Wir sind alle Geschwister - das Zeichen der Zeit - Kardinal Michael Czerny - E-Book

Wir sind alle Geschwister - das Zeichen der Zeit E-Book

Kardinal Michael Czerny

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Beschreibung

Mit einem Vowort von Papst Franziskus, der Czerny im Frühjahr 2022 zwei Mal als Abgesandten in die Ukraine geschickt hat. Das Buch ist die deutsche Übersetzung der Buchs von Kardinal Michael Czerny SJ über die Soziallehre von Papst Franziskus, das Ende September 2021 im Original erschienen ist und im Dezember 2022 auch in englischer Übersetzung vorliegen wird. Czerny, Vertrauter von Franziskus, stellt die Soziallehre dieses Pontifikats anhand der Enzyklika "Fratelli tutti" kritisch vor und erläutert, was es bedeutet, dass der Papst "von den Rändern der Erde" kommt, um die weitere Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils entscheidend voranzutreiben. Papst Franziskus, der Czerny im Frühjahr 2022 zwei Mal als Abgesandten in die Ukraine geschickt hat, hat das Vorwort geschrieben.

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Kardinal Michael Czerny und Christian Barone

Wir sind alle Geschwister – das Zeichen der Zeit

Die Soziallehre von Papst Franziskus

Mit einem Vorwort von Papst Franziskus

Aus dem Englischen von Ulrich Ruh

© für die deutsche Ausgabe:

Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Originalausgaben:

Fraternità segno dei tempi. Il magistero sociale di Papa Francesco,

Libreria Editrice Vaticana, Rom 2021;

Siblings All, Signs of the Times. The Social Teaching of Pope Francis, Orbis Books, Maryknoll (NY) 2022

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Stefano Spaziani

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein

ISBN Print: 978-3-451-27462-6

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82952-9

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82964

Aus »Fratelli Tutti«

Herr und Vater der Menschheit,

du hast alle Menschen mit gleicher Würde erschaffen.

Gieße den Geist der Geschwisterlichkeit in unsere Herzen ein.

Franziskus, Gebet zum Schöpfer

Inhalt

Vorwort

Einführung

Teil I: Die Soziallehre von Papst Franziskus

1. Eine Lehre, die zur Tradition in Kontinuität steht oder sie bricht?

2. Nach dem Konzil entwickeln sich zwei Zugangsweisen hinsichtlich sozialer Fragen

3. Kriterien für die Unterscheidung: Die »Zeichen der Zeit« lesen

Teil II: Geschwistersein und soziale Freundschaft: Ein »Zeichen der Zeit«

4. Über die Probleme nachdenken, die Ursachen analysieren

5. Die Gegenwart beurteilen: Uns vom Wort Gottes erleuchten lassen

6. Eine offene Welt schaffen: Unterscheiden und Urteilen

7. Eine bessere und offenere Welt aufbauen

8. Kirche und Religionen im Dienst am universalen Aufruf zum Geschwistersein

Schlussbetrachtung

Anhänge

Anhang I

Anhang II

Nachwort

Abkürzungen

Über die Autoren

Vorwort

Papst Franziskus

Herz des Evangeliums ist die Verkündigung des Reiches Gottes in der Person Jesu, des Immanuels, des Gott-ist-mit-uns. In ihm erfüllt Gott seinen Plan der Liebe zur Menschheit, indem er seine Herrschaft über die Geschöpfe verwirklicht und die Saat des göttlichen Lebens in der menschlichen Geschichte ausstreut, sie von innen her verwandelt.

Sicher darf man das Reich Gottes nicht mit einer irdischen oder politischen Errungenschaft gleichsetzen oder verwechseln. Es darf auch nicht als rein innerliche, rein persönliche und spirituelle Wirklichkeit verstanden werden, oder als eine Verheißung, die nur die künftige Welt betreffen würde. Der christliche Glaube lebt im Gegenteil von einem faszinierenden und herausfordernden Paradox, einem Wort, das dem Jesuitentheologen Henri de Lubac sehr wichtig war. Das ist es, was Jesus, auf ewig mit unserem Fleisch verbunden, hier und heute vollbringt, indem er uns für Gott, den Vater, öffnet und uns eine fortwährende Befreiung schenkt, da in ihm das Reich Gottes schon nahe gekommen ist (Mk 1,12–15).

Gleichzeitig bleibt das Reich Gottes eine Verheißung, solange wir in diesem Fleisch existieren, eine tiefe Sehnsucht, die wir in uns tragen, ein Schrei, der sich aus der noch vom Bösen gepeinigten Schöpfung erhebt, die bis zum Tag ihrer umfassenden Befreiung leidet und stöhnt (Röm 8,19–24).

Deshalb ist das von Jesus verkündete Reich eine lebendige und dynamische Wirklichkeit. Es fordert uns zur Bekehrung auf, möchte, dass unser Glaube aus dem Stillstand einer individuellen Religiosität oder aus der Reduktion auf bloßen Legalismus herauskommt. Er will, dass unser Glaube stattdessen zu einer beständigen und ruhelosen Suche nach dem Herrn und seinem Wort wird, das jeden von uns zur Mitarbeit mit dem Handeln Gottes in unterschiedlichen Situationen des Lebens und der Gesellschaft auffordert. Auf verschiedenen Wegen, oft anonym und schweigend, selbst in der Geschichte unserer Misserfolge und unserer Verwundungen, wird das Reich Gottes in unseren Herzen und in den Ereignissen wahr, die sich um uns herum abspielen. Wie ein im Acker verstecktes kleines Senfkorn (Mt 13,31), wie ein wenig Sauerteig, der das Mehl durchsäuert (Mt 13,24–30), bringt Jesus in unsere Lebensgeschichte Zeichen des neuen Lebens. Er ist gekommen, um einen Anfang zu machen, und fordert uns dazu auf, mit ihm bei seinem Erlösungswerk zusammenzuarbeiten. Jeder von uns kann zur Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden beitragen, indem wir Räume der Erlösung und Befreiung auftun, Hoffnung säen, die todbringende Logik des Egoismus mit dem Geist der Geschwisterlichkeit des Evangeliums herausfordern, uns mit Zärtlichkeit und Solidarität für das Wohl unserer Nächsten, vor allem der Ärmsten, einsetzen.

