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Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz verkündet. Vor 35 Jahren fiel die Berliner Mauer. Die Bundesrepublik begeht 2024 ein doppeltes Jubiläum und kann es doch nicht mit ruhiger Selbstzufriedenheit feiern. Zu groß sind die Aufgaben, vor denen das Land steht. Internationale Krisen und Aufgaben der wirtschaftlichen Transformation setzen unsere Gesellschaft unter Stress, das Vertrauen in die Politik leidet, der Ton wird schärfer. Und extremistische Populisten stellen mit kalter Siegermiene die liberale Demokratie infrage.
In dieser kritischen Zeit erinnert der Bundespräsident an Wegmarken und Erfahrungen, die Deutschland in 75 Jahren geprägt haben. Er beleuchtet unangenehme Wahrheiten, vor allem aber die Stärken des Landes. Er wirbt für die Anstrengung gemeinschaftlichen Handelns, aus dem politische Kraft erwächst. Unser Wir ist das einer vielfältigen Gesellschaft geworden, die neu erkennen muss, was sie verbindet.
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe, 2024.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024
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Rothfos & Gabler, Hamburg
eISBN 978-3-518-78159-3
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Die Möglichkeit, wir zu sagen
I
. Wo wir stehen
II
. Woher wir kommen
III
. Wer wir sind – und sein können
Fußnoten
Informationen zum Buch
Wer sind wir? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Wir können ihr nicht ausweichen und doch keine letztgültige Antwort auf sie geben. Schon als Individuen müssen wir in der Regel gründlich nachdenken und lange ausholen, um uns anderen zu erklären. Als politische Gemeinschaft, als Nation und Staat, wollen wir eine unüberschaubar große Zahl unterschiedlicher Lebensgeschichten in einem gemeinsamen Bild vereinen. Und mehr noch, nach sieben Jahrzehnten der immer engeren Verbindung mit unseren europäischen Nachbarn betrachten viele von uns sich nicht länger nur als Deutsche, sondern selbstverständlich zugleich als Europäer. Die Frage nach dem »Wir«, danach, wer wir sind und was uns als Bürgerinnen und Bürger oder als Menschen, die dauerhaft in diesem Land leben, gemeinsam ist, mag daher erst einmal Misstrauen wecken. Wer ist mit »wir« überhaupt gemeint und wer maßt sich an, darüber zu entscheiden?
Über jede autoritäre Festlegung einer nationalen Identität ist die Zeit hinweggegangen. Weder Götter und Offenbarungstexte, weder Patriarchen und Sittenwächter noch Ahnenforscher oder Identitätskonstrukteure können uns zu- oder vorschreiben, wer wir zu sein haben. Zu unserem Glück, möchte man gleich hinzufügen. Aber noch immer gibt es politische Kräfte, die nationale Homogenität herbeiwünschen und sich davon die Lösung unserer Probleme versprechen. Einige unter ihnen wollen eine solche Homogenität sogar gewaltsam herstellen und Deutsche ausbürgern, die für sie nicht ins Bild passen. Gegen solche verfassungsfeindlichen Phantasmen stellt sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger.
Wenn es jemals so etwas gab wie eine geschlossene Herkunftsgemeinschaft, die Wesenszüge teilte und überlieferte und darauf ihre Institutionen gründete, wenn es jemals möglich war, schon vor jeder politischen Verständigung die religiöse, kulturelle, ethnische »Substanz« einer Gemeinschaft zu bestimmen, dann ist diese Epoche der Menschheitsgeschichte vorbei. Im 21. Jahrhundert existieren keine völlig homogenen Nationalstaaten mehr. Vermutlich hat es sie nie gegeben. Politischer Realismus führt uns zur Anerkennung der Tatsache, dass unsere Gesellschaft, wie andere Gesellschaften auch, durch die Vielfalt der Herkunftsgeschichten geprägt ist, durch verschiedene Bekenntnisse, Orientierungen, Lebensweisen. Verschiedenheit ist das Signum moderner Gesellschaften. Realismus kann uns also lehren, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und die Eigenheiten sowie die abweichenden Haltungen von anderen Menschen in unserer Nähe zu akzeptieren, solange sie sich friedlich äußern.
