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Kommissarin Henrietta Winter alias Henry ist erst kurze Zeit wieder im Polizeidienst. Nachdem sie ihre schwedische Heimat verlassen hat, muss sie sich erst wieder an Deutschland gewöhnen. Doch dafür bleibt keine Zeit. Der Fund einer Frauenleiche am Neckarufer erschüttert die schwäbische Universitätsstadt Tübingen. Gemeinsam mit ihren Kollegen Faber und Schätzle begibt sich Henry auf die Jagd nach dem Mörder. Als wenig später eine weitere Leiche aus dem Fluss gezogen wird, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Wer ist dieser Mensch, der offensichtlich einen Hass auf junge Frauen hat? Welche Gemeinsamkeiten hatten die beiden Opfer? Auf unkonventionelle Art versucht Henry, den Fall zu lösen, doch sie ahnt nicht, dass sie sich bei ihren Ermittlungen selbst in Gefahr begibt ...
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Seitenzahl: 422
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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von Adobe-StockEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9776-4
Catrine BauerWINTERSNACHT
Alle Träume, von denen sie ihm erzählt hatte, waren geplatzt, lagen bald unter der Erde, würden langsam vor sich hin verrotten, im Dreck ruhen und nicht mehr atmen. Nur die Maden und Würmer würden sich noch an ihrem hübschen porzellanfarbenen Körper erfreuen können.
Endlich bezahlte sie für alles. Dieses Gefühl war so wunderbar, dass nicht einmal er, der bekannt für seine Sprachjonglagen war, Worte dafür fand.
Wer sich selbst wie Gott aufführte, musste damit rechnen, dass es ein anderer mit ihm genauso tat. Dieses Mal war er der Richter gewesen. Dieses Mal hatte er allein die Entscheidung getroffen. In ihm breitete sich ein wohliges und beruhigendes Gefühl aus. Ähnlich dem, das er in seiner Kindheit beim Essen des warmen Schokoladenpuddings seiner Großmutter gespürt hatte. So langsam, wie die Puddingmasse in seinen Bauch gerutscht war und ihn von innen gewärmt hatte, erfüllte ihn jetzt dieses Gefühl von grenzenloser Erhabenheit.
Ihr Flehen und Betteln hingen ihm im Kopf wie der Ohrwurm eines schönen Songs. Als die K.o.-Tropfen nachzulassen begannen, wimmerte sie leise. Gerade hatte sie noch mit ihm im Mondlicht gesessen. Wie viele Stunden hatten sie sich unterhalten? Er konnte sich nicht mehr erinnern.
Die frische Nachtluft kühlte seinen verschwitzten Nacken.
Ihr Gejammer war längst verstummt, und nun konnte sie den Regenwürmern erzählen, dass sie doch so jung war und noch so viel vorhatte im Leben. Niemand würde ihr jemals mehr zuhören. Er war der letzte Mensch gewesen, dem sie von ihrem schwierigen Leben erzählt hatte. Das arme Kind aus wohlhabendem Hause, das nie wirklich geliebt worden war. Das verstand er, weil es ihm nicht anders ergangen war. Nur hatte er den richtigen Weg eingeschlagen und sie den falschen. Beinahe hätte er Mitleid mit ihr gehabt. Aber dann war ihm klar geworden, dass es nur ihre Masche war. Wie es ihm zuwider war, wie die Weiber sich aufführten. Niemand interessierte sich noch für die Liebe. Dabei war sie doch das, was wirklich zählte. Das Einzige, für das es sich zu leben lohnte. Er ertrug es nicht mehr. Aber wenigstens Carla war jetzt endlich still. Endlich musste er sich ihr ewiges Geplapper nicht mehr anhören.
Er schaufelte immer mehr Erde auf ihren blassen Körper. Jeder Erdpartikel, der auf sie fiel, verschaffte ihm mehr Behagen. Die Stille der Nacht wurde durch Stimmen unterbrochen, die langsam näher kamen. Hektisch legte er die Zweige über ihren Körper. Die Schaufel nahm er mit ins Gebüsch. Hoffentlich hatten sie keinen Hund dabei. Nicht nur, dass er allergisch gegen diese Tiere war; sie machten ihm Angst mit ihrem unaufhaltsamen Spürsinn. Er hörte kein Geklapper von einer Leine oder einem Halsband, und die beiden Personen diskutierten so laut, dass sie nicht einmal merkten, dass ihm ein Stein unter dem Schuh wegrutschte und hinter ihm mit einem geräuschvollen Platschen in den Fluss fiel.
Als sie endlich an ihm und Carla vorbeigegangen waren, atmete er auf. Er hielt einen Moment inne und betrachtete den blassen Körper, der leblos vor ihm in der Erde lag. Eine Skulptur, die er geschaffen hatte. Eine Plastik der Genugtuung. Die Ästhetik des Anblicks bestätigte ihn in seinem Tun.
Ihr Körper war so leicht gewesen wie die Kleidung, die sie getragen hatte. Er schüttelte sich.
Obwohl es seit einer halben Stunde regnete, war die Erde unter einer schmierigen weichen Schicht von der Hitze der letzten Tage immer noch trocken und hart. Er brauchte länger, als er geplant hatte. Carla musste mindestens einen halben Meter tief vergraben werden, weil er auf keinen Fall zulassen durfte, dass sie hier lebendig herauskam. Aber er musste sich beeilen. Wenn der Regen aufhörte, waren sicherlich sofort wieder Menschen unterwegs.
Sie atmete flach.
Die Stelle, an der ihr Kopf liegen sollte, war schon tief genug. Der Kopf mit den hübschen blonden Haaren, in denen sich jetzt kleine Erdkrümel verzweifelt festhielten. Den Rest ihres Körpers würde er zusammenfalten müssen wie ein Kuscheltier, das man noch schnell in einen Koffer stopfte, bevor man alles hinter sich ließ. Vorsichtshalber verpasste er ihr eine zweite Ladung K.o.-Tropfen. Seine Hand zitterte, als er die Flüssigkeit auf ihre trockenen Lippen pipettierte. Sie sollte nicht aufwachen. Nie mehr. Als er ihre Arme gewaltsam übereinanderlegte, damit sie in ihren Erdsarg passte, hörte er das leise Knacken eines Knochens. Ihr Körper zuckte kurz zusammen und ergab sich dann wieder dem ewigen Schlaf.
Es musste weit nach Mitternacht gewesen sein, als er endlich fertig war. Verschwitzt stützte er sich mit dem Ellbogen an der Schaufel ab und betrachtete das Grab wie ein Bildhauer das Kunstwerk, das er erschaffen hatte. Die Basecap auf seinem Kopf schützte zumindest seine Augen vor dem Wasser. Sein erhitzter Körper dampfte durch den Regen. Seine Arme und Hände schmerzten. Aber die Mühe war es wert gewesen, dachte er.
Dafür, dass er für Gerechtigkeit gesorgt hatte.
Der Kakao auf dem Polizeipräsidium in Tübingen schmeckte fast so gut wie der, den ihr ehemaliger Arbeitskollege Christian ihr in Stockholm immer gemacht hatte. Daniel Faber rührte ihn jedes Mal extra für Henry an, da es hier keinen Vollautomaten gab, der das für ihn übernommen hätte. Dass der Kakao nicht mit jenem in Stockholm vergleichbar war, lag vermutlich auch daran, dass ihr die Aussicht fehlte. Ein warmer Kakao und dazu der Blick über den Hafen der schwedischen Hauptstadt. Das gehörte für Henry unweigerlich zusammen. Wenn sie aus ihrem Büro bei der Tübinger Polizei aus dem Fenster sah, dann blickte sie auf eine Straße, auf der nichts los war, wenn man von den Postboten absah, die regelmäßig mit überhöhter Geschwindigkeit am Kommissariat vorbeirasten. Erst zur Mittagszeit wich die Leere der Straße den aus den Büros strömenden Menschen, die meistens auf dem Weg zur Kantine oder in eines der umliegenden Restaurants waren. Die Luft flimmerte heiß über dem Asphalt.
