die Einrichtung auszusuchen. Ein echtes Vater-Töchter-Projekt, bei dem es mir stets Tränen der Rührung in die Augen getrieben hatte.

Nachdem Nic verschwunden war, hatten die beiden allerdings den Anblick dieses Kleinods nicht mehr ertragen können. Und so hatte ich die Puppenstube irgendwann schweren Herzens auf den Dachboden gebracht und dort sorgfältig verhüllt.

»Na, wenn das so ist«, antwortete Coco schulterzuckend. »Wo sind denn Nics Sachen?«

Ich deutete auf mehrere Lederkoffer und Kartons, die ich auf der rechten Seite des Dachbodens an der Wand entlang gestapelt hatte. »Ich habe alles hier heraufgebracht, als Louisa in sein Zimmer gezogen ist«, erklärte ich in Erinnerung an jenen schmerzhaften Moment, etwa fünf Monate nach Nics Verschwinden, als Louisa zaghaft gefragt hatte, ob sie den Raum haben durfte, den ihr Vater als Arbeitsplatz und Rückzugsort genutzt hatte. Da sich auch Molly ein Zimmer für sich alleine wünschte, hatte ich nach anfänglichem Zögern zugestimmt, Nics Hab und Gut unter Tränen wahllos in Kartons verpackt und anschließend mit Louisas Hilfe das Zimmer in hellem Mint gestrichen.

Ich beneidete meine große Tochter um ihre pragmatische Haltung: Natürlich war sie ebenso schockiert und traurig über das spurlose Verschwinden ihres Vaters, doch irgendwann hatte ihr kindlicher Egoismus die Oberhand gewonnen. Und nun freute sie sich darüber, einen Ort für sich zu haben und endlich Freundinnen einladen zu können. Davor hatte sie sich mit ihnen immer im Wohnzimmer aufhalten müssen, um ihre kleine Schwester nicht zu stören. Molly hatte deutlich mehr Probleme mit der neuen Situation gehabt. Obwohl sich beide, wie bei Schwestern üblich, immer wieder zankten und gegenseitig auf die Nerven gingen, hatte Louisas bloße Anwesenheit Molly Halt gegeben. Oft war sie sogar nachts zu ihr ins Bett gekrabbelt, wenn ihr der Vater so sehr fehlte, dass es ihr beinahe das Herz zerriss. Zu sehen, dass sich scheinbar noch ein Mensch von ihr entfernte, schmerzte sie tief in ihrer kleinen, zarten Seele – und so schlüpfte Molly häufiger wieder unter meine Bettdecke, um sich Trost und Geborgenheit zu holen.

»Sind da seine Klamotten drin?«, fragte Coco und deutete auf einen rollbaren Kleiderständer, über den ich eine dunkle Plastikhülle gestreift hatte. »Wenn du magst, kann ich die Sachen ins Flüchtlingsheim bringen. Männerkleidung wird dort sehr gern genommen.«

Die Vorstellung, dass ein anderer als Nic in Zukunft seine Pullover, T-Shirts, Jacketts oder Sneakers tragen würde, ließ den Boden unter mir schwanken.

Was, wenn ich zu vorschnell handelte?

Wenn ich die Hoffnung zu früh aufgab und Nic doch eines Tages zurückkam? Ich einfach nicht genug vertraute?

Dann hatte er noch nicht einmal etwas anzuziehen, bis auf die Sachen, die er gerade trug.

Coco befreite die Kleidung von der Plastikhülle und stieß einen verzückten Schrei aus: »Wow, das ist ja alles supertoll! Ich hatte schon total vergessen, dass er einen so guten Geschmack hatte. Ich schwör’s dir, die werden Luftsprünge machen.«

Angesichts von Cocos Begeisterung und der Aussicht darauf, etwas wirklich Sinnvolles mit Nics Nachlass tun zu können, begann mein Widerstand zu bröckeln.

Jetzt oder nie!

Es war an der Zeit, zu handeln.

»Das wäre wirklich lieb von dir, denn ohne Auto komme ich mit den Sachen leider nicht besonders weit«, antwortete ich, nun doch sehr dankbar dafür, dass Coco mit ihrer zupackenden Art hier war, um mir zu helfen.

Nachdem diese erste, schwere Hürde genommen war, wühlten wir uns stumm, dafür aber Seite an Seite, durch Nics Besitz, der vorwiegend aus Büchern, CDs, alten Platten, maritimen Utensilien, Handwerkszeug und einem Akkordeon bestand. Wir sortierten und verpackten alles in unterschiedliche Kartons, die wir sorgfältig beschrifteten.

Nur das wunderschöne alte Musikinstrument wollte ich aufbewahren, genau wie zwei Kartons mit Nics Segelzubehör. Nic war, wenn es seine Zeit erlaubt hatte, zweimal im Jahr mit Freunden segeln gewesen. Und er hatte gern gelesen, vorwiegend Bücher über Schiffe. Also behielt ich eine Handvoll seiner Lieblingsbücher und CDs, an denen Louisa und Molly später vielleicht mal ihre Freude haben würden.