Wir dürfen diese soziale Dimension des christlichen Glaubens nie aus den Augen verlieren. Wie ich in Evangelii Gaudium ausgeführt habe, hat das kerygma der Verkündigung des christlichen Glaubens eine unverzichtbare soziale Dimension. Sie lädt uns dazu ein, eine Gesellschaft zu errichten, in der die Logik der Seligpreisungen die Oberhand hat, in der eine Welt des Geschwisterseins aller und der Solidarität vorherrscht. Der Gott, der Liebe ist, fordert uns in Jesus dazu auf, das Liebesgebot so zu leben, als ob wir alle Geschwister einer einzigen Familie wären; mit ein und derselben Liebe heilt dieser Gott sowohl unsere persönlichen wie gesellschaftlichen Beziehungen, indem er uns dazu aufruft, Friedensstifter und Erbauer von Bruder- und Schwesternschaft untereinander zu sein: »Das Angebot ist das Reich Gottes (Lk 4,43); es geht darum, Gott zu lieben, der in der Welt herrscht. In dem Maß, in dem er unter uns herrschen kann, wird das Gesellschaftsleben für alle ein Raum der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit, des Friedens und der Würde sein. Sowohl die Verkündigung als auch die christliche Erfahrung neigen dazu, soziale Konsequenzen auszulösen« (EG, Nr. 180).

In diesem Sinn sind die Sorge für unsere Mutter Erde und der Aufbau einer solidarischen Gesellschaft als fratelli tutti oder das »Geschwistersein aller« unserem Glauben nicht nur nicht fremd; sie gehören zu seiner konkreten Umsetzung.

Das ist die Grundlage für die Soziallehre der Kirche. Sie ist nicht nur eine bloß soziale Ausweitung des christlichen Glaubens, sondern eine Wirklichkeit mit theologischem Fundament: Gottes Liebe zur Menschheit und sein Liebesplan, mit denen er uns alle als Geschwister umschließt und den er in der Geschichte der Menschen durch Jesus Christus wirklich werden lässt, seinen Sohn, mit dem alle Glaubenden zuinnerst durch den Heiligen Geist verbunden sind.

Ich bin Kardinal Michael Czerny und Frater Christian Barone, Brüdern im Glauben, für ihren Beitrag zum Thema und zur Herausforderung des »Geschwisterseins aller« dankbar. Ich bin auch dankbar dafür, dass sich dieses Buch, das als Hinführung zur Enzyklika Fratelli Tutti gedacht ist, darum bemüht, die tiefe Verbindung zwischen der gegenwärtigen Soziallehre der Kirche und den Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils zu erhellen und deutlich zu machen.

Diese Verbindung wird nicht immer bemerkt, zumindest nicht anfänglich. Ich werde zu erklären versuchen, warum das so ist. Das kirchliche Klima Lateinamerikas, in das ich zunächst als junger Student im Jesuitenorden und dann in meinem Amt eintauchte, hatte die theologischen, ekklesiologischen und spirituellen Einsichten des Konzils enthusiastisch aufgenommen und von ihnen Besitz ergriffen, indem es sie aktualisierte und inkulturierte. Für die Jüngsten von uns wurde das Konzil zum Horizont für unseren Glauben und für unsere Art, zu sprechen und zu handeln. So wurde es rasch zu unserem kirchlichen und pastoralen Ökosystem. Aber wir gewöhnten uns weder das Zitieren von Konzilsdokumenten an noch hatten wir Lust auf spekulatives Nachdenken. Das Konzil hatte einfach in unserer Art des Christseins und des Kircheseins Einzug gehalten – und im Lauf der Zeit entstammten meine Einsichten, Wahrnehmungen und meine Spiritualität schlicht und einfach dem, was das Zweite Vatikanum gelehrt hatte. Da war es nicht notwendig, die Dokumente des Konzils zu zitieren.

Nach vielen Jahrzehnten finden wir uns heute in einer grundlegend veränderten Welt und Kirche vor und es ist vermutlich erforderlich, die Schlüsselvorstellungen des Zweiten Vatikanischen Konzils, seinen theologischen und pastoralen Horizont, seine Themen und Methoden stärker bewusst zu machen.

Im ersten Teil ihres wertvollen Buchs helfen uns Kardinal Michael Czerny und Frater Christian dabei. Sie lesen und deuten die Soziallehre, die für mich charakteristisch ist, indem sie das ans Licht bringen, was irgendwie zwischen den Zeilen versteckt ist – also die Lehre des Konzils als grundlegende Basis und als Ausgangspunkt für meine Einladung an die Kirche und die ganze Welt, die sich im Ideal des »Geschwisterseins aller« ausdrückt. Das ist eines der Zeichen der Zeit, die das Zweite Vatikanum ins Licht rückt, und das, was unsere Welt – unser gemeinsames Haus, in dem wir zum Leben als Geschwister berufen sind – am meisten braucht.

Mit dieser Verbindung kommt ihrem Buch auch das Verdienst zu, in der heutigen Welt die Vorstellung des Konzils von einer offenen Kirche im Dialog mit der modernen Welt neu zu lesen. Im Angesicht der Fragen und Herausforderungen der modernen Welt war das Zweite Vatikanum bemüht, mit dem Atem von Gaudium et Spes zu antworten; aber heute nehmen wir beim Weitergehen des von den Konzilsvätern gewiesenen Wegs wahr, dass es nicht nur einen Dialog der Kirche mit der Welt braucht, sondern dass sie sich vor allem in den Dienst der Menschheit stellt, sich der Schöpfung annimmt und ein neues Schwester- und Brudersein verkündet und umsetzt, in dem menschliche Beziehungen von Egoismus und Gewalt geheilt werden und auf gegenseitiger Liebe, auf Willkommen und Solidarität begründet sind.

Wenn es das ist, was die Welt heute von uns fordert – besonders in einer in hohem Maß von Ungleichgewichten, Unrecht und Ungerechtigkeiten gekennzeichneten Gesellschaft –, dann erkennen wir, dass das auch dem Geist des Konzils entspricht, das uns dazu einlädt, die Zeichen der menschlichen Geschichte zu lesen und auf sie zu hören.

Dieses Buch von Kardinal Michael und Frater Christian hat auch das Verdienst, uns das Nachdenken über die Methodologie der nachkonziliaren Theologie zu ermöglichen – einer historisch-theologisch-pastoralen Methodologie, nach der die Geschichte der Menschen Erscheinungsort von Gottes Offenbarung ist. Hier entwickelt Theologie ihre Orientierung durch Nachdenken und die Pastoral inkarniert Theologie in der kirchlichen und gesellschaftlichen Praxis. Deshalb muss die Lehre eines Papstes immer für die Geschichte aufmerksam sein und braucht sie den Beitrag der Theologie.

Zum Schluss möchte ich Kardinal Czerny dazu beglückwünschen, dass er den jungen Theologen Christian Barone für dieses Werk einbezogen hat. Ihre Zusammenarbeit ist lohnend – die eines Kardinals, der dem Dienst am Heiligen Stuhl verpflichtet ist und eine pastorale Führungsfigur zu sein hat, mit einem jungen Fundamentaltheologen. Das ist ein Beispiel dafür, wie sich Gelehrsamkeit, Nachdenken und kirchliche Erfahrung verbinden können, und es verweist auch auf eine neue Methode: die Zusammenarbeit einer offiziellen und einer jungen Stimme. So sollten wir immer unterwegs sein: das Lehramt, die Theologie, die pastorale Praxis und die offizielle Leitung. Immer gemeinsam. Unsere Beziehungen in der Kirche werden glaubwürdiger, wenn wir damit anfangen, uns alle als Geschwister zu fühlen, fratelli tutti, und unsere jeweiligen Ämter als Dienst am Evangelium, dem Aufbau des Reiches Gottes und der Sorge um unser gemeinsames Haus zu leben.

