Wir sehen uns morgen in Paris - Marie Vareille - E-Book

Wir sehen uns morgen in Paris E-Book

Marie Vareille

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Beschreibung

Man muss loslassen, was war, um zu genießen, was ist …

Die Amerikanerin Alice zieht nach Paris, um ein neues Leben zu beginnen. Aller Anfang ist schwer, und trotz ihrer Diplome hagelt es auf der Jobsuche nur Absagen. Zudem leidet sie unter Panikattacken und lässt kaum jemanden an sich heran. Als sie endlich ein Jobangebot von einem kleinen Start-up bekommt, sagt sie zu und landet zwischen hoffnungslosen Romantikern und Computer-Nerds. Doch der Programmierer Jeremy berührt etwas in Alice, was sie so schon seit langem nicht mehr gefühlt hat. Und die Mauer, die sie um sich herum gezogen hat, beginnt zu bröckeln …

Eine romantische Geschichte über eine junge Frau, die die Vergangenheit nicht loslassen kann, und doch den Mut besitzt, in Paris einen den Neuanfang zu wagen.

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Seitenzahl: 449

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Man muss loslassen, was war, um zu genießen, was ist …

Die Amerikanerin Alice zieht nach Paris, um ein neues Leben zu beginnen. Aller Anfang ist schwer, und trotz ihrer Diplome hagelt es auf der Jobsuche nur Absagen. Zudem leidet sie unter Panikattacken und lässt kaum jemanden an sich heran. Als sie endlich ein Jobangebot von einem kleinen Start-up bekommt, sagt sie zu und landet zwischen hoffnungslosen Romantikern und Computer-Nerds. Doch der Programmierer Jeremy berührt etwas in Alice, was sie so schon seit langem nicht mehr gefühlt hat. Und die Mauer, die sie um sich herum gezogen hat, beginnt zu bröckeln …

Eine romantische Geschichte über eine junge Frau, die die Vergangenheit nicht loslassen kann und doch den Mut besitzt, in Paris einen den Neuanfang zu wagen.

Marie Vareille wurde 1985 in Montbard, einer Kleinstadt im Burgund, geboren. Sie hat in New York und Paris Management studiert und für ein kleines Start-up-Unternehmen gearbeitet. In Frankreich zählt sie inzwischen zu einer der beliebtesten und erfolgreichsten Unterhaltungsautorinnen und führt neben dem Schreiben auch einen Blog über romantische Komödien. Nach »Manchmal ist es schön, dass du mich liebst«, »Vielleicht ist es ja Liebe« und »Inselküsse unter Palmen« ist »Wir sehen uns morgen in Paris« ihr neuer Roman bei Penguin.

Außerdem von Marie Vareille lieferbar:

Manchmal ist es schön, dass du mich liebst

Vielleicht ist es ja Liebe

Inselküsse unter Palmen

www.penguin-verlag.de

MARIE VAREILLE

Roman

Aus dem Französischen

von Gabriele Lefèvre

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »La vie rêvée des chaussettes orphelines« bei Éditions Charleston, Paris.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © der Originalausgabe by Charleston,

une marque des éditions Leduc, 2019

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ingrid Ickler

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: www.buerosued.de

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-27228-9V001

www.penguin-verlag.de

Für Vincent,

die große Liebe in meinem kleinen Leben.

Es gibt keine Zufälle, nur Termine.

Paul Éluard

Erfolg besteht darin, von Fehlschlag zu Fehlschlag zu gehen, ohne seine Begeisterung zu verlieren.

Winston Churchill

Das Tagebuch von Alice

London, 20.August 2011

Heute Morgen hatte ich meinen ersten Termin bei einer Psychologin. Ebenso gern wäre ich in die Themse gesprungen. Ich war gestresst und habe vor dem schicken Gebäude ihrer Praxis in Notting Hill eine Zigarette geraucht. Die erste nach achtzehn Monaten. Danach habe ich das Päckchen weggeworfen und mich, wieder zu Hause, ordentlich parfümiert. Oliver sollte nichts davon merken.

Oliver ist gerade von der Arbeit zurück. Ich höre, wie er im Flur seinen Mantel auszieht. Ich rieche das Essen, Fisch und Chips, das er aus dem Pub gleich bei uns unten im Haus mitgebracht hat. Er nimmt es mit seiner Integration in London sehr genau. Seit wir hier eingezogen sind, meint er, alle Klischees der Touri-Guides erfüllen zu müssen, trinkt nur noch dunkles Bier, isst dreimal die Woche Fisch und Chips und trinkt seinen Tee um Punkt siebzehn Uhr mit einem Tropfen Milch. Fehlt nur noch sein Erscheinen in der Uniform der königlichen Garde zur Wachablösung im Buckingham Palace.

Ich vermisse die USA. Oliver weiß nichts davon, aber es ist mein Traum, dorthin zurückzukehren.

Im Endeffekt war die Sitzung bei der Psychologin gar nicht so schlimm. Eigentlich brauche ich gar keine Therapie, aber wenn Olivier es für richtig hält … Die Psychologin hat nicht viel gesprochen, nur gefragt, welches Problem mich zu ihr geführt habe, und zum guten Schluss meinte sie seltsamerweise, ich solle schreiben.

»Was soll ich denn schreiben?«, habe ich ratlos gefragt, »ich kann doch gar nicht schreiben …«

»Alice, Sie sollen keinen Roman schreiben, sondern Dinge in einem Tagebuch notieren, erzählen Sie Ihr Leben.«

»Wozu?«

»Schreiben erleichtert und kann im Übrigen helfen, gewisse verborgene und verdrängte Gefühle ans Licht zu bringen.«

»Ich wüsste nicht, was ich schreiben soll, ich bin ein ganz normales Mädchen.«

»Was meinen Sie mit ›normal‹, Alice?«

»Mir passiert einfach nichts, nie.«

»Dann versuchen Sie es doch mit einer Art automatischem Schreiben, zählen Sie alles auf, was Ihnen so durch den Kopf geht, ohne nachzudenken. Zwei Seiten, Alice – für unsere nächste Sitzung.«

Also habe ich dieses Heft gekauft, nicht aus Überzeugung, sondern eher, weil ich den Umschlag niedlich fand, türkis mit gelben Punkten. Und ich mochte den Sinnspruch auf dem Deckel: »Es gibt keine Zufälle, nur Termine.«

Egal. Das ändert alles nichts an der Tatsache, dass ich nicht viel zu erzählen habe, denn es ist wirklich so: Mir passiert einfach nie irgendetwas Interessantes.

2018

Herbst

»I’m so tired of playing it nice,

Holding doors and being polite,

I’m not the sweet girl they want me to be

I’m sorry, Baby, but I need to break free«

SCARLETT S. R. UNDTHEBLUEPHOENIX, »SETMEFREE«

Der Zeiger des Weckers auf dem Nachttisch springt von 5:44 auf 5:45 Uhr. Ohne das Licht anzuknipsen, richte ich mich auf, recke und strecke mich (drei Sekunden), stöpsele mein Telefon aus (vier Sekunden), deaktiviere den Flugmodus (zwei Sekunden). Ich lege das Telefon auf den Nachttisch, direkt an den Rand, zwischen die Schlaftabletten und das Wasserglas, das genau zehn Zentimeter neben der Tube Handcreme steht. Ich greife nach dem Wasserglas … und … greife ins Leere, nicht nur einmal, sondern zwei-, dreimal. Kein Wasserglas, keine Handcreme.

Nicht die gewohnte Reihe.

Keine Ordnung.

Chaos.

Atme, Alice!

Der Lichtschalter ist auch nicht da, wo er sein sollte. Nervös taste ich in alle Richtungen und knipse schließlich die Lampe an. Das hier ist nicht mein Bett. Das ist auch nicht mein Nachttisch, und es ist schon gar nicht mein Zimmer. Meine Hände werden feucht. Einen Augenblick lang bin ich wie gelähmt und kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich bekomme kaum Luft. Ich bin spät dran. Will ich um sieben Uhr im Büro sein, muss ich um 6:53 Uhr an der U-Bahn-Station Wall Street ankommen, und das klappt nur, wenn ich die Bahn um spätestens 6:32 Uhr erwische, und dafür muss ich um 6:24 Uhr aus dem Haus gehen. Und auch das ist nur dann möglich, wenn ich weniger als eine Minute an der Ampel Ecke William und Pine Street warten muss. Damit alles wie am Schnürchen läuft, muss ich unbedingt um 5:46 Uhr aufstehen.

Aber es ist bereits 5:47 Uhr.

Aus meiner Erinnerung taucht die weiche und beruhigende Stimme Angelas auf.

Atme, Alice!