Die Tübinger Innenstadt war im Juni hingegen fast schon überfüllt. Zu den vielen Studenten, die sich in den Straßencafés und auf Treppen und Mauern versammelten, kamen jetzt noch die Touristen. Henry wollte gar nicht wissen, in wie vielen japanischen Fotoalben sie schon klebte. Es war deshalb nicht das Schlechteste, dass das Kommissariat ein bisschen außerhalb lag. Manchmal musste sie einfach raus und einen kleinen Spaziergang machen, um Ruhe zu finden. Das wäre in der Innenstadt kaum denkbar gewesen.
In ihrem Büro bei ,One Earth‘ hatte sie gelegentlich mit Christian am Fenster gesessen und das Treiben im Hafen beobachtet. Manchmal bat sie ihren ehemaligen Kollegen darum, dass er ihr ein paar Fotos schickte. Dann saß sie an ihrem Tübinger Schreibtisch und tauchte in ihre Vergangenheit ein. Es war nicht lange her, dass sie selbst noch dort gearbeitet hatte. Es kam ihr jedoch vor wie eine Ewigkeit. Zu viel war in der Zwischenzeit passiert.
Sie vermisste Schweden. Nach dem Tod ihrer Mutter war aber schnell klar gewesen, dass sie dort nicht mehr glücklich werden konnte. Immer wenn sie nach deren Tod im Haus ihrer Mutter in Sigtuna gewesen war, hatten die Erinnerungen gegen ihre Magenwand gedrückt. Alte, schmerzhafte Erinnerungen hatten sich mit schönen Momenten vermischt, und in jeder Ecke hatte sie sich selbst wie in einem Schwarz-Weiß-Film gesehen. Die letzten Erinnerungen hatten spätestens in dem kleinen Naturgarten hinter dem Haus ihre Farbe verloren. Je länger sie da gesessen hatte, desto mehr hatte sie sich gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können. Heute würde sie vieles anders machen. Und dann stellte sich ihr wieder die Was-wäre-gewesen-wenn-Frage. Der Butterfly Effect. Hätte sie ihre Mutter retten können? Wenn sie heute von der Geschichte erzählte, hoffte sie immer noch, sie würde gut ausgehen. „Das ist, wie wenn man einen Film anschaut, den man schon kennt“, hatte sie einmal zu Christian am Telefon gesagt. Obwohl sie wusste, wie die Geschichte ausging, hoffte sie bei jeder Erzählung auf ein Happy End. Darauf, dass Marta eben doch nicht erschossen worden war. Aber sie konnte die Geschichte so oft wiedergeben, wie sie wollte. Ihre Mutter starb am Ende durch ein goldenes Projektil in ihrem Herzen.
Der Neuanfang in Tübingen war lebensnotwendig, und er fühlte sich richtig an.
Auf dem Kommissariat war dieser Tage kaum etwas los, dennoch stapelten sich die Akten auf dem Schreibtisch. Dazwischen stand eine Platte mit den Resten eines Marmorkuchens, den Henry am Vortag mitgebracht hatte. An den Schnittflächen war er bereits vertrocknet. Sie war keine gute Bäckerin, aber da Daniel Faber seit seiner Scheidung allein lebte und selten jemand für ihn sorgte, hatte er sich über die Geste seiner neuen Kollegin gefreut. Der Mord an ihrer Mutter hatte sie und Faber zusammengeschweißt, und obwohl sie sich erst seit kurzer Zeit kannten, benahmen sie sich jetzt schon wie ein altes Ehepaar. Das sagten zumindest die Kollegen, wenn Henry und Daniel mal wieder eine ernsthafte Diskussion darüber führten, wo sie in der Mittagspause essen gehen sollten. Spätestens, wenn einer von beiden die Frage ,Warum entscheidest eigentlich immer du?‘ einwarf, konnten sich die umstehenden Kollegen mit spitzen Bemerkungen nicht mehr zurückhalten.
Daniel hatte gerade eine ältere Dame verabschiedet, die wegen eines angeblichen Handydiebstahls da gewesen war. Es schien ihr egal zu sein, dass er überhaupt nicht dafür zuständig war, sie kannte ihn aus einer anderen Sache. Als er sie nach ihrem Personalausweis fragte und schon überlegte, welchem Kollegen bei der Schutzpolizei er diesen Fall aufs Auge drücken konnte, und sie in den Untiefen ihrer Handtasche suchte, hatte sie zwischen jeder Menge Kram tatsächlich nicht nur ihren Ausweis, sondern auch das soeben als gestohlen gemeldete Smartphone gefunden. Sie entschuldigte sich mehrmals, aber Faber winkte ab. Die für Juni außergewöhnliche Hitze stieg allen zu Kopf.
Am Vortag hatte es einen Starkregenschauer gegeben, statt einer Abkühlung brachte der jedoch eine unerträgliche Schwüle mit sich. Natürlich gab es im Präsidium keine Klimaanlage. Es war so heiß, dass sogar Henrys Schlaghose an den Beinen klebte. Sie dachte an eine Vorlesung während ihres Jurastudiums zum Arbeitsrecht, die sie nur besucht hatte, weil sie den Professor heiß gefunden hatte. Krampfhaft versuchte sie, sich daran zu erinnern, was das mit der gesundheitlich zuträglichen Raumtemperatur auf sich hatte. Henry googelte schnell und fand einen Wikipedia-Artikel.
„Hör mal“, sagte sie zu Daniel. „Hier steht: Die Wärmeerzeugung des Menschen ist abhängig von der Arbeitsschwere.“
Der Kommissar lachte laut. „Dann ist klar, dass der Steuerzahler weder in eine Klimaanlage noch in Sonnenblenden oder wenigstens einen Zimmerventilator investiert.“
Henry sah ihn fragend an.
Daniel grinste. „Ich dachte, Beamte arbeiten gar nichts?“
Sie seufzte. Nicht nur die Freibäder waren voll, sondern auch der Neckar, der bereits ungewöhnlich warm war, obwohl Polizei, Feuerwehr und DLRG immer wieder davor warnten, in Flüssen schwimmen zu gehen. Daniel Faber hatte Henry einmal erklärt, dass das Wort ,Neckar‘ aus dem Keltischen stamme und so viel bedeute wie ,heftiger, böser, schneller Fluss‘. Zumindest im Kreis Tübingen machte der Neckar seinem Namen keine Ehre, erst recht nicht im Hochsommer. Aber für Kinder konnte ein Fließgewässer immer gefährlich werden. Henry, die aufgrund ihrer Aquaphobie ohnehin großen Respekt vor Wasser im Allgemeinen hatte, konnte kaum hinsehen, wenn Menschen im Neckar badeten.
Trotz der vielen Touristen wirkte die schwäbische Universitätsstadt friedlich und durch die Hitze verlangsamt. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Henry noch nicht, dass irgendwo am Ufer des großen Flusses, der um sein letztes Wasser bangte, vergraben unter einer Schicht Erde, die Leiche von Carla Hofmann lag.
Henry umklammerte die Tasse mit beiden Händen, als wäre es tiefster Winter. Dabei schien die Sonne bereits am Vormittag hell und beißend durch das Fenster ihres Büros. Der Nagellack in Altrosa blätterte schon von Zeigefinger und Daumen. In den letzten Tagen hatte sie keine Zeit gehabt, sich um solche Belanglosigkeiten wie das Nägellackieren zu kümmern. Die Tasse mit beiden Händen festzuhalten war eine Gewohnheit, die sie aus Schweden mitgebracht hatte. Es erinnerte sie an viele Abende, die sie mit ihrer Mutter auf der Veranda des kleinen gelben Holzhäuschens in Sigtuna verbracht hatte. Wie oft hatten sie dort mit einer Tasse Glühwein oder heißer Schokolade gesessen, eingemummelt in dicke Decken, und hatten auf den glitzernden Mälarsee geschaut. Sosehr sich Henry diese Zeit zurückwünschte, so weh tat ihr die Erinnerung daran.
