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Bowie, Dylan, Cobain - sie alle hatten eine Inspirationsquelle: William S. Burroughs
Die Romane und Essays von William S. Burroughs sind legendär, aber sein Einfluss auf die Gegenkultur der Popmusik ist weniger gut dokumentiert - bis jetzt. »William S. Burroughs und der Rock 'n' Roll« untersucht, wie eine der umstrittensten literarischen Figuren Amerikas die Werke vieler bedeutender Musiker wie David Bowie, Bob Dylan, Kurt Cobain oder Patti Smith veränderte, und zeigt die Veränderungen in der Musikgeschichte auf, die auf Burroughs zurückgehen.
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Seitenzahl: 500
Zum Buch
Der heroinabhängige und schwule Burroughs erlangte außerhalb der konventionellen literarischen Welt Berühmtheit, als sein Meisterwerk »Naked Lunch« wegen Obszönität verboten wurde, aber seine nichtlineare Struktur war ebenso gewagt wie sein Inhalt. Casey Rae lässt Burroughs’ Verbindungen zur Popkultur ab den 1960er-Jahren lebendig werden, als es zum Ritus wurde, mit dem Autor abzuhängen oder mit seinen Cut-up-Techniken zu experimentieren, um revolutionäre Texte zu produzieren (wie es die Beatles und Radiohead taten). Ob er mit David Bowie das Okkulte erforschte, mit Lou Reed durch die Straßen zog oder Patti Smith im Umgang mit dem Ruhm beriet − die Geschichten über Burroughs’ Einfluss hinter den Kulissen sind ein Teil der kulturellen Revolution Amerikas.
Zum Autor
Casey Rae ist der Managing Director für Musiklizenzen bei SiriusXM und ein langjähriger Musikkritiker, dessen Arbeiten in einer Vielzahl von Publikationen veröffentlicht wurden. Seine Kommentare zu den Auswirkungen der Technologie auf die Musikschaffenden sind auf NPR, inder New York Times, der Los Angeles Times, der Washington Post,Billboard und anderen Medien erschienen. Rae ist zudem Lehrbeauftragter an der Georgetown University, hält regelmäßig Vorträge und spielt seit den 1990er-Jahren als Musiker in mehreren Bands. Er lebt in Washington, D.C.
Casey Rae
William S. Burroughs & der Rock ’n’ Roll
Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner und Iris Hansen
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel William S. Burroughs and The cult of rock ’n’ roll bei University of Texas Press, Austin.
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Copyright © 2019 by Casey Rae
Auszüge aus William S. Burroughs’ Werken The Naked Lunch © 1959 und Tornado Alley © 1989 mit freundlicher Genehmigung des William S. Burroughs Trust
Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Michael Kellner
Umschlaggestaltung: semper smile, München unter Verwendung der Umschlagfotografie von Iconic Images/ Terry O’Neill
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
MN · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-28186-1V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/penguinbuecher
Für Sandy, unter den Sternen
Inhaltsangabe
Einleitung
Nirvana the Hard Way
Subterranean Homesick Burroughs
Here, There and Everywhere
Watch That Man
Musik und andere dunkle Künste
Bunker, Punker und Junkies
Here To Go
The Western Lands
Danksagung
Quellen
Register
Einleitung
William Burroughs’ Künstlerleben ist von vielen Wandlungen geprägt. Den einen Burroughs gibt es nicht.
Victor Bockris
Im Jahr 1995, gegen Ende seines Lebens, ließ sich William S. Burroughs von Kate Simon fotografieren, mit der er zwanzig Jahre lang zusammengearbeitet hatte. Auf dem Bild raucht der gut achtzigjährige Schriftsteller einen Joint, hinter ihm prangt in Schwarz-Weiß und großen Lettern die Botschaft LIFEIS A KILLER. Berühmt oder berüchtigt war Burroughs in erster Linie als Autor so bahnbrechender Romane wie Junkie (Junkie), Naked Lunch (Naked Lunch), The Wild Boys (Die Wilden Boys) und Cities of the Red Night (Die Städte der Roten Nacht) und zahlloser Artikel, Essays und Interviews. Im Bereich der bildenden Kunst erregte er überdies Aufsehen mit seinen obskuren Schrotflinten-Bildern, die dadurch entstanden, dass er aus beiden Gewehrläufen auf Spraydosen schoss, die er dicht vor mit Bildcollagen beklebten Sperrholzplatten platzierte. Mit einundachtzig war Burroughs ein lebendes Symbol, das über vier Jahrzehnte kreativer, psychologischer und pharmakologischer Entdeckungsreisen etliche jüngere Künstler – besonders Musiker – inspiriert hatte.
Burroughs war unter den Beat-Schriftstellern derjenige, der die meisten Grenzen überschritt, und auch in der Entwicklung des Rock ’n’ Roll so etwas wie ein verborgener Drahtzieher hinter den Kulissen – ein Phantom, das den kulturellen Underground heimsuchte und half, ihn in den Mainstream zu heben. Der direkte Einfluss, den Burroughs ein halbes Jahrhundert lang ausgeübt hat, ist immens, aber weitgehend unerforscht. Von den Beatles über Punk bis zur aktuellen Remix-Szene half Burroughs, eine Sound-Evolution zu beschleunigen, die bis heute über Kontinente und Epochen nachhallt. In diesem Buch wird die Geschichte seiner persönlichen Verbindungen zu Musikern erzählt und darüber hinaus gezeigt, wie sein Einfluss noch zwanzig Jahre nach seinem Tod weiterlebt.
Burroughs hatte bei seinem letzten Fototermin noch viel Elan. Er posierte mit großer Ausdauer, und Simon durfte ihn unter einem Werk seines guten Freundes John Giorno fotografieren. »Ich fand den Siebdruck sehr schön«, erinnerte sie sich. »William rauchte einen Joint. Es wurde meine letzte Porträtaufnahme von ihm … Sie hat was: Life is a Killer.« Eine kraftvolle Aussage, bissig und unmöglich zu ignorieren. Wie ein Messerstich in den Unterleib. Und obendrein so wahr. Born to Die ist nicht nur der Titel des zweiten Albums von Lana Del Rey, sondern auch Teil des Quellcodes der Menschheit, der nach Meinung von Burroughs von einem nicht wahrnehmbaren Administrator, den er »Control« nannte, in unsere Physis geprägt wurde. »Sämtliche Spezies sind von der Empfängnis an ebenso todgeweiht wie jedes Individuum«, sagte er.
Burroughs verbrachte sein Leben damit, Möglichkeiten zur Veränderung seiner selbst und der Welt um ihn herum zu erforschen und in Experimenten zu überprüfen. Er tat dies sowohl durch sein Schreiben als auch durch seine Audio-Arbeiten – beides inspirierte Künstler von Bob Dylan bis Kurt Cobain und half, den Weg für die heutige Sample- und Remix-basierte Musik zu ebnen. Es ist verblüffend, dass dieses Relikt des Jazz-Zeitalters, dessen geschliffene Gentleman-Manieren über einen kompromisslosen Intellekt hinwegtäuschten, so viele verschiedene Genres beeinflusst hat. Aber es besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts Burroughs’ Methoden und seiner Weltanschauung viel zu verdanken hat.
Burroughs erforschte innere wie äußere Landschaften intensiv und hielt seine Erkenntnisse in Berichten fest, die er Tag für Tag mit bemerkenswerter Disziplin in die Schreibmaschine tippte. Dieses Engagement, zusammen mit seinem immensen Talent und Intellekt, machte ihn zu einem kreativen Visionär, wie es nur wenige gibt. Aber was sah Burroughs durch seine vernarbte Linse? Pures, unstillbares Verlangen. Statt davor wegzulaufen, untersuchte er es aus der Nähe. Drogen, das Okkulte, psychische Selbstchirurgie – alles war es wert, erlebt und dokumentiert zu werden. Wie die Musiker, die er inspirierte, war Burroughs ein furchtloser und unerschrockener Reporter, der seine Abenteuer nicht nur katalogisierte, sondern sie als Rohmaterial nutzte, um echte Veränderungen in der Welt um sich herum in Gang zu setzen. So eröffnete er anderen neue kreative Perspektiven, und mithilfe von Techniken, an deren Entwicklung er mitgewirkt hatte, gaben diese von ihm Inspirierten kulturellen Phänomenen ein neues Gesicht.
Heute fasziniert Burroughs als Symbol ebenso wie als Autor. Er war bemüht, sein Werk mithilfe von Cut-ups – einer Technik, bei der bereits vorhandene Texte, Filme oder Audiodateien zerschnitten und neu arrangiert werden – zu entpersonalisieren, doch seine Biografie wurde ebenso legendär wie seine berühmtesten Romane. Er war ein homosexueller Drogenabhängiger, geboren in der »Progressive Era«, der beim Nachstellen einer Szene aus der Wilhelm-Tell-Geschichte im betrunkenen Zustand seine Frau tötete und obszöne Prosa schrieb, in der es um orgasmische Hinrichtungen ging, um Aliens, die ihre körperliche Erscheinung verändern können, und um alle Arten von Süchtigen, Sadisten und gruseligen Krabbenmenschen. Doch hinter der Legende gibt es eine reale Person, einen Mann, der allen, die ihn kannten, darunter viele der in diesem Buch erwähnten Musiker und Musikerinnen, mit aufrichtiger Freundlichkeit und großzügiger Gastfreundschaft begegnete.