5:48 Uhr. Die Panik verschwindet gleichzeitig mit den letzten Nebelschwaden im Gehirn, die mir die Schlaftablette beschert hat. Ich komme nicht zu spät. Nie. Zum ersten Mal in vier Jahren, sechs Monaten, zwei Wochen und vier Tagen komme ich vielleicht nicht um Punkt sieben Uhr im Büro an, sondern um 7:04 Uhr oder im schlimmsten Fall um 7:13 Uhr.

Automatisch umfasst meine linke Hand das rechte Handgelenk. Wenn ich das Armband mit seinen polierten Anhängern spüre, ist die Erinnerung an das Rauschen des Meeres und an die Wellen, die über den feuchten Sand streichen, plötzlich wieder da, genau wie der Geruch nach der salzigen Brise von Narragansett. Der Duft des verlorenen Glücks meiner Kindheit. Ich lausche dem Meer, dem Murmeln des Windes und den kreischenden Möwen, Geräusche, die vom Nebelhorn der Fähre nach Block Island übertönt werden. Ich atme tief durch und zähle langsam bis vier.

Wieder klingt Angelas beruhigende Stimme in meinen Ohren.

Atme, Alice, alles wird gut.

Eins. Ich atme ein.

Zwei. Ich erinnere mich. Ich bin im Hotel.

Drei. Ich bin dreitausendsechshundertdreiundzwanzig Meilen von New York entfernt.

Nein, hier rechnet man in Kilometern.

Ich bin etwa fünftausendachthundertvierunddreißig Kilometer von zu Hause entfernt: Ich bin in Paris.

Vier. Ich komme nicht zu spät zur Arbeit. Ich habe gar keine mehr.

Der Druck auf meiner Brust lässt nach. Meine Lunge füllt sich mit Luft. Ich öffne die Augen. Das Zimmer ist blitzsauber. Alles ist klar, weiß und an seinem Platz: der Stuhl vor dem Schreibtisch, die Menükarte für den Zimmerservice, der Notizblock und der gut gespitzte Bleistift akkurat parallel.

Alles ist gut.

Nein, ich komme nicht zu spät. Nirgends. Meinen einzigen Termin habe ich um zehn Uhr. Heute wird die Welt nicht in sich zusammenstürzen. Seit drei Wochen gab es keine Panikattacken mehr. Angela hatte recht, dieser überstürzte Aufbruch war gefährlich, zu viele Emotionen, zu viel Neues zu verkraften. Aber ich hatte keine andere Wahl, ich musste weg.

Sorgfältig mache ich das Bett und achte darauf, jede Falte glatt zu streichen. Die Kissen platziere ich akkurat und wische jedes vermeintliche Staubkorn von dem beigefarbenen Stoff. Das Zimmermädchen hätte es nicht besser machen können. Sie wird mich für beschränkt oder verrückt halten, und so ganz falsch läge sie damit nicht.

Du brauchst diese Rituale nicht, Alice. Ich muss allein mit meinen Panikattacken fertig werden. Ich muss mich beherrschen, will ich als normal durchgehen.

Es kostet mich unendliche Mühe, aber ich lege die Kissen wieder anders hin, schlage das Deckbett zurück und zupfe das Laken heraus. Besser, ich vermeide den Blick auf diesen Teil des Betts, der jetzt wie zerstört aussieht. Ich muss mein Leben neu erfinden. Genau aus diesem Grund habe ich den Atlantik überquert. Hier kann ich ein normales Mädchen sein, ein normales Mädchen, das nie etwas Besonderes erlebt hat.

10:04 Uhr. Die Person, mit der ich den Termin habe, hat vier Minuten Verspätung. Zweihundertvierzig Sekunden meines Lebens sind davongeflogen, tot, irgendwohin im Nichts dieser Welt verschwunden. Sechzig Minuten in einer Stunde, sechzig Sekunden in einer Minute.

Zum zehnten Mal richte ich meinen Pferdeschwanz. Ich verstehe es einfach nicht. Um pünktlich zu sein, reicht es doch, rechtzeitig aufzubrechen. Ich lebe doch nicht in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum als die anderen, und dennoch bin ich scheinbar der einzige Mensch auf dieser Erde, der dieses große Mysterium begriffen hat: Die Dauer eines Wegs setzt sich aus der Zeit, die man in einem Transportmittel verbringt + Fußweg + Zeitpuffer zusammen.

Manchmal habe ich das Gefühl, nur ich sei mit dieser unglaublichen Wahrheit vertraut. Unsere Zeit ist begrenzt. Wie gern würde ich jene warnen, die ihr vom Universum beschertes höchstes Gut, die Zeit, mit unnützen Handlungen verplempern: Keine Ahnung, ob du es weißt, aber eines Tages müssen wir sterben. Das Leben ist kurz, nichts ist von Dauer, jeder Augenblick zählt. Die Zeit schwindet, und es gibt kein Zurück. Was bleibt, ist Bedauern, wie ein paar vom Meer bei Ebbe am Strand zurückgelassene Muschelreste.

Stopp!

Einatmen!

An etwas anderes denken.

Es ist grau, der feine Regen erinnert an einen Brautschleier, dennoch mache ich meinen Mantel auf.

Der Himmel über Paris ist bedeckt, aber die Temperatur muss bei mindestens fünfzig Grad Fahrenheit liegen. Wie viel ist das in Celsius? Ich muss endlich lernen, in Celsius zu rechnen.

Ein Strom von Männern und Frauen quillt plötzlich aus dem Métro-Schacht der Station Belleville, Regenschirme öffnen sich einer nach dem anderen wie graue Blumen. Eine Frau in Eile stolpert genau vor mir, ich kann sie gerade noch am Arm auffangen. Sie ist schwanger. Besorgt frage ich:

»Haben Sie sich wehgetan?«

»Nein, es geht, danke.«

In Panik und offensichtlich spät dran, bückt sie sich, um ihre Habseligkeiten aufzuheben, die aus ihrer Handtasche auf den Asphalt gefallen sind. Ich komme ihr zu Hilfe.

»Bücken Sie sich nicht, ich mache das schon.«

Ich hebe ihre Sachen auf, das Telefon, ein Päckchen Taschentücher, einen Füller und ein paar Münzen.

»Oh, danke«, sagt sie mit einem erleichterten Seufzer, »ich habe solche Rückenschmerzen …«

Wir lächeln uns an, und für einen kurzen Moment fühle ich mich durch ihren warmen Blick getröstet. Ich halte meinen instinktiven Wunsch zurück, ihren runden Bauch zu berühren, angezogen von dem kleinen Lebewesen, das dort wächst. Nachdem sie mir einen schönen Tag gewünscht hat, verschwindet sie in der Menschenmenge, und ich bin wieder allein. Unter meinen Füßen spüre ich das Vibrieren der Métro. Zwei Millionen und zweihunderttausend Einwohner. Paris rauscht, ist voller Bewegung und Gewimmel. Hierherzukommen war richtig. Dieser Ort ist ideal, um zu verschwinden, um in der gesichtslosen Menge unterzugehen, zu vergessen und vergessen zu werden.

»Alice Smith?«

Eine kleine Frau im beigefarbenen Regenmantel steht vor mir. Sie ist chic gekleidet und dürfte um die fünfzig sein. Das leicht ergraute Haar hat sie zu einem mit Haarspray fixierten Bananenknoten aufgesteckt. Ich reiche ihr die Hand.

»Guten Tag.«

»Marvelous. Ich bin Jane Thompson von der Agentur Field & Thompson«, sagt sie in perfektem Englisch, »wir haben telefoniert …«

»Freut mich.«

»Folgen Sie mir«, sagt sie in autoritärem Tonfall und öffnet einen Regenschirm mit Schottenkaros über meinem Kopf.

»Wie Sie feststellen werden, ist es nur zwei Schritte von der Métro-Station Belleville entfernt.«

Ich schlucke. Das war nicht gerade, worum ich sie gebeten hatte.

»Ich dachte eigentlich eher an die Viertel Marais oder Montmartre.«

Sie bleibt unvermittelt stehen und bricht in Gelächter aus.

»Warum nicht gleich Disneyland? Ich weiß, dass Amerikaner für das Marais und den Montmartre schwärmen, aber diese Viertel sind touristisch extrem überlaufen. Im Marais kommt man am Wochenende kaum voran, weil so viele Menschen auf den Bürgersteigen unterwegs sind. Montmartre liegt zwar etwas abseits der Stadtmitte, aber dort wimmelt es nicht nur von Touristen, sondern auch von Taschendieben. Und ehrlich gesagt, bei Ihrem Budget ist das ohnehin undenkbar …«

»Ach so, verstehe.«

Ich verberge meine Enttäuschung hinter einem zerknirschten Lächeln. Ganz naiv hatte ich mir eine Wohnung mit freigelegten Holzbalken und Blick auf Sacré-Cœur vorgestellt, eine ziemlich klischeehafte und peinliche Vorstellung.