Nach dem Mord an ihrer Mutter hatte sie zu viel Gewicht verloren, und so hatte sie im letzten schwedischen Winter permanent gefroren. Sie war froh, dass sie wieder etwas zugelegt hatte. Auch ihre Sommersprossen waren zurückgekehrt, sodass sie nicht mehr aussah wie Mitte vierzig, sondern so, wie man mit fünfunddreißig aussehen sollte. Ihre braunen Haare hatte sie sich etwas abschneiden lassen, aber ein Zopf war zum Glück noch möglich. Den brauchte sie bei diesen tropischen Temperaturen.
„Was machst du jetzt mit deinen Banditos?“, fragte Faber, der nebenher Akten sortierte. Immer wieder fuhr er sich durch das ergraute Haar und schüttelte über das Chaos auf seinem Schreibtisch den Kopf. „Wenn ich noch einen Fall bekomme, raste ich aus. Was denkt dieser Pankow, wann ich das alles erledigen soll?“
„Ich hätte gerne eine Hausdurchsuchung.“ Henry wischte sich mit dem Handrücken den Kakaobart von der Oberlippe. Sie spürte, wie sich vom Haaransatz ein Schweißtropfen den Weg auf ihre Stirn bahnte und auf ihrer Haut juckte.
„Äh, was?“ Faber war immer noch wütend über seine eigene Unordnung. „Eine Hausdurchsuchung? Warum denn das?“
„Ja, eine Hausdurchsuchung. Letzte Nacht wurde wieder jemand in der Innenstadt mit K.o.-Tropfen handlungsunfähig gemacht und ausgeraubt. Ich schätze, das fällt dann unter ,Gefahr im Verzug‘?“
Faber sah in die Luft und schien über das Gesagte nachzudenken.
„Wir gehen zu den drei Verdächtigen“, spann Henry den Gedanken weiter, „treten die Tür ein, du lässt ein bisschen deine Muskeln spielen, ich schreie rum und wir durchsuchen das Haus, bis wir finden, was wir brauchen. Läuft das nicht so?“
Faber schmunzelte. „Aber jetzt mal im Ernst. Wenn ich so darüber nachdenke: Warum eigentlich nicht?“
„Der Teil mit den Muskeln gefällt dir am besten, oder?“
Ohne sie anzusehen oder zu antworten, durchsuchte er weiter grinsend seine Akten.
Henry hatte nicht das Gefühl, dass dieser Fall ein gutes Ende nehmen würde. Außerdem hatte sie keine Lust, es sich direkt mit Pankow zu verscherzen. Ziemlich sicher würde er die Idee völlig daneben und Henrys These absurd finden. Sie brauchte ihn gar nicht erst danach zu fragen.
Ihr Vorgesetzter, Klaus Pankow, schien kein Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu haben. Vermutlich hatte er sie zu Daniel ins Büro gesetzt, damit der sie im Blick behielt. Der Chef war der Auffassung, dass sie zu lange aus dem Dienst gewesen sei. Dass sie Schwedin war, ließ für ihn nur einen Schluss zu: Sie hatte keine Ahnung von den deutschen Gesetzen, und als Frau, die für eine Umweltorganisation gearbeitet hatte, würde sie seiner Meinung nach ohnehin zu milde mit Straftätern umgehen. Er konnte ja nicht wissen, dass sie nicht nur bei der Polizei, sondern vor allem bei ihrem Freund Christian, einem angesehenen Juristen, gelernt hatte, wie man mit den bösen Buben umging. Pankow unterschätzte sie maßlos. Obwohl sie in Hamburg die Polizeiausbildung und danach, ebenfalls in der norddeutschen Großstadt, ein Jurastudium absolviert hatte, traute er ihr gerade einmal so viel zu wie einer Praktikantin.
„Du hast ein Gespür dafür“, sagte Faber, der extra aufgehört hatte aufzuräumen, um diesen bedeutungsschweren Satz auszusprechen.
„Na, das wird Pankow bestimmt überzeugen.“ Sie verdrehte die Augen. „Ich glaube einfach nicht, dass Windisch, Ebert und Lorenz nur mit kleinen Raubdelikten beschäftigt sind.“ Henry wusste, dass Pankow ihr diesen Fall zugeteilt hatte, weil er eben genau das vermutete. Bei diesen Kleinganoven konnte selbst sie nichts falsch machen. Sie hatte jedoch seit einigen Tagen das Gefühl, dass mehr dahintersteckte als ein paar Räubereien in der Innenstadt. Einer der Beschuldigten, Peter Windisch, hatte in seiner Jugend Drogen auf dem Schulhof verkauft. Es war zwar möglich, dass er jetzt ein zweitklassiger Dieb war, aber Henry vermutete trotzdem, dass mehr dahintersteckte. Irgendetwas musste dahinterstecken. Während ihrer Ermittlungen hatte sie einen jungen Mann aufgetan, der eher unfreiwillig zum Informanten geworden war. Henry hatte ihn vor die Wahl gestellt: mit der Polizei zusammenarbeiten oder selbst in den Knast wandern. Als Polizistin mit einem Jurastudium in der Tasche war ihr natürlich klar, dass sie damit gesetzlich auf einem schmalen Grat wanderte. Aus diesem Grund hatte sie es nur Daniel erzählt. Der Rest der Truppe musste nichts davon wissen. Dennoch war der Informant ihr Joker. Von ihm hatte sie erfahren, dass es da drei Typen gab, die Gras und Koks verkauften. Das würde alles perfekt zu ihrer Theorie passen.
„Dann machen wir die Durchsuchung und nehmen Jonas und Juno mit.“ Daniel heftete ein Blatt in einen Aktenordner und klemmte sich dabei den Finger ein. Er öffnete die Ringmechanik, sog die Luft zwischen den Zähnen ein, kniff die Augen zusammen und schüttelte den getroffenen Finger.
Henry stellte die Kakaotasse ab und sah Faber mit großen Augen an. „Jonas Wenger? Das ist doch der Hundeführer, oder?“
„Klar!“, nuschelte Daniel, jetzt mit dem eingeklemmten Finger im Mund. „Wenn jemand rausfindet, ob die Kerle mit Drogen dealen, dann sein Hund. Die kleine Spürnase findet alles.“ Er betrachtete den zarten Abdruck, den der Halterring auf seinem Finger hinterlassen hatte.
„Brauchst du ein Pflaster?“, fragte Henry betont mitfühlend. „Ich habe welche mit Einhörnern im Geldbeutel. Für meine Nichte trage ich die immer bei mir. Oder soll ich lieber einen Ersthelfer rufen?“
„Ja, spotte du nur.“
„Danke, dass du das für mich machst.“ Henry strich sich eine ihrer braunen Locken aus dem Gesicht, die sich aus dem Zopf gelöst hatte und ihr immer wieder aggressiv in die Augen fiel.
„Du bist die Chefin.“ Daniel Faber zwinkerte und verließ das Büro.
Das stimmte so natürlich nicht, aber Henry wusste, wie wertvoll Daniels Vertrauen in sie war. Nachdem er ihr das Leben gerettet hatte, hatte er sie häufig im Klinikum besucht und sie immer wieder bearbeitet, zur Polizei zurückzukehren. Kurze Zeit später hatte sie sein Angebot angenommen, und er hatte ihr dabei geholfen, in der baden-württembergischen Kripo ihren Platz zu finden. Direkt in seinem Büro. Natürlich war es nicht so einfach gewesen, Schweden zu verlassen. Der eigentliche Grund für ihren Umzug war ihr Vater gewesen, der in Tübingen lebte und den sie so besser kennenlernen konnte. Über dreißig Jahre war sie davon ausgegangen, er sei bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen. Erst vor wenigen Monaten hatte sich herausgestellt, dass er noch lebte. Entsprechend viel hatten sie nachzuholen. Sie hatte sich recht schnell wieder an Deutschland gewöhnt. Aber tief in Henrys Innerstem saß sie noch immer auf der Veranda des gelben Holzhauses in Sigtuna und beobachtete, wie die kalten Wellen des Sees weich und leise das kiesbedeckte Ufer berührten.
