Burmester kriegt das Schaf
im Wolfspelz: Hamburg Krimi
Kriminalroman von Walter Appel & Chris Heller
Ingo Tabbert will sich unbedingt mit dem Hamburger
Privatdetektiv Aldo Burmester an einem außergewöhnlichen Ort
treffen. Doch als der dort eintrifft, muss er mit ansehen, wie zwei
Killer sich Ingo Tabbert greifen und ihn vor seinen Augen
umbringen. Dem Toten kann Burmester nicht mehr helfen, denn die
Killer haben auch den Detektiv im Visier ...
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
Aldo Burmester ist eine Erfindung von Alfred Bekker
Chris Heller ist ein Pseudonym von Alfred Bekker
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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1.
Hamburg 1991…
“Hey, Sie!”
Aldo Burmester versuchte, die grell geschminkte Frau zu
ignorieren. Aber das sollte ihm nicht gelingen.
“Sag mal, hast du Bohnen in den Ohren! Ich red mit
Ihnen!”
Sie benutzte du und Sie durcheinander.
Aber das passte zu der etwas rustikalen Art und Weise, in der
sie sich ausdrückte.
Aldo schätzte sie auf Ende zwanzig. Sie sah hübsch aus.
Abgesehen von ihrem Gesicht, das vermutlich auch hübsch ausgesehen
hätte, hätte sie es nicht mit zuviel Schminke ruiniert. Zuviel vom
Guten war eben auch nicht unbedingt besser. Man musste immer
wissen, wann man besser aufhörte.
Aber sie hatte sehr schöne Brüste.
Und davon zeigte sie auch eine Menge.
Ihr Dekollete war nämlich sehr tief ausgeschnitten.
Glücklicherweise hatte sie diesen Bereich im Naturzustand
belassen und nicht geschminkt. Und auch noch nicht operiert.
Eine Nutte, dachte Aldo Burmester.
Zweifellos.
Aldo hatte nichts gegen Nutten.
Aber im Moment war der Hamburger Privatdetektiv mit einer
Observation betraut. Und da konnte er sich nicht leisten, dass er
irgendwie auffiel. Das wäre dann nämlich wohl auch der zu
beschattenden Zielperson aufgefallen. Und das wiederum musste Aldo
um jeden Preis vermeiden, sonst war der Auftrag im Eimer.
Und einen Auftrag in den Sand setzen, das konnte sich Aldo
einfach nicht leisten.
Auch Privatdetektive waren nicht unbedingt auf Rosen gebettet.
Man musste sich nach der Decke strecken.
Und da nahm Aldo Burmester auch mal Aufträge wie diesen an.
Eine große mittelständische Firma hatte ihn beauftragt, einen
leitenden Mitarbeiter zu beschatten, weil der sich verdächtig oft
krankschreiben lief. In Wahrheit verzockte er offenbar aber sein
Geld auf der Reeperbahn. Unter anderem in Strip-Clubs wie diesem,
in den Aldo den Kerl verfolgt hatte.
“Ich kenn dich doch, du bist der Burmester!”, sagte die
Frau.
“Sie müssen mich verwechseln”, sagte Aldo. “Wir sind uns noch
nie begegnet.”
“Das kann schon sein, aber ich erkenne dich trotzdem.”
“Sie entschuldigen mich jetzt bitte…”
“Nein, so einfach kommst du mir nicht davon! Nicht nach dem,
was mir passiert ist. Wir haben nämlich eine Rechnung offen, wir
zwei!”
Aldos Zielperson drehte sich jetzt um.
Der Mann blickte genau in Aldos Richtung.
Der Privatdetektiv hatte es im Gefühl, was das bedeutete. Er
war aufgeflogen.
Die Zielperson kam jetzt auf Aldo zu.
Mit einem Champagnerglas in der Hand.
“Hier, das ist für Sie”, sagte der Mann. “Damit Sie auch etwas
Spaß haben. Ansonsten wünsche ich Ihnen viel Vergnügen dabei, mich
weiter zu beschatten. Ich kann mir auch denken, wer dahintersteckt.
Ich tue nichts Ungesetzliches, und wenn man mich wegen
irgendwelcher Vorwände aus der Firma schmeißen will, dann soll mir
das Recht sein. Mein Anwalt freut sich darauf, über eine Abfindung
zu verhandeln. Das können Sie der Gurkentruppe ruhig ausrichten,
die Sie mir hinterhergeschickt hat. Haben wir uns
verstanden?”
“Nun…”
“Sehr schön. Ich dachte schon, Sie wären ein begriffsstutziger
Hilfsschüler. Guten Tag!”
Damit ging der Mann, der eigentlich Aldos Zielperson sein
sollte wieder davon. Und Aldo blieb zurück, mit einem
Champagnerglas in der Hand. Seine Zielperson wurde von zwei
barbusigen jungen Frauen in Empfang genommen, die sich an ihn
schmiegten und viel kicherten.
Auftrag vermasselt, dachte der eigentlich sonst immer total
smarte Privatdetektiv.
Und zwar vollends.
Das war ihm schon lange nicht mehr passiert.
Schließlich war Aldo Burmester ja auch kein Anfänger
mehr.
Aber heute war anscheinend einfach nicht sein Tag.
Er reichte das Champagnerglas an die Dame weiter, die ihn so
wenig damenhaft angesprochen hatte.
“Kann ich Ihnen damit eine Freude machen und Ihre üble Laune
etwas aufhellen?”, fragte er.
Sie nahm das Champagnerglas und leerte es in seinem
Einzug.
“Und jetzt hörst du dir mal an, was ich dir zu sagen habe”,
flötete die die grell geschminkte Frau dann.
“Nun, ich sagte schon…”
“Schöne Grüße vom schönen Udo aus dem Knast.”
Aldo runzelte die Stirn.
“Der schöne Udo? Ist das dein Zuhälter?”
“Der Schöne Udo sitzt jetzt im Knast. Das ist vielleicht eine
Kacke! Und du bist Schuld daran.”
“Ich würde sagen, der Schöne Udo sitzt völlig zu Recht im
Knast und bleibt da hoffentlich auch noch eine Weile. Der wollte
mich nämlich umbringen, hat mir mit seinen Kerlen beim Joggen im
Park Planten und Bloemen aufgelauert und dann seinen Kampfhund auf
mich losgelassen, damit der mich zerfleischt. Ich würde sagen, das
Urteil, das er dafür gekriegt hat, war noch ziemlich milde.”
“Du hast seinen Hund getötet, du Unmensch.”
“Hätte ich mich zerfleischen lassen sollen?”
“Der ist doch ganz lieb und tut nichts.”
“Den Eindruck hatte ich nicht.”
“Und davon abgesehen: Weißt du eigentlich, was du angerichtet
hast? Weißt du, was es für mich bedeutet, dass der Schöne Udo jetzt
im Knast seine Zeit abbrummen muss? Niemand hält mir den Rücken
frei! Ich kann meine Arbeit nicht machen wie sonst und muss mich
von allen möglichen blöden Ärschen dumm anpupen lassen, die sich
das nie trauen würden, wenn der Schöne Udo auf freiem Fuß wäre.
Nie!”
“Tut mir Leid für dich!”
“So einer wie du ist doch so ein rücksichtsloses Arschloch. Du
erschießt den Hund und bringst einen hart arbeitenden Geschäftsmann
in den Knast und ich habe es auszubaden! Jawohl, ich! Aber das
kümmert solche Schnösel wie dich ja nicht!”
“Ich habe mein Leben verteidigt!”
“Ach komm mir nicht auf die Tour! Weißt du eigentlich, was du
dem Schönen Udo damit angetan hast?”
“Ich soll ihm was angetan haben?”
“Weil du seinen Hund umgebracht hast!”
“Hör mal…”
“Der Schöne Udo ist nämlich sehr sensibel, weißt du. Und
jetzt muss er einmal die Woche zum Knastpsychologen, weil er
schlecht träumt. Und das ist erst so gekommen, seitdem sein Hund
tot ist! Selbst wenn der jetzt rauskommt, das wird ein anderer
Mensch sein. Ein gebrochener Mann.”
“Wäre schön, wenn er ein anderer geworden ist, wenn er
rauskommt”, sagte Aldo. “Ich glaube, sowas nennt man
Resozialisierung. Ich habe da allerdings wenig Hoffnung.”
“Du machst dir wirklich gar keinen Kopf, oder?” Sie schüttelte
nur den Kopf und betrachtete Aldo Burmester mit einem
Gesichtsausdruck, der ihre tiefe Abscheu zum Ausdruck
brachte.
Aldo Burmester fragte dann:
“Bist du so doll geschminkt, um ein paar blaue Flecken zu
verdecken?”
“Was?”
“Stimmt doch, oder?”
“Quatsch nicht herum!”
“Ich kenne mich mit blauen Flecken etwas aus.”
“Ach, so?”
“Ab und zu gerate ich mit üblen Typen aneinander und habe
manchmal selbst ein paar.”
“Ach, du Ärmster!”
“Die blauen Flecken, die du verdeckst, müssten ungefähr so alt
sein, dass sie noch vom Schönen Udo stammen könnten, als er noch
auf freiem Fuß war.”
“Er hat einen manchmal etwas hart angepackt, aber tief in
seinem Inneren, da ist er eine sensible Seele!”
“Und wenn der Schöne Udo rauskommt, dann wird er vermutlich
dich als Erstes verprügeln, nicht wahr?”
“Du hast mein Leben zerstört, weißt du das?”
“Dir ist nicht zu helfen.”
“Wer sagt denn, dass du mir helfen sollst? Du verdammter
Arsch!”
Sie schrie das so laut, dass sich jetzt alle in dem Lokal nach
ihr umdrehen. Selbst die Musik verstummte und die Stripperin hörte
mit ihrer Darbietung auf.
Alle starrten in ihre Richtung.
Ein Rausschmeißer kam.
“Gibt es irgendwelche Probleme?”
“Ich wollte gerade gehen”, sagte Aldo. “Ansonsten sollten Sie
mal überprüfen, ob irgend etwas in dem Champagner drin ist, den Sie
hier ausschenken. Der scheint nämlich schlechte Laune zu
machen.”
*
Der Langenfelder Wasserfall brauste und toste. Die
Gischtflocken wehten bis zu den Wanderern, die sich dicht hinter
dem Geländer aneinanderdrängten. Zu gewaltig war dieses Schauspiel,
denn es hatte in den letzten Wochen viel geregnet, so dass Unmengen
von Wasser den hohen Hang in die Tiefe herunterstürzten.
Ingo Tabbert, ein bulliger Mittvierziger mit Stirnglatze,
schaute unbehaglich drein.
In dem Getöse verstand man sein eigenes Wort nicht. Tabbert
wartete auf Aldo Burmester, mit dem er sich hier verabredet hatte.
Er sah einen hochgewachsenen, in eine Ölhaut gehüllten Mann auf ihn
zukommen.