Nachdem wir fertig waren, anschließend gemeinsam mit den Kindern zu Abend gegessen hatten und Coco nach Hause gegangen war, stellte ich den Karton auf die Couch, um mir seinen Inhalt genauer anzuschauen. Louisa und Molly lagen bereits im Bett, auch Momo hatte sich zufrieden schnurrend in ihrem Katzenkörbchen zusammengerollt.

Um zehn vor zehn breitete ich den gesamten Inhalt der Kiste auf dem Sofa aus. In wenigen Minuten würde Nic kommen, und ich würde mit ihm reden müssen. Schließlich jährte sich heute der Tag seines Verschwindens zum zweiten Mal. Und ich brauchte sein Einverständnis dafür, seine Sachen zu verschenken.

Nachdem ich gedankenverloren einen Kompass angeschaut und ihn mit dem Ärmel meines Baumwollpullovers blank poliert hatte, fiel mein Blick auf ein Buch über Hausboote. Ich legte den Kompass auf den Couchtisch und nahm den hochformatigen Bildband auf meinen Schoß. Der Titel des Buches lautete Hausboot-Perlen – Leben auf Deutschlands Gewässern, und ich erinnerte mich daran, dass Nic öfter darin geblättert hatte.

Bedauerlicherweise hatte das Hochglanzpapier den muffigen Geruch des Dachbodens angenommen. Ich würde das Buch zum Lüften auf den Balkon legen müssen, ehe ich es mir ausführlicher ansah. Gerade als ich den Band wieder zuklappen wollte, ertastete ich im hinteren Drittel etwas, das sich anfühlte wie ein Lesezeichen. Doch stattdessen hielt ich zu meiner Überraschung auf einmal einen zusammengefalteten Zettel in meinen zitternden Händen.

 

Wir sehen uns dort

 

stand da auf dem weißen Papier.

Vier Worte in Nics Handschrift, geschrieben mit meerblauer Tinte. Vier simple Worte, die mich beinahe mehr aufwühlten, als Nics Verschwinden es getan hatte.

Wer war wir?

Und wann hatte Nic dies geschrieben?

Das Blut sauste in meinen Ohren, meine Knie zitterten so sehr, dass der Bildband auf den alten Dielenboden fiel und dort zusammenklappte wie eine Auster.

Ich war weder fähig, mich zu rühren, noch, still zu sitzen.

Ich befand mich an einem Ort im Nirgendwo, der sich gerade anfühlte wie der Vorhof zur Hölle.

 

Wir sehen uns dort

 

Von irgendwoher hörte ich das Läuten der Kirchturmuhr.

Es war zehn.

Etwa um halb elf wusste ich, dass von nun an nichts mehr sein würde, wie es einmal war.

Denn zum ersten Mal seit zwei Jahren kam Nic nicht mehr, um mich zu fragen, wie mein Tag war.

Um mich zu trösten.

Und um mir zu sagen, dass ich sein Stern, seine einzig große Liebe war.

Der Nic, den ich kannte und den ich mehr geliebt hatte als mein Leben, war nun für immer fort …

5.

Alpha und Omega – Anfang und Ende.

Wie in Trance ging ich am nächsten Morgen in Richtung Viktualienmarkt. Der Sonntag hatte einer neuen Woche Platz gemacht. Einer Woche, in der ich würde lernen müssen, nach diesem neuerlichen Schlag wieder aufzustehen und mein Leben weiterzuleben. Doch heute hatte ich weder ein »Guten Morgen« für Sandra übrig, die mit dem Kaffeebecher in der Hand auf dem Gehsteig stand und mich erwartungsvoll anschaute, noch für den freundlichen Herrn am Zeitungskiosk.

Es kam mir seltsam vor, dass sich die Welt um mich herum nicht verändert hatte, während ich innerlich zum zweiten Mal zerbrochen war und meine Seelenscherben wieder kitten musste.

Coco war gerade dabei, einen Strauß aus lilafarbenen Lupinen und pinkfarbenen Gerbera zu binden, als ich am Stand eintraf.

»Was ist passiert?«, fragte Coco. Ohne Umschweife legte sie die Blumen beiseite und zog mich an ihre mütterliche, weiche Brust. Dass gerade ein Kunde auf seinen Strauß wartete, interessierte sie ebenso wenig wie die Tatsache, dass meine Wimperntusche schwarze Schlieren auf ihrer cremefarbenen Seidenbluse hinterließ. Unterbrochen von Schluchzern, die mich so heftig schüttelten, als sei mein ganzer Körper ein Erdbebengebiet, kramte ich schließlich den zusammengeknüllten Zettel aus meiner Handtasche und reichte ihn ihr. Während Coco las, putzte ich mir die Nase, schnappte mir aus schlechtem Gewissen dem Kunden gegenüber den Strauß, überschlug die Kosten und kassierte achtzehn Euro fünfzig. Kopfschüttelnd ging der Herr davon, und ich hörte ihn leise »Wos woar des denn bittschön?« murmeln, was ich ihm absolut nicht verübeln konnte.