Nach ein paar Minuten kam Daniel wieder herein, setzte sich auf seinen Bürostuhl und drehte sich damit einmal im Kreis herum. „Du kannst dich schon mal umziehen, wir durchsuchen in einer Stunde mit drei Kollegen, unter anderem Wenger und seinem Hund, die Bude deiner Gauner.“
„Hast du das jetzt so schnell mit Pankow geklärt?“ Man konnte die Unsicherheit aus Henrys Stimme heraushören.
„Ich habe das nicht mit ihm geklärt.“ Das letzte Wort betonte er. „Ich habe es ihm angekündigt.“ Der Kollege hob stolz den Kopf. „Begeistert war er nicht, ist mir aber egal. Was soll schon schiefgehen? Wir sind auch noch dabei und wir machen das jetzt so, wie die Kriminalkommissarin Winter das vorgeschlagen hat.“
„Ich danke dir. Aber an die Kriminalkommissarin hättest du mich nicht erinnern müssen.“ Henry verdrehte die Augen.
Sie hatte gehofft, dass sie direkt als Kriminaloberkommissarin eingestellt werden würde, aber irgendwie hatte es Pankow geschafft, ihr auch hier einen Strich durch die Rechnung zu machen. Nun musste sie einige Zeit auf ihre Beförderung warten. Umso wichtiger war es, dass sie ihre Arbeit gut machte. Sie wusste, wie bei der Polizei gemauschelt wurde. Wenn der Chef einen nicht mochte, war man nahezu chancenlos.
„Das kriegen wir schon hin.“ Faber, der mittlerweile durch das Büro tigerte, legte im Vorbeigehen kurz seine Hand auf ihre Schulter.
„Was suchst du denn?“, fragte Henry.
„Die Akte Siebert. Die muss noch hoch zu Hellstern. Mein Chaos kostet mich noch die Beförderung.“
Henry stand wortlos auf, ging zum Regal hinter Fabers Schreibtisch, zog einen Ordner aus dem zweiten Fach und legte ihn vor ihren Kollegen.
„Wenn ich dich nicht hätte.“ Faber seufzte.
„Dann hättest du wesentlich weniger Ärger mit Pankow“, stellte Henry nüchtern fest.
„Jetzt hör doch auf, dich kleinzureden. Du bist ja schlimmer als Pankow selbst. Such schon mal deine Sachen zusammen, wir müssen gleich los.“
Eigentlich hatte Henry vorgehabt, die Durchsuchung morgens durchzuführen. Aber da die meisten Straftaten, die auf das Trio zurückzuführen waren, im Morgengrauen stattgefunden hatten, erschien eine Durchsuchung am Mittag sinnvoller. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand zu Hause war, war hier wesentlich höher als morgens um sechs. Henry sollte es recht sein, sie mochte das frühe Aufstehen nicht sonderlich. Außerdem wollte sie am Abend zu ihrem Vater fahren, um dessen Geburtstag zu feiern. So würde sie dort etwas länger bleiben können. Sie hatte ihn seit drei Wochen nicht gesehen. Eine unmögliche Tatsache, wenn man bedachte, dass sie neuerdings in derselben Stadt wohnten. Aber ihr Vater hatte mal wieder einen neuen Krimi rausgebracht, der eingeschlagen hatte wie eine Bombe. Er war fast nie zu Hause, weil er entweder bei den Dreharbeiten zu einer Verfilmung eines seiner Bücher war, Lesungen hielt oder irgendwelche Interviews gab. Henry fragte sich, wann ihr Vater noch Zeit hatte, ständig neue Bücher zu schreiben. Er war erst vor einer Woche zurückgekehrt, und sie freute sich auf den gemeinsamen Abend mit ihm.
„Ich sehe aus wie das Michelinmännchen“, murrte Henry, ohne zu atmen, um die Unbequemlichkeit der kugelsicheren Weste zu unterstreichen.
„Quatsch.“ Faber grinste. „Du siehst aus wie eine richtige Polizistin, das ist alles. Außerdem wollen wir doch nicht, dass du dich bei deinem ersten eigenen Einsatz gleich in Lebensgefahr begibst.“
Sie hob die Augenbrauen. „Ich befinde mich seit meiner Geburt in Lebensgefahr, so wie jeder Mensch.“
„Du weißt nie, wie solche Leute reagieren. Im Zweifelsfall solltest du auf Nummer sicher gehen.“ Daniel holte die Dienstwaffen aus dem Safe und reichte Henry ihre. „Prüf sie“, sagte er, als redete er mit einer Anwärterin. Genau genommen fühlte sich Henry immer noch wie eine solche, immerhin hatte sie einige Jahre Pause von der Polizei gemacht und bei ,One Earth‘ in Stockholm als Juristin gearbeitet. Manchmal vermisste sie die Gemütlichkeit und die Ruhe. Vor Grausamkeiten war sie auch in der Naturschutzorganisation nicht gefeit gewesen. Die Bilder von abgeschlachteten Walen ließen niemanden kalt. Nach einiger Zeit hatte Henry sich an den Horror aber gewöhnt. Irgendjemand musste sich ja darum kümmern. Jetzt war sie wieder mit den Abgründen der Menschheit konfrontiert, nur ohne das schicke Büro über den Dächern Stockholms. Dazu mit schlechterer Bezahlung. Aber sie lebte in der gleichen Stadt wie ihr Vater, und es fühlte sich an wie ein großes Abenteuer.
Auch Christian vermisste sie. Der arbeitete nach wie vor in der schwedischen Hauptstadt, durchforstete aber täglich das Internet nach Stellenangeboten in seiner Heimat Österreich. Schon lange wollte er raus aus dem kalten Schweden, irgendwohin, wo er seine Harley nicht nur drei Monate im Sommer fahren konnte. Seine Frau Beate war auch nicht wirklich glücklich in Skandinavien. Seit Henry weg war, war der Wunsch, wieder in den deutschsprachigen Raum zurückzukehren, noch größer geworden. Aber Christian hatte einfach zu hohe Ansprüche an seinen neuen Job. Er bezeichnete sich selbst als stinkfaul, obwohl er in Wirklichkeit ein Workaholic war. Viel Geld und wenig Arbeit sollte es sein, wie er es immer formulierte. Am liebsten im Homeoffice am Strand von Waikiki. Henry wusste jedoch, dass er gerne eine Führungsposition hätte, da er gut delegieren, aber auch motivieren konnte. Irgendwas, wo er keinen Chef ertragen musste. Das Problem war nur, dass ihm kein seriöses Unternehmen wirklich Qualitäten zutraute, weil er ein konsequenter Verweigerer von Anzug und Schlips war. Aus diesem Grund hatte er nur mit wenigen Juristenkollegen Kontakt.
Die Tür des Büros wurde aufgedrückt. Henry musste den Blick senken, um zu sehen, wer gekommen war. Juno streckte ihre feuchte schwarze Nase zur Tür herein und wedelte mit dem Schwanz, als sie Henry und Faber sah. Henry mochte die Drogensuchhunde. Die ganze Arbeit war für sie ein einziges Spiel, und manchmal beneidete sie die Tiere darum. Sie ging in die Hocke und streichelte den großen weißen Hund am wuscheligen Kopf.
„Habt ihr mittlerweile einen Durchsuchungsbeschluss?“, fragte Jonas Wenger, der unbemerkt hinter seinem Hund den Raum betreten hatte. „Die anderen warten schon unten.“
Der Diensthundeführer war ungefähr so alt wie Henry. Seine durchtrainierten Arme konnte sie durch die Uniform erkennen. Wenn Wenger kein Polizist geworden wäre, hätte sie ihn sicher das erste Mal auf dem Cover der Men’s Health gesehen, dachte sie.
„Der Bereitschaftsstaatsanwalt weiß Bescheid“, sagte Faber. „Der richterliche Beschluss müsste demnächst kommen.“ Er sah Henry in die Augen. „Bereit?“
Sie zupfte an ihrer schusssicheren Weste herum. Bei der Polizei in Hamburg war sie nur kurz gewesen, und einen Schusswechsel hatte sie in dieser Zeit nie erlebt. Daniels Worte verunsicherten sie. Die Weste fühlte sich an wie eine Prophezeiung.