Wir passieren ein China-Restaurant, einen Waschsalon und ein griechisches Lokal, in dessen Schaufenster sich eine vor Fett triefende Fleischmasse an einem Spieß dreht. Ich denke an die Fotos der erleuchteten Fassade des Orsay-Museums oder an den von Arkadengängen umgebenen Park des Palais-Royal, über die wir im Französischkurs gesprochen hatten. Ich hatte das Wort »haussmannien« gelernt. Ich sehe noch mein amerikanisches Lehrbuch mit der Definition des Terminus unter der Abbildung eines majestätischen Gebäudes mit von schmiedeeisernen Gittern versehenen Fenstern und Balkonen vor mir: »… zahlreiche unter dem Präfekten von Paris, Baron Haussmann, ausgeführte Sanierungsarbeiten in der Mitte des 19. Jahrhunderts.«

Angesichts des post-apokalyptischen Zustands meiner Bankkonten kann ich die Rue de Rivoli, Montmartre und das Marais-Viertel vergessen und entschließe mich, Jane Thompson wohl oder übel zu vertrauen.

Sie bleibt vor einer ehemaligen Kutschen-Einfahrt eines zwischen einer orientalischen Zuckerbäckerei und einer Grundschule eingezwängten Hauses stehen. Sie tippt einen Code ein und hält mir die Tür auf, von der die Farbe abblättert.

»Die Wohnung befindet sich auf der Etage der ehemaligen Dienstbotenzimmer. Sie werden sehen, sie ist hell und sehr ruhig.«

Energisch schüttelt sie ihren Regenschirm über den gesprungenen Fliesen der Eingangshalle aus. Der Fahrstuhl bringt uns in das sechste und letzte Stockwerk, und wir betreten eine kleine möblierte Wohnung. Das Wohnzimmer ist mit einer vollständig eingerichteten Küche verbunden. »Hier nennt man das amerikanische Küche«, erklärt sie mir. »Vielleicht fühlen Sie sich ein wenig wie zu Hause.«

Seit der letzte Mieter ausgezogen ist, wurde alles renoviert. Die Möbel sind praktisch, es gibt zahlreiche Einbauschränke, ein Sofa, eine Stereoanlage und zwei Lautsprecher … Durch das Dachfenster strömt trotz des regengrauen Wetters helles Licht ins Schlafzimmer. Das winzige, drei Quadratmeter kleine Badezimmer weist tatsächlich eine Badewanne auf! Die Wohnung ist klein, unpersönlich, weiß und sauber.

Im Wohnzimmer gibt es nur ein Fenster. Ich öffne es und werfe einen Blick nach draußen. Die Wohnung geht direkt auf den Schulhof der Grundschule hinaus. Neben dem Regenprasseln kann man die Stadt brummen und hin und wieder Autos hupen hören. Das lässt mich an die praktisch ununterbrochen heulenden Sirenen von Manhattan denken und an die surrenden Klimaanlagen im Sommer. Ich weiß nicht, ob ich diese Wohnung mag. Ihre Nüchternheit wirkt zwar beruhigend, aber auch kalt.

Plötzlich schrillt eine Klingel, und Kinder rennen auf den Pausenhof. Ihre bunten Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, spielen sie im Regen. Die Symphonie ihrer fröhlichen Rufe, die bis zu mir dringen, entlockt mir ein Lächeln. Das erste seit meiner Ankunft. Und auf einmal erscheint mir die Wohnung viel einladender. Ob es am Kinderlachen auf dem Pausenhof liegt? Aber mir ist plötzlich, als dufte es nach heißer Schokolade.

Jane Thompson beobachtet mich aus den Augenwinkeln, während ich nochmals durch die Räume streife. Mein strenges schwarzes Kostüm und der perfekte Pferdeschwanz scheinen ihr Vertrauen einzuflößen.

»Wie viele Wohnungen haben Sie bis jetzt besichtigt?«

»Es ist die erste. Wäre es möglich, die Stereoanlage und die Lautsprecher aus dem Wohnzimmer zu entfernen? Sie brauchen viel Platz.«

»Ja, ich frage die Besitzerin. Ich kann mir nicht denken, dass sie etwas dagegen hat.«

»Ich habe ein Kätzchen. Ist das ein Problem?«

»Aber nein«, ruft sie und lächelt strahlend. »Die Besitzerin liebt Tiere, und ich auch. Wie heißt denn Ihre Katze?«

»David«, sage ich und schließe das Fenster.

Sie reißt erstaunt die Augen auf und fragt sich, ob es wohl eine Manie der Amerikaner ist, ihren Haustieren Menschennamen zu geben.

»Okay, ich will die Wohnung gerne haben, je früher desto besser. Wie hoch ist die Miete?«

»Tausendeinhundert Euro, inklusive Nebenkosten … Ich weiß, das liegt über Ihrem Budget, aber Paris ist eine sehr teure Stadt und …«

»Es passt.«

Das ist eine Lüge. Der Preis ist unverschämt hoch, und ich muss schnellstmöglich einen Job finden, aber ich werde schon zurechtkommen. Es muss vorangehen. Im Hotel zu bleiben, würde noch teurer werden, und ich will David schnellstens aus dem Tierheim holen. Im Hotel sind keine Katzen erlaubt.

»Gut, wenn Sie Ihren Pass dabeihaben, mache ich in der Agentur eine Kopie davon, die ist nur fünf Minuten von hier entfernt. Dann kann ich den Vertrag bis morgen fertig machen …«

»Perfekt.«

»Allerdings ist man in Frankreich sehr streng, was Mietverträge angeht. Ich brauche Garantien, Ihre letzten Gehaltsabrechnungen, die Steuererklärung, Ihre Bankanschrift, einen Auszug Ihres Bankkontos und einen Kontakt zu Ihren ehemaligen Vermietern …«

Und drei Edelweiß, ein Glas Lama-Milch und den Segendes Papstes …, denke ich und blicke dennoch verständnisvoll drein.

»Ja, ich kann Ihnen Kontakte in New York geben …«

»In Ordnung, und wenn Sie in verschiedenen Wohnungen gelebt haben, geben Sie mir so viele Kontakte wie möglich. Je mehr Garantien desto besser, und umso solider wird Ihre Bewerbung.«

Ich denke ein paar Sekunden nach.

»Vor ein paar Jahren habe ich in London gelebt und kann Ihnen die Anschrift meines ehemaligen Vermieters geben.«

»Ach ja, London, marvelous, gute Idee.«

Sie scheint erleichtert, als sei die geografische Nähe Englands als Garantie solider.

Mir hingegen zerreißt es das Herz, London auch nur zu erwähnen, aber ich beiße die Zähne zusammen und lächle höflich.

Das Tagebuch von Alice

London, 22.August 2011

7:05 p. m.

Gut.

Die Psychotherapeutin will, dass ich ein Tagebuch schreibe. Ich soll nur ein paar Worte aneinanderreihen. Nichts Unmögliches. Soll mir keiner sagen, dass ich nicht alles probiert habe.

Mein Dilemma: Soll ich mich an ein »liebes Tagebuch« wenden? Oder soll ich mir eine Freundin ausdenken, der ich alles erzählen kann? In diesem Fall brauche ich eine Bezugsperson, die mich inspiriert. Aber wer soll das sein? Gut, warum nicht »Liebe Frau McGonagall«?

Nein. Zu bedrohlich.

Jemand, der unheimlich gut aussieht? »Lieber Ryan Gosling …« Oder ein Filmstar mit nettem Gesicht, einem Gesicht, das Vertrauen einflößt. »Lieber Bruce Willis …«?

Könnte ich Bruce Willis mein Leben erzählen? Sicher eher als Professor McGonagall.

Gerade lese ich die ersten Zeilen noch mal. Oliver hatte recht, mich zur Therapie zu schicken, ich brauche eine Analyse, völlig klar.

Hier endet das Tagebuch.

8:20 p. m.

Lieber Bruce Willis,

keine Panik, da bin ich wieder.

Ich liege in unserem Bett. Oliver arbeitet am Computer, wie jeden Abend, und ich habe mir einen Kräutertee gekocht. Bei Wikipedia habe ich »automatisches Schreiben« eingegeben und das hier gefunden: »Automatisches Schreiben bezeichnet eine Methode des Schreibens, bei der Bilder, Gefühle und Ausdrücke (möglichst) unzensiert und ohne Eingreifen des kritischen Ichs wiedergegeben werden.« Man soll demnach irgendetwas schreiben, egal was, egal wie. Und das liegt absolut im Rahmen meiner Möglichkeiten. Gut, dann beschreibe ich automatisch, also ohne nachzudenken, unbewusst und willenlos, tja, Bruce (darf ich dich Bruce nennen?), was aus meinem Leben geworden ist:

Mein Verbrauch an Schwangerschaftstests ist erheblich größer als der einer Familienplanungs-Beratungsstelle. Am Kühlschrank habe ich einen Kalender angebracht und mit einem roten Filzstift Herzchen an die Daten meines Eisprungs gemalt. Es ist zwar beschämend, aber Oliver soll wissen, an welchen Tagen wir miteinander schlafen sollten. Berichtigung: an welchem Tag wir ein Baby zeugen könnten. Jetzt haben wir keinen Sex mehr, wir machen ein Baby. Sex ist eine Strafe geworden, ein mühseliges Unterfangen mit stets enttäuschendem Ergebnis. Selbst der feurige Blick deines Kollegen Clive Owen, lieber Bruce, weckt nicht das geringste Verlangen in mir.