In mehr als einer Hinsicht ist Burroughs eine Chiffre, ein zu entschlüsselndes Rätsel. Wie ein facettenreiches Prisma oder ein Spiegel reflektiert Burroughs für verschiedene Menschen unterschiedliche Dinge, je nach ihren persönlichen Interessen und Zielen. Für die einen ist Burroughs ein Junkie-Priester, der hartgesottene Weisheiten aus der abgründigen Welt der Drogen verkündet. Für andere ist er ein dunkler Magus, dessen okkulte Philosophien den Weg für die heutigen DIY-Hexer ebneten. Wieder andere – vor allem Künstler und Songwriter – lassen sich von seinen kreativen Methoden inspirieren, wie zum Beispiel dem Cut-up von Texten und dem Tape-Splicing. Dass es so viele verschiedene Möglichkeiten gibt, sich mit Burroughs’ Werk und Weltanschauung auseinanderzusetzen, ist der entscheidende Grund für seinen anhaltenden Einfluss. Er gibt anderen Künstlern die Möglichkeit, seine Vision – oft in abgewandelter Form – weiterzuführen. Im Lauf der Zeit ähnelte der Mann mit der knarzigen Stimme, Sohn des Mittleren Westens mit privilegierter Herkunft, immer mehr einem außerirdischen Virus aus einem seiner Bücher, das von einem Wirt zum anderen und von einem Medium zum anderen springt, wobei alles, was es infiziert, die Kultur auf tiefgreifende, wenn auch manchmal obskure Weise verändert. Genau so hätte er es gewollt.
Burroughs ist eine höchst bedeutsame Figur in der Welt der Musik, auch wenn er nur wenig über diese Form zu wissen glaubte. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass seine Schriften, die von beunruhigender, ja sogar grausiger Metaphorik strotzen, Genres wie Punk, Heavy Metal und Industrial den nötigen Stoff liefern können. Sicher sind die meisten heutigen Burroughs-Anhänger in diesen Subkulturen zu finden. Aber seine Anti-Establishment-Haltung und seine unkonventionellen persönlichen Gewohnheiten fanden auch Anklang bei Künstlern wie Paul McCartney, Bob Dylan, den Rolling Stones, Lou Reed, Frank Zappa, Iggy Pop, Patti Smith, Laurie Anderson und unzähligen anderen musikalischen Erneuerern. Die Beatles brachten ihn sogar, neben Leuten wie Carl Jung, Lenny Bruce, Karl Marx und Oscar Wilde, auf das Cover von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Sobald man zu suchen anfängt, entdeckt man Burroughs überall. Es ist, als würde man in dem Wimmelbilderbuch Where’s Waldo zu einem tollen Soundtrack nach dem berühmten Weltenbummler suchen. Aber statt eines putzmunteren Jünglings im gestreiften Pullover entdecken wir einen bleichen Junkie mit einem alten Filzhut auf dem Kopf.
Sein Einfluss entwickelt sich nicht nur aus seinem Werk allein, sondern auch aus dessen Entstehungsmethoden. Burroughs’ Fokussierung auf rekombinante Medien – das heißt: zerschnittener Text, »gefundener Sound« und das Spleißen von Tonbändern – wurde in den 1990er-Jahren zur Lingua franca der experimentellen Audioproduktion und ist es bis heute geblieben. Zusammen mit dem Maler Brion Gysin begann er in den 1950er-Jahren in Paris mit Cut-ups zu arbeiten. Die ursprüngliche Methode bestand darin, vorformulierten Text aus einer oder mehreren Quellen in Quadranten zu zerschneiden und die Teile nach dem Zufallsprinzip neu anzuordnen. Spätere Experimente beinhalteten maschinell erstellte Cut-ups, die von Burroughs’ Liebhaber Ian Sommerville entwickelt wurden, einem der ersten Computerprogrammierer. In der Folgezeit arbeitete Burroughs fast immer mit Zufallselementen, insbesondere bei seinen Audioexperimenten, von denen einige mit Tonbandgeräten durchgeführt wurden, die Paul McCartney in der Wohnung von Ringo Starr zur Verfügung stellte. Dieses Vorgehen inspirierte die Beatles dazu, gefundene Geräusche und Tonband-Zusammenschnitte in bahnbrechende Alben wie Sgt. Pepper und The White Album einzubauen und damit eine neue Ära aufgezeichneter Sounds einzuläuten.
Sample- und Remix-basierte Musik ist ohne Burroughs, ohne die Künstler, die er inspirierte – darunter David Bowie, Throbbing Gristle und Coil –, gar nicht vorstellbar. Hip-Hop- und Elektronik-Acts wie Michael Franti, DJ Spooky und Justin Warfield lassen Burroughs’ Ideen in ihre Arbeit einfließen, und einige hatten das Glück, mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Stadien-Eroberer U2 nutzten Video-Cut-ups auf gigantischen Welttourneen und besuchten Burroughs für ihr Video zu »The Last Night on Earth« von 1997 – sein letzter gefilmter Auftritt. Unzählige Bands haben sich nach Burroughs’ Romanen benannt oder seine Sätze in Songtitel und Texte eingebaut. Steppenwolf, denen zugeschrieben wird, den Begriff »Heavy Metal« in die Musik gebracht zu haben, entlehnten den Ausdruck von Burroughs. Dann sind da noch Steely Dan, die ihren Namen von einem hochmodernen Dildo aus Naked Lunch übernommen haben. Und es gibt weitere Beispiele: Soft Machine, Nova Mob, Wild Boys und Mugwumps, um nur einige zu nennen. Iggy Pop und Patti Smith haben Zeilen von Burroughs geklaut und sich nicht gescheut, dies der Welt auch mitzuteilen. Die Synthie-Popper Duran Duran versuchten einmal, einen abendfüllenden Film zu drehen, der auf ihrem Video zu »Wild Boys« basierte, einem Song, der von dem gleichnamigen Burroughs-Roman inspiriert ist. Kürzlich borgten sich die Psychedelic-Rocker Howlin Rain den Titel für einen Song, den Bandleader Ethan Miller als eine Hommage an Burroughs bezeichnete. »An all dem Chaos und der Zerrissenheit im gegenwärtigen Amerika gibt es kaum etwas Erstaunliches zu entdecken, das nicht schon vor langer, langer Zeit in einer furchterregenden und schäumenden Litanei absoluter Verachtung von Burroughs geäußert wurde«, sagte Miller dem Relix Magazine.
Burroughs war ein unerschrockener Erforscher des Paranormalen und interessierte sich aktiv für das, was wir heute als Grenzwissenschaft bezeichnen würden. Er hatte starken Einfluss auf okkultistisch gesinnte Künstler wie Genesis P-Orridge von Throbbing Gristle, Chris Stein von Blondie und John Balance und Peter Christopherson von Coil. Jimmy Page, Lead-Gitarrist und Chefmagier von Led Zeppelin, verbrachte Zeit mit Burroughs und diskutierte mit ihm über das übernatürliche Potenzial von Musik und die Verbindung zwischen Zeppelins Getöse und den Master Musicians of Joujouka – einem Stamm marokkanischer Musiker, die Burroughs als »eine 4.000 Jahre alte Rock-’n’-Roll-Band« bezeichnete. Auch wenn er wenig von musikalischer Komposition verstand, wusste Burroughs, wie sich die Realität durch Performance beeinflussen ließ. Er war begeistert von Patti Smiths schamanischer Bühnenkunst, und die beiden wurden gute Freunde. »Er thront ganz oben neben dem Papst«, sagte Smith über Burroughs. Bob Dylan nötigte ihn praktisch zu einem Treffen, das Anfang 1965 in einem Café in Greenwich Village stattfand. Nicht lange danach zelebrierte der lernbegierige Folkie auf dem Newport Folk Festival seine Auferstehung als wilder Visionär, der von einer ketzerischen elektrischen Band begleitet wurde.
David Bowie verwendete Cut-ups in sämtlichen seiner Werke von Diamond Dogs (1974) bis zu Blackstar, das wenige Tage vor seinem Tod 2016 veröffentlicht wurde. Bowie nannte Cut-ups »eine Form des westlichen Tarots« und schrieb während seiner gesamten Karriere Burroughs das Verdienst zu, seine Kunst und Ästhetik vorangebracht zu haben. Bowies Freund und Kollege Lou Reed war seit seiner Zeit bei Velvet Underground von Burroughs besessen. Reed schätzte die Cut-up-Technik nicht, machte jedoch bei seiner nüchternen Darstellung der verheerenden Folgen der Sucht und seinen sardonischen Beobachtungen des Straßenlebens Anleihen bei früheren Burroughs-Büchern wie Junkie. Sowohl Bowie als auch Reed trafen sich in den 1970er-Jahren mit Burroughs – Szenen, die hier zusammen mit Analysen ihrer von Burroughs beeinflussten Aufnahmen nacherzählt werden sollen.
Burroughs verbrachte einen Großteil seiner Zeit im Ausland, lebte in Mexiko, Marokko, Paris und London, kehrte aber immer wieder nach New York City zurück und wurde dort Mitte der 1970-Jahre sesshaft. Nachdem er in einigen Wohnungen in der Innenstadt zur Miete gewohnt hatte, ließ er sich in einem fensterlosen ehemaligen YMCA-Umkleideraum nieder, der liebevoll »der Bunker« genannt wurde. Das Versteck lag nur ein paar Straßen vom legendären Club CBGB entfernt im schäbigen Viertel Bowery. Hier wurden Angehörige der aufkommenden Punkszene seine Stammgäste, darunter Patti Smith, Chris Stein und Debbie Harry von Blondie, Joe Strummer von The Clash und Richard Hell von den Voidoids, um nur einige zu nennen. Obwohl Burroughs den ihm von den Medien verliehenen liebevollen Titel »Godfather of Punk« eigentlich ablehnte, fand er die neue Generation interessanter als die Hippies. Als die Sex Pistols wegen ihrer Single »God Save the Queen« von 1977, einer Abrechnung mit der Monarchie, Ärger bekamen, schickte er ihnen sogar einen Unterstützerbrief. »Ich habe immer gesagt, dass England erst dann eine Chance hat, wenn 20.000 Leute sagen: ›Bugger the Queen!‹«, eiferte Burroughs.
