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Auf der Suche nach dem Originalklang Nilolaus Harnoncourt begann sich schon sehr früh mit der Alten Musik, ihrer Spielweise und dem Klang alter Instrumente zu beschäftigen. 1953 gründete er mit seiner Frau Alice und weiteren Musikern den berühmten Concentus Musicus, um seiner Arbeit mit Originalinstrumenten und der musikalischen Aufführungspraxis von Renaissance- und Barockmusik ein Forum zu geben. Erst nach vier Jahren wagte der Concentus Musicus den Schritt an die Öffentlichkeit. Alice Harnoncourt hat die unveröffentlichten Tagebucheinträge und Notizen ihres Mannes gesammelt, die von seinen Recherchen auf den Spuren der Originalklänge erzählen. Es ist eine spannende und unterhaltsame Reise, in der Harnoncourt viel vollbringen musste, um sich an den Originalklang heranzuhören.
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Seitenzahl: 309
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Nikolaus Harnoncourt
Aufzeichnungen zur Entstehungdes Concentus Musicus
Herausgegeben von Alice Harnoncourt
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Grafische Gestaltung / Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Thomas Lederer
ISBN ePub:
978 3 7017 4564 7
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 3428 3
Vorwort
Erinnerungen
Essays
Die Instrumente des Concentus Musicus
Die Notenschrift als Graphik
Matthäuspassion in Wien unter Karl Richter
Aus der Vierteljahresschrift der Gesellschaft radikaler Musikwissenschaftler
Menschen und Instrumente
Warum Originalinstrumente?
Überlegungen und Empfindungen eines Musikers
Kritik
Instrumentengeschichten
Die Baßfiedel von Stefanus de Fantis
Die Kuh und das Pardessus de Viole
Die Trompetenkomödie
Die Posaunentragödie
Der Kontrabaß aus dem »Do it yourself«-Baukasten
Die Viola d’amore
Die Tenor Viola da Gamba
Die Traversière
Ein Musiker-Original
Unsere Kinder haben das Entstehen des Concentus Musicus noch ganz selbstverständlich miterlebt, war es doch total verwoben mit unserem Familienleben, ihrem Aufwachsen. Nicht so bei den Enkeln. Doch je älter sie wurden und je weiter die Gründungszeit des Concentus entfernt lag, umso mehr hat auch ihr Interesse an unserer musikalischen Vergangenheit zugenommen. Unser Enkel Arthur hat die Initiative ergriffen und uns eindringlich gebeten, seine, unsere Geschichte aufzuschreiben. Meinem Mann hat diese Idee sehr gefallen, und daraus ist ein zeitgeschichtlich umfassendes, gut recherchiertes, aber sehr privates Buch über die Geschichte der Familie Harnoncourt geworden, in dem natürlich auch der Concentus Musicus vorkommt.
Ich habe überrascht bemerkt, wie wenig sogar unsere Kollegen über die Zeiten des ›Urconcentus‹ wissen – kein Wunder, es ist ja schon sehr lange her. So entstand die Idee, unter Einbeziehung dieser Familienchronik auch eine authentische Chronik des Concentus Musicus niederzuschreiben. Glücklicherweise haben mein Mann und ich daran gemeinsam gearbeitet, solange er konnte, und dafür einen Rahmen gefunden. Mein Mann hat immer gerne schriftlich verarbeitet, worüber er gegrübelt hatte, und es gibt eine Menge Aufzeichnungen und Notizen in unseren alljährlichen Familienalben – nicht nur über unsere Kinder und unsere Bergtouren, sondern auch über sehr Persönliches und natürlich auch über Musik und den Concentus, unser gemeinsames Lebenswerk.