Meine Zeit teilt sich zwischen zwei Hauptbeschäftigungen: Entweder warte ich auf meinen Eisprung oder auf meine Regel. Da ich jedes meiner Symptome in alle verfügbaren Apps eingegeben habe, kann ich den Eintritt beider Ereignisse fast auf die Minute vorhersagen.

Ein völlig sinnloses Unterfangen, nebenbei bemerkt.

Phase 1: Während der Tage, die dem geplanten Sexualakt folgen, verfolge ich stellvertretend das Rennen eines Spermiums hin zu meiner Gebärmutter. Eine wahre Folter. Im Geiste rufe ich ihm wie eine zugedröhnte Cheerleaderin Aufmunterungen zu, stelle mir dabei vor, wie es mit dem Lätzchen mit der Startnummer 1 fibrillierend und geschmeidig in die Kurven rast, um seine Mitstreiter hinter sich zu lassen. Währenddessen hüpft mein blödes Ei im Eileiter hin und her und grinst dämlich, auf eine Spermaseelengemeinschaft hoffend, die sich einfach nicht einstellen will.

Phase 2: Ich erfinde Übelkeit, Müdigkeit, Gliederschmerzen und mitternächtliche Gelüste auf Schokokuchen mit Schlagsahne (dieser Punkt ist nicht unbedingt ein sicheres Anzeichen für eine Schwangerschaft, das sehe ich ein. Aber welche halbwegs normale Person fühlt nicht fast permanent das mehr oder minder intensive Bedürfnis nach Schokokuchen mit Schlagsahne?).

Phase 3: Ich bin überzeugt, schwanger zu sein, werde Oliver gegenüber unausstehlich (schuld sind die Hormone), esse für vier (falls es Drillinge werden) und kaufe mir keine Tampons mehr (in den nächsten neun Monaten brauche ich sie ja doch nicht mehr), und zwar bis zum Schwangerschaftstest am Tag vor dem Einsetzen der zu erwartenden Regelblutung (für die ich, verdammt und zugenäht, keine Tampons mehr habe).

Phase 4: Am letzten Tag des Zyklus stehe ich im Morgengrauen auf und schließe mich im Bad ein, ohne Oliver zu wecken. Nachdem ich höflich das Lächeln des Babys auf der Packung erwidert habe, das wie ein Serienkiller regelmäßig meine Hoffnung tötet, entschuldige ich mich beim Test, weil ich ihn jetzt in Pipi tauchen muss. Ich versuche ihn zu betören, denn Schwangerschaftstests neigen zu Widerspruch. Sie sagen Ja, wenn man auf Nein hofft, und Nein, wenn man sich Ja wünscht. Ich folge den Anweisungen und warte drei Minuten, die in meiner Wirklichkeit Pi mal Daumen zweieinhalb Jahrhunderte dauern (dazu nicht die lustigsten, siehe 10. und 12.Jahrhundert, Stil Game of Thrones).

Ich sitze auf der Toilette, ziehe mir nicht einmal die Hose hoch, zähle die Sekunden, den Blick auf das kleine weiße Fenster geheftet, und bete zu allen Göttern des Universums, ein kleines Plus auf die Skala zu zaubern. Gerne auch hell oder unscharf. Ich will nur ein winziges Plus.

Kein Plus.

Noch einmal zähle ich bis zehn und werde schier rasend bei dem Gedanken an alle in diesem Augenblick auf der ganzen Welt ausgeführten Schwangerschaftstests – die positiven, die Tränen verursachen, wie auch die negativen, die Freudentänze auslösen. Das Leben ist ungerecht, wenn nicht völlig absurd.

Oliver wartet hinter der Tür auf mich. Im Allgemeinen brauche ich ihm das Ergebnis gar nicht anzukündigen, denn wie üblich vergieße ich Hektoliter Tränen. Er nimmt mich in die Arme und versichert, dass es völlig egal sei, wir seien noch jung und hätten Zeit … Sechsundzwanzig Jahre, das sei doch noch reichlich früh, um ein Kind zu bekommen. Das Problem ist nur, dass er zehn Jahre älter ist.

Manchmal krame ich den Test unter einer Bananenschale aus der Mülltonne hervor. Nur um zu sehen, ob sich das Ergebnis vielleicht nicht doch geändert hat.

Immer noch kein Plus.

Und zurück zu Phase 1.

Jetzt erlaube ich mir, eine Zigarette zu rauchen, nur eine (manchmal zwei, aber niemals drei), um mich zu trösten, und dann beginne ich den Zyklus von vorn. Jeden Morgen verfolge ich den Eisprung, schlucke Folsäure, mache Fruchtbarkeitsyoga und male ein rotes Herzchen auf den Kalender am Kühlschrank.

Dann wieder lasse ich meinen Hormonhaushalt analysieren und Ultraschalluntersuchungen machen (ich erspare dir die medizinischen Details, Bruce), die allesamt besagen, dass keine Anomalie vorliegt. Da hatte es Oliver besser. Für seine Untersuchungen bedurfte es nur einer Masturbationssitzung vor einem Bildschirm und einem Pornostreifen aus den Achtzigern. Der positive Aspekt meiner Experimente (Oliver sagt, dass jede Erfahrung ihren Wert hat) ist ein Panoramavideo meiner Gebärmutter, das wir in zehn Jahren im Kreise der Familie abspielen können.

Ich trinke keinen Alkohol, rauche (fast) nicht mehr, verzichte auf Kaffee und schwarzen Tee, verzehre keine Fast-Food-Produkte, gehe um zweiundzwanzig Uhr schlafen und meditiere neuerdings. Zudem fülle ich mich mit Nachtkerzenöl ab, mit Folsäure, Eisen, Obst und verschiedensten Getreidekörnern. Gesünder als ich dürfte nur der Dalai Lama leben. Ich habe Physiotherapeuten, Osteopathen, Wunderheiler und sogar einen Spezial-Coach für Eileiter aufgesucht, der vorgibt, die Reinkarnation eines aztekischen Priesters zu sein. Ich habe gebetet und geheult. Nichts hilft. Seit siebzehn Monaten versuchen wir es nun, aber ich bin immer noch nicht schwanger.

Meine Bewerbung für die Wohnung wurde angenommen. Davids Reisekiste in der einen, meinen Koffer in der anderen Hand, fahre ich wieder mit der Métro bis zur Station Belleville. In New York haben die Straßen Nummern, entweder parallel oder quer verlaufend. Aufgeräumt. Hier verläuft keine Verkehrsachse gerade, in diesem Gewirr von Gassen und Straßen herrscht eine absurde Unordnung. Dennoch finde ich irgendwann meinen Weg und erreiche das Maklerbüro, wo der Mietvertrag nur noch auf meine Unterschrift wartet.

Jane Thompson empfängt mich mit einem breiten Lächeln.

»Alice, ich habe auf Sie gewartet! Hier haben Sie Ihren Pass zurück. Ich wusste nicht, dass Ihr vollständiger Name Smith-Rivière lautet … Gibt es eine Verbindung zu Scarlett Smith-Rivière?«

Die Frage ist mir unangenehm, und ich vermeide den Blickkontakt mit ihr.

»Wissen Sie, es gibt mehr als zwei Millionen Smiths allein in den Vereinigten Staaten, und Rivière ist fast genauso gängig in Frankreich, damit dürften mehrere Tausend Amerikaner den Doppelnamen Smith-Rivière tragen …«

»Ach so … Jedenfalls danke ich Ihnen, mir die Anschrift Ihres ehemaligen Vermieters in London gegeben zu haben, marvelous, dieser Mann! Ich habe ihm Ihre neue Adresse gegeben. Er will Ihnen Post nachschicken.«

Jane Thompson scheint nun sicher, dass ich nicht vorhabe, ein Drogenkartell in der Wohnung aufzuziehen, und ist ausgesprochen nett. Sie ist hellauf begeistert von David, der vor Freude schnurrt, während ich den Mietvertrag durchlese und unterschreibe. Sie händigt mir drei Schlüsselbunde für mein neues Zuhause aus.