1978 kam auf der Nova Convention im Entermedia Theater in New York ein Kreis von Musikern, Schriftstellern und Performance-Künstlern zusammen, um Burroughs’ Rückkehr in die Vereinigten Staaten zu feiern. Frank Zappa las die berühmt-berüchtigte Talking-Asshole-Stelle aus Naked Lunch; trotz einer Lungenentzündung gelang Smith, unterstützt von ihrem treuen Gitarristen Lenny Kaye, eine passable Lesung; Laurie Anderson brachte mit ihrem Gesang in wechselnden Tonhöhen und spärlicher Elektronik einen experimentellen Touch in das Geschehen; und Philip Glass grillte mit seiner damals neuen Komposition »Einstein on the Beach« so manche Gehirnzelle. Auf der After-Show-Party traten Suicide, Blondie, die B-52s und King-Crimson-Gitarrist Robert Fripp auf.
Aus dem Punk entwickelte sich die Industrial-Musik, so zum Beispiel die bahnbrechenden Klangattacken von Throbbing Gristle und Psychic TV – zwei Bands, deren Leader der Doyen der »Okkultisten« Genesis P-Orridge war. Man wird kaum einen hartnäckigeren Verfechter der Burroughs’schen Weltanschauung finden als P-Orridge, der eine Vielzahl von Geschichten und Beobachtungen über die noch junge Industrial-Szene und Burroughs’ Hintergrundrolle bei deren Gestaltung zu bieten hat. P-Orridge ist das Bindeglied zwischen Burroughs und den technikversierten »Chaosmagiern«, die mit dem Aufkommen der Dial-up-Einwahl das »Weird Wide Web« zu kolonisieren begannen. Burroughs hat nicht mehr miterlebt, wie das Internet zu der kreativen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Kraft wurde, die es heute ist. Aber er hätte es zweifellos als das erkannt, was es ist: ein Cut-up. Heute werden wir mit fragmentarischen Klängen und Bildern regelrecht bombardiert. Sie werden neu kombiniert und oft im Dienst der einen oder anderen Agenda als Waffe eingesetzt. Wie nennen wir es, wenn eines dieser »kleinen Informationselemente« kurzzeitig die Herrschaft über unser Bewusstsein erlangt? Wir sagen: Es ist »viral gegangen«. Irgendwo in der Raum-Zeit verzieht der alte Mann seine schmalen Lippen zu etwas, das einem Lächeln ähnelt.
Auch nachdem Burroughs 1981 nach Lawrence in Kansas gezogen war, nahm er weiterhin Einfluss auf die Welt der Musik. Seine frühen Spoken-Word- und Tape-Splicing-Experimente wurden auf dem Vinylalbum Nothing Here Now but The Recordings gesammelt, das ursprünglich 1981 auf Industrial Records, dem Label von Throbbing Gristle, herauskam. Im selben Jahr erschien ein gemeinsames Album von Burroughs, dem Performance-Poeten John Giorno und der Experimentalmusikerin Laurie Anderson mit dem Titel You’re the Guy I Want to Share My Money With – Andersons erste offizielle Veröffentlichung. Nicht lange danach konnte man Burroughs auf Platten neben Künstlern wie Nick Cave, Tom Waits, den Butthole Surfers, den Swans und David Byrne entdecken.
In den 1990er-Jahren – Burroughs war damals schon Ende siebzig – stieg sein Ansehen als Held der Musikwelt noch weiter. Er schrieb den Text für The Black Rider, eine Zusammenarbeit mit Robert Wilson und Tom Waits fürs Theater, die auch als ein Waits-Soloalbum veröffentlicht wurde. Darauf ist Burroughs zu hören, wie er mit schleppend krächzender Stimme »T’ain’t No Sin« singt. Als »magische Fabel«, die Anleihen bei der Geschichte vom »Freischütz« macht und Burroughs’ versehentliche Erschießung seiner Frau thematisiert, wird The Black Rider auch heute noch weltweit unter dem Beifall der Kritiker aufgeführt. Das Spoken-Word-Album Dead City Radio erschien 1990 und enthielt Hintergrundmusik von Donald Fagen von Steely Dan, Sonic Youth und John Cale. Wieder ist Burroughs’ Gesang zu hören, diesmal in einer eigenwilligen Version des Marlene-Dietrich-Dauerbrenners »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt«.
In den 90ern reiste Burroughs nur noch selten, aber viele bekannte Persönlichkeiten besuchten ihn. Im letzten Lebensjahrzehnt empfing er in seinem roten Bungalow in Lawrence unter anderen Kurt Cobain, Sonic Youth und Mitglieder von R.E.M. und Ministry. 1992 veröffentlichte der Bassist und Produzent Bill Laswell The Western Lands, basierend auf Burroughs’ gleichnamigem Buch. Im selben Jahr sampelten Ministry Burroughs im Song »Just One Fix«; er selbst ist im Video zu sehen. Burroughs arbeitete mit den Disposable Heroes of Hiphoprisy für das Album Spare Ass Annie and Other Tales von 1993 zusammen, und kurz vor dessen Selbstmord im Jahr 1994 veröffentlichte er mit Cobain die gemeinsame Platte The »Priest« They Called Him. 1996 tat sich Burroughs für eine Coverversion von deren Song »Star Me Kitten« mit R.E.M. zusammen und ging in der bizarren Sound-Collage »Is Everybody In?« mit den Doors auf Zeitreise zurück in die 60er.
Burroughs’ Einfluss auf die heutige Musikszene ist etwas weniger prägnant. Und doch ist er oft gerade dann am stärksten, wenn seine Präsenz am schwierigsten zu erkennen ist: Man nannte ihn nicht umsonst »El Hombre Invisible«. Die Musik ist nur die Spitze des Eisbergs. Burroughs’ Bedeutung für eine Reihe populärer Medien – darunter Filme, Comics, Videospiele und Literatur – ist ebenso immens. Er sagte eine Zukunft voraus, in der Gehirne buchstäblich von »sehr kleinen Ton- und Bildelementen« infiziert werden. Das sehen wir heute bei den Meme-Kriegen in den sozialen Medien und in bestimmten Message-Boards wie 4Chan, wo Horden junger, meist männlicher Maulhelden unaufhörliche Wutattacken gegen Toleranz und Vernunft führen. »Stürmt die Zitadellen der Aufklärung«, schrieb Burroughs einst. Und im Internet ist es schnell zu einer Plattitüde geworden, dass »nichts wahr ist und alles erlaubt«, so einer seiner Lieblingssätze. Die auf diesen Seiten festgehaltenen Episoden zeigen, dass Burroughs unsere zunehmend chaotische Gegenwart und ungewisse Zukunft nicht nur prognostiziert, sondern vielleicht sogar mit initiiert hat. Doch die enthusiastischsten Botschafter seiner Weltanschauung sind und bleiben Musiker. Diejenigen, die in diesem Buch auftauchen, dienen als Rosetta-Stein für das Verstehen von Schlüsselaspekten in Burroughs’ Werk, das so viel über unsere heutige Gesellschaft vorausgesehen und vielleicht noch mehr darüber zu verraten hat, was uns erwartet.
In diesem Buch geht es um Musik, Musiker und William S. Burroughs. Es ist jedoch auch eine Bestandsaufnahme der sozialen, politischen und technologischen Veränderungen, die stattgefunden haben, seit Burroughs beschloss, sich aus seinen persönlichen Traumata »herauszuschreiben«, von denen viele selbst verschuldet waren. Die Musiker, die sich zu Burroughs hingezogen fühlen, haben viel gemeinsam, auch wenn sie aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen stammen. Sie alle brennen für den Wunsch, aus dem Gewöhnlichen auszubrechen, der sozialen oder institutionellen Konditionierung zu entkommen. Viele haben mit einer Impulskontrollstörung zu kämpfen. Zweifellos wollten einige von ihnen einfach nur mit dem Drogenpapst abhängen, aber seine unerschütterlichen Anhänger haben stattdessen mit seinen Techniken und Zielen als Autor auf sich aufmerksam gemacht. Verwoben mit Burroughs’ eigener Biografie werden ihre Abenteuer hier nacherzählt. So wird eine breite Palette von Konzepten, Ideen, Methoden, Obsessionen und Ergebnissen erforscht, die Elektronische Tanzmusik, Hip-Hop, Punk, Heavy Metal, Drogenkultur, Okkultismus, Medien und technologische Dystopie miteinander verbindet.
Als Autor dieses Buchs muss ich gestehen, dass selbst ich zu Beginn meiner Recherchen keine Ahnung hatte, wie viele faszinierende und relevante Überschneidungen im Burroughsversum zu finden sind. Aber man vergegenwärtige sich: Dies ist nur eine Facette – eine Sammlung von Eindrücken aus der Welt der Musik, die wiederum die breitere Kultur speist und prägt. Die realen Interaktionen zwischen Burroughs und den Musikern, die in diesem Buch beschrieben werden, waren urkomisch, verwirrend und einschneidend, genau wie das Beste, was er geschrieben hat. Burroughs sagte, der einzige Grund zu schreiben sei, dafür zu sorgen, dass »etwas geschieht«. Alle der auf diesen Seiten erwähnten Künstler haben die Gesellschaft auf mehr oder weniger entscheidende Weise verändert. Wie Burroughs sind sie Weltreisende, Vordenker, Süchtige, Chamäleons, Einflussnehmer und Wahrsager. So wie Burroughs erweitern auch sie mit ihren kühnen Ausflügen an die Grenzen der Kreativität und sogar der geistigen Gesundheit unsere Horizonte und inspirieren dazu, sich in den verschiedensten Medien auszudrücken.
Wäre dies nur eine Sammlung von Anekdoten darüber, wie Burroughs mit Rockstars abhängt, wäre sie bestimmt sehr unterhaltsam. Aber es steckt viel mehr dahinter. Ich sehe das Buch als eine Hommage an alle großen Künstler, die an ihre Grenzen gehen, selbst wenn sie dabei eine Menge investieren. Alles hat einen Preis, und immer und überall wird geschachert, ob es um Sex, Drogen, Religion, Politik, Finanzen oder Technologie geht. Wir befinden uns alle ständig im Visier der Pusher. Sie zielen darauf, uns abhängig zu machen – ob von sonnengetrockneten Produkten, Erfahrungen oder Ideologien. Und wir brennen darauf, uns den begehrten Stoff zu beschaffen – immer auf der Jagd nach einer kleinen Ablenkung von der Pein unserer Existenz. Aber es ist nicht unsere Schuld. Laut Burroughs ist unsere Physis bereits mit einem vorgeschriebenen Skript infiziert: Wir sind die »soft machines«, in die die »Algebra des Verlangens« verschlüsselt eingeschrieben ist.