Mein Mann hat 1987 nach dem Ende einer großen Deutschlandtournee – wie immer in unserer Concentus-›Reisebesetzung‹ mit ihm am Barockcello – sein Cello in die Ecke gestellt und nur noch einmal, zum 50-Jahr-Fest des Concentus, in die Hand genommen: für die eine Note in Purcells Gambenfantasie Upon one note. Er hat über seine Entscheidung kein Wort verloren und nie etwas dazu geschrieben … Er hatte schon bisher viele unserer Konzerte und Aufnahmen in größer besetzten Opern, Oratorien oder Bach-Kantaten nicht mehr vom Cello aus geleitet, sondern dirigiert, aber es begann doch ein großer neuer Abschnitt in der Geschichte des Ensembles. Der weitere Weg ist sehr gut dokumentiert, daher nehme ich dieses Ereignis als Endpunkt dieses Buches.
Nicht enthalten ist eine Aufzählung unserer vielen Programme, der Konzertdaten, unserer interessanten Kooperationen mit verschiedenen Institutionen, der ungezählten Preise, die wir für viele unserer zahlreichen Aufnahmen bekommen haben. Dies sollte an anderer Stelle ausführlich und genau dokumentiert werden.
Warum muß ich so oft der ›Anführer‹ sein? Dauernd etwas erfinden und entwerfen, um es in den Sommerferien am Brandhof zu machen? Perpetuum mobile mit Wasser und mit Hebeln – das war mir dann zu kompliziert, ich hab schon geahnt, daß das nicht gehen kann wegen dem Luftwiderstand und wegen der Reibung. Dann hab ich lieber Schmetterlinge in großen Gläsern gezüchtet. Aber wirklich gereizt hat mich das Unmögliche, weil ich immer geglaubt habe, daß es doch möglich ist. Ich habe immer Parteien gegründet, so lange, bis ich gezwungen wurde, dabeizusein, und da ging es dann ums Entkommen. ›Gefolgsmann‹ konnte ich nicht sein. Es gab keine Regeln, die ich anerkennen wollte. Sind so alle Menschen – oder alle Kinder? Dann wurde ich vielleicht zum permanenten Kind.
Mit 14 bis 16 Jahren wurde die Musik immer wichtiger für mich. Da hatte ich die ersten Katastrophen meines gedachten Lebensweges hinter mir: Bildhauerei, Marionetten, Schauspielerei … Die Erholung kam immer wieder vom Cello; da konnte ich mich spalten und mit mir selbst diskutieren und die Verzweiflungen besänftigen. Ich bemerkte auch – wohl sehr spät –, daß es verschiedene Arten von Musik gab, daß sich die musikalische Sprache zusammen mit den Baustilen und mit der Geschichte der Lebensweise veränderte.
So platzte ich 1948 als Fremdkörper in die Wiener »Akademie für Musik und darstellende Kunst«. Ein Fremder unter Fremden. Die Schaeftleins (Liesl und Jürg) waren schon da und lernten Flöte und Oboe. Die kamen aus einer alten Südmark-Lehrer- und Richter-Familie, wo die ›reine‹ Musik seit jeher – so schien es mir – ›gepflegt‹ wurde. Blockflötenquartett, Bärenreiter-Verlag, Nagels Musik-Archiv, alles ganz rein und deutsch. »Bärenreiter druckt wieder«, war Vater Schaeftleins Spruch, mit dem er die Kriegszeit als abgeschlossen bezeichnete. – In Wien halfen mir die beiden und machten mich mit den ›wichtigen‹ Leuten bekannt: mit Eduard Melkus, dem Konzertmeister des Akademieorchesters und bewunderten Star, mit Prof. Josef Mertin, der zwar eine skurrile Figur war, aber merkwürdige musikalische Beziehungen aus der Vorkriegszeit hatte. Seine Klasse an der Akademie hieß »Collegium musicum«, war ein Pflichtfach, aber es ging nur ein kleiner Kreis von immer denselben Studenten hin, die, offiziell unter seiner Leitung und faktisch selbständig, Werke aus Barock und Vorbarock ausgruben, bei ihm probten und sie dann, von ihm grotesk erklärt, in den sogenannten »Albertina-Konzerten«, die an Mertins Klasse hingen, spielten.