Sankt Peter zu Rom, 3. Oktober 2021

Erster Jahrestag von Fratelli Tutti

Einführung

Dieses Buch soll zur 2021 veröffentlichten Enzyklika von Papst Franziskus hinführen, die bezeichnenderweise den Titel Fratelli Tutti trägt; in unserer Übersetzung »Alle sind Geschwister«. Bei diesem Vorhaben umreißen wir zunächst die Tätigkeit und die Lehre des Papstes aus Argentinien – er kam nach Rom von der Peripherie, »beinahe vom Ende der Erde«1 –, um seine Kontinuität zu den Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils aufzuzeigen.

Wir werden versuchen, die Elemente herauszuarbeiten, die das »soziale« Lehramt von Papst Franziskus prägen, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben oder apologetisch zu werden.

Zwei einleitende Beobachtungen können für die Kontextualisierung dessen hilfreich sein, was wir im Verlauf dieses Nachdenkens entfalten möchten.

Die erste Grundlage ist dem Text von Dei Verbum entnommen, in dem die Konzilsväter bekräftigen, Gott habe zur Menschheit »in Tat und Wort« (gestis verbisque) (DV 2)gesprochen. Bei der Beschreibung der Heilsökonomie wollten sie die Zirkularität (perichoresis) und die innere Verbindung zwischen dem, was Gott sagt, und dem, was er tut, betonen.

Es ist wichtig festzuhalten, dass sie dem Tun den Vorrang geben wollten, um gleichsam zu betonen, dass es das göttliche Handeln in den Ereignissen der Heilsgeschichte ist, das »die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten« (DV 2)offenbart und bekräftigt.

Dieses hermeneutische Kriterium können wir auf das Pontifikat von Papst Franziskus anwenden. Um sein Lehramt zu verstehen, reicht es nicht aus, sich auf die Ansprachen oder Dokumente zu beziehen, die im Lauf seiner Amtszeit veröffentlicht wurden. Vielmehr braucht es den Blick auf sein Handeln. Denken wir beispielsweise nur an den Besuch von Franziskus bei den Migranten, die auf Lampedusa in klapprigen Fischerbooten oder Schlauchbooten ankamen; an die Begegnung mit den Frauen, die mit Hilfe der Comunità Papa Giovanni ­XXIII aus der Prostitution gerettet wurden; an den Aufenthalt in Thailand, durch den er den Kindern nahe sein wollte, die Opfer des Sextourismus waren; an die zahlreichen Apostolischen Reisen, bei denen er zum »Pilger« in verschiedenen Teilen der Welt wurde; ebenso an die vielen Zeichen der Hoffnung, die er während und seit der COVID-Pandemie und der durch sie ausgelösten Erschütterungen setzte.2

Die konkreten Zeichen und Handlungen, die er seit dem Beginn seines Petrusamts gesetzt hat, veranschaulichen die Worte, die er während dieser Jahre an die Katholiken, an Christen anderer Konfessionen, an Gläubige anderer Religionen, an Glaubende wie an Nichtglaubende und an alle Menschen guten Willens richtete.

Die zweite Grundlage ist allgemeinerer Art und betrifft die Art und Weise, in der die Kirche die Dokumente der Konzilien umsetzte, die sie die Jahrhunderte hindurch abgehalten hat. Die Geschichte lehrt, dass nicht alles, was von einem Konzil dekretiert wurde, in der gleichen Art und zur selben Zeit in kirchliche Praxis umgesetzt wurde. Das lässt sich beispielweise an den vom Zweiten Vatikanum promulgierten Konstitutionen zeigen; die von Sacrosanctum Concilium umrissene Liturgiereform wurde bereitwilliger akzeptiert als die von Lumen Gentium entworfene kirchliche Erneuerung.

In den vergangenen fünfzig Jahren hat sich in der Kirche ein theologisch-pastoraler »Stil« breitgemacht, der – de facto – eine wahrhaft selektive Interpretation des Konzils bedeutete. Das macht deutlich, dass zumindest bis zum heutigen Tag das Zweite Vatikanum nur teilweise umgesetzt wurde und dass noch erhebliche Arbeit geleistet werden muss.3

Wir können einige der grundlegenden Optionen des Lehramtes von Papst Franziskus und sein Insistieren auf bestimmten Elementen des Konzils als den Versuch verstehen, voranzugehen und einen Weg zu finden, auf dem einiges, was unvollendet blieb, verwirklicht werden kann: also jene Dinge umzusetzen, die zwar von den Konzilsdokumenten entworfen, aber noch nicht völlig in die lebendige Erfahrung der Kirche integriert worden sind.

Dazu gehören etwa die zahlreichen Ermahnungen von Franziskus zur Notwendigkeit einer größeren Kollegialität unter den Bischöfen, für eine markantere Stellung der nationalen Bischofskonferenzen und eine Erneuerung der Rolle, die das Papst­amt spielt. Dazu gehören auch seine beharrlichen Bezugnahmen auf unterschiedliche Themen, wie etwa die Bedeutung der Frau, die Rolle der Laien, die vorrangige Option für die Armen, die Gefahren des Klerikalismus und der Schaden, den eine auf Ausgrenzung beruhende Wirtschaft verursacht.

Es geht hier nicht nur darum, sich allgemein auf einige der Ecksteine der Lehre des Konzils zu beziehen, die zu fördern sich Franziskus offensichtlich vorgenommen hat. Wir müssen uns auch Fragen stellen, die tiefer in die Verbindung zwischen der »Kirche, die vorangeht«, wie sie von ihm ausdrücklich angestrebt wird, und dem vom Zweiten Vatikanum entworfenen theologischen Horizont einzudringen versuchen. Welche ­Elemente ermöglichen es uns, Kontinuität in der Lehre festzustellen? Was sind die »unterbrochenen Wege« des Konzils, deren Wiederentdeckung durch die Kirche Franziskus wünscht, ­damit sie heute wieder Schwung gewinnen kann? In welche Richtung versucht Franziskus die Zukunft der Kirche zu lenken?

Zur Beantwortung dieser Fragen kann es hilfreich sein, vier Aspekte des Lehramts von Franziskus in den Vordergrund zu rücken, die nicht nur in der vom Zweiten Vatikanum angestoßenen Transformation tief verwurzelt sind, sondern auch als authentischer Weg zur Interpretation des Konzilsereignisses als solchem dienen können.