Dort angekommen, packe ich schnell meine Habseligkeiten aus. Ich habe nur das Nötigste mitgebracht. Die meisten Sachen befinden sich noch in einem Container mitten auf dem Atlantik. Davids Kissen lege ich ans Fußende meines Betts, und seine Streukiste stelle ich unter das Fenster im Wohnzimmer. David schreitet wie eine Ballerina bedächtig durch die beiden Räume und sinkt dann mit Eleganz auf das Sofa. Ich kraule seinen Kopf und bin erleichtert, dass er so zufrieden wirkt.

»Ich hoffe, du wirst dich hier wohlfühlen, mein Kätzchen.«

Unten im Supermarkt kaufe ich eine tiefgekühlte Lasagne und schiebe sie in die Mikrowelle. Das Essen ist genau in dem Moment fertig, als ich, in ein Badetuch gehüllt und mit gekämmtem, aber noch nassem Haar, aus dem Bad komme. Ich ziehe meinen Schlafanzug an, setze mich vor den Computer und lese die eingegangenen E-Mails.

Von: Sophie Henri

An: Alice Smith

Datum: 5.September 2018

Betreff: Ihre Bewerbung

Liebe Alice,

trotz Ihrer ausgezeichneten Qualifikationen muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Bewerbung abgelehnt wurde, da für den Posten bei Brit Finance ein anderes Profil gesucht wird.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer weiteren Suche.

Sophie Henri

Personalchefin

Brit Finance

Viermal lese ich die E-Mail und versuche den Stress abzuschütteln, den sie auslöst. Es ist nur eine Antwort. Ich habe mehrere Bewerbungsgespräche geführt und noch andere Eisen im Feuer. Nichts klappt je auf Anhieb. Ich lese die anderen Nachrichten und lasse keine Werbung, keinen Spam aus, studiere sogar die Abwesenheitsmeldungen von Anfang bis Ende. Ich sehe geradezu, wie Angela die Augen verdreht, aber ich kann nicht anders. Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Tokio kann in Texas einen Wirbelsturm auslösen, heißt es. Also, wenn man mir etwas schickt, dann lese ich es auch. Sollte ich eine hochwichtige Nachricht übersehen, könnte das eine Kette von Folgen und fürchterliche Dramen irgendwo in der Welt auslösen. Als ich mir sicher bin, dass sich tatsächlich nichts Lebenswichtiges in die Newsletter eingeschlichen hat, schließe ich die Webseiten und gehe schlafen. Sorgsam lege ich Handcreme und Schlaftabletten auf den Nachttisch und stelle ein Glas Wasser dazu.

Es regnet nicht mehr, und ich habe das Dachfenster geöffnet, nehme jetzt eine Schlaftablette und lausche, schon im Dämmerzustand, den Geräuschen des Wohnhauses, die aus dem Hof zu mir aufsteigen, den Stimmen der Menschen, die zusammenleben, essen, streiten oder sich lieben. Traurigkeit überkommt mich. Und als hätte David gespürt, wie sich meine Einsamkeit im Mansardenzimmer ausbreitet, rollt er sich neben mir zusammen und reibt sein Näschen an meiner Wange. Dankbar schließe ich ihn in die Arme und summe ein Wiegenlied für ihn. Die Schlaftablette zeigt ihre Wirkung, und ich falle in einen traumlosen Schlaf.

Ich schließe die Wohnungstür hinter mir und seufze. In Frankreich werde ich wohl nur schwer Arbeit finden. Nachdem ich meine Schuhe ordentlich nebeneinandergestellt habe, lasse ich mich auf das Sofa fallen und ziehe mein schnurrendes Fellknäuel auf die Knie, um mich zu trösten.

Ein Dutzend Bewerbungen hatte ich schon aus New York abgeschickt, gerade komme ich von dem letzten Vorstellungstermin zurück. Man hat mich nicht einmal vorgelassen: In der Zwischenzeit habe man jemanden eingestellt und völlig vergessen, meinen Termin abzusagen, erklärte mir die Dame im Personalbüro mit verlegenem Lächeln. Ich schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und verbarg meine Enttäuschung hinter stolzer Haltung. Es sei nicht schlimm, sagte ich, man möge mich nur unbedingt anrufen, sollte ein anderer Posten frei werden. Erst draußen auf der Straße brach ich in Tränen aus.

Seit meiner Ankunft in Paris vor zehn Tagen hat es bislang lediglich Absagen gehagelt. Dieses Gespräch war meine letzte Hoffnung gewesen. Ich verberge mein Gesicht in Davids weichem Fell am Hals und seufze.

»Meinst du, jemand könnte mich eines Tages wollen, Kätzchen?«

Die Erschöpfung der letzten Wochen nimmt jetzt Besitz von mir. Es bedarf meiner ganzen Energie, mich auszuziehen und in ein heißes Bad sinken zu lassen. Ich versuche Ordnung in meine Gedanken zu bringen und spiele mit den Fingerspitzen im duftenden Schaum. Mein Herz krampft sich zusammen, wenn ich an New York und mein dort zurückgelassenes Leben denke. An meine Ersparnisse, ein kleines, in den vier Jahren meiner Karriere im Finanzsektor angehäuftes Vermögen, das sich vor meinem Aufbruch in Rauch aufgelöst hatte. Die Müdigkeit verdunkelt meine Stimmung noch mehr, und das bisschen Optimismus, das mir geblieben war, löst sich im Seifenwasser auf.

Zurück im Zimmer, eingehüllt in meinen Bademantel, höre ich ein Ping. Auf meinem Computer ist eine Nachricht eingegangen. Die Kopfschmerzen werden immer schlimmer, der Schmerz konzentriert sich zwischen den Augen und strahlt zu den Schläfen aus. Ich weiß ganz genau, dass eine Panikattacke droht, wenn ich die Müdigkeit zu groß werden lasse, aber eine eingegangene E-Mail will gelesen werden. Das ist die Regel. Und Regeln müssen respektiert werden. Immer. Die Nachricht erscheint auf meinem LinkedIn-Konto und stammt von jemandem, der mir völlig unbekannt ist.

Von: Christophe Lemoine

An: Alice Smith

Datum: 10.September 2018

Betreff: Bewerbung

Guten Tag, Alice,

ich sehe auf LinkedIn, dass Sie auf der Suche nach Arbeit in Paris sind. Ich bin der Gründer eines Start-ups mit erheblichem Potenzial, wobei Firmenziel und Business-Modell noch nicht veröffentlicht wurden, weshalb ich sie Ihnen hier nicht erläutern kann. Ihr Profil könnte für uns und den Fortgang des Projekts durchaus von Interesse sein.

Sollten Sie immer noch verfügbar sein, so schlage ich Ihnen ein Treffen für morgen, 9:30 Uhr, im Co-Working-Space, 67 rue du Mail, 75002 Paris vor.

Mit freundlichem Gruß

Chris Lemoine

Ich lese die E-Mail wieder viermal. Keinerlei weitere Informationen, weder über die Firma noch über den Posten. Mein Lebenslauf im Netz gibt an, dass ich im Bereich Fusion und Akquise bei einer berühmten Investmentbank tätig war. Das bedeutet, dass ich keine Ahnung vom Finanzwesen einer kleinen Firma habe und noch weniger Ahnung von Start-ups. Mir ist nicht ganz klar, warum mein Profil einen Unternehmer wie Christophe Lemoine interessiert.

Aber er hat einen Termin anberaumt.

Zu einer bestimmten Uhrzeit.

An einem bestimmten Ort.

Wenn ich ablehne, bringe ich seinen Zeitplan durcheinander. Sollte er daraufhin seinen Tag umorganisieren müssen, kann die Störung der gewohnten Abläufe zu Chaos führen. Beispielsweise könnte ein Familienvater früher aus dem Haus gehen und genau dann in ein Taxi laufen, nur weil sein Termin verlegt worden war, er wird überfahren, oder schlimmer, sein Baby im Kinderwagen …

Stopp!

Aufhören!

Leichte Übelkeit befällt mich, und die Migräne breitet sich bis in meinen Nacken aus.

Das passiert doch alles nur in meinem Kopf. Nur nicht darauf eingehen.

Keine Katastrophen ausmalen!

Wieder umgreife ich mein Handgelenk. Das Armband fehlt, ich hatte es vor dem Baden abgelegt. Ich lege den Kopf in meine zitternden Hände. Ich darf die Ordnung des Universums nicht stören. Man muss das Vorgesehene respektieren. Immer. Stimmt gar nicht. Das Leben ist voll von Unvorhergesehenem, flüstert mir die ferne Stimme Angelas zu. Ich zähle langsam und atme ein.

Eins, zwei, drei, vier.

Atme!