Das musste Aldo Burmester sein. Tabbert winkte ihm zu.
Da packten ihn die zwei neben ihm stehenden Männer im Genick
und unter den Achseln. Mit einem Ruck, ehe Tabbert sich wehren
konnte, warfen sie ihn übers Geländer.
Die Zuschauer standen vor Schreck wie gelähmt. Das ungeheure
Getöse verschlang Tabberts Todesschrei glatt. Wie eine Puppe flog
der große, kräftige Mann in den Dunst, der einem Schleier ähnelte.
Todesangst krampfte Tabbert die Eingeweide zusammen.
Gegen die zurzeit tobenden Elemente war er total ohne Chance.
Gepackt und herumgewirbelt, spürte er schmetternde Schläge und
einen entsetzlichen, alles verschlingenden Schmerz, als ihn die
Kraft des Wassers gegen die Felssteine knallte.
Dann war da nichts mehr. Tabberts zerschmetterte Leiche würde
wohl irgendwo flussabwärts auftauchen.
Die Mörder schauten grinsend dorthin, wo ihr Opfer
verschwunden war. Als ein Mann auf sie zutrat, zog der größere
Killer eine 45er Colt Combat Commander.
Die Geste sagte mehr als alle Worte. Der im Affekt handelnde
Zuschauer wich zurück.
Da griff Aldo Burmester ein. Aldo Burmester war zu spät
erschienen, um den Mann zu retten, mit dem er sich treffen wollte.
Doch seine Mörder wollte er nicht entkommen lassen.
Aldo feuerte einen Warnschuss über die Köpfe der Killer.
»Hände hoch!«, schrie er. »Waffen fallen lassen!«
Der Killer mit der Pistole feuerte sofort auf den noch auf der
Treppe stehenden Privatdetektiv.
Aldo duckte sich. Die Kugel traf eine Stahlstrebe und jaulte
als Querschläger davon.
Aldo konnte nicht zurückschießen, um die Wandergruppe am
Geländer nicht zu gefährden. Die Menschen dort schrien auf und
drängten sich schutzsuchend zusammen. Sie standen ohne Deckung über
den brausenden Wassern. Flucht vor den Killern, von denen auch der
zweite eine Schusswaffe gezogen hatte, war ihnen nicht
möglich.
Der zweite Killer, ein stämmiger Bursche mit dunklem Teint und
Nussknackerkinn, hielt eine abgesägte Mehrlader-Schrotflinte in
seinen klobigen Fäusten.
Sein Kumpan war schmaler als er, blass und mit einer gezackten
Narbe auf der linken Wange, wo ihm ein Konkurrent mal mit dem
Stilett die Meinung ins Gesicht geschnitzt hatte.
Die Killer flohen zur anderen Seite des Wasserfalls hinüber,
weg von dem Geländer. Aldo rannte mit federnden Sprüngen
hinterher.
Er ließ die Menschengruppe zurück, die hier eine besondere,
keineswegs schöne Attraktion erlebt hatte. Aldo hielt sich nicht
auf.
Nach Tabbert brauchte er nicht mehr zu sehen. Sein
potenzieller Auftraggeber hatte ein Begräbnis besonderer Art
erhalten.
Die Killer erreichten das untere Ende des Wasserfalls. Der
Aufpasser dort war geflohen. Er stand sowieso mehr zur Dekoration
da. Auf schießwütige Killer war er nicht vorbereitet.
Aldo holte auf. Dann trieben ihn Schüsse zurück.
Der Privatdetektiv schlitterte auf dem feuchten Untergrund
zurück und duckte sich. Die Killer, in vor Nässe glitzernde
schwarze Umhänge gehüllt, Gestalten wie Totengräber, flankten über
einen umgestürzten Baum.
Sie rannten an der Höllenmühle vorbei, die sich am unteren
Ende des Wasserlauf befand, und flüchteten weiter.
Aldo schoss hinter ihnen her, diesmal gezielt. Doch die
Entfernung war zu groß. Er traf nicht.
Über dem Wasserfall flogen Hubschrauber mit Touristen, die
sich einen besonderen Blick auf die Sehenswürdigkeit gönnen
wollten. Die Hubschrauberinsassen waren auf die Schießerei auf der
oberhalb des Wasserfalls aufmerksam geworden. Die Polizei war
bereits verständigt, dass ein Mord geschehen war und Männer bei den
Fällen herumschossen.
Doch bis die Polizei eintraf, konnten die Killer längst über
alle Berge sein. Sie liefen, als ihnen uniformierte
Sicherheitsleute den Weg versperrten, durch den angrenzenden Wald
und erreichten eine Lichtung, die sich unweit des nun reißenden
Flusses befand.
Ein Hubschrauber donnerte nieder. Der Luftwirbel seiner
Schraube zauste die Killer und ließ sie sich ducken. Doch nicht
lange.
Die Riot-Gun des einen Mörders spukte Feuer und traf die
Unterseite des Hubschraubers.
Funken sprühten, Öl spritzte aus einer durchlöcherten
Versorgungsleitung.
Der Hubschrauberpilot besann sich, dass Vorsicht der bessere
Teil der Tapferkeit sei, und drehte schleunigst ab.
Die Gangster wussten, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb.
Doch sie legten die gelassene Ruhe ausgekochter Profis an den Tag.
Auch als sie endlich den befestigten Weg neben dem reißenden Fluss
erreichten. Sie waren die Herren und kontrollierten es mit
Waffengewalt unbeschränkt. Die paar Leute, die sich dort
aufhielten, verkrochen sich oder waren schon geflüchtet.
»Wo bleibt unser Boot?«, fragte der bleiche Killer mit dem
Narbengesicht. Sein Blick flackerte unstet.
»Wird schon noch kommen«, antwortete sein stämmiger Komplize
und umklammerte die schwere Coltpistole. Er spuckte aus. »Wer ist
der Typ, der unserem Opfer zu Hilfe eilte? Der Große, der auf uns
geschossen hat, und wo steckt er jetzt?«
»Frag mich was Leichteres, Dirk! Unser Auftraggeber hat mir
die Hintergründe nicht verraten.« Der Stämmige blickte sich um und
sah auf die Uhr.
»Jetzt würde es Zeit für die Abholung.« Da tauchte Aldo
Burmester auf.
2.
Aldo hatte die den Seitenweg verlassen und war an einem
schmalen Felsband über dem reißenden Wasser entlanggeklettert.
Dabei hatte er auf dem glitschigen, nassen Band sein Leben
riskiert.
Jetzt erschien er an einer Stelle, wo ihn die Killer nicht
erwartet hatten, schob den Kopf über die Felskante und hob die
Automatic.
»Flossen hoch!«, brüllte Aldo durch das immerwährende Getöse
der Fälle.
Die Killer stutzten. Das Narbengesicht mit der Zuchthausfarbe
schoss von der Hüfte aus mit der Riot-Gun. Die Schrote fegten über
Aldo Burmester weg, und er schoss zurück und traf den Gangster in
die Schulter.
Der Killer gab einen erstickten Laut von sich, taumelte zurück
und ließ die Riot-Gun fallen. Aldo grinste. Doch zu früh. Als er
den zweiten Gangster mit einem knapp am Kopf vorbeigefeuerten
Schuss ermuntern wollte, die Pistole fallen zu lassen, versagte
seine Automatic.
Die Nässe und Gischt wirkten sich negativ aus. Die Patrone
zündete nicht.
Der stämmige Gangster erfasste die Sachlage, packte seine
Kanone mit beiden Händen und schoss auf Aldo.
Um nicht erschossen zu werden, ließ Aldo sich von der
Felskante hängen. Der Stämmige jagte die letzte Kugel aus dem Lauf
und stürmte zur Kante vor.
Er lud nicht nach, sondern war fest entschlossen, Aldo zu
einem tödlichen Absturz zu verhelfen.
Aldo steckte die im Moment nutzlose Pistole in die Tasche. Da
war der Gangster schon da. Wie ein Berg ragte er auf, eine wuchtige
dunkle Gestalt, und trampelte mit seinen Fallschirmspringerstiefeln
auf Aldos Finger. Der Privatdetektiv sollte loslassen.
Er sah die verzerrte Fratze des Killers unter dessen Lederhut.
Aldo glaubte, seine Finger würden zermalmt. Die der rechten Hand
wurden taub und gefühllos.
Der Privatdetektiv packte den Gangster am Fußgelenk. Doch
genauso gut, wie ihn umzuwerfen, hätte er versuchen können, ein
bronzenes Denkmal vom Sockel zu stürzen.
Der Killer trat nach Aldos Gesicht. Der Privatdetektiv riss
den Kopf weg. Da bückte der Gangster sich und schlug mit dem
Pistolengriff auf Aldo Burmester ein.
Aldo schützte den Kopf mit dem Arm, so gut es ging. Er musste
Hiebe einstecken.
»Willst du wohl loslassen, du Aas?«, keuchte der Gangster über
ihm.
Aldo sah jede Pore in seinem Gesicht. Er würde es nie
vergessen.
»Dirk, lass uns abhauen, das Boot ist da!«, hörte Aldo da ganz
schwach.
Der von ihm angeschossene Komplize des Killers meldete sich.
Doch der Stämmige war wild entschlossen, seinen Gegner zu killen.
Sein Killerinstinkt und die mörderisch-rasende Wut gingen mit ihm
durch.
Er beugte sich vor, während Aldo, den er schon für fast
erledigt hielt, sich zusammenduckte.
Aldo sah seine Chance.
Wie eine Kralle schoss seine Rechte vor und packte den Killer
am Kragen. Mit einem Ruck brachte er ihn aus dem ohnehin instabilen
Gleichgewicht.
Der Gangster ließ die Pistole fallen, die er am Lauf
festgehalten hatte. Er erkannte zu spät, dass er zu viel gewagt
hatte. Jetzt fuchtelte er in der Luft herum, um sein Gleichgewicht
zurückzuerhalten, was ihm jedoch nicht gelang. Er neigte sich
vor.
Sein letzter Versuch, festen Stand zu erhalten,
scheiterte.
Er stürzte über Aldo weg. Sein schwarzer Regenumhang flatterte
grotesk. Der Gangster stürzte aufbrüllend in den reißenden
Fluss.
Aldo sah ihn ins Wasser klatschen. Der Killer tauchte noch
einmal auf. Er versuchte, zum Ufer zu schwimmen. Aber dazu war ein
Mensch viel zu schwach. Das Wasser riss ihn mit. Mit letzter Kraft
klammerte sich der Verzweifelte an einen Felsen, den die tosende
Flut umspülte. Die Hilfeschreie des Gangsters waren nicht zu
vernehmen.
Doch sein verzweifeltes Winken mit einer Hand sah Aldo
deutlich. Obwohl es ein Mörder war, hätte Aldo ihn gerettet, wäre
es ihm möglich gewesen. Doch dazu hatte er keine Chance.