Diese Konzerte veranstaltete zwar der Direktor der Albertina, Otto Benesch, aber wer sie eigentlich verantwortete, wußte man wohl nur im Ministerium. Da gingen ein paar hundert Leute hin, von Mertins Charme hingerissen, vielleicht hörten sie auch etwas von der Musik. Gelegentlich wurde dort eine Bach-Kantate gespielt, Mertin sang auch – wenn man das so nennen will – und Traude Skladal und Maja Weis-Ostborn; entsprechende oder, wie der Direktor meinte, dazu passende Bilder wurden jeweils ausgestellt.
Mertin besaß eine Gambe von Coletti, ein merkwürdiges Ding in Cello-Mensur, 1925 in Wien gebaut. Als er erfuhr, daß ich schnitze, wollte er einen Löwenkopf aus der Schnecke geschnitzt haben. Ich hab eine ganze Nacht in Edi Melkus’ Wohnung daran gearbeitet, am Morgen bin ich direkt in die Werkstatt von Ilse Pompe-Niederführ, weil ich für den letzten Schliff richtige Arbeitsbedingungen brauchte. So wurde diese typische ›Cello-Gambe‹ wenigstens optisch einer richtigen Gambe ähnlich.
Ich war damals, 1950, schon mit Edi Melkus befreundet und fix in seinem Mittwoch-Musizierkreis. In der Wohnung seiner Eltern in der Oberen Donaustraße trafen sich Musiker und theologischphilosophisch Interessierte – wer dort etabliert war, durfte jemanden mitbringen. Edi bestimmte, was gespielt wurde und wer spielen darf.
Überraschenderweise waren da auch Jürg und Liesl Schaeftlein und tonangebend zwei sehr mystische Brüder Bultmann, die eine ostkirchliche Religiosität verkörperten. Alice war auch dort, Peter Stummer spielte Klavier. Plötzlich waren da für uns viele neue Komponistennamen, deren Stücke mit »Reinheit« und »Tiefe« erklärt wurden; die meisten von ihnen waren kurz, ein paar Minuten lang. In der Akademiebibliothek gab’s alles, was je gedruckt und aus alter Notenschrift transkribiert worden war – Namen wie Orlando di Lasso, Josquin Desprez, Johannes Ockeghem, Heinrich Isaac, Heinrich Schütz, Matthew Locke, Guillaume Dufay, Pérotin, Jacob Obrecht, Henry Purcell, Giovanni Pierluigi da Palestrina, Johann Friedrich Fasch waren für uns wie Geheimnisse aus Mertins Schatztruhe. Wir wunderten uns über die entstehenden, nie gehörten Klänge und waren immer wieder verzaubert und fasziniert. Edi Melkus, der die vorbachische Musik sehr intensiv von der religiösen Seite sah, brachte stapelweise solche Noten in seine Mittwochrunden.
Da tauchte unversehens ein großer Plan auf, wer ihn ausheckte, Mertin oder Edi Melkus, weiß ich nicht: Bachs Kunst der Fuge zu spielen. Dafür probierten wir verschiedene Instrumente aus, mit Darmsaiten natürlich (damals spielten auf der Akademie alle Geiger auf Stahl-E-Saiten und viele auch auf Stahl-A-Saiten); es war dann meine Aufgabe, die Instrumente zu besaiten, die Stege zu justieren, aber trotz aller Mühen funktionierte es nicht richtig, die Klänge vermischten sich zu sehr, es klang fast wie ein klassisches Streichquartett. Dann nahm ich die Coletti-Gambe Mertins, wir liehen uns umgebaute Violen d’amore für die Mittelstimmen. Schließlich besorgte uns mein Bruder René, der gerade als frischgebackener Kapellmeister vom Mozarteum die Musikschule in Liezen leitete, ein Diskantinstrument, das er »Quinton« nannte. Die Besitzerin borgte es uns für das Projekt. Nach vielem Herumwechseln fanden wir eine ständige Besetzung und probten zweimal wöchentlich in der Akademie, bei Edi Melkus oder bei mir im Schottenhof: 1. Stimme Alfred Altenburger (Quinton), 2. Stimme Alice Hoffelner, 3. Stimme Edi. Edi und Alice spielten auf den Violen d’amore, die Mertin in Heiligenkreuz aufgegabelt hatte und die ich mit Phantasieköpfen versehen hatte, und ich die Coletti-Gambe. Das gab schon tolle Klänge, und wir entdeckten Farbmischungen, die für moderne Streicher unerreichbar waren. Die Probenarbeit wurde immer länger, und wir schoben das geplante Albertina-Konzert immer weiter hinaus, weil wir eine Art Vollkommenheit suchten. Schließlich, am 17. März 1950, wagten wir uns aufs Podium. Das war für uns ein großer Auftritt, mit begeisterten Kritikern. Man hatte so etwas in Wien noch nie gehört: sowohl diese Musik Bachs als auch eine derart durchgeformte Interpretation. – Wir spielten die Kunst der Fuge in dieser Form auch in Graz und schließlich im Rittersaal der Salzburger Residenz bei den dortigen Festspielen. So bekam, vor allem angestoßen durch Mertin und Edi Melkus, mein Musikstudium ein zweites Geleise. Warnungen, daß dadurch das Hauptstudium danebengehen könnte, zählten nicht – ich war der Musik verfallen, der ganzen europäischen Musik. Das übertönte gewaltig meine angeborene Existenzangst.