Es gibt aber noch einen viel wichtigeren Grund, diese Akzeptanz einzuüben. Wir nehmen die Freiheit, die zur Vielfalt führt, nicht einfach nur hin. Wir haben sie zum Grundstein unserer politischen Ordnung erklärt. Wir haben vor 75Jahren das Grundgesetz beschlossen und die Freiheit zum Herzstück unserer Verfassung gemacht. Wir haben uns vor 35Jahren von der SED-Diktatur befreit. Wir wollen in Freiheit leben. Wir wollen, dass alle Bürgerinnen und Bürger sich frei und gleichberechtigt entfalten und ihr Glück finden können. Solche, die in unsere politische Ordnung hineingeboren wurden, ganz genauso wie diejenigen, die in sie eingewandert, die in ihr heimisch, die durch die Wahl einer neuen Staatsangehörigkeit Deutsche geworden sind. Unsere Frage, wer wir sind, sollten wir also beherzt nach dem Leitstern demokratischer Freiheit zu beantworten versuchen, und das bedeutet, alle Deutschen haben ein Mitspracherecht, wenn wir sie diskutieren, verhandeln und klären.
Ich sage: »Wir haben vor 75Jahren das Grundgesetz beschlossen«, obwohl weder ich selbst noch irgendein lebender Zeitgenosse im Konvent von Herrenchiemsee gesessen und im Parlamentarischen Rat debattiert hat. Es leben noch Zeugen, die heute Mitte neunzig sind und die am 14. August 1949 bei der ersten Bundestagswahl ihre Stimme abgegeben haben. Aber auch diese Erstwählerinnen und -wähler der Bundesrepublik sind es nicht allein, die sagen können: »Wir haben diese Republik begründet und errichtet.« Die Nachgeborenen der folgenden Jahrzehnte, die Eingewanderten, ob als Arbeitskräfte geworben oder als Kriegsflüchtlinge aufgenommen, ihre Kinder und Enkel, und diejenigen, die erst noch auf die Welt kommen, können sich diesem Wir anschließen. Und natürlich erst recht all diejenigen unter uns, die in der DDR gelebt haben und dort ihren Alltag hatten, die vielen, die sich damals nach mehr Freiheit sehnten, die aus der Diktatur flohen, von ihr ausgebürgert wurden, alle, die gegen sie opponierten, die vor 35Jahren in Plauen, in Leipzig, auf dem Berliner Alexanderplatz demonstrierten, alle, die den schweren Entschluss zur Ausreise fassten, in Ungarn, in Prag den Weg in die Freiheit suchten, alle, die in der wunderbaren Nacht des 9. November 1989 an der Bornholmer Straße die Mauer und damit die Diktatur der SED zum Einsturz brachten, alle, die nach der Wiedervereinigung Deutschlands am Neuanfang mitwirkten. Nicht nur einige wenige, sondern sie alle können sagen: »Wir haben die Freiheit errungen und die Gleichberechtigung aller zum Grundgesetz unserer Bundesrepublik gemacht.«
Vom Nachdenken darüber und vom Entschluss, in einem historisch-politischen Sinne »wir« sagen zu können, davon handeln die nachfolgenden Seiten. Was demografisch gegenwartsbezogen absurd erscheint, ist in einem politisch normativen Sinne sehr gut möglich und sogar erforderlich: Unser politisches »Wir« ist mehr als die nachzählbare Summe aller gegenwärtig in Deutschland lebenden Menschen. Zwar können nur wir Zeitgenossen heute Verantwortung tragen, entscheiden und handeln. Aber unsere Verpflichtung gilt nicht allein dem Jetzt. Als Bürgerinnen und Bürger einer politischen Gemeinschaft reisen wir in der Zeit. Wir bezeugen Auschwitz. Wir bekennen uns zum Neuanfang des Grundgesetzes und der Grundrechte als Antwort auf die beispiellosen Verbrechen des Nazi-Regimes. Wir wissen, was es bedeutet, die Demokratie in Deutschland nach dem Scheitern von Weimar endlich erreicht zu haben. Wir denken daran, dass wir nach zerstörerischen Kriegen den Frieden gewonnen haben, der uns in die Europäische Union geführt hat. Wir erinnern das Jahr 1989 und fühlen uns im Glück verbunden, die kommunistische Diktatur überwunden zu haben, ganz gleich, ob wir selbst dabei waren oder nicht, als die Mauer fiel. Wir blicken gemeinsam in die Zukunft, ob wir sie selbst erleben werden oder erst unsere Kinder. Kurzum, es ist möglich, »wir« zu sagen.