Sie atmete tief ein und aus. Dann nickte sie bestimmt. „Bereit.“
***
Es waren viele kleinere Raubdelikte nötig gewesen, um überhaupt erst einmal an das Geld zu kommen, das sie für die Beschaffung des Stoffs gebraucht hatten. Jetzt saßen Peter Windisch, Uwe Lorenz und Sven Ebert zusammen an ihrem Couchtisch und planten den großen Coup. So dachten sie jedenfalls.
Die Asche von Eberts Zigarette landete neben dem Aschenbecher, was auf dem Tisch nicht mehr auffiel, auf dem man offenbar eine Kollektion leerer Flaschen ausstellte. Er hasste Zigarettenrauch. Genau genommen mochte er nicht einmal den Geschmack von Zigaretten. Aber es gehörte dazu. Für die Sache mit den Drogen hatte er keinen Kopf, nachdem seine Freundin mit ihm Schluss gemacht hatte. Er würde noch mal zu ihr fahren und mit ihr reden.
„Ich geh dann mal los“, brummte er.
Uwe Lorenz zog sich die Hose hoch, die an seiner Hüfte schlackerte. „Du bist aber spätestens heute Abend wieder da. Ohne dich machen wir das nicht. Oder du kriegst nichts vom Gewinn ab.“
Die Zigarettenkippe, die schon bis zum Filter niedergebrannt war, an der er aber überhaupt nicht zog, hing aus Eberts Mundwinkel. Der bestätigte mit einem Kopfnicken und kämmte mit den Fingern seine Haare, die frisch gewaschen zu störrisch zum Frisieren waren. „Räumt das Zeug weg, Jungs. Nicht, dass diese dämliche Kommissarin noch auf die Idee kommt, hier vorbeizuschlendern.“
Henry Winter hatte die drei vor zwei Tagen vernommen, konnte ihnen die Raubdelikte in der Altstadt aber nicht nachweisen. Das Einzige, was sie hatte, war die Aussage ihres Informanten, der Uwe Lorenz erkannt haben wollte, als er einer jungen Frau nachts die Handtasche entrissen hatte. Peter Windisch, dessen Bruder in der JVA Rottenburg saß, wusste aber, dass man mit der Polizei immer zu rechnen hatte. Alle drei waren froh, dass diese Raube jetzt ein Ende hatten. Sie würden keine kleinen Fische mehr sein, sondern ganz groß ins Geschäft einsteigen.
„Die Bullentante kann uns gar nichts“, rief Windisch siegessicher. „Aber ja, wir räumen es weg. Ist doch eh bald alles verkauft. Wann bist du wieder da?“
„Gegen sechs“, sagte Ebert und drückte seine Kippe im Aschenbecher aus. Die Nägel seines Zeige- und Mittelfingers waren vom Nikotin schon leicht gelblich verfärbt. Seine Finger hatten das Schreiben verlernt, und nichts erinnerte mehr an den hochbegabten Jungen, der in der Unterstufe des Gymnasiums zwei Klassen übersprungen hatte. Jetzt war er einfach nur noch ein armseliger kleiner Drogendealer, der alten Frauen die Handtaschen klauen musste, um sich eine Schachtel Kippen kaufen zu können. Eine Schachtel Kippen, die er nicht einmal mochte.
Er ging in die Küche und wusch sich die Hände.
„Sei pünktlich“, mischte sich Lorenz ein. „Ich hab keine Lust, alleine zu packen. Und bis heute Nacht muss das alles in Tüten sein. Buchstäblich sozusagen.“ Er lachte über seinen eigenen Witz, aber die anderen beiden sahen ihn nur verständnislos an.
Peter Windisch war unruhig, das merkten auch seine Kumpels. Mit Uwe Lorenz war er bereits seit der Grundschulzeit befreundet. In der zehnten Klasse war Sven Ebert zu ihnen gestoßen, und fortan waren sie nur noch als Trio unterwegs. Sie hatten gemeinsam den Abschluss gemacht. Genau genommen hatte Sven Ebert den Abschluss für alle drei gemacht. Nachdem er vom Gymnasium geflogen war, war er zu ihnen auf die Realschule gewechselt und hatte dort die Prüfung kurzerhand dreimal geschrieben und ihnen das Ergebnis heimlich zugesteckt.
Mit Uwe war Peter sogar in der Ausbildung gewesen. Immer mal wieder hatten sie kleine Dinger gedreht, während Sven Ebert sein Abitur nachgeholt hatte. Vor ein paar Jahren hatten sie schon einmal im großen Stil Drogen verkauft. Nachdem Windischs Bruder dann in der JVA gelandet war, hatten sie einige Zeit pausiert und waren auf ein paar Internetbetrügereien umgestiegen. Da man ihnen hier fast auf die Schliche gekommen wäre, kehrten sie zur analogen Welt des Drogenhandels zurück, der weniger Spuren hinterließ. Im alten Botanischen Garten hatten sie bereits vor einigen Jahren ihre Abnehmer gefunden. Auch jetzt würde es ein Kinderspiel sein, die Drogen unter das Volk zu bringen.
Sven Ebert war erst seit dieser Sache im Team. Windisch und Lorenz fanden, dass es nicht schaden konnte, einen intelligenten Kopf aus gutem Hause im Boot zu haben. Dennoch war der Adrenalinspiegel bei Peter Windisch hoch. Er würde sich nicht hinter seinem Bildschirm verstecken können, nicht anonym bleiben können wie bei den Internetbetrügereien. Mit denen kannte er sich immer noch besser aus, obwohl ihn genau wegen dieser Fehleinschätzung, man bliebe im Netz unerkannt, damals fast die Polizei aufgespürt hätte. Man würde ihn sehen und erkennen, und wenn man den Falschen ansprach, war man geliefert. So wie sein Bruder. Windisch wusste durchaus, dass manchmal Zivilfahnder im Bota, wie sie den Botanischen Garten nannten, unterwegs waren. Aber wie jeder in ihrem Milieu waren sie überzeugt davon, einen Bullen zu riechen, wenn er in der Nähe war.
Uwe Lorenz nahm die großen Tüten voller Marihuana und Koks, packte sie in vier verschiedene Supermarkttaschen, die er danach noch einige Male um das Päckchen wickelte, und schnürte alles mit einem Gummiband zusammen. Mit dem Bündel ging er in die Küche, öffnete die Serviceklappe des Boilers mit einem Vierkantschlüssel und schob die Ware in die hinterste Ecke des Verstecks.
„Das findet jetzt nicht mal Kommissar Rex“, sagte er stolz. „Und zur Not“, fuhr er fort, als er zurückkam, „hat Peter noch seine Wumme im Schrank.“ Er formte mit der Hand eine Pistole und zielte damit auf Windisch. „Dann lassen wir die Bullen ein paar Kugeln fressen.“
Sven Ebert riss die Augen auf. „Wir sind doch nicht die italienische Mafia! Wir verkaufen Gras und Koks und erschießen keine Menschen.“ Dann drehte er sich energisch zu Peter Windisch. „Oder habe ich irgendwas falsch verstanden?“
Der lachte laut. „Natürlich nicht, kleiner Sven.“
***
Britta Enßle saß vor ihrem Computer. Sie wollte ihren vorlesungsfreien Tag für die Vorbereitung auf ihr Date nutzen.
,Romeo‘ war online, und sie chatteten noch ein bisschen, während Britta nebenher an ihrer letzten Hausarbeit für Soziologie schrieb. In zwei Tagen war der Abgabetermin, und wieder einmal hatte sie zu spät mit der Arbeit begonnen. Es war zu viel Sommer dazwischengekommen. Die Biergärten und Stocherkähne hatten gelockt, dazu das Festival vor zwei Wochen, ein paar Grillpartys, Verabredungen mit Freundinnen zum Eisessen. Das Date mit dem Unbekannten wollte sie sich trotzdem nicht entgehen lassen, auch wenn sie die Zeit eigentlich für die Hausarbeit gebraucht hätte.