Jetzt fuhr ein Boot um die Biegung und hielt, obwohl es
riskant war, auf den Verbrecher zu.
Der Gangster krallte sich mit letzter Kraft an dem Felsen
fest. Oben zog Aldo sich über die Felskante. Das Narbengesicht war
verschwunden. Der Gangster musste in das Boot gestiegen sein, das
ihn und seinen Kumpan abholen sollte.
Aldo Burmester schaute nach unten. Das Boot mit den
Sicherheitsleuten wurde von seinem starken Außenborder-Motor auf
der Stelle gehalten. Ein Uniformierter hielt das Steuer.
Sein Kollege warf dem an dem Felsen klebenden Killer einen
Rettungsring an einer Leine zu. Der Rettungsring klatschte gegen
den Felsen. Der Gangster war schon zu schwach und zudem zu klamm
von dem eisigen Wasser, um ihn zu packen. Damit vergab er die
letzte Chance.
Der Uniformierte zog den Rettungsring ein und holte zum
zweiten Wurf aus. Doch der Gangster konnte sich nicht mehr halten.
Die Kräfte verließen ihn. Irgendwann war damit Schluss, da nutzten
auch Wille und Todesangst nichts.
Die starke Strömung zog den Gangster weg. Blitzschnell wurde
er in den Schlund des reißendes Flusses gerissen und forderte an
diesem Tag schon sein zweites Todesopfer.
Genau wie seinem Opfer Ingo Tabbert, so erging es jetzt dem
Mörder Jonny. Gegen die Felsen geschleudert, über scharfe
Felssteine gerissen, zermalmte und zermahlte ihn das Wasser mit
Urgewalt.
3.
Die Sicherheitsleute fuhren mit dem Boot von der gefährlichen
Stelle zurück. Der eine Beamten bekreuzigte sich. Das Gesicht des
anderen war wie aus Stein gemeißelt.
Inzwischen rannte Aldo schon zu der Bootsanlegestelle, auf die
ihn ein Tourist heftig winkend hinwies. Ein Motorboot mit dem
narbengesichtigen Killer an Bord entfernte sich schon. Aldo konnte
nicht mal hinterher schießen.
Er fluchte und winkte ein Touristenboot herbei, dessen
Insassen für seine Begriffe viel zu langsam an Land stiegen. Der
Bootsführer, ein grauhaariger, unwahrscheinlich ruhiger Mann,
bestand darauf, weiter am Ruder zu bleiben.
»Die kriegen wir schon«, sagte er um seinen Priem herum. »Sie
fahren den Fluss runter.«
Aldo war an Bord gesprungen. Der aufgetunte 320-PS-Außenborder
des Boots brummte auf. Der Skipper nahm Kurs auf. Dazu gehörten
ebenso stählerne Nerven wie große Erfahrung, dieses Gewässer zu
befahren. Aldo vermied daran zu denken, was ihnen blühte, wenn etwa
der Motor aussetzte.
Das Boot mit dem verletzten Killer und seinem Fluchthelfer an
Bord war in der Gischt kaum zu sehen. Es hatte einen guten
Vorsprung.
Aldos graubärtiger Skipper wich den Felszacken aus, die er
mehr ahnte als sah.
Das Boot mit dem fliehenden Narbengesicht-Killer hatte das
Ende des Höllenbachs fast erreicht. Da raste ein Polizeiboot aus
dem Ellerbach, der in den Höllenbach übergeht, mit Blaulicht und
Radarantenne auf dem Kajütdach. Der Motorkreuzer schnitt dem
Gangsterboot den Weg ab.
Aldo jubelte. Der Killer war in der Klemme.
Doch der Jubel des Privatdetektivs verkehrte sich rasch in das
Gegenteil. Der Narbengesichtige fuchtelte mit seiner Pistole und
bedrohte seinen Skipper, einen langhaarigen jungen Mann. xxx
Dieser junge Hippie schüttelte heftig den Kopf, konnte sich
aber nicht durchsetzen. Sein Fahrgast, den er nie an Bord genommen
hätte, hätte er den weiteren Verlauf gekannt, zwang ihn, Vollgas zu
geben.
Das Polizeiboot mit drei Uniformierten am Deck waren auf diese
Aktion nicht gefasst. Das Boot schoss wie eine Rakete auf das
Polizeiboot zu, so dass man schnell manövrierte, um einen Crash zu
vermeiden. Doch nun folgte man den Flüchtenden – wenn auch nur
zögernd.
In der Luft donnerte abermals ein Hubschrauber heran. Er hielt
jedoch respektvollen Abstand, nachdem der erste Hubschrauber sich
den Treffer mit der Riot-Gun eingefangen hatte.
Das Narbengesicht drohte mit einer 45er zu dem Bell-Copter
hoch, dessen gischtbesprühte Plexiglaskanzel in der Sonne
glitzerte. Der Gangster hielt sich trotz des Schulterschusses
aufrecht. Er war notdürftig verbunden worden und zäh.
Das Boot mit dem Killer fuhr weiter den Fluss hinunter, der
nun steiniger und flacher wurde. Wer sich hier nicht auskannte,
musste damit rechnen, dass sein Boot kentert. Für zu schwere
Wasserfahrzeuge war der Fluss hier nicht passierbar. Das
Polizei-Kajütboot blieb nun zurück..
Aldo schrie seinem Skipper ins Ohr:
»Wir können den Lumpen doch nicht so einfach entkommen lassen,
oder?«
Der Bootsführer schüttelte den Kopf. Er kniff die Augen
zusammen und suchte sich seine Fahrrinne.
Längst hatte Aldo das verfolgte Boot aus den Augen verloren.
Er klammerte sich am eisernen Handlauf fest. Gischt sprühte und
schäumte über das Boot und seine Insassen wie eine voll aufgedrehte
Dusche.
Das Getöse des reißenden Wasser war auch hier
ohrenbetäubend.
Es stellte einen gewaltigen Unterschied dar, dieses
Naturschauspiel als Betrachter zu genießen, oder unter Lebensgefahr
durch einen reißenden Fluss zu fahren.
Aldo hatte Berichte gelesen, dass Verrückte sich sogar in
hölzernen Tonnen auf derartige Flüsse gewagt hatten und es überlebt
hätten, jedenfalls einige davon.
Dem Privatdetektiv reichte die Bootsfahrt. Alles hing davon
ab, ob der Skipper die richtige Route erwischt hatte oder nicht.
Aldo hatte den Eindruck, die Fahrt würde Ewigkeiten dauern.
Das Brausen und Tosen wollte nicht enden. Abwärts ging es in
sausender Fahrt. Aldo fielen seine sämtlichen Todsünden ein. Er
biss die Zähne zusammen und erwartete jeden Moment, dass das
Motorboot entweder kentern oder voll gegen einen Felsen krachen und
zerschmettern würde.
Doch dann endete diese Höllenfahrt doch. Heftig schwankend
fuhr das Boot durch Strudel und Neere, zu denen Aldo erschüttert
schaute.
Er konnte es sich kaum vorstellen, von dort oben
hinuntergefahren zu sein.
Der Skipper schrie etwas, das Aldo nicht verstand. Weit voraus
trieb das verfolgte Boot. Es war schon aus dem Bereich des
aufgewühlten Wassers heraus. Es musste einen Motorschaden oder eine
sonstige Panne haben.
Aldo winkte seinem Skipper zu, dem manövrierunfähigen Kahn zu
folgen. Jetzt rechnete er sich die beste Chance aus, den Killer zu
fassen, der gehetzt zu ihm zurückschaute.
Der 320-PS-Motor des Außenborders brummte auf. Das Boot schoss
durch die Wellen. Der Killer schien keine Chance mehr zu
haben.
Doch da schwebte ein sechssitziger Hughes-Cayuse-Hubschrauber
von Norden hinzu. Noch ehe Aldo etwas dagegen unternehmen konnte,
verharrte der Hubschrauber knapp über dem Boot mit dem Killer. Im
Cockpit des Hughes-Copters saßen zwei Männer mit Helm und Schal vor
der unteren Gesichtshälfte.
Der Copilot ließ eine Strickleiter herunter. Der
narbengesichtige Killer war eisenhart. Er feuerte auf Aldo und das
Verfolgerboot. Die Schüsse krachten leise durch die Geräuschkulisse
des Wassers.
Dann stieg der Killer die Leiter hoch, mühsam und mit
zusammengebissenen Zähnen, doch trotz seiner Verwundung recht
schnell. Aldos Skipper drehte das Gas auf, dass der Außenborder
aufheulte und das Bootsheck sich hoch aus dem Wasser hob.
Doch es war zu spät, den Fliehenden noch zu fassen. Er
verschwand in der Kabine. Die Tür klappte hinter ihm zu.
Der Cayuse stieg in den blauen Himmel und drehte in Richtung
Norden ab. Aldo konnte nur hinterher fluchen und hoffen, die
Polizei oder eine andere Einheit würden den Fluchthubschrauber
erwischen.
Er selber konnte es nicht.
Der Skipper fuhr zu dem havarierten Fluchtboot des Killers.
Der langhaarige Bootsführer reckte die Hände so hoch wie er
konnte.
»Ich konnte nichts dazu«, versicherte er. »Er hat mich
gezwungen.«
»Klar doch«, erwiderte Aldo. »Besonders, ihn von dort oben
abzuholen.«
»Die beiden Männer bestellten mich dorthin. Ich dachte, es
handelt sich um den Sonderwunsch von zwei spleenigen Kerlen. Wie
sollte ich denn wissen, dass so was dahintersteckt?«
»Erzähl das der Polizei«, antwortete Aldo. »Wie hießen die
beiden Männer, die du abholen solltest?«
Der Langhaarige kannte von dem einen nur den schönen Decknamen
Müller.
Aldos Skipper nahm das Fluchtboot, dessen Schraube an einem
Felsen abgerissen war, ins Schlepp. Er fuhr damit weiter
flussabwärts. Den reißenden Höllenbach hoch konnte er ganz gewiss
nicht mehr.
Aldo war ins Boot des Langhaarigen hinübergestiegen, der für
ihn keine Bedrohung darstellte. Von ihm konnte Aldo nichts mehr
erfahren. Der Privatdetektiv hatte sich nach der Höllenfahrt wieder
beruhigt. Er saß am Heck auf der Bank, die Automatic im Schoss, und
schaute dem Langhaarigen im Ölzeug zu, der das Ruder bewegte. Das
war auch im Schlepp notwendig.
In Oldendorf erwartete eine ganze Rotte von Polizisten und
Kommissare verschiedener Polizeieinheiten die beiden Boote.
Von der Polizei erfuhr Aldo, dass das Narbengesicht mit dem
Cayuse-Helikopter entkommen war.
»Haben Sie eine Ahnung, was hinter der Sache steckt?«, fragte
ein Polizeimeister Aldo Burmester.
»Noch nicht. Aber das werde ich bald«, lautete die
Antwort.
4.