* * *
Es gibt eine ganze Reihe von Burroughs-Biografien, darunter viele interessante. Eine der frühen, Ted Morgans Literary Outlaw: The Life and Times of William S. Burroughs, basiert auf Interviews mit dem Autor und seinen Weggefährten. Die neuere Biografie Call Me Burroughs: A Life von Barry Miles ist ein mächtiger Wälzer, der nicht an Details spart. Andere Bücher behandeln eher esoterisches Terrain, wie zum Beispiel Scientologist! William S. Burroughs and the Weird Cult von David Willis oder The Magical Universe of William S. Burroughs von Matthew Levi Stevens. Victor Bockris gebührt das Verdienst, in With William Burroughs:A Report from the Bunker viele faszinierende Gespräche zwischen Burroughs und den Künstlerstars der 1970er-Jahre bewahrt zu haben. Das hier vorliegende Buch soll diese Werke nicht ersetzen, sondern sie durch zusätzliche, für die Welt der Musik charakteristische Einblicke und Analysen ergänzen. Um die Themen zu finden, die Burroughs mit den Musikern in diesem Buch verbinden, ist es jedoch notwendig, sich mit seiner Biografie zu beschäftigen. Unsere Geschichte entfaltet sich überwiegend chronologisch, wenngleich sie gelegentlich auf der »Zeitspur« umherspringt, um einen von Burroughs geprägten Ausdruck zu gebrauchen. Grund dafür ist, dass Burroughs’ persönliche Geschichte lange vor dem Aufkommen des Rock ’n’ Roll beginnt. Den Großteil seiner Biografie wird der Leser in den ersten Kapiteln kennenlernen. Anschließend richtet sich die Beschreibung seines Lebens zunehmend an musikbezogenem Material aus. Wer bereits mit Burroughs vertraut ist, wird hier zweifelsohne weitere relevante Aspekte entdecken. Wer den Autor jedoch noch nicht kennt, sollte sich nicht wundern, wenn er vom ersten Moment an gefesselt ist – Burroughs’ Geschichte ist unwiderstehlich.
Ich weiß noch, wie ich auf Burroughs gestoßen bin. Es war 1988, und weil ich auf der Highschool noch neu war, orientierte ich mich an zwei Schülern aus der Oberstufe, die in einer Coverband spielten und auf Schulbällen auftraten. Sie waren megacool. Und das sage ich nicht nur, weil sie duldeten, dass sich eine frühreife Quasselstrippe an ihre Fersen heftete. Diese Kids erkundeten mit Enthusiasmus Kunst und Kultur von Dylan bis Dada. Sie erweiterten meinen literarischen Horizont und trugen dazu bei, dass ich ein halbwegs anständiger Gitarrist und Studiofreak wurde. In der Hoffnung, einen Blick auf die Welt jenseits meiner Provinzstadt in Neuengland zu erhaschen, und ermutigt von meinen älteren Mitschülern, konsumierte ich erstklassige VHS-Kost wie Repo Man (unter der Regie des Burroughs-Enthusiasten Alex Cox) und hörte Sonic Youth, als sie noch Lärm machten. Auf dem Bücherregal eines Freundes, eingequetscht zwischen Vonnegut und Brautigan, stand Naked Lunch, das dreißig Jahre zuvor erschienen war – für einen Sechzehnjährigen eine Unendlichkeit. Und doch waren die Wörter wie Drähte unter Strom, die sich direkt in meine noch in Entwicklung befindliche Großhirnrinde bohrten. Ich war infiziert.
Schon als junger Leser hatte ich mich zu Hause durch die Schauerliteratur gewühlt und die Werke von Bram Stoker, Edgar Allan Poe, H. G. Wells und Jules Verne verschlungen. Verstohlene Blicke ins oberste Regal, wo Anaïs Nin und Henry Miller angemessen nebeneinanderstanden, ließen eine laszivere Welt erahnen. Aber nichts, nicht einmal H. P. Lovecraft, Burroughs’ kosmischer Horror-Doppelgänger, hätte mich auf Naked Lunch vorbereiten können, auf die mal erschreckenden und mal urkomischen Visionen von Drogenmissbrauch, Fleischeslust und sowohl menschlichen als auch insektenähnlichen Monstern. Heutzutage können sich Kinder mit einem Fingerschnippen alle möglichen subversiven Medien zu eigen machen. In den 80er-Jahren und den Jahrzehnten davor musste man sich noch richtig anstrengen. Schon allein, weil die Dinge Geld kosteten. Man konnte nicht einfach einen Song, einen Film oder gar ein Buch umsonst aus dem Internet herunterladen. Selbst um die relativ kleine Anzahl von Cure-Alben zu kaufen, die damals erhältlich war, musste man so manchen Rasen mähen und viele Einfahrten freischaufeln. (Ich spreche aus Erfahrung.)
Mein Interesse an Burroughs wurde durch andere Medien noch verstärkt, insbesondere durch die Musik. Ich erinnere mich, dass ich 1993 von Kurt Cobains Audio-Kollaboration mit Burroughs hörte, der Maxi-Single The »Priest« They Called Him, und in die nächste Stadt zum einzigen anständigen Plattenladen fuhr, um zu sehen, ob sie dort zu haben war. War sie nicht, aber als ich ein paar Jahre später selbst einen Plattenladen führte, stellte ich sicher, dass sie dort immer vorrätig war. Mitte der 90er-Jahre hatte ich die meisten, wenn nicht sogar sämtliche Romane von Burroughs gelesen und auch sämtliche Sachliteratur, die ich in die Finger bekam. Ich erinnere mich, dass ich besonders von The Job angetan war, das aus einer Reihe von Interviews hervorging, die Daniel Odier in den 60er-Jahren geführt hatte, als Burroughs in England lebte. Es war weniger eine Frage-Antwort-Runde als eine Bewusstseinsstrom-Tirade, in der Burroughs die Vorstellung vertrat, dass Sprache buchstäblich ein Virus sei, das den menschlichen Kehlkopf im frühen Entwicklungsstadium unserer Spezies infiziert habe. Dieses Virus habe eine Mutation im biologischen Wesen des Menschen verursacht, und diese Mutation wiederum unsere mentalen Schaltkreise umgestaltet. Ob sich diese Vorstellung in irgendeiner Weise mit der Evolutionstheorie vereinbaren ließ, war unwichtig: Sie war äußerst unterhaltsam, ebenso wie die Syntax des Autors – spärlich, aber mit einem eigenen speziellen Metrum, ähnlich wie Charlie Watts’ Schlagzeugspiel bei den Stones.
Als ich später eine seiner aufgezeichneten Lesungen hörte, nahm ich diese Qualitäten noch stärker wahr und spürte, wie dieser fremdartigen Materie in meinem Kopf Raum zur Entfaltung geschaffen wurde. In dem kreativen Menschen, der ich bin, erweckte Burroughs eine Art Furchtlosigkeit, den Drang zum Experimentieren und das Gefühl, nicht allein zu sein, so entfremdet ich mich auch immer fühlte. Es gab noch andere außer mir.
Wie aus den Geschichten in diesem Buch deutlich wird, brauchen kreative Menschen andere kreative Menschen. Viele junge Künstler durchleben intensive persönliche Kämpfe, die oft damit zusammenhängen, dass sie sich in irgendeiner Form als Außenseiter fühlen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum sich kleine Gruppen von Künstlern zusammenschließen; es ist eine Überlebensstrategie, eine Art soziale Versicherung in einer feindseligen Welt, die dazu neigt, Freigeistigkeit nicht zu tolerieren. Das gilt heute noch genauso wie in den 40er-Jahren, als der junge Burroughs in New York, wo er die Qualen unerwiderter Zuneigung zu spüren bekam, seinen einzigartigen Ansatz zum Komponieren von Szenen entwickelte und hoffnungslos heroinabhängig wurde. Als Mitglied der sogenannten Beats krempelte Burroughs zusammen mit Jack Kerouac, Allen Ginsberg und einer bunten Schar von Mitstreitern die amerikanische Literatur um und begründete eine Gegenkultur, die bis heute lebendig ist. Nicht lange danach kam der Rock ’n’ Roll mit seinem eigenen Pantheon an Renegaten und Außenseitern. Selbst wenn ihr Publikum in die Tausende oder Millionen geht, neigen Rockstars dazu, in kleinen Stämmen zu agieren. Eine Band ist ein Stamm. Eine Ersatzfamilie. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen, halten Künstler zu ihren Ursprungsfamilien oft keine enge Verbindung.
Burroughs’ relativ kleiner, aber überaus engagierter Kreis ermöglichte es ihm, neue Ideen in die Welt zu setzen und Experimente der metaphysischen und pharmakologischen Art durchzuführen. Seine Freunde unterstützten ihn bei der Fertigstellung seines Meisterwerks Naked Lunch – das ein Produkt des »Team-Editing« von Ginsberg und Kerouac ist, die beide aus denselben Gründen zu ihm aufschauten, wie es später Musiker taten. Burroughs mag seinen Status als Pate des Punk nicht bewusst angestrebt haben, aber nichtsdestotrotz ist er der ultimative Antiheld, jemand, der sich nicht von den Normen des Establishments konditionieren lassen wollte. Sicher, einige seiner Jünger mögen bloß einem Lifestyle gefrönt haben, anfangs zumindest. Doch auch das ist interessant. Wer fühlt sich zu einem Mann hingezogen, der seine eigene Frau erschossen hat? Wer bewundert einen reuelosen Süchtigen? Wer würde mit einem verrückten alten Junkie abhängen wollen, der in fensterlosen ehemaligen Umkleideräumen in der Bowery wohnt? Offensichtlich eine ganze Menge Leute. Und ich besitze vermutlich sämtliche ihrer Schallplatten.
