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Eine schöne Kurzgeschichtensammlung über Freundschaften von Else Ury. Die Autorin beschreibt wunderbar, wie Freundschaften einem helfen, gestärkt durchs Leben zu gehen. In der Geschichte "Lising von der Waterkant" lernen wir die zwei sehr unterschiedlichen Mädchen Lising und Ruth kennen. Ebenso in der Geschichte "Carmelina, das Fischerkind von Capri", in der die italienische Carmelina und die deutsche Eva eine besondere Beziehung aufbauen. Lese mit und erfahre mehr darüber, wie die Freundschaften sich entwickeln! -
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Seitenzahl: 168
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Else Ury
Saga
Wir Mädels aus Nord und Süd
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1931, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726884630
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
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Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Carmelina, das Fischerkind von Capri
Habt ihr schon mal etwas von Capri gehört? Aus tiefblauem Mittelländischen Meer, unweit der süditalienischen Stadt Neapel taucht es wie eine Märcheninsel mit seinen wildzerklüfteten Felsen, mit hohen Palmen und sanft ansteigenden Weinbergen, mit seinen weißen, in Zitronen- und Orangenhaine gebetteten Häusern empor. Dort ist die Heimat der kleinen Carmelina.
Wo sich der Weg steil und steinig aufwärts zu den Ruinen der einstigen Villa des römischen Kaisers Tiberius schlängelt, an der Via Tiberio steht ihr Häuschen. Rebhügel umkränzen es. Bunte Blumen wuchern lustig aus jeder Mauerritze. Ein kleines, weißes Haus ist es, mit flachem Dach und Bogenvorbau wie die meisten italienischen Häuser. Aber Carmelinas Haus hat noch etwas Besonderes. Nicht das schöne, blaue Majolikagesims, das Fenster und Türen einrahmt; das haben hierzulande auch viele andere Häuser; nein, eine Inschrift steht an dem Hause. Sie ist italienisch. Carmelina kann sie lesen. Denn sie ist ja eine kleine Italienerin. » Casa della bella Carmelina« – Haus der schönen Carmelina.
Oft stand Carmelina vor ihrem Häuschen und buchstabierte diese Worte. »Die schöne Carmelina«, das war die Großmutter, die einst wegen ihrer Schönheit und wegen ihrer Tanzkunst berühmt gewesen war. Keiner auf Capri hatte die Tarantella, den italienischen Tamburintanz, so wie sie tanzen können. Die Fremden, die nach der Insel gekommen waren, die Blaue Grotte zu besichtigen, hatten auch die Tarantella der schönen Carmelina bewundert. Den Malern, die oft jahrelang in Capri ihrer Studien wegen lebten, hatte sie zu den Bildern Modell gestanden. Die kleine Carmelina hatte die Großmutter, deren Namen sie trug, nicht mehr gekannt. Aber die Leute von Capri, besonders die alten, sagten, die Kleine sei das Ebenbild der verstorbenen Großmutter. Carmelinas Eltern hörten das nicht gern. Die meinten, die Schönheit und die Tanzlust der Großmutter habe der Familie Unglück gebracht. Von den Soldi, die ihr die Fremden für ihre Tarantella zugeworfen, hatte sie sich Ohrgehänge, Ketten, Tand und Putz gekauft. Eitel und arbeitsscheu war sie geworden. Der bescheidene Wohlstand der Familie war dabei zurückgegangen. Der Weinberg mußte verkauft werden; in dem Häuschen wohnte man jetzt nur noch zur Pacht. Noch weniger aber mochten es Carmelinas Eltern leiden, wenn sich ihr Töchterchen, das Tamburin schlagend, begeistert im Tanz drehte. »Die Tarantella liegt ihr im Blut«, seufzte die Mutter. Trotz des Vaters Verbot, die Tarantella zu tanzen, trotzdem das Tamburin in den Kehricht geworfen wurde, tanzte und drehte sich die Kleine, wo sie ging und stand. Es war, als ob sie aus lauter Lachen, Singen und Tanzen zusammengesetzt sei.