Nachdem er verhört worden war, fuhr Aldo mit seinem Wagen nach
Hamburg zurück. Dort hatte der Fall mit einem Anruf Ingo Tabberts
begonnen, der Aldo dringend zu dem Langenfelder Wasserfall
bestellte.
Das war erst am Vormittag geschehen. Aldo hatte sich abhetzen
müssen, um den Termin einzuhalten. Er war ziemlich sauer auf
Tabbert gewesen und hatte schon geglaubt, er wäre einem Spinner
aufgesessen.
Der 326-PS-Achtzylindermotor sprang sofort an und lief rund.
Während er Richtung Norden die A2 und dann die A7 befuhr, dachte er
über Tabbert nach, warum er sich unbedingt mit Aldo dort am
Wasserfall treffen wollte.
Es war kurz nach 23 Uhr in einer milden Mainacht, die sich
sogar in Hamburg auswirkte und der sonst harten Stadt Ecken und
Kanten nahm.
Reger Verkehr herrschte auch um die Zeit noch. Auf den
Bürgersteigen flanierten an diesem Wochenende bildhübsche Mädchen,
die viel vorzeigten, mit ihren Begleitern, und waren Cliquen
unterwegs. Leider nicht nur harmlose Personen.
Zahllose Lichter strahlten.
Aldo fuhr in die Tiefgarage des Gebäudes, in dem sich sein
Büro als auch sein Apartment befand. Der champagnerfarbene,
schnittige Roadster wirkte im Neonlicht unwirklich schön.
In seinem Büro erwartete Jana Marschmann, Aldos ebenso hübsche
wie tüchtige Assistentin, ihn. Im weißen Ledermini, mit frecher
Frisur und einer modischen Sonnenbrille war Jana ein Magnet für
Männerblicke.
Aldo fragte Jana nach ihren Ergebnissen in Sachen Ingo
Tabbert.
Jana wusste schon aus den Nachrichten, was bei dem
Langenfelder Wasserfall geschehen war.
»Tabbert gehörte zum engsten Mitarbeiterstab von Josef
Schein«, berichtete Jana.
Sie lehnte sich in ihrem bequemen Schreibtischsessel
zurück.
»Des Fernsehpredigers?«, fragte Aldo.
Jana nickte. Sie nannte ihrem Chef die Daten von Tabbert:
Absolvent der Hamburger Uni und Public-Relations- und
Bilanzbuchhaltungsfachmann, eine eher seltene Kombination.
Zweiundvierzig Jahre alt, geschieden, in geordneten Verhältnissen
lebend, nicht vorbestraft, keine Leidenschaften und Laster
bekannt.
»Tabbert hat nicht mal falsch geparkt, wette ich, so
ordentlich war er«, meldete Jana Marschmann. »Er hatte keinerlei
Feinde.«
»Das kann nicht stimmen. Sonst wäre er nämlich nicht
umgebracht worden.«
»Stimmt, Chef.«
»Gibt es Verwandte, Freunde, Bekannte?«
»Da wäre zuerst seine Nichte Denise Tabbert, fünfundzwanzig,
die ebenfalls für die Erweckung-Freikirche von Schein arbeitet. Und
zwar als Buchhalterin. Du weißt sicher, dass die Kirche ihren
Hauptsitz in Hamburg hat und nachgewiesenermaßen eine riesige
Glaubensgemeinde umfasst.«
»Wie schön für Schein. Hatte Tabbert vielleicht Schulden? Oder
teure und aufwendige Hobbys?«
»Schulden? Niemals. Das wäre für ihn eine Sünde gewesen. Er
galt als ausgesprochen religiös und gehörte zu einem
Bibelforschungskreis, was ich aber kein Hobby nennen würde.«
»Jedenfalls ist es kein teures, es sei denn, dass er sich
grundsätzlich nur jahrtausendealte Urschriftrollen gekauft
hat.«
Aldo überlegte, was Tabbert ihm hatte sagen wollen und weshalb
er von Profikillern umgebracht worden war. Der aufwendige,
ausgeklügelte Fluchtplan der Mörder gab Aldo ebenfalls zu denken.
Der Stämmige und das Narbengesicht waren keine kleinen
Nummern.
Wer sie bezahlte und einsetzte, musste schwerwiegende Gründe
haben.
In seinem Büro nahm Aldo noch einen Drink mit Jana, während er
die Post überflog und den Anrufbeantworter abhörte.
Jana schaltete den Fernseher ein und flippte mit der
Fernbedienung auf einen bestimmten Kanal.
»Da tritt Schein jetzt auf«, sagte sie. »Er hat seine
Mitternacht-Erweckungsstunde.«
»Da würde es langsam Zeit, erweckt zu werden«, brummte Aldo.
»Andere Leute stehen um halb sechs Uhr früh auf. Mit diesem Schein
werde ich demnächst mal ein paar Takte reden.«
Aldo sah den weiß gekleideten Prediger auf dem Bildschirm.
Schein lächelte milde und war aufgekratzt wie drei gedopte
Rennpferde zusammen. Er lief in seinem Studiobethaus vor seinen
dort versammelten Anhängern hin und her, presste die Hand aufs Herz
und schaute des Öfteren hoch zum Himmel, respektive der
Studiodecke.
Aldo studierte Scheins Gestik und sein Auftreten, wozu er
kurzfristig den Ton abstellte.
»In der zweiten Reihe links, die bildschöne Brünette in dem
Sommerkleid ist übrigens Denise Tabbert, Ingo Tabberts Nichte«,
teilte Jana Aldo Burmester mit. »Ich erkenne sie nach einem Foto,
das ich von ihr gesehen habe.«
Aldo schaute zu der zwischen anderen Gläubigen Sitzenden.
Denise Tabbert war mittelgroß, schlank und so schön, dass es
ihm den Atem verschlug.
Aldo wäre noch viel mehr von den Socken gewesen, hätte er
gewusst, dass sich in der Studio-Kapelle gegenüber vom dem
Bürogebäude ein Attentäter aufhielt.
Er hatte es auf Josef Schein abgesehen.
5.
Die Kapelle befand sich im 8. Stock eines Hochhauses, in dem
Studios und zwei Sender untergebracht waren. Ein Sender gehörte der
Erweckung-Freikirche. Mit modernsten Mitteln ausgestattet, war die
Kapelle ein technisches Wunderwerk. Das scheinbar betont schlichte
Interieur hatte Schein selbst mit einem Stab von Innenarchitekten
entworfen.
Verschiedene Kameras konnten jede Bewegung verfolgen und die
Totale genauso wie Groß- und Zoomaufnahmen bringen. Die Orgelmusik
war genauso elektronisch gesteuert, wie die versenkbare Bühne und
der auswechselbare Altar.
Im Regieraum, den die in der Kapelle Versammelten nicht sahen,
und am Mischpult hatten der Regisseur sowie Tonmeister und
Beleuchter jeweils ein Stück Arbeit.
Die Elektronik musste überwacht werden. Schein duldete keine
Pannen.
Schein wurde in einem Atemzug mit Evangelisten wie Billy
Graham, Jerry Falwell, Oral Roberts und anderen genannt. Er war um
die Fünfzig, hochgewachsen und hatte nicht zu langes, an den
Schläfen ergrautes Blondhaar.
Mitreißend predigte er seiner Gemeinde: »Nicht ich bin der
Star der Erweckungsstunde, Gott ist es, wie schon in Ewigkeit. Ich
bin nur sein Werkzeug. Durch Seine Kraft und in Seinem Auftrag
spreche ich zu euch. Mein höchstes Ziel ist es, Seinen Willen immer
recht zu erkennen und auszulegen. – In diesem Land leben viele in
Sünde. Die Dämonen der Drogensucht, der krassen Geldgier, der
Hurerei und Völlerei! sind stärker denn je. In einer
Hemmungslosigkeit sondergleichen taumelt unser Land einem Abgrund
entgegen, in dem Satan lauert – die alte Schlange.«
Schein ging in die Knie und streckte abwehrend, mit verstörtem
Gesicht, die Hände vor.
»Gibt es überhaupt noch eine Rettung vor den immensen
Gefahren, die nicht nur Deutschland, nein, die auch die ganze Welt
bedrohen?«
Schein betonte jedes Wort überdeutlich. Er lieferte seiner in
zahllosen Haushalten vor dem Bildschirm sitzenden Gemeinde eine
perfekte Show, damit sie nicht von ihm weg zu einem Spätfilm
umschaltete, oder der x-ten Wiederholung von »Rauchende
Colts«.
»Gibt es noch Rettung, ehe Satan die Welt endgültig
übernimmt?«, fragte Schein abermals flüsternd, was jedoch durch
Hochleistungsmikrophone selbst in den letzten Winkel noch
übertragen wurde.
Die Mitglieder der Erweckung-Freikirche gingen gespannt mit
und hingen an seinen Lippen. Sie wiederholten die Frage ihres
Oberhaupts. Gleichzeitig verdüsterte sich das vorher helle Licht in
der Kapelle. Dunkelheit umfing den in goldenem Schein strahlenden
Altar mit dem Gekreuzigten, vor dem Schein stand.
»Es gibt sie!«, rief er mit Donnerstimme. »Gott ist die
Rettung! Ihr seid die Rettung. Glaube und Gebet sind es, und der
Strom der Spenden und Liebesgaben von euch draußen vorm Bildschirm,
die ihr den rechten Weg sucht. Hier auf Kanal 23 der
Erweckung-Freikirche wird er euch gezeigt. Hier ist das Tor zum
Heil! Hier ist der schmale und steinige Pfad, der zur Erlösung
führt, während draußen die Straßen und U-Bahnen die Hölle
sind!«
Scheins Publikum brauchte solche Töne. Marktanalysen hatten es
bewiesen.
Die elektronische Orgel brauste auf. Der Altar strahlte in
grellem Licht, das wie Lanzen ins Dunkel stach.
Wer genau hinschaute, konnte flatternde Schatten unterm
Kapellendach und aus den Winkeln weichen sehen. Das war keine
Täuschung, sondern ein Hollywood-Trickeffekt.
Schein steppte umher, während der Halleluja-Chor aufbrauste
und es die Studiogemeinde nicht mehr auf den Sitzen hielt.
»Bevor ich mit den Heilungen und Fürbitten beginne, verlese
ich eine Grußbotschaft unseres Präsidenten«, verkündete der
Prediger schließlich.
Es handelte sich um ein paar Zeilen von dem Büro für
Öffentlichkeitsarbeit, das die patriotischen Bemühungen der
Erweckung-Freikirche anerkannte. Sie waren eher hölzern und so
abgefasst, dass sie nicht zu viel aussagen sollten.
Schein trug sie mit Donnerstimme und einer Gestik vor, die den
Effekt umkehrte, und schloss gleich ein Gebet für die politischen
Führer des Landes an.
Danach verlas er ein Schreiben einer Frau Laura Kalkbrenner
aus Bremen. Darin bedankte sie sich herzlich bei Schein für die
Linderung und, wie sie optimistisch glaubte, in Kürze bevorstehende
völlige Heilung ihres Rheumas.