Als jemand, der das »Burroughs-Gen« in sich trägt und sich seit langer Zeit nicht nur am Rande für Leben und Werk des Autors interessiert, fühle ich mich nach wie vor von seinem scharfen Intellekt und schwarzen Humor angezogen, ebenso wie von seiner Weigerung, sich anzupassen. Aber es geht nicht nur um mittelbaren Nervenkitzel. Je mehr man von Burroughs liest, sich seine Aufnahmen anhört oder seine Interviews studiert, desto stärker wird man in seine Welt hineingezogen. Burroughs bewohnt sein eigenes Universum: einen Bereich jenseits der bekannten Raum-Zeit-Koordinaten, in dem er sowohl als Herrscher als auch als Botschafter fungiert. Mit Burroughs zu reisen, bedeutet, zu sehen, wie die Welt, die man zu kennen glaubte, zerlegt und in seltsamen, lustigen und manchmal erschreckenden Formen neu zusammengesetzt wird. Burroughs ist nicht nur das Ticket: Er ist die Lokomotive und das Gleis, die Rakete und die Startrampe. Natürlich wird man William S. Burroughs nie verstehen, indem man über ihn liest. Genauso wie man eine Schallplatte nie verstehen wird, wenn man sie anschaut. Man muss die Ware kosten. Gut, dass es davon eine Menge gibt: Interviews, Essays, Videos, Alben und natürlich Bücher. Und ich habe die Ehre, mein eigenes hinzuzufügen. Und jetzt legen Sie los und lassen sich süchtig machen.
Nirvana the Hard Way
Mit dem Jungen stimmt was nicht. Er runzelt ohne triftigen Grund die Stirn.
William S. Burroughs nach einem Treffen mit Kurt Cobain im Jahr 1993
El Hombre Invisible
Zu Beginn der 80er hatten Jahrzehnte im Ausland und mehrere Jahre, in denen er im New Yorker Underground Hof hielt, William S. Burroughs über den Rand der Erschöpfung gebracht und, wieder einmal, in die Sucht abrutschen lassen. Das Fernweh, das ihn durch Südamerika, Nordafrika und Europa getrieben und Bücher wie Naked Lunch, The Soft Machine und Die Wilden Boys geprägt hatte, spürte er nicht mehr. Jetzt, in seinen Sechzigern, war es für Burroughs an der Zeit, clean zu werden und sich nach Hause zu begeben. Aber wo war dieses Zuhause? Sicherlich nicht in St. Louis, wo er geboren worden war und eine privilegierte Kindheit als Sohn einer Familie aus dem Mittleren Westen mit allerdings schwindendem industriellem Wohlstand erlebt hatte. Seine Eltern waren mittlerweile verstorben, ebenso wie sein Sohn, William S. Burroughs Jr., der 1981 im Alter von dreiunddreißig Jahren einer Leberzirrhose erlag. James Grauerholz – Burroughs’ unerschütterlicher literarischer Sekretär, Business Manager und Freund – wurde in dessen letzten Jahren Burroughs engster Angehöriger. Um Burroughs’ Gesundheit besorgt, ermutigte Grauerholz den Autor, in seine eigene Heimatstadt Lawrence in Kansas zu ziehen. Burroughs war an den meisten Orten gewesen, die einen Besuch wert waren, und an vielen, die es nicht waren. Lawrence schien angenehm zu sein, wenn auch ruhig. Aber das war gut so. Lawrence war eine Stadt, in der keine Nazis aufmarschieren würden, wenn er mit einer Schrotflinte zum Beispiel auf eine Dose Sprühfarbe schießen wollte, die vor einem Stück Sperrholz stand. Das war die Formel für die Schrotflintenmalerei, eine kreative Marotte, die Burroughs in seinen späteren Jahren aufnahm und die auch half, die Rechnungen zu bezahlen; auf dem Kunstmarkt machte er sich bemerkenswert gut. Ein weiteres Interesse galt Tieren, insbesondere diversen Exemplaren der Katzenspezies. Auf die Frage, was ihn an der verschlafenen College-Stadt reizte, witzelte Burroughs, dass Lawrence die Möglichkeit bot, »zu schießen und Katzen zu halten«.1
Als der siebenundsechzigjährige Burroughs im Dezember 1981 in Lawrence ankam, hatte er gerade einen Vertrag über sieben Bücher mit Viking Press abgeschlossen. In den Jahren zuvor hatte er zahlreiche öffentliche Lesungen seiner Werke auf der ganzen Welt abgehalten und seinen Ruf bei einer neuen Generation von Künstlern innerhalb der Rock-, Punk- und New-Wave-Szene gefestigt. Aber zu Hause in seinem bescheidenen roten Bungalow war er nur William. »Burroughs fühlte sich sehr wohl, weil der Rest der Stadt ihn einfach gewähren ließ«, sagt Phillip Heying, ein lokaler Fotograf, der sich mit dem alternden Autor anfreundete und zu einer kleinen, aber engagierten Gruppe von Einheimischen gehörte, die Burroughs abwechselnd das Abendessen kochten und ihm bei Hausarbeiten und Besorgungen halfen.2
Viele Jahre zuvor, als er im Ausland lebte, hatte sich Burroughs bei Einheimischen den Spitznamen »El Hombre Invisible« (Der unsichtbare Mann) verdient. Sie hatten seine Fähigkeit bemerkt, unauffällig zu bleiben – keine geringe Leistung für einen steifbeinigen Weißen auf den Straßen von Tanger. Er besaß bereits viel Übung darin, unter dem Radar der Behörden zu agieren, und wohl deswegen hielt er Unsichtbarkeit für eine Technik, die man lernen könne. In The Adding Machine, einer Essaysammlung, die erstmals 1985 veröffentlicht wurde, verriet der Magier seine Geheimnisse – nun, zumindest eines davon. »Die ursprüngliche Version dieser Übung wurde mir von einem alten Mafia-Don in Columbus, Ohio, beigebracht: jeden auf der Straße zu sehen, bevor er dich sieht«, schrieb Burroughs. »In Tanger habe ich es auf diese Weise sogar geschafft, an einem ganzen Block von Fremdenführern und Schuhputzern vorbeizukommen, und mir so meinen marokkanischen Spitznamen verdient.«3
Im Nordafrika der 1950er-Jahre jagte Burroughs zu den Klängen von Schilfrohren und Trommeln, die von musikalischen Mystikern gespielt wurden, nach Drogen, Sex und literarischer Unsterblichkeit. Sein bekanntestes Werk, Naked Lunch, entstand größtenteils in dieser berauschenden Umgebung. Es wurde 1959 in Paris veröffentlicht, während Burroughs im berüchtigten Beat Hotel im Quartier Latin der Stadt wohnte. In den 60er-Jahren suchte er London heim, wo er mit den Beatles und den Rolling Stones verkehrte und ein Loblied auf die »Apomorphin-Kur« sang, die ihm half, vom Heroin loszukommen – wenn auch nur kurz. Nächste Station war das New Yorker Viertel Bowery, wo er Mitte bis Ende der 70er einen umgebauten YMCA-Umkleideraum requirierte, der liebevoll »the Bunker« genannt wurde. Es waren produktive Jahre, doch Burroughs’ Underground-Berühmtheit erwies sich nicht mehr als unterhaltsame Ablenkung, sondern wurde angesichts aufdringlich-unterwürfiger Verehrer zur Belastung. Wie Blondie-Mitbegründer Chris Stein sagt: »Ich glaube, im Bunker war es irgendwann so weit, dass jedes Mal, wenn er das Haus verließ, ein Typ mit einem eigenen Manuskript auf ihn zukam.«4
Selbst wenn er das Haus nicht verließ, standen die Chancen gut, dass er mit Leuten wie Mick Jagger, Lou Reed oder Joe Strummer zu Abend aß, um nur einige der bekannten Gäste zu nennen, die Burroughs im Bunker besuchten. Aber das bezahlte nicht die nächste Miete, zumal die Rücklage dafür meist schon von seiner damaligen Heroinsucht angeknabbert war. In Anbetracht dieser Tatsachen schien der Umzug nach Lawrence eine kluge Entscheidung zu sein. Burroughs’ Verbindungen zu New York blieben jedoch intensiv, und er kehrte in späteren Jahren zu gesellschaftlichen Anlässen, Ehrungen und gelegentlichen Auftritten dorthin zurück. Ein großes Ereignis war die Party anlässlich seines siebzigsten Geburtstags im Jahr 1984, die in einem Nachtclub namens Limelight stattfand – einer ehemaligen Kirche, in der sich viele Prominente versammelten, um mit dem berühmten Autor zu feiern. Madonna und Lou Reed waren da, ebenso Philip Glass, Jim Carroll, Lydia Lunch und der aufstrebende Star Sting, begleitet von seinem damaligen Bandkollegen Andy Summers. Als Burroughs hörte, dass auch »the police« auf der Party war, sagte er besorgt zu einem Freund: »Ich weiß nicht, ob du was dabei hast, aber mir hat jemand gesteckt, dass die beiden Typen da drüben Bullen sind.«5 Die Fête war witzig und die Gäste interessant, aber in New York wollten alle immer was von ihm.