»Wo hast du den gefunden? Und von wem ist der?«, fragte Coco und tupfte mit einem Taschentuch Reste meiner verlaufenen Mascara ab. Ich erzählte von dem Bildband und davon, dass ich das Buch zwar von früher kannte, es mir aber noch nie genauer angesehen hatte. »Und worauf bezieht sich dieses dort?«, wollte Coco wissen, zog mich mit sich in das Standhäuschen und hängte das Wir sind gleich wieder für Sie da-Schild an die Tür, das wir in Notfällen benutzten.

»Es lag zwischen den Seiten, auf denen ein Hausboot namens Luna abgebildet ist, das an einem der Elbarme in den Vier- und Marschlanden ankert. Das Boot wurde mit einem Preis für besonders originelles Design ausgezeichnet und hat Nic bestimmt gefallen, wie ich seinen Geschmack kenne«, erklärte ich.

Cocos Augenlider, die sie heute mit schwarzem Kajal dramatisch betont hatte, flatterten. »Und wo sind bitte diese … wie nanntest du das gleich … Vierlande?«, fragte sie. »Davon habe ich ja noch nie was gehört.«

Das hatte ich bislang auch nicht. Doch seit gestern Nacht wusste ich, dass es sich bei dieser Region um eine wunderschöne Kulturlandschaft südöstlich von Hamburg handelte, die für den Anbau von Gemüse und Blumen, insbesondere Stiefmütterchen und Rosen, bekannt war. Das Gebiet wurde von drei Flussarmen durchzogen: der Dove-Elbe, der Süderelbe und der Gose-Elbe, allesamt entstanden aus dem Urstromtal des Elbflusses. Für einen Liebhaber von Gewässern aller Art und passionierten Segler wie Nic natürlich ein überaus reizvolles Gebiet.

Ich erzählte Coco, was ich über Deutschlands größten Gemüse- und Blumengarten im Internet gefunden hatte. Noch immer steckte mir die bleierne Müdigkeit in den Knochen, da ich bis in die frühen Morgenstunden vor dem Rechner gesessen und recherchiert hatte. All dies in der Hoffnung, irgendeine Erklärung für Nics Verschwinden zu finden. Die kurze Notiz und die Fotos des Hausbootes schienen mir mit einem Mal der Schlüssel zu allem zu sein. Eine Spur, der ich folgen musste, um endlich, endlich Antworten auf die Fragen zu finden, die mich nun schon so lange quälten. Coco hörte sich alles geduldig an, runzelte jedoch ab und zu die Stirn.

Ich wusste genau, was sie dachte.

Sie befürchtete immer noch, dass Nics Verschwinden mit einer anderen Frau zusammenhing. »Möchtest du hinfahren und dir dieses Hausboot einmal ansehen?«, fragte sie, und ich sah neben der Besorgnis abenteuerlustiges Funkeln in ihren Augen aufblitzen. »Dieser Ort liegt doch in der Nähe von Hamburg. Los, gib dir einen Ruck und komm am Freitag mit mir mit.«

Auch über eine solche Reise hatte ich letzte Nacht nachgedacht und war zu dem Ergebnis gekommen, dass ich wirklich mit Coco fliegen würde, vorausgesetzt, Sandra hatte Zeit, sich um die Mädchen zu kümmern. Coco streckte mir schmunzelnd den Telefonhörer entgegen und sagte in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete: »Jetzt mach schon und ruf Sandra an. Mit jeder Minute, die du länger wartest, werden unsere Flüge teurer.«

Innerhalb einer halben Stunde war alles geklärt und gebucht. Während der Drucker die Online-Tickets ausspuckte und Coco wegging, um einzukaufen, begann ich, eine Liste all der Dinge zu schreiben, die ich noch besorgen und erledigen musste, bevor ich nach Hamburg flog: Katzenstreu und Futter für Momo kaufen, ein Geschenk für Mollys Freundin Vroni besorgen, die am Samstag ihren Geburtstag feierte. Den Antrag auf Bezuschussung für Louisas Mathe-Nachhilfe ausfüllen und wegschicken. Außerdem musste ich meine Nachbarin fragen, ob wir den Putzdienst für den Hausflur tauschen konnten. Und nachschauen, ob überhaupt noch genug Geld auf meinem Konto war oder ob ich mal wieder meine eisernen Reserven anzapfen musste.

Kaum hatte ich die Liste fertig, sah ich die Kundin, um deren Körper ich neulich die schwarze Aura gesehen hatte, auf den Stand zukommen. Heute trug sie einen engen schwarzen Mantel, dessen Umrisse keinen Zweifel daran ließen, dass sie an der Stelle, die sich letztens noch kugelrund gewölbt hatte, flach wie ein Brett war. Meine Augen suchten nach einem Tragetuch, einem Kinderwagen, nach einem Mann an ihrer Seite, der das Baby in seinen Armen wiegte. Doch ich erblickte nichts außer dieser schmalen, zerbrechlichen Gestalt, die über den Viktualienmarkt wankte wie eine Schlafwandlerin.

Ein blasses, hohlwangiges Gespenst ohne Halt und ohne Ziel.