Carmelinas Vater war marinaio – ein Seemann. Er war als bester, zuverlässigster Barkenführer auf der Insel bekannt. Die Fremden, die Capri besuchten, ließen sich gern von dem wettergebräunten, stets sangeslustigen Pietro zu der Blauen, Roten, Weißen oder Grünen Grotte rudern. So schön wie er sang keiner das beliebte neapolitanische Lied »Santa Lucia«. Auch des Nachts war der Vater auf See. Dann fuhr er mit dem Fischerboot weit hinaus auf den Fischfang. Die großen, wertvollen Fische verkaufte er an die Hotels. Die kleinen Tintenfische mußte Carmelina zum Abendessen in Olivenöl braten. Das elfjährige Mädchen hatte für den Haushalt und für das kleine Brüderchen zu sorgen. Denn auch die Mutter half den Lebensunterhalt verdienen. Sie hatte schwere Arbeit. Auf dem Kopf, wie das dortzulande Brauch ist, trug sie das Gepäck, oft große Koffer, der mit dem Dampfer ankommenden Fremden von der Ausbootungsstelle zu der elektrischen Drahtseilbahn. Die Bahn, Funikulare genannt, führt vom Hafen, der Marina grande, hinauf zu der sich in den Bergsattel schmiegenden Ortschaft, zu den großen Hotels.
An einem heißen Oktobertage war's. Die Sonne brannte aus wolkenlosem, tiefblauem Himmel auf die weißen Häuser Capris. Sie reifte die noch grünlichen Orangen und Zitronen, ließ die großen Trauben an den Weinspalieren wie Gold blinken und glühen, übermütiges Lachen, helle Mädchenstimmen, Singen und Jauchzen klangen aus den Vignen. Man war dort fleißig bei der Weinlese.
Carmelina hockte auf der Schwelle ihres Häuschens und sonnte sich. Vor ihr sielten sich Giovanni, das dreijährige Brüderchen, und Gatto, der Kater, auf heißen Steinen. Das kleine Mädchen blinzelte träge in die flirrenden Sonnenstrahlen. Nur ab und zu wandte sie den schwarzlockigen Kopf, wenn Mädchen, den hoch mit Trauben gefüllten Kübel auf dem Kopf, singend aus den Weinbergen vorüberwanderten. Ihre Lippen summten unbewußt die Melodie mit, bis plötzlich ein Seufzer die muntere Weise jäh ablöste. Ach – wenn sie doch auch, wie diese Mädchen, bei der Traubenernte helfen dürfte! Wenn der Weinberg, der sich zu ihrem Häuschen heraufzog, doch noch ihnen gehörte! Der Onkel Giuseppe, der ihn den Eltern abgekauft, hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie sich bei der Weinlese beteiligt hätte. Aber die Eltern mochten es aus einem Gefühl des Stolzes heraus nicht zugeben. Der Onkel würde den Weinberg wohl auch nicht mehr lange halten können, hatte der Vater kürzlich gemeint. Mit den Hanfsohlen, die Onkel Giuseppe für die »Caprischuhe« flocht, welche die Fremden auf dem steinigen Boden der Insel gern trugen, war in diesem Jahr nicht viel zu verdienen. Der Fremdenbesuch war heuer nicht zur Zufriedenheit ausgefallen.
Cousine Annunciata schritt vorüber, singend, auf dem Haupt den schwer gefüllten Kübel. Grüßend blieb sie vor den Kindern stehen.
»Möchtet ihr eine Traube?« fragte sie freundlich.
Der kleine, schwarzäugige Giovanni kam sogleich herbei und angelte gierig zu den verlockenden Früchten empor.
» Prego – prego« – bitte – bitte.« Er klatschte in die schmutzigen Händchen.
»Und du, Carmelina?«
» No, grazie – nein, danke«, sagte die Kleine stolz verneinend, trotzdem sie recht gern eine erquickende Frucht in der Hitze gehabt hätte. Was ihr von Rechts wegen zukam, was eigentlich ihr gehörte, das nahm sie nicht geschenkt.
Die Via Tiberio herauf näherten sich ein Herr und eine Dame, groß und blond. Sie trugen Malgeräte. Carmelina blickte ihnen neugierig entgegen. Aha, Malerleute, sicher tedeschi – Deutsche, dachte sie altklug. Wohl erst angekommen. Sie hatte sie noch nie gesehen. Hier auf der kleinen Insel kannte einer den andern.
Sie blieben vor dem malerischen Häuschen stehen. Annunciata hielt ihnen eine herrliche Traube entgegen.
» Una lira, Signora«, sagte sie bittend.
»Eine Lira, das ist viel zu teuer«, meinte die blonde Dame. »Findest du nicht auch, Wolfgang?« wandte sie sich an ihren Begleiter. Dieser schien der Verhandlung nicht gefolgt zu sein. Er war ganz versunken in den Anblick, der sich ihnen bot.