»Beim letzten Auftritt der begnadeten Wunderheilerin Dolly
Tyron in Ihrer Gebetsstunde legte ich die Hand auf den Bildschirm,
wie es Frau Tyron verlangte, sprach ihr nach und glaubte ganz
fest«, las Schein. »Da spürte ich eine unerklärliche Kraft, die
über die Fernsehwellen auf mich überströmte, war im Nu schmerzfrei
und fühlte mich so wohl wie schon seit Jahren nicht mehr. Seitdem
haben sich meine Beschwerden so wesentlich gebessert, dass die
Kapazitäten, bei denen ich in Behandlung bin, staunen. Ich bedanke
mich vielmals, werde weiterhin regelmäßig am Bildschirmgottesdienst
teilnehmen und sende anbei eine Spende in Höhe von tausend Mark
fürs Konto der Erweckung-Freikirche zur Verbreitung der
Heilsbotschaft. – Eure Schwester im Herrn.«
Der volle Name folgte.
Schein tönte: »Ist das nicht wunderbar? Schwester Laura in
Bremen, wir grüßen dich ganz, ganz herzlich und schließen dich
heute Abend extra in unser Gebet ein. – Doch jetzt zu den anderen
Mühseligen und Beladenen. Kommet zu mir, ich will euch erquicken,
spricht der Herr.«
Im Kontrollraum außerhalb der Kapelle zündete sich der
Feature-Regisseur eine Zigarette an.
»Big C ist wieder ganz groß in Form«, sagte er und blies den
Rauch durch die Nasenlöcher. »Demnächst wird er noch barfuß über
die Elbe gehen.«
»Sei nicht so zynisch, Klaus«, widersprach die
Regieassistentin. »Ohne ihn hätten wir keine Arbeitsstelle. Der
Prediger hat uns von der Straße weggeholt und errettet. Wo wären
wir ohne ihn?«
»Er zahlt ver... elend schlecht. Dafür, dass wir einmal
gestrauchelt sind und froh sein mussten, einen Job zu erhalten,
nutzt er uns ganz schön aus. Christlich finde ich das nun
nicht.«
Dem Regisseur war im letzten Moment eingefallen, dass er nicht
fluchen durfte. Dazu, wie auch zu anderen Auflagen, mussten sich
Scheins Mitarbeiter jeweils schriftlich verpflichten. Ein
wiederholter Verstoß zog die Entlassung nach sich, nachdem eine
Anprangerung des Übeltäters am Schwarzen Brett der Gemeinde und
danach eine öffentliche Rüge erfolgt war.
Der Regisseur war groß und dürr, seine Assistentin eine kleine
Farbige in einem braven Sommerkleid. »Big C« oder »der Prediger«
lauteten die internen Namen für Josef Schein.
Die beiden beobachteten den Fortgang des
Erweckungsgottesdienstes auf dem Bildschirm. Auf den Monitoren
konnten sie jeden einzelnen Besucher des Gottesdienstes
sehen.
Der zynische Regisseur Klaus, ein ehemaliger Alkoholiker und
Spieler, der auch heute noch seine Probleme damit hatte, schüttelte
den Kopf.
»Das ist wieder mal eine Sammlung, Roxanne. Schau dir den mal
an!«
Per Knopfdruck zoomte er einen spitzbärtigen jungen Mann in
einer speckigen Jacke mit Pelzkragen auf den Bildschirm. Im Gesicht
jenes Mannes zuckte es heftig. Er wiegte den Oberkörper hin und
her.
»Ein Junkie«, sagte der Feature-Regisseur.
»Ich bin auch süchtig gewesen«, wandte die Assistentin ein.
»Ich habe Heroin gespritzt und Crack geraucht und bin dafür sogar
auf den Strich gegangen. Wenn der Prediger sich nicht um mich
gekümmert hätte, wäre ich zugrunde gegangen. – Halleluja.«
»Die Wohlfahrt hat sich um dich gekümmert, und du hattest eine
staatliche Entzugstherapie. Danach hat Schein dich eingestellt,
weil er dich gebrauchen konnte, Mädchen. Genauso war es bei mir
auch.«
»Du darfst nicht so schlecht von ihm sprechen. Geld ist nicht
alles.«
»Stimmt. Außerdem gibt es noch Aktien, Obligationen und
sonstige Wertpapiere, Edelmetalle und Immobilien. Davon scheffelt
Schein ganz ordentlich.«
»Schäme dich! Wir tun hier das Werk des Herrn. Gott wird es
uns vergelten.«
Der Regisseur verkniff sich die Rückmeldung, dass der
Gotteslohn eine wohlfeile Währung sei. Zudem inflationssicher. Bloß
im Geschäftsleben schlecht umzusetzen. Er beklagte, dass Scheins
Gesundbeterei bei hartgesottenen Junkies wenig bis nichts
nützte.
Die Regieassistentin Roxanne widersprach ihm heftig. Während
des Disputs überwachten die beiden Scheins perfekt inszenierten
Showgottesdienst. Manchmal mussten sie individuelle Umschaltungen
vornehmen, damit der Bildschirmgemeinde möglichst viel geboten
wurde.
»Gott hat die Kraft, jeden zu erlösen, auch einen Süchtigen«,
sagte Roxanne. »Das siehst du an mir.«
Der Regisseur seufzte. Er sagte nichts mehr. Damit hätte er
höchstens seinen Job gefährdet und sich Probleme bereitet.
Inzwischen war in der Kapelle eine pummlige Schwarzhaarige vor
Schein hingetreten. Sie warf sich vor ihm auf die Knie und
umschlang seine Beine mit den Händen.
»Bruder Josef, die Dämonen der Wollust suchen mich heim. Rette
mich, oder ich bin verloren! Jedes Mal, wenn ich einen attraktiven
Mann sehe, überkommt es mich. Ich kann nicht dagegen ankommen. In
schmierigen Motelzimmern, auf Autorücksitzen und sogar unter freiem
Himmel habe ich mich meinen Liebhabern hingegeben, obwohl ich einen
guten und treuen Mann zu Hause habe, der mir jeden Wunsch von den
Augen abliest, und drei kleine Kinder.«
Die Mitglieder der Studiogemeinde beugten sich vor, um ja
nichts zu verpassen. Auch die Bildschirmgemeinde horchte auf.
Dieses Bekenntnis erregte Aufsehen.
Der Prediger legte der schluchzenden Schwarzhaarigen die Hand
auf den Kopf.
»Ich will für dich beten, Schwester. Wir alle wollen für dich
beten. Bereust du dein Tun? Willst du dich wirklich ändern?«
»Ja, Bruder Josef, von ganzem Herzen. Aber ich kann nicht
gegen diese Veranlagung ankommen.«
Schein kniete mit der Nymphomanin vor dem Altar nieder. Er
betete laut. Die Gemeinde fiel ein. Dann umarmte und küsste der
Prediger die schwarzlockige Frau und half ihr, sich von den Knien
zu erheben.
»Sei getrost! Gott wird dir die Kraft geben, wenn du es
wirklich willst und ihn darum bittest. – Halleluja.«
Ein Arzt würde sagen, der Nächste bitte, ging es dem Regisseur
durch den Kopf. Er gähnte hinter der vorgehaltenen Hand, während
seine Assistentin das Geschehen in dem halbdunklen Kontrollraum
gespannt verfolgte. Die Schwarzhaarige kehrte hoch erhobenen
Hauptes, wenn auch mit verheulten Augen, auf ihren Platz auf der
Kirchenbank zurück.
Sie hatte im Mittelpunkt des Interesses gestanden und war
stolz darauf. Schein hatte sich bei seiner Fürbitte ein
Hintertürchen offen gelassen. Wenn die mannstolle Frau ihren Trieb
auch weiter nicht bändigen konnte, konnte der Prediger jederzeit
angeben, ihr sei es mit der Bekehrung nicht ernst gewesen. Dafür
konnte ihn keiner belangen. Er brauchte keine Erfolgsgarantie zu
geben.
Eine Reihe von weiteren Bekennern, die sich von Schein Hilfe
erhofften, war angetreten. Zu ihr gehörte auch der spitzbärtige
junge Mann in der für den vollklimatisierten Raum viel zu warmen
Jacke.
Er stand weiter hinten in der Reihe. Mit stieren Augen schaute
er den Prediger im weißen Anzug an, der seinen betont verklärten
Gesichtsausdruck zeigte und wie von hunderttausend Volt Energie
gespeist auftrat.
Schein beschimpfte den Satan, lobte Gott, umarmte die
Hilfesuchenden und hatte für jeden das rechte Wort, jedenfalls nach
seinem Dafürhalten. Er war der Nachfolger der Erweckungsprediger
des 19. Jahrhunderts, die Zeltgottesdienste veranstalteten oder
unter freiem Himmel predigend durchs Land gezogen waren. Nur dass
Schein heute ganz andere Möglichkeiten hatte.
Im Kontrollraum erwähnte die Assistentin, die noch immer über
den Spott des Regisseurs verstimmt war, dass der Betrieb des
Senders eine Menge Geld verschlang. Dazu kamen Scheins
Missionsreisen mit Hallengottesdiensten in großen Städten
Deutschlands.
Selbstverständlich wurden diese Veranstaltungen, zu denen
Schein mit einem Gulfstream-Privatjet anreiste, im Fernsehen
übertragen.
»Dafür braucht er das viele Geld, und für wohltätige
Zwecke.«
Der Regisseur schwieg. In der Kapelle war jetzt der
spitzbärtige Junkie an der Reihe. Schein trat zu dem Zitternden,
der aussah, als ob ihn ein Windstoß umpusten könnte. Er schaute ihm
in die Augen.
»Ich sehe, was du für ein Problem hast. Der Dämon der
Drogensucht zerfleischt deine arme Seele. Er hat dich geknechtet.
Doch Jesus Christus ist stärker. – Knie nieder und bete mit mir,
Bruder!«
Der Junkie zögerte.
»Was ist, Bruder?«, mahnte ihn Schein sanft.
Plötzlich riss der junge Mann einen 32er Revolver aus der
Jackentasche. Er richtete ihn auf Schein. Der Prediger wich
zurück.
»Ich handle im Namen des Satans!«, fauchte der Junkie mit
verzerrter, grollender Stimme. »Du sollst ihm nicht länger Seelen
entreißen, die ihm gehören. – Stirb!«
Ein Aufschrei gellte durch die Studiogemeinde. Ehe jemand
eingreifen konnte, krachten die Schüsse. Schein griff sich an die
Brust, wankte und brach zusammen.
Der Junkie rannte vor zum Altar und lachte irr.
Da stürzten zwei bullig gebaute Bodyguards des Predigers aus
einer seitlichen Tür. Mit brutalen Schlägen streckten sie den
Revolverschützen nieder und entrissen ihm seine Waffe.