Ich brauche einen Job, egal was für einen, sonst muss ich mir von Angela Geld leihen, und sie müsste sich um mich sorgen. Sie zu ängstigen und ihr das Leben schon wieder mit meinen Problemen schwer zu machen, ist das Letzte, was ich möchte.

Von: Alice Smith

An: Christophe Lemoine

Datum: 10.September 2018

Betreff: Re: Bewerbung

Guten Tag, Christophe,

vielen Dank für Ihre Nachricht. Gerne nehme ich den Termin wahr.

Bis morgen

Alice Smith

Es ist erst 13:17 Uhr, aber ich kann mich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten. Schwarze glänzende Punkte zerplatzen vor meinen Augen, als sei ich in einer Disco. Ich ziehe die Vorhänge zu, denn gleich wird es in der Schule unten zur Pause klingeln. Ich lege sorgsam meine Kleidung zusammen. Gleich viermal hintereinander, um Falten sicher zu vermeiden. Dann stelle ich den Stuhl an die Wand, rücke einmal, zweimal … Stopp! Ich verkrieche mich unter der Bettdecke, schlucke eine Schlaftablette, David kuschelt sich an mich.

Als ich aufwache, ist es bereits Nacht. Die Krise ist vorüber, sie war eher leicht, wenn auch bedenklich nah an der letzten schweren Attacke. Ich bestelle übers Internet einen Bacon-Cheeseburger und Fritten mit geschmolzenem Cheddarkäse. Dabei muss ich an Angela denken, die vier Jahre lang vergeblich versucht hat, mich von meinen schlechten Essgewohnheiten abzubringen. Aber ich habe seit gestern nichts gegessen und einfach Lust, mich wenigstens für die Dauer einer Mahlzeit nach Amerika versetzt zu fühlen.

Ist es nicht sonderbar, dass mir Chris Lemoine genau in dem Augenblick schreibt, in dem mich der Mut verlassen hat? Was für ein Zufall! Wenn man an Zufälle glaubt! Aber ich glaube nicht an Zufälle, auch nicht an Glücksfälle. Ich glaube an eine Aneinanderreihung von Ereignissen, so wie sie das Universum vorgesehen hat, eine unabänderliche Ordnung der Welt, in der jedes Ineinandergreifen der Rädchen eine Rolle spielt und das kleinste Staubkorn die Mechanik durcheinanderbringen kann. Wie gesagt, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Tokio kann irgendwo am anderen Ende der Welt eine Katastrophe auslösen. Und so weiter.

Ich koche mir einen Tee und suche Christophe Lemoine auf LinkedIn. Seltsamerweise brauchte er acht Jahre für seinen Bachelor, allerdings an einer berühmten Universität in Montreal. Seitdem hat er neunzehn Start-ups gegründet. Ich ziehe eine Augenbraue hoch, als ich diese eindrucksvolle Liste durchkämme. Eine nach der anderen google ich die Firmen.

Christophe Lemoine ist offenbar ein Erfinder, unter anderem ist er der Vater der faltbaren Reisekelle, von biologisch abbaubaren Bettlaken und einer App, die Wolkenformen interpretiert. Außerdem scheint er ein gutes Händchen fürs Scheitern zu haben. Seine neunzehn Firmen hat er samt und sonders in den Sand gesetzt. Da gab es technische, finanzielle, juristische Probleme, Probleme mit dem Business-Modell und Datenklau … Das einzige Start-up, das mit ein paar Artikeln in der seriösen Presse erwähnt worden war, hatte ein Programm für Datensicherheit entwickelt, doch die zu schützenden Daten waren irrtümlich per E-Mail anstelle des Newsletters an mehrere Tausend Kontaktpersonen geschickt worden. Unnötig zu erwähnen, dass besagte Artikel alles andere als Lobeshymnen waren. Ich muss über die Hartnäckigkeit dieses leidenschaftlichen Unternehmers lächeln. Leute, die nicht loslassen können, haben mich schon immer irgendwie gerührt.

Es klingelt. Ich mache die Tür auf, nehme den Papierbeutel mit meinem Burger entgegen und gebe dem Boten zum Dank Trinkgeld, worüber er sich überschwänglich freut. Dann setze ich mich wieder an den Computer, esse gewissenhaft alles bis zum letzten Krümel auf, und mit David als neugierigem Zaungast betrachte ich die Fotos des jungen lächelnden Unternehmers. Ich frage David: »Findest du ihn sympathisch?«

Statt zu antworten, rollt er sich auf meinem Schoß zusammen. Ich seufze. Es ist ja nicht so, dass ich es mir aussuchen könnte. Mit dem bisschen Geld, das ich noch hatte, musste ich die Miete bezahlen. Egal, was es mit diesem Posten auf sich hat, ich muss ihn haben.

Die Bürogemeinschaft »The Space« ist ein neues Pariser Co-Working-Center und in einer Werkhalle untergebracht, in der früher Heißluftballons hergestellt wurden. Die hölzernen Deckenbalken sind weiß gestrichen und stützen ein riesiges Glasdach. Die Einrichtung ist minimalistisch, hier ein paar Grünpflanzen, dort Design-Sofas, mir ist, als sei ich direkt in einem Instagram- Feed gelandet, ein munteres Durcheinander als Zugabe.

Angesichts des Mädchens mit dem Tretroller und des Youngsters in Jogginghose, die gerade vorbeigerast sind, dürfte die lächelnde Hostess – mindestens fünfundzwanzig Jahre alt – die Altersobergrenze des Hauses repräsentieren. Sie reicht mir einen leuchtend orangefarbenen Besucherausweis und behält dafür meinen amerikanischen Führerschein ein, für den Fall, dass mir der sonderbare Einfall kommen sollte, meinen Besucherausweis zu klauen und auf eBay zu verhökern.

Ich zupfe meinen Pferdeschwanz und die schwarze Weste meines Hosenanzugs zurecht und versuche mich auf dem unbequemen silberfarbenen Hocker einigermaßen aufrecht zu halten.

»Alice?«

Ich wende den Kopf und sehe vor mir einen freundlich lächelnden Mann stehen.

»Ja, das bin ich«, sage ich und reiche ihm die Hand.

»Freut mich, ich bin Christophe.«

Sein Händedruck ist fest, sein dunkelblondes Haar steht unordentlich ab, was aber kein Zufall, sondern der Look des perfekten Hipsters ist. Die Bluetooth-In-Ears stecken in seinen Ohren wie zwei kleine Antennen, seine Turnschuhe dürften so teuer sein wie Louboutin-Pumps, und seine Jeans ist vielleicht von einem buddhistischen Mönch in Nepal per Hand bleich gescheuert worden. Hinter der Brille mit imposantem Gestell sehen mich braune Augen an, die ebenso ehrlich wie freundschaftlich wirken, und sein umwerfendes Lächeln entspricht ganz und gar den Porträts im Netz. Ich vermute, dass er über einen gewissen Charme verfügt, dem ich jedoch wegen seiner elf Minuten Verspätung nicht erliege.

»Folge mir! Möchtest du einen Kaffee? Einen grünen Tee? Eine Cola Zero? Eine Litschi-Paprika-Limo?«

»Danke, ein Glas Wasser reicht.«

Ich folge ihm, während er irgendwas auf seinem Smartphone tippt. Meine Hände verkrampfen sich, ich umklammere den Bügel meiner Handtasche und bedaure, kein Beruhigungsmittel genommen zu haben. Ich habe bei allen Bewerbungsgesprächen versagt, weil ich solchen Anforderungen nicht gewachsen bin und meine Angst mich unnahbar wirken lässt. Wenn ich den Feedbacks der Personalbüros Glauben schenken kann, so hatten meine Ansprechpartner das Gefühl, meine »Persönlichkeit nicht ganz umreißen zu können«. Ein kühles und abweisendes Verhalten ist meine einzige Waffe gegen die Panikattacken.

»Danke, Alice, dass du so spontan gekommen bist. Wir sind seit drei Wochen im Haus. Ist doch nett hier, oder?«

Ein durchsichtiger Aufzug bringt uns in die letzte Etage. Vor uns liegt ein weitläufiger offener Raum. Eine riesige Fensterfront bietet eine unglaubliche Aussicht bis zur Kirche Sacré-Cœur, die mich schon immer fasziniert hat. Dennoch versuche ich den Touristen-Enthusiasmus zu verbergen, der die Amerikanerin verrät, die ihre Ranch nie verlassen hat. Trotzdem verlangsame ich den Schritt, um dieses wunderbare Panorama zu bestaunen. Die meisten Büroräume mögen noch nicht eingerichtet sein, aber es herrscht bereits eine unbeschreibliche Unordnung. Kartons, Akten, einzelne Blätter, ein Pingpongschläger, eine Yogamatte und sogar eine Socke … Ich verstehe nicht, warum Leute nicht aufräumen. Es reicht doch, den Gegenstand nach Gebrauch wieder an seinen Platz zu bringen. Ist das denn so kompliziert? Statt auf das Chaos schaue ich lieber auf die geradlinigen, parallelen, regelmäßigen und damit beruhigenden Fensterumrahmungen aus Metall.