Was hat der Schicksalshauch oder -sturm für unerkannte Raffinessen einsetzen müssen, damit wir wurden, wie wir sind, welche Begegnungen arrangieren! Für mich war es einer meiner Cellolehrer, Paul Grümmer (26. Februar 1879 in Gera bis 30. Oktober 1965 in Zug). Er war Schüler von Julius Klengel und Hugo Becker (die bedeutendsten Cello-Pädagogen Ende des 19. Jahrhunderts), Cellist im sagenhaften Busch-Quartett, Lehrer in Wien und ab 1946 in Zürich. Für mich hatte er den schönsten Cello-Ton, den ich je gehört habe. Als er im Frühjahr 1945 als Flüchtling auf der Eselsbachfarm oberhalb von Aussee lebte, hatte ich bei ihm Unterricht.
Hier muß ich, angeregt durch Grümmer, etwas über Streicherklang sagen, über die verschiedenen Richtungen des Violinspiels, des Cellospiels, des Orchesterklanges seit 1900, als Gustav Mahler die Wiener Philharmoniker übernahm mit ihrer Tradition, die sich über Generationen von Musikerfamilien seit Schubert und Beethoven gebildet hatte. War das, was ich bei Grümmer lernte, Wienerisch? – Später, als ich im großen Wiener Orchester saß (ab 1952), erkannte man die Unterschiede: die Buxbaum-Schüler spielten anders als die Grümmer-Schüler – und beide berichteten vom einmaligen Ton des großen Cellisten und Komponisten Franz Schmidt. Dieser Unterschied muß so eklatant gewesen sein, daß Mahler die Cellosoli unbedingt von Schmidt gespielt haben wollte (und eben nicht von Buxbaum – beide waren Solocellisten in der Staatsoper). Schmidt spielte, wie man erzählte, »engelhaft« schön, ohne oder mit minimalem Vibrato; der Kölner Grümmer legte, wie sein Quartett-Primarius Adolf Busch (meines Erachtens der bedeutendste Geiger des 20. Jahrhunderts), den größten Wert auf einen fast ansatzfreien, sozusagen entstehenden Ton mit zartem, flexiblen Vibrato; und die Buxbaum-Nachfolger spielten heftig vibrierend und intensiv.
Ähnlich die verschiedenen Geiger um 1950 – besonders die Brüder Schneiderhan: Wolfgang galt mit seinem picksüßen, fast kitschigschmalzigen Ton geradezu als Leitfigur des »Wiener Klangs« (wir jungen Musiker fanden das bei aller Perfektion billig und provinziell), während sein genialer Bruder Walter eine solche Spielweise verachtete und mit schwebendem, phantasievollen Ton geigte, vergleichbar mit Busch und Grümmer (leider war er ein Alkoholiker).