Die Studiokapelle verwandelte sich in ein Tollhaus. Scheins
Gläubige jammerten und schrien, rauften sich die Haare und drängten
vor zu ihrem gefallenen Idol.
Auch die Zuschauer vor den Bildschirmen zu Hause riss es von
den Stühlen. Selbst Aldo Burmester und Jana Marschmann waren
geschockt.
Im Kontrollraum schaltete der Regisseur rasch auf einen
Bibelstellenspot um. Ihm sollte die Aufzeichnung von einer
Gebetsstunde folgen. Die Live-Übertragung war unterbrochen.
»Er ist tot! Sie haben ihn erschossen wie Martin Luther King
und Robert Kennedy!«, rief die Regieassistentin Roxanne
fassungslos.
Doch da geschah wieder etwas Unvorhergesehenes. Mittlerweile
drei Leibwächter schützten den wehrlos in ihrem Griff hängenden
Attentäter vor aufgebrachten Gläubigen der
Erweckung-Freikirche.
Ein Arzt beugte sich über den Fernsehprediger, der auf dem
Rücken lag und zwischen dessen Fingern Blut hervorsickerte.
Frauen und Männer von Scheins Gemeinde schluchzten fassungslos
und erschüttert. Da bewegte sich Schein. Die Umstehenden glaubten
zunächst, es würde sich um letzte Zuckungen bei ihm handeln. Doch
das war nicht der Fall.
Der Fernsehprediger erhob sich, unsicher zuerst. Er schüttelte
den Kopf, um seine Benommenheit loszuwerden, und stand dann fest
und sicher. Atemlose Stille breitete sich aus.
Alle wichen vor Schein zurück, an dessen Anzug Blutflecken zu
sehen waren.
»Der Herr hat mich errettet!«, verkündete der Fernsehprediger
theatralisch. Er ging zu dem Attentäter und umarmte ihn. »Ich
verzeihe dir, Bruder. Du wusstest nicht, was du tust.«
Jetzt erst erwachte der Regisseur im Kontrollraum aus seiner
Erstarrung.
Überzeugt, dass sich ihm hier eine einmalige Chance bot, sich
zu profilieren, schaltete er abermals um.
Die Kameras hatten jedes Detail von Scheins Wiederauferstehung
gefilmt. Der Regisseur brachte die Szenen, wobei er mit zitternden
Fingern sein Handwerk erledigte. Er sendete die erregenden Szenen
nach und schaltete dann wieder auf Liveübertragung um.
Der jetzt folgende Hexenkessel in der Studiokapelle war noch
wüster als der vorherige. Schein hatte Mühe, Ordnung in dieses
Durcheinander zu bringen.
Schein stellte sich in seinem blutbefleckten Anzug mit
erhobenen, ausgebreiteten Händen hin.
»Der Herr hat mich errettet!«, verkündete er. »Die Kugeln des
Attentäters ritzten mir nur die Haut. Lasset uns danken! Dies ist
ein klarer Beweis, dass meine Mission auf dieser Welt noch nicht
erfüllt ist, und dass der, der mich führt, stärker ist als der
Satan.«
»Ein Wunder!«, riefen Gemeindemitglieder Scheins. »Ein wahres,
ein großes Wunder!«
6.
Aldo Burmester sah das in seiner Detektei völlig anders. Der
Privatdetektiv boxte mit der Rechten in die offene linke
Handfläche.
»Das gibt es nicht!«, rief er. »Der Schütze hat so dicht vor
ihm gestanden, dass ihm das Mündungsfeuer den Anzug versengte. Auf
die Entfernung kann niemand vorbeischießen. Schein trägt eine
kugelsichere Weste.«
»Aber er blutet doch«, wandte Jana Marschmann ein.
»Wer weiß, ob das sein Blut ist.«
»Aber welchen Zweck sollte ein solches Betrugsmanöver
haben?«
»Frag mich was Leichteres, Jana! Es muss auf jeden Fall mit
dem Mord an Tabbert zusammenhängen. Ich fahre gleich zu dem Sender
und sehe dort nach. Du kannst nach Hause fahren.«
»Kommt nicht in die Tüte, Chef! Ich halte hier die Stellung.
Verständige mich, wenn es Neuigkeiten gibt!«
Kurz darauf stoppte Aldo mit seinem 500 SL gegenüber vom
Bürogebäude.
Hier war ein Auflauf im Gang. Das Attentat auf Josef Schein
hatte so viele Sensationslüsterne und Neugierige auf den Plan
gerufen, dass die Polizei das Hochhaus mit den vier Etagen der
Erweckung-Freikirche absperren musste.
Aldo sah seinen alten Freund und Kampfgenossen
Kriminalhauptkommissar Dankwers mit seiner Mordkommission vorfahren
und in der Tiefgarage verschwinden. Zwar hatte kein Mord
stattgefunden, sondern nur ein Mordanschlag. Trotzdem fiel das in
dem Fall in Sven Dankwers' Zuständigkeit.
Aldo berief sich bei den Beamten an der Sperrkette auf seine
Bekanntschaft mit Kriminalhauptkommissar Dankwers. Nachdem ein
Polizist über Funk rückgefragt hatte, durfte der Privatdetektiv die
Sperrkette passieren.
Seinen Mercedes ließ Aldo in der Tiefgarage auf einem
Besucherparkplatz. Er klopfte dem noch sehr neuen Superschlitten
beim Aussteigen automatisch auf die Kühlerhaube.
Der Lift beförderte Aldo Burmester in die 8. Etage, wo sich
Scheins Gemeinde mit Danksagungen für die Errettung ihres
Oberhaupts vor den Mörderkugeln nicht genug tun konnte. Aldo hatte
keine Gelegenheit, Josef Schein zu sprechen, der für den nächsten
Tag eine Pressekonferenz ankündigte und sich über seinen Sender
ausführlich zu dem Attentat äußern wollte.
Stattdessen gelangte Aldo zu seinem alten Freund
Kriminalhauptkommissar Dankwers. Der stiernackige Leiter der
Mordkommission Hamburg-Mitte hatte nur ganz wenig Zeit.
»Der Attentäter ist ein Junkie namens Martin Pankratz, der
schon mehrmals in der Nervenklinik war und nicht mehr ganz richtig
im Kopf ist durch seinen Drogenmissbrauch. Er behauptet, eine
innere Stimme hätte ihn zu dem Attentat angestiftet, nämlich die
des Teufels.«
»Er macht also auf unzurechnungsfähig?«, bemerkte Aldo.
Dankwers zuckte die Achseln.
»Ob er simuliert oder nicht, müssen die Fachärzte feststellen.
Was kann ich sonst noch für dich tun?«
»Gibt es irgendwelche Hinweise für unlautere Machenschaften
innerhalb der Erweckung-Freikirche?«
»Das hat mich deine Mitarbeiterin Jana Marschmann heute auch
schon gefragt. Ich kann dir nur das Gleiche antworten wie ihr: Mir
ist nichts bekannt.«
»Welche Verletzungen hat Schein?«
»Keine Ahnung. Er hat nicht mal den Polizeiarzt an sich
herangelassen, sondern nur seinen eigenen Doktor. Der sagt, er
hätte Streifschüsse.«
Damit entschuldigte sich Sven Dankwers und lief aus dem Zimmer
in der 8. Etage. Aldo schaute sich weiter um und begegnete
Mitgliedern der Erweckung-Freikirche und Polizisten und Kommissare.
Bei der Erweckungsfreikirche herrschte eine aufgekratzte Stimmung,
die ihre Mitglieder so schnell nicht zur Ruhe kommen ließ.
Dann sah Aldo in einem Versammlungsraum ein bekanntes Gesicht:
Denise Tabbert, die Jana ihm auf dem Bildschirm gezeigt hatte. Aldo
trat in dem allgemeinen Betrieb und Gedränge an die bildschöne
Brünette heran. Er zeigte ihr seine Detektivlizenz.
»Ich wollte heute Vormittag Ihren Onkel Ingo bei dem
Langenfelder Wasserfall treffen. Sie wissen schon, was mit ihm
passiert ist?«
Denise Tabberts trauriger Blick sagte Aldo alles.
»Ja.«
Aldo fragte sie, ob sie die überfüllte Cafeteria nicht
verlassen könnten.
Denise – mit weißer Jacke, durchgeknöpftem, dazu passendem
Rock und wenig Schminke und Schmuck – führte den Privatdetektiv in
ein Büro.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich frage mich, weshalb Ihr Onkel ermordet wurde. Er war ein
leitender Mitarbeiter von Josef Schein, auf den heute ebenfalls ein
Mordanschlag verübt worden ist. Ob das ein Zufall ist?«
»Das kann ich nicht beurteilen. Die Erweckungsfreikirche hat
jedenfalls nichts zu verbergen. Jedenfalls was finanzielle Dinge
betrifft. Ich muss es wissen, denn ich bin die Buchhalterin.«
»Welche Meinung haben Sie von Josef Schein als Mensch?«
»Für mich ist er ein Heiliger«, antwortete die schöne Denise
enthusiastisch. »Er geht auf im Wirken für andere Menschen. Dabei
opfert er sich auf. Es gibt nichts Schöneres für ihn, als anderen
zu helfen und dabei das Wort Gottes zu verkünden. Hätte er früher
gelebt, wäre er ein großer Heidenmissionar geworden.«
»Heiden gibt es heute genauso wie früher. Würden Sie mir einen
Gefallen tun?«
»Wenn es vertretbar ist, warum nicht?«
»Ich möchte von einer Insiderin wissen, was in der
Erweckungsfreikirche vorgeht. Halten Sie Ihre Augen und Ohren
offen! Hier geschieht etwas, was schon zwei Menschen das Leben
kostete – nämlich Ihren Onkel und einen seiner Mörder – und weshalb
heute Abend der Mordanschlag auf Josef Schein stattfand.«
Denise Tabbert versprach, Aldo zu helfen. Er ging dann, weil
er zur Erweckungsfreikirche zurzeit nichts Neues mehr erfahren
konnte.
Er würde Denise wiedersehen.
Als Aldo Burmester in seinem metallic-champagnerfarbenen 500
SL zu seiner Detektei zurückfuhr, folgte ihm ein dunkelblauer Ford
Mondeo. Der Fahrer rauchte nervös. Er hatte eine handliche
Mac-10-MP unter einer Zeitung zugedeckt auf dem Beifahrersitz
liegen und war bereit, sie zu gebrauchen.
Aldo Burmester tappte in dem Fall noch im Dunkeln. Doch sein
Engagement störte bereits verschiedene Leute, die ihm deshalb ans
Leder wollten.
7.
Am nächsten Tag erkundigte sich Aldo bei verschiedenen Stellen
über Josef Schein, den die Medien wie einen wiederauferstandenen
Messias feierten. Aldo hörte solche Lobeshymnen, dass ihm die Ohren
klingelten.