»Sieh nur, Lilli, diese entzückenden Kinder. Das schwarze Lockenköpfchen mit den brennend schwarzen Augen dort in dem Türrahmen wirkt wie ein Bild von Murillo. Und der kleine Kerl, das ist sicher Murillos ›Traubenesser‹.« Er hob Giovanni in die Höhe und schwenkte den jauchzenden Kleinen in der Luft herum.
Carmelina verstand zwar nicht alles, was der Maler sagte; aber ihr Ohr war, wie das aller Kinder auf Capri, durch die deutsche Malerkolonie und die vielen Reisenden an die deutschen Laute gewöhnt. Als schlaue kleine Evastochter verstand sie die Bewunderung.
»Eine halbe Lira die schöne Traube«, meldete sich Annunciata wieder.
Der Handel wurde abgeschlossen. Annunciata zog zufrieden davon.
»Gibt es hier einen Brunnen, um die Traube zu waschen?« wandte sich die Dame an Carmelina, da sie kein ungewaschenes Obst essen mochte.
»Brunnen – was ist Brunnen?« So weit reichten Carmelinas deutsche Kenntnisse nicht.
» Una fontana«, versuchte die junge Frau sich verständlich zu machen.
» Fontana ist eine Fontäne, ein Springbrunnen, Liebling.« Ihr Mann lachte. »Warte, gleich sehe ich nach, was Brunnen italienisch heißt.« Er blätterte in seinem Taschenlexikon.
Aber mit der Findigkeit, die den Italienern eigen, hatte Carmelina bereits begriffen. »Ah, lavare – waschen.« Sie ergriff bereitwillig mit wenig appetitlichem Händchen die Traube und lief in den offenen Raum, der Küche und Hühnerstall zugleich vorzustellen schien. Dort fuhr sie mit der Frucht in einem nicht sehr verheißungsvoll ausschauenden Eimer herum. Dann reichte sie die Traube mit unnachahmlicher Grazie der Fremden zurück.
»War das denn sauberes Wasser – ist das Wasser gut?« fragte die Dame mißtrauisch.
»Gut – serr gut«, versicherte das schwarze Lockenköpfchen.
Aber die Dame zögerte immer noch. »Wolfgang, mir ist der Appetit vergangen. Sieh nur, in welcher unsauberen Umgebung diese reizenden Kinder aufwachsen. Es riecht hier abscheulich nach Fischen und Zwiebeln.«
»Ja, daran wirst du dich hier gewöhnen müssen, mein Herz. Holsteinische Sauberkeit findet man in Süditalien nicht. Capri ist darin noch kultivierter als andere Ortschaften der Umgegend. Wasser ist hier ein kostbarer Artikel, trotzdem das Meer ringsum genug liefert. So, nun wollen wir weiter zu den Ruinen des Tiberius hinauf. Aber erst mußt du mir noch sagen, wie du heißt, Kleine.«
»Carmelina«, sagte das Kind, und es klang wie Musik.
»Carmelina – ei, hier steht es ja: La Bella Carmelina.« Die Dame entzifferte die Inschrift am Hause. »Bist du das?«
» No, Signora, das war meine Großmutter. Aber ich werde auch la bella Carmelina sein, wenn ich groß bin. Nur die Tarantella darf ich nicht wie sie tanzen.«
»Die Tarantella – richtig, jetzt erinnere ich mich. Die schöne Carmelina in Capri war ja einst berühmt wegen ihrer Tarantella. Warum darfst du die Tarantella nicht tanzen?« erkundigte sich der Maler.
»Ich weiß es nicht, Signore. Der Vater hat es verboten.«
»Schade«, meinte der Fremde. »Ich hätte dich gern tanzen sehen. A revederci – auf Wiedersehen!« Er griff in die Tasche, warf der Kleinen einige Kupfermünzen zu und wandte sich zum Gehen.
» No Signore – kein Geld. Wir nehmen kein Geld geschenkt«, klang es hinter dem Maler her. Und da war das Barfüßchen auch schon neben ihm und reichte ihm mit stolzer Gebärde, um die es eine Königin hätte beneiden können, die Münzen zurück.