Da es wirklich warm war, wollten sie sich zu einem unverfänglichen Spaziergang treffen. Britta fand schon allein das Wort ,Spaziergang‘ langweilig, aber heute wollte sie eine Ausnahme machen. Die neuen High Heels brauchte sie jedenfalls nicht anzuziehen. Dennoch war es vielleicht keine schlechte Idee, einfach nebeneinander herzugehen, denn so musste sie Romeo nicht in die Augen sehen. Das würde ihr ein wenig Aufregung nehmen. Richard hieß er im echten Leben. Das behauptete er zumindest. Britta war sich vollauf bewusst, dass man dem Internet nicht immer Glauben schenken konnte. Aber dieser Mann schrieb so einfühlsam, so als hätten sie einander schon seit ewigen Zeiten gekannt. Sie fühlte sich verstanden, geborgen. Wenn es etwas wie Seelenverwandtschaft gab, dann war sie genau hier. Es konnte kein Zufall sein, dass Richard in allem ihren Geschmack traf und immer die gleiche Meinung vertrat wie sie. Er war wirklich etwas Besonderes, und sie freute sich auf den Abend. Es war anders als bei den Kerlen, die sie sonst getroffen hatte.
Sie selbst hatte ein Profilbild von sich eingestellt, aber er hatte sich nicht zeigen wollen. Er hatte geschrieben, dass er sie mit seinen inneren Werten überzeugen wolle. Britta fand die Idee anfangs etwas seltsam, aber je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gefiel sie ihr. Trotzdem hatte sie manchmal die Befürchtung, auf einen ausgesprochen unansehnlichen Menschen zu treffen. Warum sonst sollte jemand kein Foto von sich schicken wollen? Unbewusst hatte sie sich mittlerweile ein Bild von ihm gemacht und durchaus Angst, dass der echte Richard dieser Imagination nicht entsprach. Dann ermahnte sie sich selbst, nicht so oberflächlich zu sein.
Sie konnte sich kaum auf ihre Hausarbeit konzentrieren. Es war zu warm und sie zu aufgeregt. Also klappte sie ihren Laptop zu, machte sich ein Glas Apfelschorle und setzte sich damit ans Fenster. Einen Balkon hatte die kleine Wohnung in der Altstadt nicht. Sie schloss die Augen und genoss die Kühle des Getränks. Ihr Körper war so aufgeheizt, dass sie jeden Zentimeter spürte, den die kalte Flüssigkeit durch ihre Speiseröhre nahm, bis sie im Magen angekommen war. Sie entfernte einen kleinen Teil der Abdeckung des Fensterrahmens und zog eine Schachtel Zigaretten heraus, die sie vor Monaten dort gelagert hatte. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, sie rauche weniger, wenn sie die Schachtel vor sich selbst versteckte. So wie damals im Haus ihrer Eltern.
Der Tabak war schon trocken, und die Zigarette schmeckte rauchiger als sonst. Britta unterdrückte den Hustenreiz, als sie den ersten Zug nahm.
Was sollte sie anziehen? Es war nicht ihr erstes Blind Date, und doch hatte sie dieses Mal besonders großes Lampenfieber. Es war ja nur für sie blind, was die Sache umso kurioser machte. Vielleicht lag ihre Aufregung aber auch daran, dass ihre biologische Uhr zu ticken begann. Ihre Freundinnen heirateten alle der Reihe nach. Nur sie war die ewige Studentin, die keine langfristige Partnerschaft gebacken bekam. Auf der einen Seite wollte sie auch gar keine. Auf der anderen Seite aber hatte sie Angst, diese Entscheidung in ein paar Jahren zu bereuen. Dann, wenn es zu spät war. Das setzte sie unter Druck. Es musste ein guter Abend werden. Zu oft war sie mit den Kerlen einfach nur im Bett gelandet, weil sie nicht für mehr als das taugten. Mit Richard alias ,Romeo‘ sollte es anders werden.
Sie ging ins Bad und sah in den Spiegel. Ihre Wangen waren eingefallen, aber da sie von den vielen Freibad- und Baggerseebesuchen der letzten Tage gut gebräunt war, fiel es nicht so auf. Britta zog ihr Sommerkleid aus, das im Rückenbereich nass geschwitzt war, und warf es in die Wäschetonne, die schon überquoll. Jeden Tag brauchte sie mehrere Outfits. Es war für Juni viel zu heiß. Sie ging einen Schritt zurück und betrachtete sich nackt im Spiegel. Mit ihren achtundzwanzig Jahren sah sie immer noch gut aus. Mit eingezogenem Bauch lächelte sie sich selbst zu. Ihr Blick fiel auf ihr Smartphone. Ihre Wetter-App zeigte eine Außentemperatur von zweiunddreißig Grad. Eine neue Nachricht von Romeo: ,Ich freue mich auf heute Abend‘.
Britta Enßle stellte sich unter die Dusche und drehte den Hebel so weit in Richtung des blauen Punktes, wie sie konnte. Das eiskalte Wasser floss über ihren erhitzten Körper und verursachte eine zarte Gänsehaut.
Noch neun Stunden.
Auf dem Weg zur Hausdurchsuchung herrschte unerwartet viel Verkehr. Zum Glück hatte der in die Jahre gekommene Dienstwagen wenigstens eine Klimaanlage. Es musste draußen inzwischen weit über dreißig Grad haben. Henry dachte an ihre Zeit bei ,One Earth‘ und deren Aktivitäten in Sachen Umwelt- und Klimaschutz. Ob das schon die Auswirkungen des Klimawandels waren?
Klar war die Jahresdurchschnittstemperatur heutzutage auch in Schweden merklich höher als in ihrer Kindheit, aber so warm wie hier in Süddeutschland war es in Stockholm selten. Noch. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sich das ja bald ändern. Immer wenn sie über dieses Thema nachdachte, merkte sie, wie sich alles in ihr zusammenzog. Eigentlich wollte sie diesen Gedanken verdrängen. Sie war nur froh, dass sie keine eigenen Kinder hatte, die sie in diese Welt hinausschicken musste. In diese Welt, die langsam verschwand.
Schon jetzt hatten die Kinder längst nicht mehr eine so unbeschwerte Kindheit wie sie, die 1984 geboren war. Damals gab es gerade mal das Ozonloch, über das man sich manchmal Gedanken machte, doch es schien, als könne man es mit einem höheren Lichtschutzfaktor in der Sonnencreme wegschmieren. Wie um sich selbst zu bestätigen, dachte sie daran, wie die Kinder und Jugendlichen in diesen Tagen sich auch noch über Instagram messen mussten und wie viele von ihnen gar keine Zeit hatten, über den Wandel des Planeten nachzudenken. Henry wusste das, weil sie schon häufiger Handys von Teenagern ausgewertet hatte. Von Eltern unerkanntes Cybermobbing war das Schlimmste. Aber es war nicht nur die gegenseitige Schikane, sondern auch diese ständige Konkurrenz, die Henry Sorgen bereitete. Das eigene Aussehen stand bei den jungen Leuten plötzlich viel mehr im Vordergrund als früher. Ihrer Schulfreundin Janne und ihr war es immer egal gewesen, wie sie aussahen. Ob Zahnspange oder gebrauchte Klamotten, Hauptsache, sie konnten zusammen Zeit verbringen. Es gab keine Influencer, die ihnen sagten, was sie tun oder lassen sollten. Man hatte sich nicht in TikTok-Videos gegenseitig überbieten müssen. Ja, es war ganz gut, dass sie keine Kinder hatte. Sie würde damit nicht klarkommen, so viel stand fest.
„Hörst du mir überhaupt zu?“, riss Faber sie aus ihren Gedanken, weil er mit Henry die Akte des Falls zum wiederholten Mal durchgehen wollte.