Das war in Lawrence erfreulicherweise anders. Es dauerte nicht lange, bis Burroughs sich einen Tagesablauf angewöhnt hatte, der Schreiben, Zielschießen, Methadon-Termine und Fütterung der Katzen umfasste. Unter dem Vordach der Ulmen und Robinien, die die breiten Bürgersteige und die nachgemachte 19.-Jahrhundert-Architektur der Stadt schmückten, dehnten sich Monate zu Jahren. Die Stadtbewohner betrachteten Burroughs nicht als drogenabhängigen Brandstifter, sondern als sympathischen, wenn auch exzentrischen alten Mann, und genau das war er auch geworden. Der in Lawrence lebende Dichter Jim McCrary, der mit Burroughs in dessen letzten Lebensjahren befreundet war, erinnerte sich an eine zuvorkommende Person mit korrekten Midwestern-Manieren. »Er war ein netter Kerl. Wenn man ihn zu Hause besuchte und eine Weile blieb, wartete er beim Abschied auf der Veranda, bis man ins Auto gestiegen war. Wenn er dich nach Hause fuhr, wartete er, bis du die Haustür hinter dir geschlossen hattest.«6 Nach Jahren der Weltenbummlerei war Burroughs endlich sesshaft geworden.
Wenngleich er weniger soziale Verpflichtungen hatte als in New York, kamen doch regelmäßig alte Freunde und Kollegen zu Besuch, darunter Allen Ginsberg, Keith Haring, Norman Mailer, Timothy Leary und Hunter S. Thompson. Auch Bewunderer aus der Musikwelt – wie Kurt Cobain von Nirvana, Michael Stipe von R.E.M., Thurston Moore von Sonic Youth und Al Jourgensen von Ministry – erwiesen ihm die Ehre. Chris Stein von Blondie, der Mitte der 80er-Jahre mehrere Wochen in Lawrence verbrachte, in denen er sich von einer Krankheit erholte, begegnete dem alten Mann zum ersten Mal im New York der 70er. Die beiden blieben bis zu Burroughs’ Tod 1997 befreundet. »Ich fand immer, er sei ein wirklich entzückender Kerl«, sagt Stein. »Einfach ein sehr netter Mensch. Ich mag Waffen, wissen Sie, das verband uns also.«7 Früh abends ging Burroughs mit Freunden zum Schießen auf ein nahe gelegenes Maisfeld. Später besuchte Stein allein das Outhouse, einen lokalen Punkladen. »Gesetzlose und Angehörige von Randgruppen tummelten sich dort, denn der Club, buchstäblich ein Betonbunker, war nur über eine unbefestigte Straße zu erreichen«, erinnert sich Stein. »Ich weiß nicht, ob sie den Strom stahlen, aber er wurde von einem Laternenpfahl oder so etwas abgezapft, und ganz viele Punkbands machten dort Halt, um zu spielen.«8 Zu diesen Bands gehörten Bad Brains, Circle Jerks, Meat Puppets und ein Trio aus Seattle namens Nirvana, das schon bald auftrumpfen sollte. Der Leader dieser Band, Kurt Cobain, war ein Burroughs-Besessener, und für ihn empfand der ältere Schriftsteller echte Zuneigung.
Teen Spirit and Other Viruses
Es ist kaum zu überschätzen, welchen Einfluss das Album Nevermind, mit dem Nirvana 1991 der Durchbruch gelang, auf die Popmusik und auf das Leben der jungen Männer ausübte, die sie kreierten und einspielten. Cobain, Bassist Krist Novoselic und Schlagzeuger Dave Grohl gaben das Startsignal für Alternative Rock und definierten damit das in Seattle beheimatete Genre Grunge. In eine von Langhaarbands und Schablonen-Dancepop dominierte Musiklandschaft krachte Nevermind mit der Schlagkraft eines jener Meteoriten, die direkt für das Aussterben einer ganzen Spezies sorgten – in diesem Fall das von Haarspray-und-Spandex-Gockeln wie Poison, die in den 80er-Jahren mit Flunsch und Schmollmund tänzelnd in den Mainstream stolzierten. Nevermind bewirkte eine massive Umstrukturierung des Musikgeschäfts, das zuvor besonders auf Glam Metal gesetzt hatte. Jetzt fielen Labelmanager in lokale Szenen ein und nahmen jeden Jüngling unter Vertrag, der einen Ziegenbart trug und eine Pfandhausgitarre dabeihatte. »Alle waren davon geschockt«, sagt Janet Billig Rich, die einst 90er-Megastars der Alternative Music wie Nirvana, Smashing Pumpkins und Hole managte. »Alles wurde wirklich simpel, weil plötzlich diese Konjunktur herrschte – Nirvana waren die Konjunktur.«9
Die Popularität von Nirvana glich einer Epidemie. Nevermind erreichte Diamant-Verkaufsstatus und verdrängte Michael Jackson von der Spitze der Charts. Die Videos der Band liefen ununterbrochen auf MTV, und ihr Backstage-Gezänk mit Guns N’ Roses bei den Video Music Awards 1992 wurde zur Legende.10 Es war bereits eine Weile her, dass jemand einen solchen die Kultur verändernden Einfluss gehabt hatte, aber es geschah auch nicht zum ersten Mal. Elvis Presleys Beckenrotationen während des Auftritts in der Ed Sullivan Show 1956 hatten neue Sinnlichkeit in die Popmusik gebracht. Der Auftritt der Beatles 1964 bei Ed Sullivan zementierte den Rock ’n’ Roll als internationale Sprache der Jugend. Seitdem ist Musik – vielleicht mehr als jedes andere populäre Medium – zu einem riesigen globalen Geschäft gereift.
Auch wenn sie noch so sehr zum Allerweltsprodukt geworden sein mag, würde dennoch niemand bestreiten, dass Musik die Massen zu bewegen vermag, selbst heute in der sogenannten »distraction economy«. Im Jahr 2014 regte der Hip-Hop-Produzent Pharrell Millionen von Menschen auf der ganzen Welt an, Fan-Videos zu seinem Song »Happy« zu drehen. Der Song explodierte auf YouTube, einer Website, deren globale Reichweite und Einfluss mittlerweile den Begriff »viral« definieren. Heutzutage versuchen Plattenlabels, Filmstudios, Künstler und politische Kandidaten, aus der gegenseitigen Beeinflussung Kapital zu schlagen. Das ist der moderne Medienrummel, bei dem man entweder Pusher ist oder Konsument. Burroughs starb fast ein Jahrzehnt, bevor YouTube ein Funke im Hirn seiner Entwickler war, aber er hat sein Leben lang studiert, wie Einflüsse entstehen und wirken; insbesondere, wie der Virus von Wort und Ton das Schicksal der Menschheit formen kann. Wie er 1986 erklärte:
Seit 1971 vertrete ich die allgemeine Theorie, dass das WORT buchstäblich ein Virus ist und als ein solches nicht erkannt wurde, weil es einen Zustand relativ stabiler Symbiose mit seinem menschlichen Wirt eingegangen ist; das heißt, das Wort-Virus (The Other Half) hat sich so fest als akzeptierter Teil des menschlichen Organismus etabliert, dass es über Gangsterviren wie die Pocken spotten und sie an das Pasteur-Institut verweisen kann. Doch das WORT besitzt das eindeutige Erkennungsmerkmal eines Virus: Es ist ein Organismus, der keine andere innere Funktion hat, als sich zu replizieren.11
In Burroughs’ Weltanschauung ist die Sprache ein Mechanismus dessen, was der Autor »Control with a capital C« nannte: eine heimtückische Kontrollkraft, die die Freiheit und das Potenzial des Menschen einschränkt. Wörter erzeugen mentale Trigger, die wir manchmal intuitiv erahnen, jedoch nie ganz verstehen können, was uns sehr anfällig für Beeinflussung macht. Aber es gibt auch eine positive Seite: Sprache kann zur Befreiung eingesetzt werden, indem sie vorprogrammierte Ideen und Assoziationen kurzschließt. Burroughs glaubte, dass die Menschheit durch Zwänge in Schach gehalten wird, die ihr von feindlichen äußeren Kräften auferlegt werden und die sich in unserer Realität als diverse Aspekte des Establishments äußern. Mithilfe von Wort-, Ton- und Bildfragmenten, die er neu ordnete und regelrecht bewaffnete, versuchte Burroughs, »Control« und zugehörige Systeme zu demontieren. Seine Haltung inspirierte andere Künstler über Generationen und Genres hinweg, ähnliche Methoden zu verwenden, um den Status quo auf eine Weise zu erschüttern, die selbst er nicht vorhersehen konnte. Im Verlauf der Lektüre des Buchs wird man diese Methoden und ihre Verbindungen zu Burroughs näher kennenlernen.
Burroughs sah die Realität als feindselig, formbar und im Besitz eines verborgenen Potenzials, das durch eine Art okkulte Medienkunst genutzt werden konnte. Obwohl Burroughs vor allem als Autor bahnbrechender Romane wie Junkie (1953), Naked Lunch (1959), The Soft Machine (1961) und The Wild Boys (1971) bekannt ist, begeisterte er sich auch für Tonbänder, denn damit konnte man seiner Meinung nach das Raum-Zeit-Kontinuum blockieren, indem man vorweg aufgenommene Klänge in zufälliger Reihenfolge abspielte. Burroughs’ Tonbandexperimente sind auf Alben wie Call Me Burroughs (1965), Nothing Here Now but the Recordings (1981) und Break Through in Grey Room (1986) zusammengestellt, und sie alle übten Einfluss auf die in diesem Buch besprochenen Musiker aus.
In seinen Schriften, Aufnahmen, Filmen und Gemälden versuchte Burroughs, gewohnte Denkprozesse und logische Strukturen zu unterlaufen. In der Literatur hat er nur wenige Gleichgesinnte, wenngleich James Joyce und Thomas Pynchon ihm insofern ähnlich sind, als ihre schriftstellerischen Leistungen sowohl dissoziativ als auch evokativ sind. Dennoch ist keiner von ihnen so weit gegangen wie Burroughs, und das war vermutlich die eigentliche Absicht, die hinter seinem Schreiben steckte. Burroughs war überzeugt, dass die Menschheit an der Schwelle eines evolutionären Durchbruchs steht, der es der Spezies ermöglichen wird, ungehindert durch Raum und Zeit zu reisen. Seiner Ansicht nach erfordert diese nächste und letzte Stufe der menschlichen Entwicklung eine Mutation, die nur möglich wird, wenn wir die Tyrannei des WORTES – also der Sprache selbst – überwinden, die nach Burroughs’ Ansicht tief in unsere individuellen biologischen Elemente codiert ist. Diese sind die »soft machines«, auf denen das Control-Skript prangt; Burroughs’ Werk war ein Versuch, die unsichtbare Autorität zu umgehen, die die menschliche Erfahrung konditioniert.