»Der Tausend!« verwunderte sich der Maler lachend. »Was sagst du dazu, Lilli? Drüben auf dem Festlande, in Neapel und Umgegend hat sich die kleine bettelnde Gesellschaft einem beinahe an die Rockschöße gehängt. › Un soldo Signore, un so'!‹ klang es, wo man ging und stand. Nirgends war man dort vor Bettelei sicher. Und hier wird mein Geld stolz verschmäht.«
»Aber das verschmäht ihr nicht, das mögt ihr doch gern?« Die blonde Frau zog einige Täfelchen Schokolade aus dem Handtäschchen und bot sie freundlich den Kindern. Braune Hände streckten sich verlangend nach der braunen Gabe aus.
» Chocolata – chocolata – grazie tante – vielen Dank!« Die schwarzen Kinderaugen strahlten.
»Ich hätte Lust, das lebensprühende kleine Ding zu malen. Was meinst du, Lilli?«
»Wer weiß, ob sie nicht auch dazu zu stolz ist, um dir Modell zu stehen. Ich dachte, du wolltest hier besonders Landschaftsbilder malen, Wolfgang.«
»Land und Leute, was mich gerade begeistert. Den qualmenden Vesuv dort drüben überm Meer, den haben vor mir schon Hunderte und aber Hunderte auf die Leinwand gebracht und werden nach mir ebenso viele malen. Aber dieses schwarzäugige Geschöpfchen – sieh nur, diese edle Fessel am Füßchen, die bronzefarbene Tönung der Haut, diese Anmut in jeder Bewegung!« Er wies begeistert auf die kleine Begleiterin, die, das Brüderchen hinter sich herziehend, wie eine Gemse den steilen Stufenweg vor ihnen hersprang. Bis hinauf zur Ruine gab Carmelina ihnen das Geleit. Sie schien die Mühsal des Weges, die brennenden Sonnenstrahlen, welche die Schritte der jungen Frau immer mehr verlangsamten, nicht zu empfinden.
Droben angelangt, waren der Maler und seine Frau von dem bezaubernden Blick, der sich ihnen von der Höhe auf das azurblaue Meer und die lachende Küstenlandschaft bot, von den leuchtenden Farben so gefangengenommen, daß sie gar nicht bemerkten, daß ihre kleinen Begleiter verschwunden waren. Als der oben hausende Eremit zu ihnen trat, um den Fremden die Küstenortschaften und Inseln zu erklären, jagte Carmelinas rotes Röckchen schon wieder als brennender Punkt tief unten zwischen grünen Vignen dahin.
»Heute ist ein Glückstag, Giovanni«, sagte Carmelina zu dem Brüderchen, das sie noch gar nicht verstand. »Der nette Signore und die schöne Signora, die so freundlich mit uns gesprochen haben, und dann die süße Schokolade!« Sie leckte sich noch in der Erinnerung mit rotem Züngelchen die Lippen.
» Chocolata – chocolata!« begehrte der Kleine.
»Ob der Vater auch Glück gehabt hat? Wenn der Dampfer doch recht viele Fremde, die zur Grotte rudern wollen, gebracht hätte! Wollen wir mal zum Funikulare hinuntergehen, Giovanni, und Ausschau halten?«
Das Brüderchen hatte noch keine eigene Meinung. Es ließ sich von der Schwester durch die enge Gasse über den Marktplatz, Piazza genannt, zur Drahtseilbahn ziehen. Dort auf der weißen Säulenterrasse, die einen schönen Rundblick auf das blaue Meer bot, wimmelte es heute bei dem schönen Wetter von Fremden aller Nationen. In allen Sprachen schwirrte es durcheinander. Der Dampfer aus Neapel hatte viele Ausflügler gebracht. Der Vater war nirgends zu sehen. Sicher war er mit Fremden in die Blaue Grotte eingefahren.
Carmelina folgte dem Strom der Reisenden zu dem Grandhotel. Dort war ihr liebster Aufenthalt. Da gab es für neugierige Kinderaugen immer etwas zu schauen. Schön geputzte Damen in lichten Seidenkleidern, lustige Herren, die gern ihren Spaß mit den hübschen Kindern der Insel trieben. Da war der vornehme Portinaio, der Hausmeister, dem das große Hotel gewiß gehörte. Denn er war so mächtig wie der König von Italien. Da war die wundervolle Musik, die des Abends aus der offenen Halle in die linde Luft hinausströmte und die Zaungäste noch mehr begeisterte als die Hotelgäste. Und da war der herrliche Duft feiner Speisen, der aus der Küchenregion in die Näschen der begehrlichen Jugend zog. Kopf an Kopf hockten die Kinder Capris an den vergitterten Fenstern des im Kellergeschoß gelegenen Küchenreichs, um soviel wie möglich von den verlockenden Herrlichkeiten zu erspähen, bis der Küchenchef erschien und sie davonjagte.