Die Pastoral als integrierter Bestandteil, nicht als Ausfluss lehrmäßiger Ausarbeitung

Franziskus hat sich die originellste Einsicht Johannes’ XXIII. zu eigen gemacht, die diesen Papst von der Notwendigkeit überzeugte, ein Konzil einzuberufen: Es ging darum, dem Wohl der Seelen Vorrang einzuräumen, und um die Notwendigkeit, den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen. Anders als jene, die die Pastoral als etwas betrachteten, das aus der lehrmäßigen Formulierung folgte, als wäre es eine praktische Anwendung von durch Deduktion gewonnenen Prinzipien, war für Johannes XXIII. die Pastoral eine konstitutive und innere Dimension der Lehre.4

Diese Überzeugung vertritt auch Papst Franziskus, der bei verschiedenen Anlässen die Notwendigkeit hervorgehoben hat, die »Trennung« zwischen Theologie und Pastoral, zwischen Glaube und Leben zu überwinden.5 Er möchte kein »Lehrer« sein, der die gut begründeten Prinzipien der Lehre nur wiederholt; vielmehr hat sich Franziskus dafür entschieden, die Rolle des »Hirten oder Schäfers« einzunehmen, der seine Herde begleitet und sie zu einer authentischeren Treue gegenüber dem Evangelium führt. Aus diesem Grund hat er seit den ersten Monaten seines Pontifikats die Kirche dazu ermutigt, aus ihrer Beschäftigung mit sich selbst herauszugehen und das selbstbezogene Sprechen aufzugeben, weil sich nur durch das »Hinausgehen und Riskieren« eine konkrete Erfahrung dessen gewinnen lässt, zu dessen Verkündigung sie beauftragt ist.6

Darum steht das Geheimnis der Begegnung mit dem Herrn, wahrer Gott und wahrer Mensch, im Mittelpunkt des Lehramts von Papst Franziskus. Die Wiedergewinnung der kerygmatischen Wesenseigenschaft des Glaubens (EG 164) bewahrt ihn vor jeglicher theoretischen Ausuferung und führt ihn zur Wahrheit jener Beziehung mit Christus zurück, die der ursprünglichen Verkündigung des Evangeliums entspringt. Der Glaube ist keine Ideologie, sondern die konkrete Verbindung mit dem Herrn, die wir eingehen und die uns dazu drängt, anderen zu begegnen.7 Das Entstehen dieser personalen Bindung in der Kirche lässt das Verlangen entstehen, das eigene Leben zu ändern, und ebenso die Entscheidung dafür, freudig Zeugnis für Christi Liebe zur Welt abzulegen.8

In diesem Sinn entfalten sowohl Evangelii Gaudium wie Laudato Si’ das, was Paul VI. schon in Evangelii Nuntiandi bekräftigt hatte. Der Nachdruck auf die Bedeutung der Freude, das Evangelium zu verkünden – indem man darin ein theologisch-pastorales Kriterium erkennt, das kirchliche Entscheidungen genauso betrifft wie den Inhalt jedes evangelisierenden Handelns –, führt die Kirche wieder zur Gründungserfahrung von Ostern zurück.9

Die Kirche als das »Volk Gottes« auf dem Weg zum Heil

Das eindrucksvolle Bild der Kirche als »Volk Gottes«, der Schrift entnommen und von Lumen Gentium erneuert, taucht häufig in der Lehre nachkonziliarer Päpste auf. Franziskus verwendet es allerdings auf seine eigene Weise. Für ihn bedeutet »Volk Gottes«, die Begegnung zwischen dem Evangelium und den Kulturen als weiteres Kriterium anzuerkennen, das das Glaubensleben der gesamten katholischen Kirche in die Wahrheit führt. Die Kirche muss sich durch die gegenwärtige Wirklichkeit herausfordern lassen und die damit verbundenen Schwierigkeiten anerkennen, indem sie eine Antwort des kontextualisierten Glaubens entwickelt, die sie zu einer ständigen Erneuerung führt und ihrer Treue zu Christus Generation für Generation Ausdruck verleiht.10

Würde das nicht geschehen und die Kirche ihr Bewusstsein dafür verlieren, immer in Bewegung zu sein, als eine Wirklichkeit im Werden, würde sie riskieren, eine vorgegebene historische Situation absolut zu setzen und sich in einer bestimmten Form von Kirche einzumauern (forma ecclesiae).

Nur eine Kirche, die sich als einzigartiges Volk Gottes begreift, kann in ihrer Berufung zur Universalität wachsen und für jedermann »Haus des Vaters, mit immer weit geöffneten Türen« und »Mutter mit einem offenen Herzen« sein (EG 36–47; FT 276)

Für Franziskus ist es unumgänglich, das »geistliche Wohlgefallen, Volk zu sein« (EG 268–274), neu zu entdecken, also in der gereiften Sicherheit zu wachsen und mit der richtigen Absicht zu bekennen, dass Gott das Glück aller Menschen will, dass »niemand von der Freude ausgeschlossen [ist], die der Herr uns bringt« (EG 3). In dieser Perspektive kommen die Herausforderungen in den Blick, die der Papst der Kirche in der Welt von heute aufzeigt; sie werden im Einzelnen in Evangelii Gaudium ebenso entfaltet wie im ersten Kapitel von Fratelli Tutti: Individualismus, Wachstum ohne umfassende Entwicklung, die auf Ausschließung basierende Wirtschaft, der Vorrang von Einzelinteressen, Ungleichheit, die zur Gewalt führt, anthropologischer Reduktionismus, das Fehlen eines gemeinsamen Verständnisses dafür, dass wir alle überall Geschwister sind, in universaler Solidarität und sozialer Freundschaft.

Das enge Band zwischen Verkündigung des Evangeliums und sozialer Verpflichtung, zwischen Glaube und Gerechtigkeit, zwischen Freude und Solidarität belegt, wie sehr das Wesen des Christentums in der Nächstenliebe gipfelt. Wir können Gottes größte Wahrheiten der Welt verkünden: Aber ohne jene Liebe, die dem »verwundeten« Nächsten nahe kommt und sich ihm schenkt, wie im Bild des barmherzigen Samariters beschrieben, endet der Glaube auf einer rein theoretischen Ebene. Nächstenliebe ist ein Gegenmittel für jedes Ausweichen ins Gnostische, weil sie nie abstrakt ist.11

Deshalb ist das Verhalten gegenüber den Armen ein weiteres unterscheidendes und entscheidendes Kriterium, mit dem sich die Einheit des Volkes Gottes messen lässt. Dabei geht es nicht nur um die Frage nach der »Hilfe für die Armen«, sondern um die Erkenntnis, dass die Armen Maß für unsere Gleichgestaltung mit Christus sind. Deshalb evangelisieren uns die Armen, fordern sie uns heraus und erinnern uns an die Radikalität der Forderungen des Evangeliums.