Ich habe sie, außer Buxbaum und Schmidt, alle gehört. Die international berühmten Gaspar Cassado und Enrico Mainardi hatten absolut nichts mit der »Wiener Fragestellung« zu tun. Dem Mainardi habe ich in der Wohnung von Baron Otto Mayr vorspielen dürfen, ja er begleitete mich bei Brahms’ e-Moll-Sonate am Klavier, dann wollte er noch einen Solo-Bach hören. Ich spielte das C-Dur-Präludium, sehr wild: »Was für Stricharten sind das denn?« – »Die improvisiere ich spontan.« Da warf er ein Weinglas um und sagte: »Dann wird es Ihnen einmal so ergehen.«
Ein Erlebnis mit Prof. Emanuel Brabec gehört wohl hierher: eines Tages sagte er: »Jetzt müssen wir aber auch Bach spielen« (er selbst galt als besonders guter Bach-Spieler). Also spielte ich ihm irgendeine der Allemanden vor – er war erstaunt und überrascht, dann sagte er: »Das lassen wir im Unterricht weg, Sie spielen das ja ganz anders; da will ich nichts dran herumdoktern.« Das fand ich einfach großartig von ihm.
Zu meiner Studienzeit 1948–1952 konnte man das berühmte Tosca-Solo, ein Maßstab für diese Problematik, in der Volksoper von Wilhelm Winkler makellos und eiskalt hören (Sicherheit, kaum Lagenwechsel, alles mit Daumenaufsatz), ähnlich spielte Hans Czegka, der Cellist des Rothschild-Quartetts; ganz anders in der Staatsoper Richard Krotschak (Schüler von Buxbaum / Grümmer) und Emanuel Brabec (Schüler des Tschechen Karel Sádlo). Wo war nun der gepriesene Wiener Klang? Am ehesten bei Brabec, der ja auch über Schmidt tschechoslowakisch-ungarische Wurzeln hören ließ.
Auch die ›süßen‹ Geiger und die Techniker (Wolfgang Schneiderhan, Walter Barylli etc.) gingen ähnlich getrennte Wege wie die Klang- und Ausdrucks-Magier (Walter Schneiderhan, Adolf Busch etc.), die wir kritischen Jungen viel höher schätzten. – Der wahre Wiener Streicherklang ist wohl vorwiegend böhmischen Ursprungs, so wie ihn Dvořák hörte, als er seine Symphonien schrieb, und die ›Deutschen‹ Busch und Grümmer waren wohl in Wahrheit ›Böhmen‹.
Natürlich spielen die Saiten (Darm oder Stahl) eine große Rolle für den Klang. Man bedenke: Eine Stahl-Violin-E-Saite hat etwa 9 Kilogramm Zug, während die Darmsaite zweieinhalb bis höchstens 3 Kilogramm hat (je nach Dichte). Was das für die Instrumente bedeutet, die das aushalten müssen, kann man sich vorstellen. Die Witwe von Franz Schalk, der ich etwa 1948/49 begegnet bin, erzählte mir voll Leidenschaft, ihr Mann habe während seiner Direktionszeit (von 1919 bis 1929, teilweise gemeinsam mit Richard Strauss) striktest auf Darm-E-Saiten bestanden – wegen des Klanges. Strauss dürfte das egal gewesen sein, der mochte ja nicht einmal die »Wiener Oboe«.
Bei Alice war es anders. Lizzi (so hieß sie, bis sie 18 Jahre alt war) lernte leicht und spielte sehr früh und gerne Klavier und war schon sehr gut und selbstbewußt – das war in den 30er Jahren –, da hörte sie im Konzerthaus Walter Barylli das Tschaikowsky-Violinkonzert spielen! Eine starke Reaktion: »Ich brauche eine Geige!« Das geht dann sehr schnell voran, kaum ist sie zehn Jahre alt, steckt man sie in die Rundfunkspielschar der HJ, Argentinierstraße. Im Gymnasium trifft sie auf Hedi Gulda, die große Schwester des kleinen Fritzi-Teufels. Die Guldas wollen zu Hause Klaviertrio spielen, »oba ned so fad, wia olle glaum«. Die Lizzi fängt Feuer, und der Vater kommt nicht mit mit dem Cello: »Spiel nicht immer so schnell, Fritzi. I kumm net mit!! Und für die Lizzi is auch zu schnell« – »Mir ist’s nicht zu schnell.« Da hat’s gefunkt in der Marxergasse: Mozart, Schubert, Beethoven im Wiener Dialekt in wildem Tohuwabohu … Hie und da bekam sie ihr gewidmete Notenblättchen von Fritzi, schrieb »gestohlen« drauf und gab sie zurück.