Der kleine Giovanni zeigte noch nicht das gleiche Interesse für ein großes, internationales Hotel wie seine Schwester. Dem wurde die Sache bald langweilig. Nachdem er sich mit einer leeren Zigarettenschachtel, die einer der Gäste wegwarf, genugsam belustigt hatte, unterhielt er sich damit, einen noch nicht ganz abgenagten Pfirsichkern nach allen Regeln der Kunst abzulutschen. Darauf war es ein glänzendes Stückchen Stanniolpapier, Überbleibsel einer Tafel Schokolade, das den Kleinen begeisterte. Der Seewind trieb es die schmale Straße, die am Hotelgarten vorüber zum Giardino Augusto führt, entlang. Der Kleine folgte eifrig dem lustig vor ihm davonfliegenden blinkenden Etwas. Unbekümmert darum, daß seine große Schwester noch immer das Näschen gegen die Gitterstäbe des Hotelküchenfensters preßte.
Als einer der Köche mit erhobenem Quirl die neugierige Gesellschaft am Fenster in die Flucht jagte, war nichts mehr von dem kleinen Giovanni zu sehen. Wohin Carmelina auch das schwarze Köpfchen drehte – keine Spur von dem Brüderchen.
»Giovanni – Giovanni!« Mit heller Stimme rief es Carmelina. Gewiß hatte sich der Kleine irgendwo versteckt, wie es öfters schon vorgekommen war. Verbarg er sich hinter einer der weißen Säulen, die den Hoteleingang bildeten? Hockte er dort drüben hinter dem Stamm der großen Palme? Oder hatte er sich etwa in dem blühenden Klematisgerank, das die Mauer überwucherte, versteckt?
»Giovanni – Giovanni!« – – – Carmelina lief die Via Tragare entlang, um nach einigen Minuten umzukehren und den Corso Vittorio Emanuele hinunterzujagen. »Giovanni – Giovanni!« Ängstlicher wurde ihre Stimme. Sie befragte die an der Hotelecke Korallen- und bunte Glasketten feilbietenden Händlerinnen, ob sie den fratellino – das Brüderchen nicht gesehen hätten. Vergeblich. Sie wandte sich an die vor dem Hotel auf Fahrgäste wartenden Seeleute. Vielleicht war der Vater dabei gewesen und der Kleine war mit ihm gegangen. Nein, der Vater war gleich vom Dampfer aus mit Fremden zur Grotta Meravigliosa, zur Wunderbaren Grotte gerudert. Keiner hatte auf den Bambino, den kleinen Knaben, achtgehabt. Auch die Ansichtskartenverkäufer an der Ecke wußten nicht, wo er hingekommen war.
Sorglosigkeit ist eine Haupteigenschaft des Italieners. Carmelina hatte, als echtes Kind ihres Landes, einen guten Teil davon. Das Brüderchen konnte auf der Insel nicht verlorengehen. Man kannte ihn ja allenthalben und würde ihn schon wieder heimbringen. Ja, aber wenn er dem Rande der Insel zunahe kam, wenn er von den steil zur Tiefe abfallenden Felsen ins Meer hinabstürzte? Carmelina hielt sich die Augen zu, um das gräßliche Bild, das sich ihr aufdrängte, nicht zu sehen. Dabei lief sie unbewußt vorwärts in der gleichen Richtung, die geraume Zeit zuvor auch das Brüderchen genommen hatte.
Im Giardino Augusto, unter dem breiten schirmartigen Dach einer Pinie, stand ein Rollstuhl. Ein Mädchen, etwa zwölfjährig, lag darin, in einem Buch lesend. Kurzgeschnittene Blondhaare umgaben ein zartes, bleiches Antlitz.
Carmelina blieb unweit davon stehen und betrachtete das fremde Mädchen angelegentlich. Wie weiß es aussah, von den Füßen bis zu dem blassen Gesicht. Wie ein Engel. Feine weiße Lederschuhchen, ein weißes gesticktes Kleid und – da blickte die junge Leserin von ihrem Buch auf, und ihre Blauaugen begegneten den schwarzen, prüfenden Kinderaugen. Die junge Fremde nickte freundlich, und die kleine Italienerin gab ihr melodisches » buon giorno – guten Tag« zurück.