Der Begriff Volk Gottes im Lehramt von Franziskus hat zu einer weiteren Entwicklung in der Ekklesiologie auf der Grundlage des Konzils geführt, die als Inkulturation des Glaubens bekannt wurde.12 Einerseits wurde so die enggeführte Identifikation der katholischen Kirche mit der westlichen Kultur wie in Gaudium et Spes13 überwunden, und es ist damit möglich geworden, die Gestalt der Kirche (forma ecclesiae) in Entsprechung zu den trinitarischen Personen wieder als Einheit in Verschiedenheit zu denken. Gleichzeitig ist es eine Tatsache, dass die von der Kirche nach dem Konzil eingeschlagene Richtung von einem gewissen Widerstand beim Umsetzen dieser Ausrichtung geprägt war.

Für Franziskus spiegelt sich die Offenbarung Gottes in jedem Volk wider, wie Licht auf der Oberfläche eines Polyeders (EG 236): Jede kulturelle Identität ist »Fleisch«, in dem das Wort Gottes das Antlitz des Vaters offenbart.14Das Schlussdokument der Pan-Amazonas-Synode hält ohne Umschweife fest, dass es notwendig sei, »jeglichen kolonialistischen Stil von Evangelisierung« zu verwerfen, und dass zur Verkündigung der Frohen Botschaft die Anerkennung gehöre, dass »Samenkörner des Worts schon in den Kulturen vorhanden sind« (55). Franziskus hebt ebenso hervor, Einheit bedeute nicht Einheitlichkeit, sondern eine »vielfältige Harmonie«, die Unterschiede anerkenne und Eigenarten wertschätze, weil »das Ganze größer ist als die Teile, aber auch größer als die Summe der Teile« (FT 78).

Die Sorge um unser »gemeinsames Haus«

Das Thema Bewahrung der Schöpfung ist zwar für das Lehramt der Kirche nicht neu. Dafür stehen sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI. Aber es ist Papst Franziskus, der durch seine Schwerpunktsetzung auf die Umwelt herausragt. Das Zweite Vatikanische Konzil hatte beim Blick auf Umweltthemen schon kritisiert, dass die Menschheit der Gegenwart sich auf die Natur nicht als weise Hüterin beziehe, sondern gedankenlos auf ihren Vorteil bedacht sei, bis dahin, dass ihre Ressourcen reduziert und ihr Gleichgewicht verschoben würden (GS 3). In diesem Sinne sollte man die Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität – es handelt sich um zwei maßgebliche Eckpfeiler der kirchlichen Soziallehre15 – als Grundlage für ein dem Evangelium gemäßes Verständnis des Respekts für die Schöpfung betrachten.

Dennoch bringt Franziskus mit seiner Enzyklika Laudato Si’ etwas Neues in das Panorama der lehramtlichen Dokumente ein. Bis Franziskus hatte man die Umwelt als ein Thema unter vielen innerhalb der kirchlichen Lehre gesehen. Franziskus hingegen entschloss sich dazu, einen langen und komplexen Text ausschließlich dem Thema Umwelt zu widmen, und erkannte damit die unausweichliche und dringliche Relevanz des Problems an.16 Es handelt sich nicht um eine »grüne« Enzyklika, sondern um eine amtliche Lehraussage mit allumfassender gesellschaftlicher Tragweite: Das Schicksal der Schöpfung ist unausweichlich und in gegenseitiger Abhängigkeit mit dem der gesamten Menschheit verbunden.

Die ausdrückliche Absage von Franziskus an die »Wegwerfmentalität«, die eine »Kultur der Verschwendung« hervorbringe und zur Zerstörung der Natur und der Ausbeutung der leichter verwundbaren Menschen und Bevölkerungsgruppen führe, zielt auf die Entstehung eines ökologischen Bewusstseins, das auf der Grundlage der Anerkennung des Wertes der menschlichen Person einen Sinn für Grenzen wiedergewinnt.

Dieses Dokument schlägt nicht nur Alarm, sondern fragt danach, was getan werden kann, um uns zu helfen, »aus der Spirale der Selbstzerstörung herauszukommen, in der wir untergehen« (LS 163).Franziskus verweist auf die Notwendigkeit einer Regierung auf Weltebene, einer Übereinkunft, die gemeinsame Ziele formuliert und Wege fördert, die zusammen zum Wohl aller eingeschlagen werden sollten.17 So steht das von Fratelli Tutti artikulierte Projekt der Geschwisterlichkeit aller und der gesellschaftlichen Verbundenheit, das die von partikularen Ideologien und wirtschaftlichen Interessen aufgerichteten Grenzen überwindet, in Kontinuität zu dem, was schon in Laudato Si’ umrissen wurde, und stellt es ausdrücklich heraus.

Dialog als Weg, Zusammenarbeit als Methode

Im Anschluss an die vom Zweiten Vatikanum im Dekret Unitatis Redintegratio und in der Erklärung Nostra Aetate aufgestellten Leitlinien hat Papst Franziskus einen neuen Impuls für die ökumenische Bewegung und den interreligiösen Dialog gegeben.18 Gemäß diesem Ansatz ist eine starke Identität nicht gleichbedeutend mit Angst vor Begegnung und Dialog; genauso wenig betrachtet sie den Anderen als Feind oder Bedrohung. Andererseits verrät der Wunsch, eine Konfrontation vermeiden zu wollen, oft eine große menschliche Unsicherheit und tiefe Verunsicherung. Wer über solide kulturelle und religiöse Wurzeln verfügt, betrachtet die Möglichkeit zum Dialog mit dem Anderen nicht als Armutszeugnis oder Einschränkung, sondern sieht darin die Möglichkeit zum Wachsen und Reifen im Blick auf den eigenen Sinn für Zugehörigkeit. Das sind die Voraussetzungen, die Papst Franziskus als Grundlage von Fratelli Tutti darlegt, wenn er uns einlädt, anzuerkennen, dass Religionen »in erheblichem Umfang dazu beitragen, Brüderlichkeit aufzubauen und Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu verteidigen« (FT 271).

Im Zusammenhang mit dem interreligiösen und ökumenischen Dialog gehen bei Franziskus die Gesten den Worten voraus und leiten sie.