„Sorry“, murmelte sie und war auf einmal unsicher, ob das alles nicht noch eine Nummer zu groß für sie war. Aber heute war vielleicht der Tag, an dem sie sich beweisen konnte. Der Tag, an dem sie zeigen konnte, dass es sich nicht um reine Raubdelikte, sondern um Beschaffungskriminalität handelte und dass die drei in den Drogenhandel eingestiegen waren. Dann würde auch Klaus Pankow davon überzeugt sein, dass sie eine gute Polizistin war. Erst vor wenigen Tagen hatte ihr Informant behauptet, dass eine größere Menge Kokain nach Tübingen geliefert worden war. Da er zudem von einem Dealertrio berichtet hatte, wurde Henry das Gefühl nicht los, dass Ebert, Windisch und Lorenz etwas damit zu tun haben könnten. Selbstverständlich konnte man mit ein paar Raubdelikten keine größeren Mengen Kokain finanzieren. Aber Henry ging davon aus, dass die drei ganz langsam von den Rauben zum Drogenhandel gekommen waren. Sie wusste, dass Peter Windischs Bruder in der JVA saß. Dort gab es allerlei Verbindungen in die Außen- und in die Unterwelt. Es stellte sich dann nur noch die Frage, wer ihr Lieferant war. Schon seit ein paar Monaten war die Abteilung ,Organisierte Kriminalität‘ beim BKA an einem Mann dran, der sich ganz klischeehaft ,Hai‘ nannte und der, das war bereits ermittelt worden, großzügig nach Süddeutschland lieferte, um dort in verschiedenen kleineren und größeren Städten seinen Stoff unters Volk zu bringen. Und so ein paar Gauner wie Ebert, Windisch und Lorenz hatte man da sicher leicht an der Angel. Tübingen erschien Henry als geeigneter Ort für solche Operationen. Hier gab es nicht nur Akademiker, sondern eben auch einige gescheiterte Existenzen, die sich auf dem Weg zum Ziel verirrt hatten. Die, wie Faber es nannte, ein paar Semester zu viel studiert hatten.
„Wenn wir Drogen finden, haben wir sie am Sack.“ Es klang, als wolle sie sich selbst bestätigen, dass es eine gute Idee gewesen war, die Durchsuchung anzuberaumen.
„Hast du dir schon überlegt, was du machst, wenn wir nichts finden?“ Faber wandte den Blick nicht von der Straße.
Henry sah zum Fenster hinaus und antwortete nicht. Die in ihr aufsteigende Panik unterdrückte sie.
Vor der Tür des Mehrfamilienhauses standen bereits zwei Schutzpolizisten. Aus dem Kleinbus stieg der Hundeführer Jonas Wenger mit Juno. Allen Anwesenden war die Hitze anzumerken. Die Zunge des Hundes hing fast bis zum Asphalt, auf dem sich augenblicklich eine dunkle Sabberpfütze gebildet hatte, die beinahe so schnell trocknete, wie sie entstanden war. Wonach sie suchte, hatte Henry den Kollegen bei der Abfahrt mitgeteilt: Diebesgut und Drogen. Der Hund zeigte seine Aufregung durch wildes Auf- und Abhüpfen der Vorderläufe an. Der Hundeführer machte ihn mit einem roten Ball, der an einer Schnur hing, scharf auf seinen Job.
Henry atmete tief ein und aus, ging mit Faber zum Haus, in dem die WG war, und drückte auf den Klingelknopf, auf dem ,Silke Grün‘ stand.
„Ja?“, meldete sich eine weibliche Stimme.
„Die Post. Ich habe ein Paket für Sie.“
Der Türöffner summte. Henry blinzelte Daniel zu und flüsterte: „Eigentlich beängstigend, dass das immer funktioniert.“
Die Kollegen betraten leise das Haus.
Im Erdgeschoss stand eine junge Frau verwundert in der Tür. „Haben Sie bei mir gekl...“
Henry legte den Zeigefinger auf die Lippen.
Silke Grün, die die Polizisten in ihren schusssicheren Westen ehrfürchtig musterte, verstand und schloss lautlos ihre Wohnungstür.
Windisch, Lorenz und Ebert wohnten im ersten Obergeschoss. Henry hoffte, dass die drei sie nicht hatten herfahren sehen. Sie klopfte an die Tür und hielt mit der anderen Hand den Türspion zu. Hinter ihr drängten sich die Kollegen in dem schmalen Treppenhaus, leise atmend, als wären sie Zeugen eines kindlichen Klingelstreichs.
Sie hörten Schritte im Inneren der Wohnung. Die Tür wurde geöffnet. Instinktiv stellte Henry ihren Fuß in den Türrahmen. Dass dies eine gute Idee gewesen war, zeigte sich, als Peter Windisch reflexartig versuchte, die Tür zu schließen. Das dicke Leder von Henrys Dienstschuh wurde nur leicht zusammengedrückt.
„Nee, mein Freund“, sagte sie bestimmt.
„Was wollen Sie?“, brüllte er die Polizistin an, während er sie aus dem Türrahmen drängen wollte.
Sie hatte das Gefühl, dass er mit dem Geschrei andere in der Wohnung warnte.
„Dürfen wir bitte reinkommen?“ Da Henrys höfliche Frage rein rhetorischer Natur war, wartete sie keine Antwort ab.
Mithilfe eines der beiden Schutzpolizisten schob sie Windisch mit aller Kraft zur Seite und betrat den Flur der Wohnung.
„Ohne Durchsuchungsbefehl haben Sie hier nichts verloren, verlassen Sie sofort meine Wohnung!“ Windisch hob bedrohlich die Hand, so als wolle er augenblicklich auf Henry einschlagen.
„Ganz ruhig, sonst haben Sie gleich Ihre Handgelenke im Rücken. Und es heißt Beschluss. Durchsuchungsbeschluss.“ Sie sah ihm mit durchdringendem Blick in die Augen. „Bei Gefahr im Verzug brauchen wir den nicht. Aber das wissen Sie vermutlich. Sie verfügen schließlich über einen recht ansehnlichen Erfahrungsschatz, wenn ich mir Ihr Vorstrafenregister so anschaue.“
Daniel Faber, der offensichtlich ungeduldig wurde, drängte sich an Henry vorbei in die Wohnung. Uwe Lorenz stand vom Sofa auf und sah die Beamten irritiert an. Die Wohnung wirkte auf Henry wie die Sortieranlage bei der Müllabfuhr. Über der Sofalehne hing ein grauer Hoodie, am Boden stand eine leere Kiste Coca-Cola. Der Couchtisch war überfüllt mit Flaschen, Pizzakartons und Kassenbelegen. Der erste Eindruck war für eine Männer-WG nicht auffällig. Abfalleimer sind für manche wohl nur Deko, dachte Henry angewidert.
„Hund, bitte“, sagte Faber ruhig, und Wenger betrat mit Juno die Bühne. Die legte sofort los, freute sich auf das Spiel und schnüffelte durch die Wohnung. Der Hundeführer hielt den roten Ball in der Hand. Die Beamten öffneten Schubladen, Schränke, den Spülkasten der Toilette und was sie sonst noch für Öffnungen in Wohn- und Badezimmer fanden.
Henry wusste, dass Menschen sehr kreativ werden konnten, wenn es darum ging, ein geeignetes Versteck für illegalen Stoff zu finden. In Hamburg war sie während ihrer Ausbildung bei einer Hausdurchsuchung gewesen, bei der ein Dealer sein Koks im Briefkasten gelagert hatte. Auch damals hatten sie einen Drogensuchhund dabeigehabt, ohne den sie auf dieses Versteck vermutlich nicht gekommen wären.
„Was soll das eigentlich?“, fragte jetzt Uwe Lorenz, der immer noch irritiert im Wohnzimmer stand. Henry konnte sich denken, woher die verminderte Reaktionszeit stammte. Eine braune Locke hing ihm ins Auge. Seine Jeans hielt nur an den Hüftknochen, und die Kommissarin fürchtete, sie würde just in diesem Moment nach unten rutschen.
„Setzen Sie sich, bitte. Wo ist Sven Ebert?“ Henry fuhr mit dem Zeigefinger über ein staubiges Regal wie eine Hygiene- und Lebensmittelkontrolleurin in einer versifften Restaurantküche.
„Keine Ahnung. Ist heute Morgen aufgebrochen, irgendwohin, wir wissen von nix. Wahrscheinlich wieder Weibergeschichten.“ Lorenz, der jetzt brav auf dem Sofa saß, hob unschuldig die Schultern.