»Willkommen bei EverDream!«, ruft Christophe und öffnet die Tür zu einem Versammlungsraum mit dem Namen »Steve Jobs«-Saal.

Ich gehe hinein. Vier riesige Sofas stehen um einen Couchtisch herum. Auf einem der Sofas sitzt ein Mann vor einem Flachbildschirm und tippt, ohne den Blick zu heben, in rasender Geschwindigkeit auf der Tastatur. Seine Hände ziehen meinen Blick magisch an. Mich beeindruckt der Kontrast zwischen ihrer männlichen Kraft und der Eleganz der Finger, die über die Tasten gleiten wie die eines Pianisten. Ich werfe einen Blick auf den Bildschirm, wo sich auf schwarzem Hintergrund grüne Linien eines Programmcodes aufreihen, flüssig und regelmäßig wie eine Partitur.

»Jeremy Miller, mein Partner«, stellt Christophe vor und setzt sich.

»Guten Tag.«

»Guten Tag. Sie sind zu spät«, entgegnet dieser, ohne auch nur hochzuschauen.

Das ist schlichtweg der ungerechteste Vorwurf, der mir seit Ewigkeiten untergekommen ist. Ich spüre, wie sich meine Kehle zuschnürt, und höre mich säuerlich antworten: »Ich komme nie zu spät.«

Er hört auf zu tippen, hebt neugierig den Kopf und mustert mich. Sein stechender Blick macht mich verlegen. Das braunes Haar und der dunkle Dreitagebart betonen das glasklare Blau seiner Augen. Er trägt ein Jeanshemd und eine beigefarbene Hose, seine Kleidung ist viel schlichter als die seines Partners.

»Das ist ganz und gar meine Schuld«, gesteht Christophe und reicht mir eine Flasche Evian. »Ich habe Alice warten lassen. Weißt du, die Kreativen sind immer spät dran.« Er zwinkert mir zu.

Meine Rückenmuskeln entspannen sich, ich schiebe eine Haarsträhne hinter das Ohr und setze mich ebenfalls auf das Sofa.

»Ach so, Alice«, ruft Christophe plötzlich, »fast hätte ich das Wichtigste vergessen. Wir haben hier ein Bällebad.«

Er sieht mich strahlend und erwartungsvoll an. Ich habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll, und er fügt erklärend hinzu: »Wie bei Ikea.«

Ich trinke einen Schluck Wasser, um Haltung zu bewahren. Wenn er nicht bald Fragen zu meiner Vita, meinen Kompetenzen und Charaktereigenschaften (starrsinnig, introvertiert, na ja, etwas ängstlich und von leichten Zwangssyndromen gequält …), normale Fragen, die man bei einem Bewerbungsgespräch gewöhnlich stellt, dann überlebe ich diese Unterhaltung nicht. Fragen, auf die ich vorbereitet war. Mit Unvorhergesehenem komme ich nicht klar. Wieder einmal berühre ich mein Armband und streichle die Anhänger. Ich denke an Wellenrauschen. Tief einatmen! So leise wie möglich.

Ich drehe den Schraubverschluss der Flasche wieder zu und stelle sie auf den Couchtisch. Christophe überfliegt jetzt meinen Lebenslauf. In der Zwischenzeit lege ich zwei Stifte auf dem Tisch ordentlich parallel nebeneinander. Die Geste ist mir peinlich, denn mir ist, als habe sie der unangenehme Partner, Jeremy Miller, zur Kenntnis genommen. Ich muss mich besser unter Kontrolle haben. Ich brauche diesen Job, um Angela, wie bereits gesagt, nicht um Hilfe bitten zu müssen. Ich muss aktiv bleiben, damit man mich vergessen kann. Ich muss normal wirken. Ich bin normal!

»Du hast ein paar Jahre bei JP Morgan in London und dann bei Goldman Sachs in New York gearbeitet, und zwar …?«

Ich antworte mechanisch: »Vier Jahre, sechs Monate, zwei Wochen und vier Tage.«

Er sieht mich verwirrt an, als hätte ich soeben angefangen, die amerikanische Nationalhymne zu rappen. Erneut unterbricht sein Partner die Arbeit und mustert mich erstaunt. Ich beiße mir auf die Lippen.

»Das sollte ein Witz sein«, füge ich schnell hinzu, »vier Jahre.«

Und wieder suchen meine Finger den beruhigenden Kontakt mit dem Armband. Der forschende Blick von Jeremy Miller folgt meiner Geste und hält an meinem Handgelenk inne. Sofort lasse ich meinen wertvollen Talisman los und versuche vergeblich, meine Nervosität zu verbergen.

Jetzt ist ohnehin alles egal. Ich springe ins kalte Wasser.

»Sie sagten, es sei noch vertraulich, aber ich würde doch gern wissen, was Ihre Firma eigentlich macht, Monsieur Lemoine.«

»Chris! Alice, hier sagt man nicht ›Monsieur‹. Wir sind cool. Die Geschichte mit der Vertraulichkeit«, erklärt er, »ist eine Taktik, um wissensdurstige Investoren anzuziehen, die gern Risiken eingehen. Ich will Leute mit einem anderen Profil. EverDreamers eben. Alice, eines musst du unbedingt begreifen, EverDream will groß werden, sehr groß! Mittelmäßigkeit akzeptieren wir nicht. Und du, Alice, akzeptierst du Mittelmäßigkeit?«

»Äh – nein …«

»Umso besser! Denn wir verfolgen ein großartiges, ein einzigartiges Projekt, dass das Leben der Menschheit revolutionieren wird. Wir entwickeln gerade eine geheime Software, die helfen wird, ein universelles Problem zu lösen und den Alltag von Millionen Menschen zu verbessern.«

Diese schwungvolle Rede erstaunt mich, und ich stelle vorsichtig die Frage: »Das hört sich aufregend an, um welches Problem geht es dabei?«

Hat er ein Wundermittel gegen Krebs, einen Weg zum Weltfrieden oder zur Abschaffung des Hungers gefunden? Jedenfalls leuchten seine Augen vor ansteckender Begeisterung, und seine Überschwänglichkeit gefällt mir.

Ich schaue staunend zu, wie er auf den Couchtisch steigt, tief einatmet und mit einer theatralischen Handbewegung deklamiert: »EverDream hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle verwaisten Strümpfe wieder zu vereinen, und zwar weltweit.«

Zu diesem Zeitpunkt kann ich nicht ermessen, ob Christophe Lemoine verrückt ist, ungemein genial oder unter Drogeneinfluss steht. Ich bin sprachlos. Er muss meine Überraschung für Verständnislosigkeit halten, denn er erläutert mit einem triumphierenden Lächeln: »Weißt du, es geht um die Socken, die du mutterseelenallein nach dem Trockenzyklus in der Trommel deiner Maschine findest. In Zeiten des Recyclings und des Kampfs gegen Verschwendung musste sich jemand des Problems der verwaisten Strümpfe und dessen ökologische Bedeutung annehmen. Stell dir vor, auf der Webseite von EverDream kannst du ein Foto deines verwaisten Strumpfs posten, Größe, Marke und Farbe angeben. Die App stellt auf der Stelle einen Kontakt zu einer Person mit dem passenden Strumpf her, und so können sie zu einem neuen Pärchen vereint werden. Keine Socke soll mehr allein bleiben. Unsere Klientel? Die ganze Welt! Bis auf Einbeinige, natürlich, aber da bleiben immer noch eine Menge potenzieller Kunden.«

Ein leiser Zweifel beschleicht mich. Soll das ein Witz sein? Ich suche eine versteckte Kamera, eine Erklärung. Der schwungvollen Rede folgt tiefes Schweigen, das nur von Jeremy Millers Tippen untermalt wird. Christophe steht immer noch auf dem Couchtisch, verschränkt die Arme vor der Brust und grinst.