Lizzi studierte dann an der Wiener Musikakademie bei Gottfried Feist, von 1945 bis 1948 bei Theodor Müller am Mozarteum in Salzburg, und als die Eltern wieder nach Wien in ihre bis dahin besetzte Wohnung ziehen konnten, bei Ernst Moravec an der Akademie.
Lizzi war im April 1949 vier Wochen in England, um bei Tibor Varga die ihr entsprechenden geigerischen Anregungen zu bekommen. Zurückgekommen, wollte sie ab dann Alice genannt werden. Es war wohl nicht nur der Name allein, obwohl schon so ein streng durchgezogener Namenswechsel eine sehr starke Willensbekundung ist.
Im Frühjahr 1950 bemühte sich Alice um ein Stipendium für Paris zu Jacques Thibaud, das sie zum Ärger ihres Lehrers Ernst Moravec gewann. Sie hatte heftig gekämpft darum, mit Vorsprachen beim Institut Français und sehr abweisenden Ministerialräten, aber es gelang. Eine sehr große Chance. Alice nützt sie in vielen Richtungen: natürlich Geige mit vollem Einsatz. Thibaud verlangte, fast erwartungsgemäß, einen totalen Neubeginn, schickte sie für die elementaren Sachen zu seinem Assistenten Jean Fournier. Der intrigierte, auch erwartungsgemäß, gegen den Meister. Zu lernen gab’s trotzdem genug: sehr interessante Violin-Kollegen im Unterricht – und weil sie die gesamte Weltelite (unter anderem Ginette Neveu) im Konzert hören konnte. Sie ging praktisch täglich in irgendeine Veranstaltung, hörte sinnlos-zackiges Gedudel vom berühmten Stuttgarter Kammerorchester und inspirierendes Geigenspiel von George Enescu und sah tolle Theateraufführungen. Alice suchte Trödler und Geigenbauer auf nach alten Instrumenten für unsere Zukunftsphantasien. Es gelang ihr, hochinteressante Instrumente zu finden: eine italienische Tenorgambe aus Brescia, dendrologisch auf 1530 datiert, und ein Pardessus de Viole von Guersan – zwei ganz wichtige, aufregende Instrumente.
In der Bibliothèque nationale hat sie unglaublich viele Noten für Literatur des Alte-Musik-Repertoires abgeschrieben – Mikrofilme waren uns damals noch nicht zugänglich. Bei einem Paris-Besuch im Winter (ich hatte eine Spanientournee des sogenannten »Wiener Kammerorchesters« benutzt, um auf der Rückfahrt Alice zu besuchen) gingen wir einen langen Tag in die Nationalbibliothek und stöberten in den riesigen Karteien. Wir fanden jede Menge unveröffentlichte, aber wirklich interessante Werke (z. B. Estienne du Tertre, Danceries).
Gegen Ende meines Paris-Besuches gab es ein Gastspiel der Wiener Philharmoniker in der Salle Gaveau; Clemens Krauss dirigierte. Wir hörten uns natürlich die Einspielprobe an. Eine Katze spazierte auf der Balustrade und lenkte das Orchester ab, sehr lustig. Wir begrüßten Prof. Brabec, und als er erfuhr, daß Alice perfekt Französisch sprach, lud er uns in ein böhmisches Beisl zum Essen ein. Es gab natürlich »knedlíky«, Brabec war wie zu Hause. Dann gingen wir mit ihm in die Warenhäuser Lafayette, Monoprix und andere. Er kaufte verschiedene Parfums für seine Frau – mich verwendeten sie als Duftpolster; der Zweck war erreicht, außer für mich, dessen Unterarme dufteten für den Rest der Woche.