Als er sich am Tag seiner Wahl dafür entschied, den erkennbar bescheidenen Titel Bischof von Rom zu verwenden, erregte das Aufsehen bei nichtkatholischen Christen, besonders bei den orthodoxen Kirchen. Genauso bezeichnend war die Teilnahme des Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. an der Liturgie, mit der er sein Petrusamt annahm. Es handelte sich wirklich um ein epochales Ereignis, da es zu dieser Einladung keinen Präzedenzfall in der früheren und zeitgenössischen Kirchengeschichte gab. Denken wir auch an die vielen, oft ungeplanten und informellen Besuche, die Franziskus während seiner Reisen machte: dem bei den Repräsentanten der Waldenserkirche in Turin, denen er sein Bedauern über ihre in Italien erlittenen Verfolgungen zum Ausdruck brachte; dem bei den Pfingstchristen in Caserta, mit deren Pastor er herzliche und freundschaftliche Beziehungen schon vor seiner Wahl zum Papst entwickelt hatte; denken wir an das Treffen in Abu Dhabi mit Großimam Ayatollah Al-Tayyeb im Jahr 2019 und den Besuch im Irak beim Großayatollah Ali Al-Husaymi Al-Sistani im Jahr 2021. Für den Papst geht es nicht nur darum, andere besser kennenlernen zu können, sondern darum, wahrzunehmen, was der Geist in ihnen als Gabe auch an uns ausgesät hat (EG 246).

Das Lehramt von Papst Franziskus lässt seine Weisheit und seinen Mut hervortreten, den Schwerpunkt auf den kontextuellen Aspekt der Wahrheit zu legen. Er betont auf eine neue Weise die »Zeichen der Zeit« und unterstreicht die »Bedeutung der Wirklichkeit« bei der Verkündigung des Evangeliums. Das ermöglicht der Kirche, sich auf ein Neudenken ihres lehramtlichen Auftretens hinzubewegen, wodurch sie die unterschiedlichen Identitäten, die sie ausmachen, besser respektieren und für die von anderen Religionen gezeigte Sensibilität aufmerksamer sein könnte. Es geht nicht darum, den gewohnten Anspruch des Lehramts auf Universalität einzuschränken, sondern darum, ihn auf andere Art und Weise zu verstehen.

Im Vergleich mit seinen beiden unmittelbaren Vorgängern zeigt Papst Franziskus ein ausgeprägteres geschichtliches Bewusstsein für das Fortschreiten bestimmter säkularer Prozesse. Indem er nicht nur auf die Verwandlung der Gesellschaft aufmerksam macht, die stattgefunden hat, vermag er eine Vision für Kirche und Katholizismus zu entwerfen, die eine größere Konsistenz mit der geschichtlichen Wirklichkeit aufweist. Der Verzicht auf den Kampf gegen die Windmühlen der Moderne ist unerlässlich, wenn die Kirche eine erneuerte Treue zum Evangelium in der Welt von heute zeigen und ihren Beitrag zu den großen gesellschaftlichen Fragen leisten soll.

Indem es mehr auf die Zukunft von Kirche und Menschheit als auf die Vergangenheit blickt, zeichnet sich das Lehramt von Franziskus durch eine dynamische Kraft aus, die alarmierend und verwirrend sein kann. In seiner beständigen Aufmerksamkeit für die Armen, Migranten und die Leidenden aller Art hat man Franziskus oft missverstanden und ihm vorgeworfen, er bevorzuge die soziale gegenüber der transzendenten Dimension des Glaubens. In Wirklichkeit scheinen seine Appelle von einer tiefgehenden und eschatologischen Spannung angetrieben zu sein. Er ist fest davon überzeugt, dass wir »am Ende unseres Lebens gemäß der Liebe beurteilt werden, also gemäß unserem konkreten Einsatz dafür, Jesus in unseren kleinsten und hilfsbedürftigsten Brüdern und Schwestern zu lieben und ihnen zu dienen.«19 Christus im Angesicht der Armen zu erkennen, das heißt, die Begegnung mit unserem auferstandenen Herrn von Angesicht zu Angesicht zu erwarten.

1 Papst Franziskus, Erster Gruß des Heiligen Vaters Papst Franziskus (13. März, 2013).

2 Papst Franziskus, »Warum habt ihr Angst? Habt ihr keinen Glauben?« Statio Orbis, 27. März 2020, Our Sunday Visitor, 2021.

3 Vgl. G. Lorizio, »Magistero scomodo: Vaticano II e papa Francesco«, in: Dialoghi 2 (2019), 9–14.

4 Vgl. G. Ruggieri, »Appunti per una teologia in Papa Roncalli«, in: Papa Giovanni; G. Alberigo (Hg.) Rom–Bari 1987, 245–271; vgl. R. Citrini, »A proposito dell’indole pastorale del Magistero«, in: Teologia XV (1990) 130–149; vgl. G. Alberigo, »Critères herméneutiques pour une histoire de Vatican II«, in: A la veille du concile Vatican II. Vota et reactions en Europe et dans le catholicisme oriental, M. Lamberigst u. C. Soeten (Hg.), Löwen 1992, 12–23.

5 Wie der Heilige Vater selber festhielt: »Einer der wichtigsten Beiträge des Zweiten Vatikanischen Konzils war genau die Suche nach einem Weg zur Überwindung jener Spaltung zwischen Theologie und Pastoral, zwischen Glaube und Leben. Ich wage die Aussage, dass das Konzil auf bestimmte Weise den Status der Theologie revolutioniert hat – den Weg, wie Gläubige handeln und denken. Ich kann nicht die Worte Johannes’ XXIII. vergessen, der in seiner Botschaft zur Eröffnung des Konzils sagte: ›Die Substanz der alten Lehre des depositum fidei ist eine Sache, und die Art, wie sie präsentiert wird, ist eine andere‹« (Videobotschaft von Papst Franziskus an die Teilnehmer eines Internationalen Theologischen Kongresses an der Päpstlichen Katholischen Universität von Argentinien, Buenos Aires 1.–3. September 2015).

6 Vgl. G. Costa, »La gioia del Vangelo: il segreto di papa Francesco«, in: Aggiornamenti sociali 65 (2014), 5–11.

7 Vgl. M. Martini, »Il seme, il lievito, piccolo gregge«, in: La Civiltà Cattolica 1 (1999), 3–14.

8 Vgl. A. Spadaro, »Evangelii Gaudium. Radici, struttura e significato della prima Esortazione apostolica di papa Francesco«, in: La Civiltà Cattolica 164 (2013), 417–423.

9 Vgl. G. Benzi, »Il dinamismo dell’evangelizzazione: parola di Dio, annuncio, testimonio«, in: M. Tagliaferri u.a., Teologia dell’evangelizzazione: Fondamenti e modelli a confronto, Bologna 2014, 61–77.

10 Vgl. G. E. Rusconi, La teologia narrativa di papa Francesco, Bari–Rom 2019, 89–90.

11 Vgl. G. Guccini, Papa Franceso e la mondanità spirituale: una parola per consacrati e laici, Bologna 2016.

12 Vgl. J. Scannone, »L’inculturazione nell’Evangelii Gaudium: chiavi di lettura«, in: Evangelii Gaudium: il testo ci interroga. Chiavi di lettura, testimonianze e prospettive; H. M. Yánez (Hg.), Rom 2014, 159–170.