Ich habe diese Gedanken aus Anlass eines doppelten Jubiläums niedergeschrieben, des 75. Gründungsjahrs der Bundesrepublik und des 35. Jahrestags der friedlichen Revolution – im Bewusstsein also, dass wir in Ost und West schon bald die Hälfte des bisherigen Weges unserer Republik zusammen gegangen sind. Ein Staatsjubiläum allein wäre freilich ein sehr äußerlicher Grund, um nach unserem Selbstverständnis zu fragen. Es wäre Routine. Feierlich, würdig und zugleich erwartbar. Das Selbstlob einer in sich ruhenden Nation. Aber gerade die abgeklärte Selbstgewissheit, mit der wir noch vor einigen Jahren die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gefeiert haben, ist verschwunden. Es gibt also einen anderen, einen inneren Anstoß, den Blick auf die großen demokratischen Zäsuren von 1949 und 1989 zu werfen, denn unser Land begeht beide Jahrestage zweifellos in einer kritischen Zeit, in der es sich seiner selbst unsicher geworden ist. Einer Zeit, in der nun mehr als zwei Jahre Krieg in der Ukraine herrscht, in der grausamer Terrorismus und ein opferreicher Krieg im Nahen Osten auch uns herausfordern, Stellung zu beziehen. Einer Zeit, in der die liberale Demokratie, manchmal aggressiv, oft verlogen und von einigen Rechtspopulisten gar mit kalter Siegermiene angegriffen wird, die böse Erinnerungen wachruft. Einer Zeit, in der unser Wohlstandsmodell herausgefordert wird. Wann genau uns der Optimismus, der nach dem Kalten Krieg herrschte, entglitten ist, wann die Erschöpfung angesichts immer neuer Umbrüche überhandgenommen hat und warum die Zweifel gewachsen sind, lässt sich gar nicht so einfach bestimmen. Es gibt dafür nicht eine einzelne Ursache und keine einzelnen Urheber. Und der Trend betrifft nicht nur uns, wir beobachten ihn in allen westlichen Demokratien.
Von den Bundespräsidenten heißt es, Zuversicht sei ihre Amtspflicht. Das lädt bekanntermaßen zu Satire ein. Wohltemperierte präsidiale Worte werden als Gesundbeterei karikiert, besonders in kritischen Entscheidungsmomenten, in denen viel auf dem Spiel steht und die Zukunft im Nebel liegt. Denkt man jedoch eine Weile darüber nach, dann ist die Pflicht zur Zuversicht eine ehrenwerte Aufgabe. Keine politische Gemeinschaft kann ohne den »Mut zu hoffen« auskommen. Nach meinem Eindruck haben wir in unseren politischen Diskursen nicht gerade ein Übermaß an hoffnungsvollen Einschätzungen. Folgte man den Katastrophenrednern, müsste Deutschland ein Land im Abgrund sein. Tatsächlich aber ist Deutschland heute, anders als früher in der Geschichte, ein geachtetes Land, das zur Familie der liberalen Demokratien gehört. In internationalen Bündnissen und Organisationen steht es seinen Partnern bei, als Mitglied der Europäischen Union stärkt es die Gemeinschaft, seine Wirtschaft hat großen Wohlstand erreicht. Die Bundesrepublik ist ein Wissenschaftsstandort, von dem die erstaunlichsten Entwicklungen und Innovationen ausgehen. Und nicht zuletzt verfügen wir über einen Sozialstaat, der große Anstrengungen unternimmt, um Armut und Not zu bekämpfen. Dass der Bundespräsident in einer Zeit, in der Verzagtheit sich breitmacht, an die Stärken unseres Landes erinnert, ist nicht nur in Ordnung, es ist dringend nötig. Ich übernehme diese Aufgabe aus Überzeugung.
Ich wende mich eher an die Bürgerinnen und Bürger als an »die Parteien« und bekomme bisweilen Briefe, die anmahnen, es solle andersherum sein. Ich weiß, ich enttäusche manche, die sich vom Bundespräsidenten mehr Regierungs-, Parteien- und Parlamentsschelte erhoffen. Doch für pauschale Politikbeschimpfung bin ich nicht zu haben. Es hat sich etwas verändert in unserer Republik, die heute mit Extremismus und Demokratieverachtung konfrontiert ist. Deshalb geht es mir darum, Verständnis dafür zu vermitteln, wie unsere Demokratie funktioniert. Und in der aktuellen Lage sehe ich es auch als geboten, dass ich mich gegen maßlose Angriffe schützend vor die demokratischen Institutionen stelle. Ich spreche die Bürger nicht deshalb zuerst an, weil ich die politischen Parteien kritiklos betrachte, sondern, weil Bürgervernunft unsere Demokratie trägt.