Aus heutiger Sicht kommen mir diese Wiener Studienjahre sehr merkwürdig vor. Mein Hauptfach Cello bei Prof. Brabec mußte zügig betrieben werden, um möglichst bald in ein Orchester zu gelangen, als Lebensstelle. Das war das ›Studium‹, das man von mir erwartete. Dazu kamen aber, ungeplant, neue musikalische Leidenschaften. Ich war zu einer Art ständigem Gast bei den Geigenbauern Tröstler und Kaltenbrunner geworden, immer auf der Suche nach besseren Bögen und Instrumenten. Nach und nach kannten mich die Wiener Geigenmacher; bald entstand eine engere, fast freundschaftliche Beziehung zu Josef Krenn, der seine Werkstatt in der Schadekgasse hatte. 1951 fuhr ich immer wieder nach Herzogenburg, um eine Gambenruine, die ich dort am Dachboden ausgegraben hatte, für mich loszueisen. Die »Precheisn« war dann ab 26. Mai meine erste und wunderbare eigene Gambe; das konnte man damals aber nicht sehen: es war eine Ruine, fast alle Leimstellen waren aufgegangen. Das ganze Ding total verschmutzt und mit Kot bespritzt. Aber in meiner Phantasie war sie so wunderbar, wie sie durch Meister Josef Krenns Hand dann (am 4. März 1952) tatsächlich wurde.
Woher nahm ich das Geld für all diese Unternehmungen? Offenbar von den vielen Gelegenheiten, Unterhaltungsmusik für die Besatzungstruppen – besonders Amerikaner und Russen – zu spielen. Einmal sogar bei einem Fest für die Amis im Zögernitz (August 1949)! Dieses Casino wurde Jahre später das wichtigste Aufnahmestudio für uns. Ich spielte auch in den Salonkapellen von Karl Loube (Holoubek) und Erwin Halletz (»Der Schleier fiel von meinen Augen«). Beim »Wiener Opernstudio« gab’s eine Hollandtournee mit Figaros Hochzeit und Fledermaus. Da sammelten der junge Walter Berry und Waldemar Kmentt ihre ersten Erfahrungen.
Neben den Instrumenten war natürlich die Musik selbst zu entdecken. Es war eine gänzlich andere, für mich neue Literatur, die sich da unwiderstehlich eindrängte. Die Beschäftigung mit Musik von Pérotin bis Bach und die intensive Probenarbeit mit dem Gambenquartett (Kunst der Fuge) hat sehr viel Zeit beansprucht. Ich war überzeugt, daß aus unserer ansteckenden Leidenschaft ein professionelles Ensemble entstehen wird und daß die Musikwelt dringend so etwas braucht.
Was trieb uns an, diese Nebenwege des Violin- und Cellostudiums so intensiv und zeitaufwendig zu beschreiten? Was wollten wir damals damit erreichen? Irgendeine Sicherheit muß uns getragen haben, das Richtige zu tun, nicht vom Weg abzukommen. In den Ferien in Grundlsee spielten wir fast jeden Abend Beethoven-Cellosonaten (Alice am Klavier wird wohl an ihre Kammermusikzeit vor ein paar Jahren gedacht haben mit dem phantastischen Fritzi Gulda am Klavier), wir sangen mit meinen Geschwistern alte Sachen von Dufay, Josquin und anderen, die uns und die Zuhörer begeisterten, die aber mein Vater, ein Erzmusiker, vollkommen uninteressant fand – wozu brauchen die das? Haben wir ein falsches Berufsziel? Wozu studieren wir tatsächlich Geige und Cello als Lebensinhalt? Gibt’s ein richtiges Studium, das mit unseren Interessen in Einklang steht? Eher nicht. Ich möchte mir lieber aus dem Akademie-Angebot mein Idealstudium zusammenstellen. Es gibt ja keine Institutionen für die frühen Sachen, und wir wollen uns auch nicht spezialisieren, weder für das Übliche noch für Mittelalter und Barock. Drängt es uns womöglich in die Musikwissenschaft, von der wir überhaupt nichts wissen? Es packt uns wie ein vorgezeichneter, aber total ungeplanter Weg, ja fast wie eine Lawine, die alles mit sich reißt.