13 Wir können folgende Aussage in GS 42 anführen: »Da sie weiterhin kraft ihrer Sendung und Natur an keine besondere Form menschlicher Kultur und an kein besonderes politisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches System gebunden ist, kann die Kirche kraft dieser ihrer Universalität ein ganz enges Band zwischen den verschiedenen menschlichen Gemeinschaften und Nationen bilden. Nur müssen diese ihr Vertrauen schenken und ihr wahre Freiheit zur Erfüllung dieser ihrer Sendung ehrlich zuerkennen.«

14 Vgl. S. Noceti, Chiesa, casa comune. Dal sinodo per l’Amazzonia una parola profetica, Bologna 2020.

15 Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Vatikan 2004, Nr. 160, 187.

16 Vgl, Abiterai la terra. Commento all’Enciclica ›Laudato Si’‹ con il testo integrale di papa Francesco, G. Notarstefano (Hg.), Rom 2015.

17 Der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden hat schon in einer Note von 2011 aus Anlass des G20-Treffens in Cannes vorgeschlagen, eine globale Autorität zu errichten, die in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip in der Hilfe für die am stärksten benachteiligten Länder tätig sein sollte, um eine Wirtschafts- und Finanzpolitik zu gewährleisten, die ethischen und nachhaltigen Kriterien entspricht. Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Note über die »Reform des internationalen Finanzsystems im Blick auf eine allgemeine öffentliche Autorität« (24. Oktober 2011).

18 Vgl. W. Kasper, »Papa Francesco e le sfide dell’ecumenismo«, in: Il Cristianesimo al tempo di Francesco, Bari–Rom 2019, 15–36.

19 Papst Franziskus, Angelus am Christkönigsfest (26. November 2017).

Teil I Die Soziallehre von Papst Franziskus

1. Eine Lehre, die zur Tradition in Kontinuität steht oder sie bricht?

Evangelii Gaudium bietet eine Synthese – es handelt sich auch um eine Elementarisierung – der Soziallehre der Kirche unter Berücksichtigung der Verkündigung des Reiches Gottes.20 Dieser neue und entscheidende Wendepunkt hat mit dem Verständnis der sozialen Dimension der Sendung der Kirche zu tun. Mit Evangelii Gaudium ist diese soziale Dimension nicht mehr eine Hinzufügung zum Evangelium – als wäre sie einfach eine spätere Phase gemäß dem Merksatz »das Sein geht dem Handeln voraus/das Handeln folgt aus dem Sein« (operari sequitur esse).Vielmehr ist diese soziale Dimension die innere Wirklichkeit des Evangeliums und gehört zu dessen innerstem Wesen. Das lässt sich an der folgenden dichten Textstelle aus Evangelii Gaudium ablesen:

»Das Kerygma besitzt einen unausweichlich sozialen Inhalt: Im Mittelpunkt des Evangeliums selbst stehen das Gemeinschaftsleben und die Verpflichtung gegenüber den anderen. Der Inhalt der Erstverkündigung hat eine unmittelbare sittliche Auswirkung, deren Kern die Liebe ist.« (EG 177)

Das Wesen der Soziallehre der Kirche findet sich im »eigentlichen Herzen des Evangeliums«. Wenn das Reich Gottes verkündigt wird, zeigt sich diese soziale Dimension als eine Entscheidung dafür, in Gemeinschaft zusammenzuleben und im Dienst an den anderen konkret engagiert zu sein. Mit anderen Worten: Das kerygmatische oder missionarische Tun der Kirche ereignet sich draußen, weil es vom »Herzen des Evangeliums« zum »Herzen des Volkes« führt (EG 273).

Das macht deutlich, dass es sich bei der Verkündigung und bei der Aufnahme des Evangeliums nicht um zwei verschiedene und voneinander getrennte Phasen handelt, sondern dass sie sich zusammen als ein einziges Ereignis vollziehen, das Bande der geschwisterlichen Liebe entstehen lässt(EG 179; 161). Das Evangelium zu verkünden und Beziehungen der Nächstenliebe und Sorge zu schaffen, sind nicht getrennte Unternehmungen, sondern ein und dasselbe.

Papst Franziskus erklärt, wie sehr unser Mangel an Aufmerksamkeit für die Armen und unsere Zurückhaltung gegenüber dem Ausdruck sichtbarer Solidarität mit unseren Nächsten mit unserer Schwierigkeit zu tun haben, eine authentische Beziehung des Dialogs und der Vertrautheit mit Gott aufzubauen (EG 187). Hier zeigt sich ein bestimmtes Prinzip der Korrespondenz zwischen der Authentizität unserer Beziehung zu Gott und unserer Sorge um unsere Mitgeschöpfe. Dieses Prinzip der Korrespondenz leitet uns in unseren alltäglichen Verpflichtungen und bietet ein Kriterium, mit dessen Hilfe wir unsere Entscheidungen in den Bereichen von Wirtschaft, Politik, Umwelt und Technologie bewerten können.

Die Vorrangstellung der »unausweichlichen sozialen Dimension« des Kerygmas, gemäß Evangelii Gaudium, hat viel Kritik derer hervorgerufen, die darin Diskontinuität zur amtlichen Lehre früherer Päpste in Bezug auf die Soziallehre der Kirche sehen. Besonders wird die Aussage von Papst Franziskus kritisiert, wonach »weder der Papst noch die Kirche das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit oder für einen Vorschlag zur Lösung der gegenwärtigen Probleme« besäßen (EG 184).

Das führt zu dem Einwand, der prophetische Stil von Papst Franziskus weiche von dem stärker ausgewogenen Ton ab, den das vorherige Lehramt pflegte. Als Beispiel dafür dient die harte Anklage von Franziskus gegen die Fehlgriffe, die sich die »Konsumgesellschaft« besonders im wirtschaftlichen Bereich zum Schaden der Menschheit zuschulden kommen lässt. So wirft man Franziskus vor, er verlasse die epistemologische Grundlage der kirchlichen Soziallehre und sei durch seine Akzentsetzung auf das »Gemeinwohl« auf Kosten der »Rechte der Individuen« unausgewogen.

Man kritisiert Papst Franziskus auch dafür, dass er die Unvollkommenheiten und Fehler der Sozialordnung nicht systematisch auf die Wirklichkeit der menschlichen Sünde zurückführe. Das könnte als offensichtlicher Bruch mit der Tradition betrachtet werden, wie sie im Kompendium der Soziallehre der Kirche festgeschrieben wurde.21 Man könnte die von Evangelii Gaudium angewandte Hermeneutik sozialer Phänomene auch als fehlende Berücksichtigung der herkömmlichen Verfahren der kirchlichen Soziallehre deuten sowie als Etablierung eines abstrakten Inhalts – mittels der vier am sozialen Zusammenleben orientierten Unterscheidungskriterien (EG 221) –, der den Grundsätzen der kirchlichen Soziallehre »fremd« sei.22

Diese Bedenken angesichts des sozialen Lehramts von Franziskus scheinen zu der jahrhundertealten Debatte über die Frage der Methode in der Theologie zurückzuführen. Wir müssen uns mit diesem Problem befassen und eine spezielle Frage stellen: Hat Papst Franziskus eine »neue« Methode eingeführt oder steht sein Lehramt in Kontinuität zur vorausgegangenen Tradition?