Schaue ich auf mein eigenes politisches Leben zurück, erinnere ich mich, wie mehrfach der katastrophale Absturz unseres Landes heraufbeschworen wurde, bevor es dann kurz darauf hieß, uns stünden goldene Jahre bevor. Als vor zwei Jahrzehnten eine unerträglich hohe Arbeitslosigkeit die Bundesrepublik nicht nur wirtschaftlich und sozial, sondern auch mental bedrückte, waren wir sicherlich nicht in einer Verfassung, die bequeme Selbstzufriedenheit erlaubte. Im Gegenteil, Deutschland war beherrscht von Zweifeln und Abstiegsangst. Aber wir haben uns selbst überrascht und alle erforderlichen politischen Kräfte aufgeboten, um die Massenarbeitslosigkeit zu besiegen. Es gelang: Das Wachstum sprang an, wir gewannen Respekt im Ausland und Selbstbewusstsein im Inneren zurück. Es scheint, als hätten wir unsere Stärke erst richtig begriffen, als wir politisch zu handeln begonnen hatten. Wir erneuerten unsere Industrie und festigten den Sozialstaat. Als einige Jahre später die Finanzmärkte ausgehend von der Wall Street zusammenbrachen, war die Bundesrepublik stark genug, um den Schock abzuwehren, Arbeitsplätze zu schützen und Wohlstand zu bewahren.
Was in früheren Entscheidungssituationen unseres Landes galt, das gilt heute genauso. Wir müssen uns auch unangenehme Wahrheiten zumuten, wenn es besser werden soll. Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist die Besinnung auf die eigenen Stärken. Ich will beides beleuchten. Denn wir finden unseren Weg in die Zukunft nur bei Licht.
Wo stehen wir heute? Wenn ich zurückdenke, war das Jahr 1989 ein Schlüsselerlebnis im politischen Leben meiner Generation. Die Ereignisse, die offenkundig keinem Geschichtsplan gehorchten, sondern das Werk von couragierten Menschen waren, die für freies Reisen, freie Wahlen und freie Meinungen auf die Straßen und Plätze gingen, kamen überraschend, schienen aber zugleich auf wunderbare Weise historisch folgerichtig. Für eine Generation, die, im Westen wie im Osten, einer Politik mit Waffen misstraute, die an den christlichen Friedensappell glaubte oder die Textzeile der DDR-Rockband Karat im Ohr hatte: »Uns hilft kein Gott, unsere Welt zu erhalten«, schien die gewaltlose Revolution eine tiefe Bestätigung ihrer Überzeugungen. Das Jahr 1989 hatte im Frühjahr zwar das brutale Blutvergießen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gebracht. Die chinesische Kommunistische Partei hatte die Demokratiebewegung mit Panzern niedergewalzt. Doch in Europa lief es anders. Hier fand das Jahr ein unglaublich glückliches Ende, als am 9. November die fast dreißig Jahre lang unbezwingbare Mauer fiel, unter dem friedlichen, aber unwiderstehlichen Druck von Ostdeutschen, denen das wankende Regime Reisemöglichkeiten versprochen hatte und die sofort einfach mal rüber wollten, in den Westen. Auch China und andere Autokratien würden sich dem Sog dieser historischen Entwicklung nicht entziehen können, hieß es, wenn nicht aus politischer Überzeugung, dann aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama verkürzte den Geist dieser Zeit auf die viel zitierte Formel vom »Ende der Geschichte«.