Mittags ging er mit Jana Marschmann bei Domenico's, einem
Feinschmeckerlokal, essen. Auch Jana lobte den Fernsehprediger in
den höchsten Tönen.
»Er ist ein vorbildlicher Familienvater – mit seiner Frau
Clara schon seit über zwanzig Jahren verheiratet. Drei Kinder, von
denen zwei schon studieren und die eine Haschzigarette nicht mal
anschauen würden. Schein sollte schon mal zum Mann des Jahres
gewählt werden und steht in diesem Jahr wieder auf der
Liste.«
»Weißt du was?«, fragte Aldo seine hübsche Assistentin. »Ich
kann ihn nicht ausstehen. Der Bursche ist mir einfach zu gut und zu
sauber. So was gibt's einfach nicht.«
»Weshalb nicht? Du bist nur dadurch verdorben, dass du ständig
mit Verbrechern zu tun hast und deshalb überhaupt nicht mehr an das
Gute im Menschen glaubst, Chef. Denk mal an Mutter Teresa.«
»Wir sind hier nicht in Kalkutta, Jana.«
Jana lachte fröhlich.
»Du siehst Gespenster, Chef.«
Aldo aß von seinem Filet Mignon.
»Ja. Den Geist von Ingo Tabbert zum Beispiel. Schein arbeitet
mit den modernsten Marketing-Methoden. Er verkauft seinen Glauben
wie andere Markenartikel.«
»Heutzutage können Missionare nicht mehr vorgehen wie zur Zeit
der Apostel«, verteidigte die Blondine Jana den Prediger, dessen
Charisma sie stark beeindruckt hatte. »Auch der heilige Paulus
würde heute im Fernsehen predigen, statt mühsame Missionsreisen zu
unternehmen.«
»Wie du meinst, Jana.«
Aldo gab es auf, seine Mitarbeiterin überzeugen zu wollen.
Nachdem er das Essen bezahlt hatte, fuhr er zum
Polizeihauptquartier in Hamburg-Mitte..
Im Büro der Mordkommission traf er einen schwitzenden,
missgelaunten Sven Dankwers an.
»Du hast mir gerade noch gefehlt«, hörte Aldo zur Begrüßung.
»Hast du wieder Leichen im Koffer?«
»Nein. Was hörst du vom Tabbert-Fall und von Schein?«
Sven Dankwers hatte sich wegen der Vorfälle bei dem
Langenfelder Wasserfall informiert.
»Der in den Fällen ertrunkene Gangster heißt Jonny Vetter,
sein narbengesichtiger Komplize Micki Westhagen. Beide waren als
die Horrible Two, die Schrecklichen Zwei, bekannt. Sie haben eine
Vorstrafenliste so lang wie mein Arm. Die Piloten des
Cayuse-Helikopters, mit dem Westhagen türmte, und der Hubschrauber
selbst sind noch nicht identifiziert worden.«
»Wie das? Ihr werdet doch wohl noch einen Hubschrauber
finden?«
»Hast du eine Ahnung, wie viele Hubschrauber es gibt und wo
man sie überall verstecken kann?«
»Was ist mit dem Bürschchen los, das letzte Nacht auf Schein
schoss? »
»Da kann ich dir absolut nichts Neues verraten. Der Typ
plappert in der Psychiatrie vor sich hin. Er behauptet noch immer,
vom Teufel persönlich beauftragt worden zu sein. Der Leibhaftige
wäre ihm im Park erschienen und hätte ihm Crack und den Auftrag
gegeben. Er hätte fürchterlich nach Schwefel gestunken und
geknattert.«
Aldo schwante etwas.
»Darf ich mal das Protokoll lesen?«
»Du bringst mich noch mal in des Teufels Küche. Wenn das der
Chef erfährt, fliege ich raus.«
Trotz seines Knurrens rückte Sven Dankwers das Protokoll
heraus. Aldo las die verworrenen Angaben des Süchtigen.
»Danke, Kollege«, sagte er dann zu Sven Dankwers, denn er
hatte mal mit ihm zusammen bei der Hamburger Polizei angefangen.
Dankwers' baumlanger Stellvertreter Ronald Meier trampelte herein.
Für den Kriminalhauptkommissar und Leiter der Mordkommission war
das ein Anlass, den Aktenordner »W« aus dem Schrank zu holen.
Er enthielt eine verstaubte Flasche Chivas Regal Whisky. Die
drei Männer prosteten sich aus Pappbechern zu. Nachdem sie sich
noch die neuesten Witze erzählt hatten, verließ Aldo das
Polizeigebäude wieder.
Es regnete, und ein Regenbogen stand über den Hochhäusern von
Hamburg-Mitte.
In seinem 500 SL hörte Aldo übers Autotelefon eine Meldung von
Jana Marschmann, dass eine junge Frau, die ihren Namen nicht nennen
wollte, in der Detektei für ihn angerufen hatte.
So vorsichtig, wie sie sich da geäußert hatte, musste es
Denise Tabbert sein. Sie wollte Aldo auf der Aussichtsterrasse des
Restaurants vom Einkaufscenter, das sich neben dem Hochhaus mit dem
Studio des Predigers Schein befand, treffen.
»Höre ich da Eifersucht in deiner Stimme?«, fragte Aldo seine
Assistentin.
»Nein, die Sorge um deine schlanke Linie, wenn du schon wieder
in so ein Schlemmerlokal gehst.«
Aldo grinste sich eins und fuhr los. Er klapperte die
einschlägigen Adressen ab, wo er Hinweise auf Micki Westhagen zu
erhalten hoffte.
Bei einem versoffenen Unterwelt-Arzt in der Brockstraße hatte
er Glück. Er traf dessen Lebensgefährtin in der Hinterhofpraxis an,
deren sanitäre Zustände jeder Beschreibung spotteten. Die Frau war
noch jung und zudem schön. Was sie in diesen Sumpf und zu dem
Unterwelt-Arzt Spyros Kamanis trieb, wussten die Götter.
»Ja, Spy hat so einem Burschen einen Schulterschuss
verarztet«, erklärte die Frau, die keine war, Aldo Burmester, der
Westhagen beschrieben hatte.
Damit wusste er schon besser über ihre Motive Bescheid, sich
in dieser Umgebung niederzulassen. Sie war schlichtweg nicht die
Hellste und glaubte Aldo unbesehen, dass er ein guter Freund ihres
Doktor Spy und des Verletzten sei.
»Schön.«
Aldo tat, als ob er sich freuen würde.
»Dann kann ich Micki ja das Geld geben, das ich ihm schulde,
wenn ich ihn treffe. Du sagtest, Spy weiß, wo er ist? Wo finde ich
Spy?«
»Wo wird er schon sein? In seiner Stammkneipe, dem Onkel
Klabautermann.«
Der Rote Hahn lag um die Ecke. Es handelte sich um ein
Kellerlokal, in dem sich einige hundert Jahre Zuchthaus
zusammenfanden, eine typische Gangsterbar von der miesen
Sorte.
Aldo sah ein paar bekannte Gesichter – Zuhälter, Schläger,
Erpresser, Flittchen und Taschendiebinnen.
Auch er wurde erkannt, was nicht zu seinem Vorteil war.
Der Wirt sah aus wie von einem Gorilla mit einer
Kugelstoßerin-Walküre gezeugt. Er brummte mit Bierbass, was es denn
sein dürfte. Aldo bestellte Coke in der Flasche, weil der Wirt
daran nicht herumgepanscht haben konnte. Den Kaschemmenwirt
schockte es, ein solches Getränk ausschenken zu müssen.
»Da hast du das Gesöff. Was willst du sonst noch? Ein feiner
Pinkel von deiner Sorte verirrt sich nicht zufällig hierher.«
Aldo trug ganz normale Kleidung. Aber im Onkel Klabautermann
galt jeder, der sich öfter als zweimal im Monat den Hals wusch, als
Stutzer.
»Ich suche Doktor Spy.«
»Er liegt im Hinterzimmer auf dem Billardtisch und schläft
seinen Rausch aus.«
Ein geschätzter Stammgast also, der ein besonderes Privileg
genoss. Aldo begab sich ins Hinterzimmer.
Der Unterwelt-Doktor war ein aufgeschwemmter Mittfünfziger mit
verwüstetem Gesicht. Er stank nach Fusel wie eine Destille.
Aldo holte einen halben Eimer Wasser aus der Herrentoilette
und schüttete es ihm ins Gesicht. Kamanis fuhr hoch und
prustete.
»He, Mann, das ist ja Wasser! Willst du mich vergiften? Gerade
habe ich von der Insel Kreta geträumt, wo ich ein Teil meiner
Jugend verbrachte.«
»Sag mir, wo ich Micki Westhagen finde. Dann kannst du
weiterträumen.«
»Westhagen, Westhagen, kenne ich den?« Trotz seiner Sauferei
hatte der Arzt noch ein fixes Köpfchen und war vor allem
misstrauisch. »Wie sieht er denn aus?«
»Er hat ein Kugelloch in der Schulter, das er mir verdankt,
und wird von der Polizei wegen Mord gesucht. Entweder du steckst
mir jetzt, wo ich ihn finden kann, oder ich nehme dich mit zur
Polizei, wo du verhört wirst.«
»Wer bist du?«
»Aldo Burmester.«
»Du glaubst, dass du mich so einfach mitnehmen kannst?«
»Das glaube ich nicht, das weiß ich.«
»Da weißt du was Falsches«, sagte eine Stimme, kalt wie ein
Eiszapfen. Das Schloss einer Maschinenpistole klirrte. »Ich bin ein
guter Freund von Micki Westhagen und kannte auch Jonny Vetter. Ich
lege dich um, Aldo Burmester!«
Aldo schaute über die Schulter. Ein mittelgroßer, modisch
gekleideter Mann mit kalten blauen Augen stand in der Tür, die er
lautlos geöffnet hatte. Die Mac-10-MP in seiner Hand, ein
mörderisches kleines Schießeisen, zielte auf Aldos Magen.
Der Killer verzog keine Miene. Ganz langsam krümmte er den
Finger am Abzugsbügel.
8.
Denise Tabberts Stöckelschuhe klapperten über den langen
Korridor. Die Buchhalterin der Erweckung-Freikirche kam gerade aus
der Kantine und suchte wieder ihren Arbeitsplatz auf. Im
Sieben-Personen-Büro hatte sie am Computer eine Menge zu tun.
Josef Schein setzte sie nicht nur für die Buchhaltung ein,
sondern überall dort, wo Not am Mann oder der Frau war. Denise
hatte es schon öfter bedauert, dass sie so vielseitige Kenntnisse
hatte. Andernfalls wäre sie weniger verwendbar gewesen.
Freizeit war für sie inzwischen ein Fremdwort. Da waren die
vielfältigen Zahlungsein- und -ausgänge zu verbuchen, die Anrufe
nach den Fernsehpredigten und Missionsauftritten des Predigers zu
katalogisieren und zu erledigen.