„Nehmen Sie bitte auch Platz“, sagte Henry zu Windisch. Es klang höflicher, als sie es beabsichtigt hatte. Ihr Puls raste, aber ihre Stimme war ruhig.
Er machte keine Anstalten, dieser Einladung zu folgen. „Sie hören von meinem Anwalt“, murrte er und ging entschlossen in eines der Schlafzimmer.
„Herr Windisch!“ Henry wollte ihm hinterher und stolperte über eine leere Flasche, die neben dem Sofa gestanden hatte. Einer der Schutzpolizisten ging ihm nach.
Angewidert hob Henry mit zwei Fingern den Hoodie von der Sofalehne und ließ ihn sogleich wieder fallen. Sie konnte nicht anders und öffnete das große Wohnzimmerfenster, um frische Luft einzuatmen. Wie konnte man so leben?
Sie folgte einem Kollegen in eines der Schlafzimmer. Das Bettlaken war fleckig und warf große Falten. Die Vorstellung, dass jemand bei diesen Temperaturen seine Bettwäsche nicht wechselte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Die schusssichere Weste drückte und war zu warm. Henry wischte einen Schweißtropfen von ihrer Schläfe und öffnete die Schublade einer Kommode. In jedem Haushalt gab es die Art von Schublade, in die alles kam, was sonst keinen Platz hatte. Leere Notizbücher, aus denen man die ersten Seiten herausgerissen hatte, weil man dachte, man würde sie irgendwann mal benötigen. Alte Ladekabel, zu denen es keine Endgeräte mehr gab, eine rostige Schere, Klebeband, ein paar Kugelschreiber mit Werbeaufdruck, Lederfett. Henry sah sich den gesamten Inhalt des Schrankes an. Der Bewohner dieses Zimmers hatte aber offenbar nur solche Müllsammelbehälter in seiner Kommode. Drogen waren da jedenfalls nicht drin. Der Kollege, der mit Henry in einem Raum war, beschwerte sich über die dicke Luft und öffnete auch hier ein Fenster.
Henry hörte, wie sich Daniel Faber im Wohnzimmer mit Lorenz unterhielt, und ging hinüber.
Uwe Lorenz saß breitbeinig auf dem Sofa, Faber stand vor ihm.
„Es wäre einfacher, wenn Sie uns direkt sagen, wo Sie den Stoff gebunkert haben. Erstens sind wir dann alle schneller hier fertig, und zweitens macht es sich in der Gerichtsverhandlung immer ganz gut, wenn man mit der Polizei kooperiert hat.“
Daniel Faber wirkte viel größer auf Henry als sonst. Sie nahm das erste Mal seine muskulösen Oberarme wahr. In diesem Moment war sie froh, dass sie nicht an der Stelle von Uwe Lorenz war.
Henry klappte einen mit Stickern zugepappten Laptop auf, der zwischen ungeöffneter Post auf dem Esstisch lag. Es war eher eine Übersprunghandlung, denn die Kollegen würden nachher alle mobilen Endgeräte einpacken, und was die Drogen anbelangte, hatte Juno immer noch die besten Antennen. Henry selbst hatte eigentlich gar nicht viel zu tun. Sie sah auf den Bildschirm. Es war der Laptop von Peter Windisch. Sie ging davon aus, dass er bereits alle Spuren vernichtet hatte, und brauchte jetzt ohnehin die IT-Abteilung, die am ehesten noch etwas auf dem Gerät finden würde.
Der Drogensuchhund betrat als Erster die Küche. Henry folgte Wenger und seinem Hund, der direkt vor einer Klappe in der Wand stehen blieb. Das Haus war aus den Sechzigern, und vermutlich befand sich dahinter ein Boiler für das Warmwasser der Spüle. Henry hatte während ihres Studiums in Hamburg in einem ähnlichen Gebäude gewohnt. Irgendwann war das Wasser in der Wohnung unter ihr von der Decke getropft, weil der alte Boiler durchgerostet gewesen war. Zwischen den Scheiben der zweifach verglasten Fenster hatte sich im Winter Frost gebildet. Sie erinnerte sich zu gut an die Bruchbude.
Die Klappe war mit einem Vierkantschloss verriegelt.
„Haben wir dafür einen Schlüssel?“, fragte Wenger und rüttelte an der Tür. Juno begann zu bellen und wedelte mit dem Schwanz.
Henry sah sich um. „Ich glaube nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass unsere Banditen einen haben. Ansonsten ist das auch schnell mit dem Brecheisen geöffnet.“
Gerade als sie die Küche verlassen wollte, um einen der beiden zu fragen, kam ihr Windisch entgegen. „Brecheisen nicht nötig.“ Er hielt einen Vierkantschlüssel zwischen den Fingern.
„Geben Sie ihn mir“, sagte Jonas Wenger bestimmt, aber Windisch machte keine Anstalten, auf ihn zu hören.
Er kniete sich vor der Klappe auf den Boden, steckte den Schlüssel in das Schloss, drehte ihn herum und zog die Tür einen Spalt auf.
„Gehen Sie zur Seite, Herr Windisch.“ Jonas Wenger wollte ihn nach hinten ziehen.
Dann ging alles ganz schnell. Henry, die eben noch den Diensthund gestreichelt hatte, sah, wie Windisch eine Schusswaffe aus dem Fach in der Wand zog.
Blitzartig schoss der Kommissarin das Adrenalin durch die Adern. Sie schnellte unwillkürlich nach hinten und zog ihre P2000 aus dem Holster, aber bevor sie oder die Kollegen reagieren konnten, feuerte Windisch seine Waffe mehrfach auf Henry und Jonas Wenger ab, sprang auf und hastete aus der Küche.
Die Kommissarin wurde im Bereich der Brust getroffen und flog nach hinten. Sie wurde mit dem Rücken gegen ein Küchenregal geschmettert, ein stechender Schmerz in ihrem Kopf ließ sie kurz aufschreien, und als sie mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufschlug, wurde ihr die Luft aus den Lungen gepresst. Gläser fielen ohrenbetäubend laut klirrend in die Tiefe. Auf Henry wirkte es, als stürzten sie in Zeitlupe herab, und sie schützte ihren Kopf mit den Armen. Glasscherben verteilten sich mit einem fürchterlich grellen Geräusch auf den Fliesen. Jonas Wenger fing in letzter Sekunde das Regal ab, das offenbar nicht an der Wand befestigt war und auf Henry zu stürzen drohte. Die lauten Schüsse hinterließen ein unangenehmes Piepsen in Henrys Ohren.
Windisch prallte beim Versuch, aus der Wohnung zu flüchten, wie in einer Slapstickkomödie gegen Daniel Faber. Der schlug dem Schützen kaum hörbar die Waffe aus der Hand, kickte sie mit dem Fuß in Richtung Küche, schnappte den Arm des Flüchtenden und drückte ihn kompromisslos auf den Boden. Windisch schrie laut um Hilfe, als der Kommissar ihm die Arme schmerzvoll auf den Rücken drehte, und das einzige Geräusch, das man dann noch hören konnte, war das Klicken der Handschließen, die Faber so eng schloss, dass sich kleine Falten um die Handgelenke des bewegungsunfähigen Peter Windisch bildeten. Uwe Lorenz stand wie gelähmt da und merkte gar nicht, wie einer der Schutzpolizisten ihm ebenfalls Handschließen anlegte. Es entstand eine kurze Stille, die von Jonas Wengers verzweifelter Stimme aus der Küche unterbrochen wurde: „Scheiße, nein, verdammte Scheiße! Wir brauchen sofort Hilfe!“
Faber hastete in die Küche. Dunkelrotes Blut färbte die ehemals weißen Fliesen und breitete sich wie in einem Kanalsystem über die Fliesenfugen immer weiter aus. Am Boden lagen Henry und der Drogensuchhund in einer Blutlache. Jonas Wenger kniete daneben.
„Fuck!“, schrie Daniel Faber, der sogleich auf den Boden zu seiner Kollegin stürzte und sie vorsichtig aus der Pfütze hob.