Das Glück des Jahres 1989 war für uns Deutsche so groß, dass auch die Erwartungen groß wurden. Ein stetiger Fortschritt offener Gesellschaften sollte mit dem wachsenden Wohlstand zugleich die Demokratie immer weiter verbreiten und tiefer verwurzeln. Und in der Tat begannen Jahre, in denen die Zahl der Demokratien wuchs und in denen Staaten unter Druck standen, die den Menschen die bürgerlichen und politischen Rechte verweigerten. In Südafrika kam im Februar 1990 Nelson Mandela frei. Mit der Charta von Paris bekannten sich die Staaten nahezu der gesamten nördlichen Hemisphäre zur Demokratie und zum Ende der Spaltung Europas in Ost und West. Aus der zerfallenden Sowjetunion lösten sich Russland, Litauen, Estland, Lettland und elf weitere Staaten, die ihre Unabhängigkeit erklärten, darunter im August 1991 die Ukraine. In Oslo verhandelten Emissäre der israelischen Regierung direkt mit der PLO. Die Einführung der Marktwirtschaft versprach in den postsozialistischen Gesellschaften neuen Wohlstand. Überall keimte Hoffnung, und alles schien auf dem richtigen Weg.
Die Wiedervereinigung Deutschlands kam schnell. Für die große Mehrheit der Ostdeutschen war sie vor allem Wunsch und Hoffnung, was sie bei den ersten freien Volkskammerwahlen zum Ausdruck brachten. Mit dem umsichtigen Handeln des geistesgegenwärtigen Europäers Helmut Kohl und den beruhigenden Worten des lebensweisen Willy Brandt waren die Gespenster eines deutschen Nationalismus rasch verscheucht. Die deutsche Frage war in der europäischen Einigung, die unumkehrbar sein sollte, aufgehoben und beantwortet. Europa galt als Friedensmacht, stark nicht durch Waffen, sondern durch wirtschaftlichen Wohlstand und sozialen Zusammenhalt, geeint im Inneren, attraktiv nach außen und auf diese Weise ausgestattet mit »soft power«, um einen Begriff des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Joseph Nye zu verwenden. So dachten viele Deutsche.
Im Rückblick lässt sich über diese hochgespannten Erwartungen leicht spotten. Ich finde es besser, sich noch einmal bewusst zu machen, wie stark die damit verbundenen Emotionen waren. Man glaubte, an einem Wendepunkt der Geschichte zu stehen. Sicherlich, bereits in die Euphorie mischten sich Irritationen. Das gescheiterte Bemühen Gorbatschows, eine stabile postsowjetische Föderation zu etablieren, der Zweite Golfkrieg, der Bürger- und Sezessionskrieg im zerfallenden Jugoslawien, ethnische Säuberungen, der Genozid in Ruanda, islamistische Terroranschläge – das verheißene Ende der Geschichte fand nicht statt. In Deutschland erschütterten uns rechtsextremistische Ausschreitungen und Mordanschläge, Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln sind bis heute unvergessen. Im Osten wurden flächendeckend Betriebe geschlossen, die Menschen verloren ihre Jobs, ihren Alltag, ihre Gewissheiten, oft auch ihren familiären Zusammenhalt, weil viele auf der Suche nach Arbeit abwandern mussten. Der wirtschaftliche Aufbau gestaltete sich trotz großer Finanzhilfen zäher als erwartet. Die Begriffe »Jammerossi« und »Besserwessi« zogen in das politische Vokabular ein. Die »Mauer in den Köpfen« wurde beklagt. Ein jahrelanger, quälender Reformstreit begann. Und dennoch: Die Probleme hoben die demokratische Ordnung nicht aus den Angeln und konnten den Glauben an einen Fortschritt von Freiheit und Wohlstand nicht erschüttern. Die Orientierungsmarken blieben bestehen, außen- und innenpolitisch.
Die vielen Konflikte in Europa und in seiner Nachbarschaft änderten nichts daran, dass Deutschland weiter jenen Rückenwind genoss, der aus der friedlichen Revolution und der Einheit folgte. Globalisierung und Freihandel waren deutsche Stärken. Die europäische Einigung schritt voran, in Nord- und Osteuropa kamen neue Länder hinzu und vergrößerten den Binnenmarkt. Eine gemeinsame Währung entstand, die dem deutschen Export nutzte, und ein Raum ohne Grenzkontrollen im Inneren. Die europäische Einbettung und die internationale Vernetzung unserer Wirtschaft schufen stetig wachsenden Wohlstand. Es ist kaum übertrieben zu sagen: Die Deutschen empfanden sich als vorbildliche Kosmopoliten in einer Zeit, in der sich die Grenzen öffneten und sich die Internationalisierung von allem beschleunigte – der Güterströme, des Kapitals, der menschlichen Mobilität und der kulturellen Kommunikation.
Was am 24. Februar 2022