Das klingt ziemlich verrückt, aber ganz von allein ist Burroughs nicht darauf gekommen. Viel verdankt seine »Sprache als Virus«-Prämisse dem metaphysischen Syllogisten Alfred Korzybski, dessen Theorie der allgemeinen Semantik besagt, dass das zentrale Nervensystem des Menschen evolutionär durch die Sprache in dem Maße geformt wurde, wie sie unsere Wahrnehmungsrealität definiert.12 Der einzige fortschrittliche Weg besteht darin, unseren Verstehensbereich zu erweitern – damit aufzuhören, die Karte (Wörter) mit dem Territorium (Wahrnehmung) zu verwechseln. Burroughs’ Philosophie hat auch Gemeinsamkeiten mit der von William Blake – dem englischen Dichter, Grafiker und Mystiker, in dessen protopsychedelischen Visionen die sich bekriegenden Götter der Befreiung und Unterordnung agierten.13 In Blakes Kosmologie erzwingt die autoritäre Gottheit Urizen Konformität durch das »Book of Brass«, den Quellcode der Massenbeeinflussung. Dies ähnelt Burroughs’ eigenen Vorstellungen von »Control« – jener heimtückischen Kraft, die die menschliche Freiheit und das menschliche Potenzial durch verschiedene Manipulationen, einschließlich Massenmedien, einschränkt. Das Ziel eines jeden ernsthaften Künstlers ist es seiner Ansicht nach, die Mechanismen dieser »Control« zu zerlegen, indem er sich in sie hinein »hackt« und ihre zentralen Programme mit den nämlichen Werkzeugen durcheinanderbringt: mit Wörtern, Klängen und Bildern.
Burroughs sah »Control« als Nebenprodukt einer aus dem Weltraum stammenden Mutation, die vor Jahrtausenden die menschlichen Kehlköpfe kolonisiert hat und durch die Sprache fortbesteht, indem sie Individuen zu keinem anderen Zweck als der viralen Replikation infiziert – in diesem Fall könnte Pharrells »Happy« von »Control« konstruiert worden sein, um spastische Drehbewegungen wie die der lilaärschigen Paviane zu erzeugen, auf die Burroughs in seinem Werk häufig Bezug nimmt. (Beweisstück A: »Roosevelt After Inauguration«, eine beißende Satire auf die amerikanische Politik, in der der gesamte Oberste Gerichtshof von entarteten Affen übernommen wird.)14 Burroughs’ Ansicht nach sind alle Formen von »Control« abzulehnen. »Autoritätspersonen werden als das gesehen, was sie sind: tote, leere Masken, manipuliert von Computern«, krächzt er auf Seven Souls, einer Veröffentlichung der Band Material aus dem Jahr 1989. »Und was steckt hinter den Computern? Natürlich Fernsteuerung. Seht euch das Gefängnis an, in dem ihr – wir alle – eingesperrt seid: eine Strafkolonie, die jetzt ein Todeslager ist.«15
Radio-Friendly Unit Shifter
Für Kurt Cobain war das Musikgeschäft ein besonders zermürbendes Gefängnis. Von Künstlern mit so großen Hits wie »Smells Like Teen Spirit« wird erwartet, dass sie auf Tourneen zwei oder drei Jahre am Stück um die Welt ziehen – ein anstrengender Lebensstil, vor allem, wenn man heroinsüchtig ist und ständig Stoff auftreiben muss, um sich nicht elend zu fühlen. Aber auch ohne Drogensucht kann Erfolg – oder jede Form von Berühmtheit – Stress bedeuten. Cobain bewunderte Burroughs’ bahnbrechendes Werk Naked Lunch, dürfte sich der feindlichen Attacken aber nicht bewusst gewesen sein, denen der Autor wegen des Buchs ausgesetzt war – darunter ein Prozess wegen Obszönität. Die Öffentlichkeit begegnete seiner Darstellung der Sucht mit Unverständnis. Wenn Cobain die Geschichte hinter der Veröffentlichung des Buchs doch kannte, vertiefte das zweifellos die Verbindung, die er zu Burroughs empfand. Er erkannte wohl auch, dass dieser sich in der eigenen Haut nicht ganz wohl fühlte. Ein Zustand, der nach Selbstmedikation schrie, und beide Männer bevorzugten Opiate. Möglicherweise ließ Burroughs Junk so cool erscheinen, dass Cobain versucht war, davon zu probieren; vielleicht ist er aber auch selbst darauf gekommen. Im pazifischen Nordwesten war Heroin zu Cobains Zeiten verbreiteter als Sonnenschein.
Vor der Droge hatte Cobain die Musik. Manchmal fühlte es sich an, als wäre sie alles, was er hatte. Als er neun war, ließen sich seine Eltern scheiden, und die Musik half ihm, das traumatische Erlebnis zu bewältigen; sie half ihm auch durch schlimme Tage in der Schule und milderte sein tief reichendes Gefühl der Isolation. Wenn Musik die Macht besaß, so zu wirken, könnte sie ihn vielleicht auch davor bewahren, irgendwann an einer Tankstelle oder, schlimmer noch, in den Wäldern zu arbeiten. Also beschloss Cobain gegen jede Erwartung, Rockstar zu werden. Zu seinem vierzehnten Geburtstag schenkte ihm sein Onkel eine gebrauchte E-Gitarre, mit der er sich, um einen Burroughs-Satz zu gebrauchen, »seinen Weg in die Freiheit schrieb«.16 Burroughs selbst stellte sich vor, zu einem Schriftsteller heranzuwachsen, der an exotischen Orten lebte und seltsamen Lastern frönte. Er behauptete, Zweck des Schreibens sei es, »es geschehen zu machen« – und für ihn tat es das. Auch Cobain ließ Ängste und Animositäten in seine Songs einfließen und verwandelte sich vom gemobbten Unzufriedenen zum Helden aller gemobbten Unzufriedenen auf der Welt. Er war aber auch ein Fall von: »Überleg dir genau, was du dir wünschst – es könnte womöglich in Erfüllung gehen.«
Cobains Rock-’n’-Roll-Träume wurden wahr, aber seine Realität war wie ein Albtraum im Wachzustand. Je mehr Leute wegen Nirvana durchdrehten, desto klaustrophobischer fühlte er sich. Zusammen mit dem Gefühl der Entfremdung verschlimmerte sich seine Sucht. Cobain versuchte, seine Abhängigkeit vor Kollegen und in den Medien zu rechtfertigen, indem er behauptete, dass er sich selbst medikamentös behandelte, um ein nicht diagnostiziertes Magenleiden zu lindern. Seine Schmerzen mögen echt gewesen sein, ebenso die Befreiung, die ihm das Heroin vorübergehend verschaffte. Doch schon bald war er hochgradig süchtig, was sein Leiden nur noch verstärkte.
Cobains Zerrissenheit fand ihren authentischen Ausdruck auf Nevermind,der LP, die als Soundtrack für die Flanellhemden-Bewegung diente, die kurzzeitig die Musikkultur der 90er definierte. Es brauchte nur eine Aufnahme – das bipolare Rave-up »Smells Like Teen Spirit« –, und die Kids waren süchtig. Cobains Status als depressiver Märtyrer wird seitdem von immer neuen Wellen an jungen Menschen aufrechterhalten, die seinen Look und seine Einstellung nachahmen. Heute ist seine Legende ungleich größer als das musikalische Werk, das er hinterlassen hat: Nirvana-T-Shirts werden von allen getragen, vom jungen Burschen, der im Supermarkt Einkäufe eintütet, bis zu Justin Bieber. Trends kommen und gehen, aber Nirvana gilt immer noch als hip und subversiv, was zum größten Teil an Cobains kompromissloser Haltung liegt. Auf die gleiche Art fühlen sich die Leute bis heute von Burroughs angezogen. Oft ist diese Anziehungskraft oberflächlich: Der Autor ist als Idol mindestens so fesselnd wie sein Werk (nicht, dass die beiden sinnvoll voneinander getrennt werden könnten). Ein paar Auserwählte aber werden total süchtig. Wie Cobain.
Nirvana hat die Musikindustrie auf den Kopf gestellt, aber es gab in den späten 80ern und in den 90ern auch andere Pioniere, die der alternativen Revolution den Weg bereiteten. R.E.M. aus Athens, Georgia, und Ministry aus Chicago lehnten beide den dominierenden Sound der Zeit ab und wurden mit – wenn auch unterschiedlichem – Erfolg im Mainstream belohnt. 1991, im Jahr der Veröffentlichung von Nevermind, brachten R.E.M. ihr zweites Major-Label-Album Out of Time heraus. Befeuert durch »Losing My Religion«, den Hit und das Video, kletterte das Album sowohl in den USA als auch im Vereinigten Königreich an die Spitze der Charts. Sänger Michael Stipe reiste nach Lawrence, um Burroughs zu besuchen, und die Band arbeitete 1996, ein Jahr vor dem Tod des Autors, mit ihm an einer Neufassung ihres Songs »Star Me Kitten«. Der Frontmann von Ministry, Al Jourgensen, freundete sich in dessen späten Jahren mit Burroughs an und überredete ihn sogar, 1992 im Video zum Industrial-Metal-Song »Just One Fix« der Band mitzuwirken. Auch andere Künstler, wie Sonic Youth und U2, knüpften im letzten Jahrzehnt seines Lebens direkte Verbindungen zu Burroughs; ihre Geschichten werden in den folgenden Kapiteln erzählt.