Carmelina kam neugierig näher. Das fremde Mädchen gefiel ihr über die Maßen. Warum lag es nur in dem Rollstuhl? War es krank?
»Wie heißt du?« fragte die Blonde in deutscher Sprache.
Diese Frage verstand Carmelina. Fast alle deutschen Gäste, die mit ihr sprachen, stellten sie.
»Carmelina – und du?«
»Ich heiße Eva. Eva Helmert. Wir sind erst gestern angekommen. Es ist sehr schön auf Capri.«
»Oh, Capri bellissima, – serr schön!« pflichtete Carmelina voller Heimatstolz bei. »Warst du schon in der Grotta azzura?« fragte sie auf italienisch weiter.
»Grotta azzura?« Eva verstand sie nicht.
»In das Grotte – in Blaues Grotte. Oh, alle Fremde gehen in Barca piccola, kleines Barke, das rudert mio padre – mein Vater – zu Grotta azzura. Du mußt gehen auch.« Die kleine Italienerin vermochte sich entschieden besser in der deutschen Sprache auszudrücken als die blonde Eva in der italienischen Landessprache.
»Ah, die Blaue Grotte! Ist sie wirklich so herrlich? Ich werde sie wohl nicht zu sehen bekommen. Ich bin lange krank gewesen und soll mich hier erholen. Ich habe das Gehen ganz verlernt.«
»Grotta azzura ist bellissima, so schön, so blau wie Himmel. Wir werrden gehen in Barca piccola mit meine Vater«, tröstete Carmelina das blasse Mädchen.
»Ja, glaubst du wirklich?« fragte Eva, und ihr bleiches Gesicht färbte sich vor Hoffnungsfreude ganz rosig.
»Ich werrde sagen zu meine Vater, er soll gehen morgen mit uns in kleines Barke nach Blaues Grotte. Mein Vater ist gut, serr gut, er wird gehen mit uns«, versprach Carmelina bereitwillig.
»Nun, Kleine, wir werden lieber noch ein wenig mit dem Besuch der Blauen Grotte warten«, mischte sich da eine von Carmelina unbemerkt hinzugetretene Dame in fließendem Italienisch in das Gespräch. Es war Fräulein Neumann, Evas Erzieherin. Freundlich blickte sie auf das schöne Kind im roten Röckchen.
Das schien durchaus nicht einverstanden. »Meine Vater fährt uns bestimmt, wenn ich ihn bitte. Ich bin schon oft mit ihm gefahren. Eva braucht nicht zu laufen«, setzte Carmelina eifrig der Erzieherin auseinander, froh, daß ihr Italienisch verstanden wurde.
»Eva muß hier in der schönen warmen Luft erst genesen. Später, Kind«, vertröstete sie die Erzieherin. Damit ergriff sie den Rollstuhl, um ihn zum Hotel zurückzuschieben.
»Carmelina soll mitkommen«, verlangte Eva, die sich langweilte und nun froh war, eine Zerstreuung zu haben.
Die Erzieherin warf einen sprechenden Blick auf die unsauberen Hände und auf die wirren Locken der kleinen südländischen Schönheit. Das war kein Umgang für ihre appetitlich saubere Eva. »Ein andermal, Evchen. Wer weiß, ob Carmelina heute überhaupt Zeit hat.«
Nein, Carmelina hatte keine Zeit. Sie mußte ja ihren kleinen Bruder suchen. Sie hatte ganz vergessen, was sie eigentlich hierhergeführt hatte. Ob die Signora nicht einem dreijährigen Bambino begegnet wäre, ihrem fratellino – dem Brüderchen.
Freilich hatte man einen kleinen Knaben gesehen. Sowohl Eva als die Erzieherin erinnerten sich, vor etwa einer Viertelstunde einen reizenden kleinen Schwarzkopf in der Richtung der Marina piccola, des kleinen Hafens, vorüberlaufen gesehen zu haben.
»Madonna!« – Steil war der Weg hinunter zur Marina piccola in den Felsabhang gehauen. Wenn dem Kinde dort etwas zustieß! Carmelina nahm sich nicht mehr Zeit, der blonden Eva einen Abschiedsgruß zuzunicken. Ihr Verantwortlichkeitsgefühl war plötzlich erwacht. Wie der Wind raste sie den steinigen Weg hinab – und da war sie auch schon Evas nachschauenden Blicken entschwunden.
»Wer doch auch so laufen könnte!« seufzte Eva neidvoll.