»Nun? Bist du bereit für dieses große Abenteuer, Alice? Nimmst du die Herausforderung des Unternehmens an? Lehnst du Mittelmäßigkeit ab?«

Ich öffne den Mund. Was soll ich sagen? Der Name EverDream bedeutet gar nichts, und die meisten Leute scheren sich wenig darum, ob sie eine Socke verloren haben oder wie sie recycelt werden könnte, dafür wäre es sicher an der Zeit, mit dem Grasrauchen aufzuhören, auch wenn es aus Bioanbau und Fair Trade von The Space stammt. Doch ein dünnes inneres Stimmchen erinnert mich daran, dass ich diesen Job brauche. Also räuspere ich mich und lasse verlauten: »Das hört sich hochinteressant an … ein wirklich originelles Business-Modell … Aber Ihnen ist bestimmt bewusst, dass ich davon nicht viel verstehe, weder von Webauftritten noch von Apps oder Ökologie und auch nichts von … verwaisten Strümpfen …«

»Ich weiß, aber du bist Amerikanerin, und dort liegt die Zukunft von EverDream. Schon im nächsten Frühling sind wir international unterwegs. Und dein Lebenslauf ist sehr eindrucksvoll! Du bist zweisprachig und hast ein Diplom der Brown University … Dann JP Morgan in London, Goldman Sachs in New York … Wenn wir demnächst das Funding organisieren, brauchen wir jemanden mit deinem Profil …«

»Und was soll ich genau tun?«

»Alles, was mit Buchhaltung, Finanzwesen und … den administrativen Abläufen zu tun hat.«

»Administrative Abläufe?«

»Ja. Ich bin kreativ, Jeremy kümmert sich um die Codierung, wir haben schon jemanden für das Marketing und das Community Management und so weiter. Aber niemanden, um diese … Sachen zu stemmen.«

Er hält inne und hat wahrscheinlich in letzter Sekunde den Terminus »langweilig« vermieden.

Ich schlage liebenswürdig vor: »Meinen Sie aufwendig?«

»Ja, genau! Aufwendig. Du drückst dich wirklich perfekt aus, Alice. Und du hast fast keinen Akzent.«

»Ich habe beide Staatsbürgerschaften, eine französische Mutter und einen amerikanischen Vater.«

»Das finde ich super!«

Er stellt mir noch ein paar absurde Fragen, zum Beispiel nach meiner Lieblingsfarbe. Er zeigt mir Tintenflecke auf seinem iPad und will wissen, wie ich sie interpretiere (Möwe, Gitarre, Flugzeug), bevor er das Gespräch beendet.

»So, Jeremy, ich bin durch. Hast du noch Fragen?« Es wäre mir sehr recht, würde dieser verneinen. Stattdessen schaut er von seinem Bildschirm auf und fragt: »Dein Lebenslauf sagt nichts darüber aus, was du 2013 das ganze Jahr über gemacht hast – nachdem du London verlassen und bevor du deinen Job in New York angetreten hast.«

Ich atme ein. Ich weiß, dass ich jetzt schwindeln muss. Trotz aller Lügen, die ich in den letzten Jahren erzählt habe, sträubt sich ein Teil von mir, die Wahrheit unterschlagen zu müssen.

»2013 habe ich eine Weltreise gemacht«, sage ich leise und halte den eisblauen, mich ausforschenden Augen stand. Ein Funke Neugier erhellt kurz seinen Blick, und ich habe den sehr unangenehmen Eindruck, dass er mir nicht glaubt.

»Oh, wie toll!«, ruft Christophe, »genau solche Leute wollen wir bei EverDream. Ich sehe, dass du verstanden hast, was es mit dem Kampf gegen Mittelmäßigkeit auf sich hat, Alice.«

»Warum hast du New York verlassen?«, schaltet sich Jeremy wieder ein. »Und warum willst du nach der Finanzbranche ins Web-Geschäft?«

»Ich habe immer von Paris geträumt … Und was das Finanzwesen betrifft, wollte ich gern einmal etwas mehr … Unternehmerisches versuchen.«

Ich vermute zahlreiche weitere Fragen hinter seiner äußeren unerschütterlichen Ruhe. Bist du allein umgezogen? Bist du nicht verheiratet? Geschieden? Alleinstehend ohne Kinder? Hast du Familie in Paris? Freunde?

»Super, Alice«, sagt Christophe und zieht sein vibrierendes Handy aus der Tasche, »du hörst sehr bald wieder von uns, jetzt habe ich einen Call-Termin mit Investoren.«

Einen Moment lang hatte ich geglaubt, ich hätte eine Chance, eingestellt zu werden, doch die abrupte Art, unser Gespräch zu beenden und mich abzufertigen, scheint kein gutes Zeichen zu sein.

Etwas überrumpelt schüttele ich mechanisch die dargebotene Hand und murmele: »Vielen Dank für den freundlichen Empfang.«

Jeremy Miller erhebt sich und bringt mich ins Erdgeschoss, ohne ein einziges Wort an mich zu richten. Verzweifelt suche ich nach Argumenten, die seine Meinung über mich ändern könnten. Aber er hat gesehen, wie ich in Panik geraten bin, wie ich an meinem Armband gefummelt und die Stifte geradegerückt habe. Im Grunde ist alles sonnenklar: Warum sollte man das Risiko eingehen und jemand einstellen, der so sonderbar ist wie ich?

Jeremy bittet die Hostess, meine Papiere auszuhändigen, die ich ihr als Pfand für den Besucherausweis überlassen hatte, und sie reicht ihm meinen Führerschein. Und in diesem Augenblick beginne ich auf ihn einzureden, auch wenn ich nicht sicher bin, dass meine Worte wirklich überzeugen: »Ich habe schon immer davon geträumt, beim Aufbau einer Firma mitzuhelfen, und bin wirklich motiviert. Bitte geben Sie mir eine Chance und lassen Sie mich für EverDream arbeiten!«

Offenbar von diesem unerwarteten Ausbruch überrascht, behält er den Führerschein in der Hand, statt ihn mir zu geben und dreht ihn zwischen den Fingern, betrachtet mich aufmerksam und antwortet: »Um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht, warum du überhaupt auf die E-Mail von Chris geantwortet hast. Es geht hier um den Posten einer Verwaltungsassistentin, weit unter deinen Kompetenzen und Erfahrungen. Was das Gehalt angeht, so können wir dir kaum ein Drittel oder Viertel von dem zahlen, was du wahrscheinlich bis jetzt verdient hast. Du wirst Rechnungen bezahlen und die Bestände der Filzschreiber und des Druckerpapiers verwalten. Was die von Chris erwähnte Buchhaltung angeht, so kennt er den Unterschied zwischen Finanzwesen und Buchhaltung nicht, und ich vermute, die Normen der französischen Buchhaltung kennst du auch nicht …«

Ich schlucke schwer, ziehe nervös an meinem Pferdeschwanz und antworte mit etwas zu viel Schwung, um die Verzweiflung in meiner Stimme zu verbergen: »Ich lerne schnell, und ich weiß, dass es anfangs immer undankbare Aufgaben gibt, aber ich glaube fest an Aufstiegsmöglichkeiten auf lange Sicht.«

»Tut mir leid, es wäre Verschwendung, dich einzustellen, und ich bin gegen die Verschwendung von Talenten.«

Er hält immer noch meinen Führerschein fest und wirft jetzt einen Blick darauf. Er scheint überrascht zu sein.

»Dein vollständiger Familienname lautet Smith-Rivière?«

»Ja, meine Mutter ist Französin, aber ich benutze nur noch den Namen Smith. Ich muss meine Papiere ändern lassen.«

»Aber Smith-Rivière …«, sagt er und runzelt leicht die Stirn, »wie Scarlett Smith-Rivière?«

»Ja …« (Ich lache nervös.) »Nein, keine Verbindung, in Amerika gibt es mehr als zwei Millionen Smiths, und Rivière ist ebenso geläufig in Frankreich, also gibt es statistisch mehrere Tausend Smith-Rivières in Amerika. Und dennoch, trotz aller Wahrscheinlichkeitsrechnungen verfolgt mich diese Frage seit dem Kindergarten.«

Er schweigt eine Weile und mustert mich eingehend mit seinen forschenden blauen Augen. Für meinen Geschmack ist der Mann viel zu schlau. Ich versuche regelmäßig zu atmen, um die Angst zu überspielen, die sie in mir ausgelöst haben.

»Zahlen und Statistiken sind dein Ding, oder? So ähnlich, wie Kulis ordentlich nebeneinanderzulegen?«

Ich zucke die Achseln. Dass er meine Geste bemerkt hatte, wusste ich ja, aber lieber wäre mir gewesen, er hätte sie nicht erwähnt.

»Ich mag Zahlen, da gibt es keine Zweideutigkeiten. Eine mathematische Formel lässt keinen Raum für Zufall, Glück oder Unvorhergesehenes. Keine Enttäuschungen, denn es gibt nur ein mögliches Ergebnis. Zahlen sagen immer die Wahrheit.«

»Im Gegensatz zu Menschen meinst du?«

»Genau.«

Er reicht mir den Führerschein, sein Gesichtsausdruck ist wieder neutral. »Ist schon eigenartig, dass die Wahrheit so wichtig für dich ist, denn ich glaube kaum, dass du wirklich an diesem Job interessiert bist, an deiner Weltreise zweifle ich ebenfalls, und ich finde es auch merkwürdig, dass du plötzlich in eine andere Branche wechseln willst.«