Im Gegensatz zu seinem Freund Allen Ginsberg, der oft mit der Populärkultur sympathisierte, hatte Burroughs wenig Interesse an der zeitgenössischen Szene. Das hieß jedoch nicht, dass er den Rock-’n’-Roll-Lifestyle nicht zu schätzen wusste. »Er hatte nicht viel Ahnung von Musik, aber auf der Bühne kannte er sich aus«, sagt James Grauerholz.17 »Und er wusste etwas über den Backstage-Bereich. Wusste etwas über das Leben im Wohnwagen, der die Straße hinunter zum nächsten Auftritt fährt.« Das taten auch die Gruppen auf der ursprünglichen Lollapalooza-Tour 1991, die Punk, Gothic, Metal, Industrial und Gangster-Rap unter dem neuen Banner »Alternative« zusammenbrachten. In seiner Anfangszeit brüstete sich das reisende Festival mit dem Geist des »Anything Goes«, der jedoch schon bald von kommerziellen Kräften erstickt wurde. Heutzutage ist das Lollapalooza nichts als ein gefundenes Fressen für Vermarkter, und zufällig spielen dabei auch Bands mit. (»Control« sollte wirklich darüber nachdenken, in ein Musikfestival zu investieren.)
Ebenfalls 1991 wurde David Cronenbergs Verfilmung von Naked Lunch veröffentlicht. Der Film nahm sich beträchtliche Freiheiten, was das Ausgangsmaterial betraf, infizierte aber dennoch eine ganz neue Generation von Möchtegern-Subversiven mit dem Burroughs-Fieber. Der Autor selbst war sich seines wachsenden Einflusses bewusst, besaß aber nur begrenztes Interesse daran, ihn zu hegen. »Er war wie ein Spiegel, und andere fanden sich in seinem Werk wieder«, sagt Grauerholz. »Er hat sein Selbstbild nicht geschaffen, aber er wusste genau, wie man sich für ein Fotoshooting kleidet.«18 Es gibt zahlreiche Fotos des Autors mit bekannten Musikern wie Patti Smith, Mick Jagger, David Bowie und Cobain, um nur einige zu nennen. Obwohl er alt genug war, um ihr Großvater zu sein, wirkt Burroughs auf keinem einzigen der Fotos deplatziert.
Come as You Are
Nirvanas scharfkantige Riffs und pockennarbige Melodien hatten in den Single-Charts der 90er-Jahre wenig Konkurrenz, schon gar nicht, wenn man sie mit Interpreten wie Paula Abdul und Bryan Adams verglich. Die Songs der Band enthielten viele eingängige Hooks, aber ihre Attitüde war durch und durch Punk. Als es 1989 von dem Indie-Königsmacher Sub Pop Records veröffentlicht wurde, machte ihr Debütalbum Bleach die Mitglieder von Nirvana auf der Stelle zu Underground-Heroen. Dennoch konnten die mitreißenden Clubauftritte der Band und die Unterstützung durch College-Radiostationen den Mainstream nicht überzeugen. Cobain und Co. wagten den Sprung in die große Liga und unterschrieben für ihre nächste Veröffentlichung, Nevermind, bei Geffen Records. Der Schachzug funktionierte, und Cobain verbrachte die letzten Tage seines kurzen Lebens damit, den plötzlichen und überwältigenden Erfolg zu verkraften. Jeder schien jetzt etwas von dem kunstbesessenen jungen Mann zu wollen, der nie das Gefühl gehabt hatte, erwünscht zu sein.
Wie Burroughs, der Anerkennung schätzte, aber Erwartungen verschmähte, suchte Cobain Bestätigung und sträubte sich gleichzeitig gegen den Ruhm. Natürlich erlebte Burroughs den Erfolg völlig anders als Cobain. Einen Großteil seines Lebens war der Schriftsteller ein Mysterium im Exil, El Hombre Invisible. Im Gegensatz dazu spürte Cobain das Rampenlicht am eigenen Leib, und die Erwartungen seines Publikums und seiner Entourage steigerten sich zu dem anhaltenden Gefühl, in einem immer engeren Gefängnis zu leben. Diejenigen, die Cobain am nächsten standen, taten ihr Bestes, um den Gedanken zu verscheuchen, dass er nicht mehr lange auf dieser Welt sein würde – eine Ahnung, die er wahrscheinlich auch selbst äußerte. Burroughs’ Freunde waren zu bestimmten Zeiten im Leben des Autors ähnlich besorgt um ihn. Aus diesem Grund sah sich James Grauerholz irgendwann veranlasst, ihn nach Kansas zu bringen – um ihn von Versuchungen fernzuhalten, die ihn das Leben kosten würden.
Im Herbst 1993 sah Cobain in Burroughs mehr als nur einen Quell obskurer Junkie-Weisheiten. Allein durch sein Überleben weckte der fahle Neunundsiebzigjährige in dem engelhaften Superstar einen Hoffnungsschimmer. Hier war jemand, der die Verwüstungen durch Sucht und Ruhm erlebt hatte und mit intakter Integrität daraus hervorgegangen war. »Es war wie: ›Okay, ich bin nun einmal in dieser Situation, aber ich kann durchhalten, ich kann durchkommen‹«, sagt Alex MacLeod, Nirvanas Tourmanager und Cobains enger Freund.19
Ein Jahr vor ihrem Treffen in Kansas kontaktierte Cobain Burroughs, um an einem Projekt zu arbeiten, das er in seinem Tagebuch beschrieb. »Ich habe mit einem meiner wenigen Idole, William Burroughs, zusammengearbeitet, und ich könnte mich nicht cooler fühlen«, schrieb Cobain.20 Diese Zusammenarbeit, The »Priest« They Called Him, wurde 1993 auf einer 10-Inch-Vinyl-Picture-Disc veröffentlicht, die heute auf dem Sammlermarkt Höchstpreise erzielt. Auf dem Zwei-Song-Set fangen Cobains schrottige Gitarrentöne Burroughs’ lakonisches Gekrächze mit faszinierender Wirkung in einem Netz aus Rückkopplungen ein. Obwohl sich die beiden später persönlich trafen, wurden ihre Parts getrennt voneinander aufgenommen: der von Burroughs in den Red House Studios in Lawrence im September 1992 und der von Cobain im November in den Laundry Room Studios in Seattle.
The »Priest« They Called Him hat seine Wurzeln in einer früheren Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Gus Van Sant, die den Titel Burroughs: The Elvis of Letters trägt. Die 1985 auf Tim/Kerr Records erschienene EP enthält Burroughs’ gesprochene Vignetten, die Van Sant mit Gitarre, Bass und Drum Machine begleitet. Sie ist überraschend melodiös und beweist, dass der Regisseur seinen Indierock-Exkurs durchaus ernst nahm. Mitbetreiber des Labels der Van-Sant-Platte war der 2017 verstorbene Thor Lindsay. Er trug dazu bei, das Cobain-Burroughs-Projekt auf den Weg zu bringen. »Thor war es, der sagte: ›Vielleicht sollten wir was mit Kurt machen‹«, erinnert sich Grauerholz. »Und er wurde tatsächlich zum Mittelsmann. Wir machten die Tape-Swaps schon vor dem eigentlichen Treffen.«21
Die Kombination von Cobains Gitarreninnovationen und Burroughs’ zittrigem Krächzen verursacht leichtes Unbehagen. Die musikalische Verquickung von »Silent Night« mit dem Track »Anacreon in Heaven« umrahmt die düstere Geschichte des Junkies »Priest«, der versucht, am Heiligabend Stoff aufzutreiben. Burroughs’ gesprochene Parts stammen aus Exterminator! – einer Kurzgeschichtensammlung, die 1973 erstmals veröffentlicht wurde. Mit ihrem harschen Sound und der düsteren Thematik konnte sich die Platte nicht in den Weihnachtscharts platzieren. Dennoch ist sie ein bleibendes Zeugnis für Burroughs’ generationenübergreifende Anziehungskraft und unterstreicht die unvergleichliche Fähigkeit des Autors, die Unbarmherzigkeit der Sucht zu vermitteln. »Dann traf es ihn wie schwerer, stiller Schnee«, sagt Burroughs müde. »All die grauen Tage der Junk-Vergangenheit. Er saß da und wurde belohnt mit dem ›perfekten Schuss‹. Und da er ja selbst Priester war, brauchte er keinen zu rufen.«22
Zu dieser Zeit quälte sich Cobain mit Nirvanas zweitem Werk für Geffen Records, dem rohen und depressiven In Utero. Beinahe hätte sich das Label geweigert, das Album zu veröffentlichen, denn man fürchtete, es sei nicht kommerziell genug – ein schwerer Schlag für das Selbstvertrauen des Songwriters. Lichtblicke gab es damals in Cobains Welt nur wenige, und in mindestens zweien davon spielte Burroughs eine Rolle: die Reise nach Lawrence und ihre frühere Zusammenarbeit. Cobain liebte das Gemeinschaftswerk The »Priest« They Called Him, weil es so unkonventionell und harsch war – die Art von Musik, die nur auf einem Independent-Label veröffentlicht werden konnte. Auf keinen Fall würde diese Musik bei den DJs Anklang finden, die er in den Songtexten geißelte: »He’s the one / Who likes all our pretty songs / And he likes to sing along / And he likes to shoot his gun / But he don’t know what it means.«23
Cobains Faszination für Burroughs hatte schon Jahre zuvor begonnen. Das Universum des Autors stand in krassem Gegensatz zur Alltagswelt des Bankers, des Lehrers oder entlassenen Holzfällers. Auf einen jungen Mann auf dem Weg ins Nirgendwo wirkten Burroughs’ exotische Eskapaden an weit entfernten Orten wie Marokko unwiderstehlich. Cobain entdeckte Burroughs zunächst als Teenager, als er zwischen dem Unterrichtschwänzen und Experimenten mit Drogen und Alkohol in der Bibliothek heimlich die mit Eselsohren versehenen Exemplare von Naked Lunch und Junkie