Dafür gab es ein eigenes Computerprogramm, das bei den
Anrufern die Spreu vom Weizen zu trennen hatte. Während jedem
Fernsehauftritt Scheins nahmen geschulte Mitarbeiterinnen die Flut
der Anrufe zum Ortstarif entgegen. Mit scheinbar mitfühlenden,
ausgeklügelten Fragen brachten sie eine Menge über die Anrufer
heraus.
Die weitere Analyse oblag dem Programm. Schon der Tonfall und
der Akzent verrieten eine Menge.
Die Telefon-Hostessen dankten für jeden Anruf und versprachen,
dass der Anrufer oder die Anruferin bei der nächsten
Erweckungsmesse ins Gebet eingeschlossen würde. Für eine Spende ab
fünfzig Mark wurde die betreffende Person bei der Fürbitte
namentlich erwähnt.
Zudem gab es einen Handel mit Jordanwasser, das Schein extra
aus Israel einfliegen ließ, wie er jedenfalls behauptete.
Denise ging mal wieder die Spenden durch. Die Geldflut war auf
verschiedenen Konten und teils auch bei Auslandsbanken
unterzubringen. Schein tat sich nämlich schwer mit dem
Steuerzahlen, was ihm Denise Tabbert bisher nachgesehen
hatte.
Sie plauderte, während sie ihren Job erledigte, mit einer
jüngeren Kollegin, Patricia Weiß, die ihr gestand, dass Schein ihr
großer Schwarm sei.
»Bei ihm wirst du nicht landen können«, spottete Denise
gutmütig. »Er ist seiner Frau absolut treu.«
»Wirklich?«, flötete Petra, eine großbusige Zwanzigjährige im
Minirock und mit enger Bluse. Als Denise sie fragend anschaute,
versicherte sie gleich: »Natürlich ist er das. Jeder weiß
es.«
Denise kam nicht dazu, weiter nachzufragen. Ihr fielen wieder
die Sammelüberweisungen an die Presbyterianischen Kirche von Ghana
und weitere kleinere Kirchengemeinden auf, die allesamt den Status
der Steuerfreiheit hatten.
Dadurch erhielt die Erweckung-Freikirche hohe Abschreibungen,
leistete ein gutes Werk, weil sie kleinere Pfarreien unterstützte,
und machte sich außerdem einen guten Namen. Wer unterstützte sonst
schon die kleinen Gemeinden? Kein anderer Evangelist tat das
jedenfalls.
Trotzdem gefielen Denise diese Überweisungen nicht so recht,
die von Mal zu Mal zunahmen und deren Verbleib und Verwendung kaum
nachzuprüfen waren.
Zudem fiel der Buchhalterin auf, dass bei
Kontentransferierungen jeweils Differenzen von wenigen Cents
auftraten. Einen Laien hätte das nicht gestört. Doch Denise wurde
wachsam. Sie erinnerte sich, was sie an der Berufshochschule von
ihrem Lehrer gehört hatte.
»Die kleinen Beträge sind es, die Riesenschiebungen aufdecken.
Denn sie beweisen, dass manipuliert wurde. Wenn in einer Bilanz
hunderttausend Mark fehlen, mache ich mir keine Sorgen. Dann weiß
ich, dass etwas vergessen wurde oder ein Fehler vorliegt. Doch wenn
es ein paar Pfennig sind, die ich nirgends einordnen kann, bereitet
mir das Kopfzerbrechen. Dann stimmt nämlich was nicht.«
Denise ließ sich die Fehlbeträge ausdrucken.
Bei den Überseeüberweisungen lag es im Argen.
Schein unterstützte Bibelgesellschaften in obskuren Ländern
und teils recht eigenartige Prediger.
Der Summer ertönte.
»Frau Tabbert zum Prediger«, ertönte es aus der
Sprechanlage.
Denise beeilte sich. Schein wartete nicht gern und war, wenn
er nicht vor einer laufenden Fernsehkamera stand, überhaupt nicht
so menschenfreundlich und nett wie bei dieser Gelegenheit.
Denise Tabbert eilte in sein mit religiösen Motiven
geschmücktes Großraumbüro. Scheins persönlicher Stab, der aus sechs
Personen bestand, war zu einer Konferenz bei ihm.
Clara Schein, eine flachbrüstige Frau im Chanel-Kostüm,
gehörte mit zu dem Gremium. Böse Zungen behaupteten, der
Fernsehprediger würde seine bessere Ehehälfte mehr fürchten als der
Teufel das Weihwasser. Das mochte stimmen oder auch nicht.
Clara Schein war klein und so hart und giftig wie der Zahn
einer Klapperschlange. Dabei konnte sie zuckersüß auftreten.
Schein fragte ungeduldig nach Belegen, die Denise Tabbert über
den Computer abrief und ihm vorlegte.
Frau Schein musterte die bildschöne Brünette giftig. Ihre
Missgunst gegenüber hübscheren Geschlechtsgenossinnen war allgemein
bekannt.
»Ist nicht Ihr Onkel ums Leben gekommen, Schwester Denise?«,
fragte sie.
»Doch. Leider. Er wurde ermordet.«
»Vermutlich nicht ohne Grund«, schnappte Clara Schein. »Dann
sollten Sie aber schwarze Trauerkleidung tragen.
»Die Trauer ist eine Frage des Herzens und nicht der Kleidung,
Schwester Clara.«
»Beides ergänzt sich gut«, erwiderte die Gattin des
Fernsehpredigers und Kirchenoberhaupts säuerlich. »Ich finde, dass
Sie sich zu auffallend kleiden und überhaupt zu sehr nach den
Männern sehen. Mit wem haben Sie denn in der vergangenen Nacht
gesprochen, nachdem das schändliche Attentat auf meinen Mann
erfolgte? Ich meine diesen großen, stattlichen Mann, den ich hier
zum ersten Mal gesehen habe.«
»Da waren viele große und stattliche Männer zum ersten Mal
da«, konnte sich Denise nicht verkneifen zu erwidern. »Manche in
Uniform, andere ohne.«
Clara Schein schnappte nach Luft. Ihr Mann schlichtete die
Rivalitätsszene zwischen den beiden Frauen, die sich nicht leiden
konnten.
»Was soll das? Wir wollen Gott danken, dass er seine
schützende Hand über mich hielt, als gestern die Schüsse fielen.
Ich bin verwundet und schwach. Die wenige Kraft, die ich übrig
habe, will ich nicht mit Unnützem vergeuden.«
Er hatte seine Belege erhalten und schickte Denise an ihre
Arbeit zurück.
Als sie die geringen Differenzbeträge erwähnte, die sie
stutzig machten, winkte der Prediger ab.
»Darum kann ich mich jetzt nicht kümmern. Sie sind die
Buchhalterin.«
»Deswegen melde ich ja meine Bedenken an«, erwiderte Denise,
die auf Josef Schein große Stücke hielt.
Sein Charisma nahm sie gefangen. Wenn sie in seine strahlenden
blauen Augen mit den goldenen Punkten in der Iris schaute,
zitterten ihr die Knie, und sie empfand ein Gefühl wie bei keinem
anderen Mann.
Vermutlich spürte Clara Schein das und giftete Denise deshalb
so an.
Schein zog seine Geldbörse aus der Tasche und zeigte Denise
sein Kleingeld.
Unwirscher, als es sonst bei ihm der Fall war, sagte er: »Da,
nehmen Sie sich bitte die Cents, die Ihnen fehlen, und zahlen Sie
sie in die Kasse ein! Damit wird das erledigt sein. Ich muss doch
sehr bitten.«
Denise lehnte natürlich ab. So einfach war es nicht. Ein
Fehlbetrag war ein Fehlbetrag und bedeutete, dass mit der gesamten
Buchhaltung etwas nicht stimmte. Die Buchhalterin verließ das
Konferenzzimmer.
Sie war nachdenklich und wollte mit Aldo Burmester über die
Sache sprechen, von dem sie sich mehr Verständnis erhoffte.
9.
Im Onkel Klabautermann schaute Aldo in die MP-Mündung. Der
tänzelnde Modelaffe vor ihm grinste ihn an und summte dabei. Er
stand zweifellos unter Strom, nämlich Rauschgift. Doktor Spyros
Kamanis wälzte seinen aufgedunsenen Körper von dem Billardtisch und
plumpste wie ein Sack zu Boden.
Aldo wandte den urältesten Trick an, der ihm einfiel, und
schrie: »Schlag ihm eins über den Schädel!«
Dabei schaute er über die Schulter des Killers, als ob jemand
hinter ihm stehen würde.
Der MP-Mann zuckte zusammen, genug Zeit für Aldo, um sich
fallen zu lassen. Die Mac 10 spuckte Feuer. Die 223er Geschosse
fetzten über Aldo, der sich gegen die Beine des Killers rollte, weg
in die Wand.
Aldo brachte den Gangster zu Fall. Er packte ihn bei der
Kehle, hielt die heißgeschossene Mini-MP fest, an der er sich die
Finger verbrannte, und drückte dem Mann auf die Halsschlagader. Der
Blutstrom zum Gehirn stockte.
Der Gangster verlor das Bewusstsein. Aldo sprang auf,
schnappte sich die MP und holte dem Killer auch gleich ein Magazin
aus der Tasche.
Da schwang Doktor Spy den Billardqueue mit dem dicken Ende
gegen Aldo Burmester. Der Unterweltarzt rollte bedrohlich die Augen
und schnaufte wie kurz vor dem Herzinfarkt.
»Mach dich nicht unglücklich, Dicker!«, ermahnte ihn Aldo. »Du
willst dich doch wohl nicht wirklich mit mir schlagen?«
Doch Spy besann sich und legte den Queue weg. Seine
Kampfzeiten lagen viele Jahre und zahlreiche Hektoliter Alkohol
zurück. Der Unterweltarzt senkte ergeben den Kopf.
»Ist ja schon gut, Herr Burmester. Ich sage Ihnen, was Sie
wissen wollen.«
»Moment.«
Vor der Tür regte sich was. Aldo ging mit der MP hinaus. Der
Kaschemmenwirt, jener King-Kong-Verschnitt, und einige von seinen
Gästen standen da und schauten. Drei Ganoven hielten Schießeisen in
der Hand.
Aldo winkte ihnen mit der MP.
»Wollt ihr es auf eine Knallerei ankommen lassen,
Jungs?«
Die drei wollten nicht. Doch eine Wasserstoffblondine, die
auch zu den Gaffern gehörte, giftete um die Ecke und nannte sie
feige Schweine.
»Halt deine Klappe, Brigitte«, sagte ein Oberzuhälter, den
Aldo flüchtig kannte, »oder du kriegst eine drauf.«
Der branchenübliche Hinweis fruchtete. Brigitte verstummte.
Der Red-Rooster-Wirt und seine Stammgäste trollten sich, nachdem
Aldo sie eindringlich gewarnt hatte, sich lieber nicht mit ihm
anzulegen.