Für eine Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, die historische Tiefe des Themas sichtbar zu machen, um zu zeigen, wie in der jüngeren Entwicklung der kirchlichen Soziallehre zwei unterschiedliche Vorgehensweisen entstanden sind. Im ersten Teil dieses Buchs werden wir den Unterschied und die Koexistenz dieser beiden verschiedenen Perspektiven zu erklären versuchen, indem wir uns auf den Ausdruck beziehen, der sich mit der Zeit als genuin für den Stil des Zweiten Vatikanischen Konzils erwiesen hat: Die Zeichen der Zeit. Die Verwendung dieses Ausdrucks im lehramtlichen Nachdenken nach dem Konzil wird es gleichsam als Lackmustest möglich machen, das unterschiedliche Profil dieser zwei verschiedenen Methoden herauszuarbeiten.

Ein neues theologisches Paradigma: Das Zweite Vatikanum und die Übernahme von Verantwortung im Blick auf Welt und Geschichte

Am 20. November 1962, während der ersten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanums, wurden die Konzilsväter zur Abstimmung darüber aufgerufen, ob sie das vorbereitende Schema »Über die Quellen der Offenbarung« (De Fontibus Revelationis) als Grundlage für ihre Diskussion über die Quellen der göttlichen Offenbarung akzeptieren wollten. Ergebnis dieser Abstimmung war die Zurückweisung des Schemas,23 und die Diskussion in der Versammlung wurde vertagt, um Zeit für die Formulierung eines neuen Entwurfs zu haben. Es war klar: Was dabei entstand, würde das Ergebnis des Konzils entscheidend prägen.24 Das war offensichtlich kein isolierter Vorgang. Letztlich erhoben die Konzilsväter Einwände in Bezug auf fast alle von den Vorbereitungskommissionen erarbeiteten Dokumente (ihre Koordination lag in den Händen von Kardinal Alfredo Ottaviani).25

In der Versammlung der Konzilsväter, bei Bischöfen verschiedener Herkunft, Bildung und kulturellem Hintergrund, war – sowohl individuell als auch kollektiv – das Bewusstsein für die Bedeutung der Rolle entstanden, zu der sie berufen waren, um die Kirche zu dem lange erwarteten aggiornamento nach dem Wunsch von Papst Johannes XXIII. zu führen.26

Wie oft in Momenten des Übergangs spürten die Konzilsväter, was abzulehnen war, noch bevor sie sich über die neuen Elemente klar wurden, die definiert werden mussten.27 So machten sie ihre Hoffnung deutlich, indem sie ein theologisches Paradigma verabschiedeten, das sie für das extrem ungeschichtlich gewordene Selbstverständnis der Kirche als unpassend erachteten. Stattdessen suchten sie nach einer anderen Art, den Glauben auszusagen, die direkter und zugänglicher zur Menschheit und zur gegenwärtigen Welt sprechen sollte.28

Schrittweise wurde den Konzilsvätern klar, dass für die Aufgabe, die Lehre auf »pastorale« Weise neu zu verstehen, das Verhältnis zwischen der Kirche und der Gegenwart von zentraler Bedeutung war. Der wichtigste Beitrag, den das Konzil für die Kirche des 20. Jahrhunderts leisten konnte, bestand in der Wiederentdeckung ihres eigenen Wesens als Volk Gottes, das durch Zeit und Geschichte unterwegs ist, um Wort und Eucharistie versammelt, damit es, freier von menschlichen Bedingtheiten, seinen eigenen entscheidenden Beitrag zum Fortschritt der Menschheit leisten kann.

Schon von seinen ersten Entscheidungen an kehrte das Zweite Vatikanum die Richtung und Orientierung um, die das Verhalten der Kirche gegenüber der Moderne mehr als vier Jahrhunderte lang geprägt hatten. Dieser Kurswechsel sollte die reaktionäre Mentalität überwinden, die Katholiken in einem resignativen Zustand des Opferseins eingeschlossen hatte, und das Ende der sogenannten korporativen Rolle oder der Herrschaft der »Christenheit« bedeuten.

Es war indes für die Kirche unumgänglich, die Last der Auseinandersetzung mit den großen sozialen Veränderungen seit dem Zweiten Weltkrieg auf sich zu nehmen, und, wie in Pacem in Terris beschrieben, zu lernen, ihre Bedeutung in der Verwirklichung des Reiches Gottes zu erkennen. Nachdem sie über das Wesen der Kirche in der Dogmatischen Konstitution Lumen Gentium nachgedacht hatten, die herausstellte, was ihre Identität im Blick auf die »Welt« unterschied und differenzierte, waren die Konzilsväter dazu aufgerufen, über die Art und Weise nachzudenken, in der die Kirche zu den wichtigsten Gegenwartsproblemen Stellung nehmen sollte, um sich als »Sakrament der Erlösung« für die Menschheit zu erweisen. Die Kirche sollte ihren eigenen Weg der Nachfolge Christi (sequela Christi) mitten in den Gegensätzen der gegenwärtigen Geschichte verfolgen und ihre eigene Bindung oder Treue zum Evangelium durch die aktuellen Ereignisse im menschlichen Zusammenleben suchen – und nicht trotz ihrer. So würde die Kirche ihr gemeinschaftliches Wesen passenderweise nicht durch ihre Selbstabschließung in ressentimentgeladener Selbstverteidigung ausdrücken, sondern indem sie ihren Platz an der Seite der Völker der Erde einnehmen würde.

Aus diesen Gründen gab es ein starkes Interesse an der Entstehung von Gaudium et Spes, der Pastoralkonstitution, mit der das Zweite Vatikanum unter Beweis stellen würde, dass es die Kirche in den Dialog mit der Menschheit hineinführen kann.29 Da Gaudium et Spes als einziges Dokument ausschließlich während der Sitzungsperioden des Konzils erarbeitet wurde, waren die Erwartungen an den Text so groß, dass Yves Congar ihn in einem Radiointerview als das »gelobte Land des Konzils« bezeichnete.30

Die komplizierte Geschichte von Schema XIII zeigt, dass die Anfangsstadien von Gaudium et Spes in die erste Sitzungsperiode des Konzils im Herbst 1962 zurückreichten. Es erlebte acht weitere Revisionen durch verschiedene Kommissionen, und es konnte erst in der letzten Arbeitssitzung des Konzils am 6. Dezember 1965 darüber abgestimmt werden. Es wurde am nächsten Tag während der neunten öffentlichen Sitzung gebilligt, wobei es 2309 Jastimmen und 75 Neinstimmen erhielt. Tatsächlich war Gaudium et Spes