Im Herbst 1951 macht Mertin mit uns für die tschechische »Supraphon« eine Aufnahme der sechs Brandenburgischen Konzerte von Bach, solistisch besetzt. Was haben wir da wohl zusammengespielt! Ich erinnere mich an ein wunderschönes Blockflötenduo (Liesl und Jürg Schaeftlein) im 4. Brandenburgischen, Edi Melkus spielte wohl das Violinsolo und ich das Continuo-Cello. Man schien zufrieden gewesen zu sein, denn wir wurden bezahlt.
In den Sommerferien spielten viele der Studenten im Kurorchester Bad Gastein. Dieser Kurort war weltberühmt mit seinen mondänen Angeboten und Promenaden. Die noblen Geschäfte hatten dort Filialen. Erstrangige Künstler wie Wilhelm Backhaus, Paul Grümmer oder Yehudi Menuhin und andere spielten gerne mit dem renommierten Kurorchester ihre Solokonzerte, wofür sie statt eines Honorars eine Woche Kuraufenthalt ›verdienten‹. Die Sommersaison in Bad Gastein war sowohl lehrreich als auch lukrativ, aber sehr anstrengend. Der Dirigent (Hans Schneider) hatte diktatorische Gewalt, und die Musiker mußten ein Riesenrepertoire aus Konzert und Oper ohne Proben vom Blatt spielen. Eine echte philharmonische Vorschule und meist sehr schön und philharmonisch klingend. Edi Melkus, Alice und schließlich auch ich spielten dort.
Wie konnte man das erfinden? Man konnte es nicht, es ist nach und nach entstanden: wenn drei oder vier Menschen miteinander singen konnten, jeder seinen eigenen Part. Die mehrstimmige Musik ist ja eines der Wunder des Abendlandes – nun konnten auch auf drei oder vier Instrumenten diese verwobenen Stimmen gespielt werden, ohne Worte; oder vermittelten die neuen Klänge womöglich auch einen neuen Sinn, gar eine neue Sprache? Wie auf einer Palette des Malers die Farben gemischt und lasierend übereinandergelegt werden, so mischte man jetzt Klänge (»jetzt«, das sind natürlich einige Jahrhunderte): Streichinstrumente aller Art, große Baßgeigen, kleine Geigen, Flöten, Schalmeien und Oboen, Hörner, Trompeten und Posaunen – und all die Pauken, Trommeln, Triangeln, Zimbeln … und immer noch mehr Instrumente drängten da hinein. Orpheus hatte noch allein gespielt auf seiner Lyra und die Steine und die Tiere zu Tränen bewegt, und David spielte allein auf seiner Harfe und zähmte den Wahnsinn Sauls. – Viele Generationen, unendlich viele Experimente führten schließlich zum Orchester, einer Klangwundermaschine aus Menschen und Musikinstrumenten; man kann es fast nicht glauben, daß Musiker, die ja von Natur aus Individualisten sind, die ihren persönlichen Klang schaffen wollen, nun ihre Phantasie dem großen Kollektiv zuwenden, der Verschmelzung von Klängen, der Entdeckung und Erfindung neuer Farben und Farbkombinationen; fast alle Komponisten waren zeitweise Mitglieder solcher Orchester, sie nahmen selbst aktiv Anteil am Entstehen der vielen, vielen Möglichkeiten, und sie kannten und verstanden das komplizierte Wesen des Orchesters: jeder gute Musiker hat einen ausgeprägten Gestaltungswillen, ist im Grunde Solist und muß es sein – im Orchester vereinen sich all diese Individualitäten, jeder bringt seine ganze Persönlichkeit, seine volle Künstlerschaft und ordnet sie zugleich einem – rätselhaften – Gesamtwillen unter. So hat jedes große Orchester auch ohne Dirigent eine unverwechselbare Persönlichkeit; natürlich bildeten sich in Wien, Prag, Paris etc. verschiedene nationale Klangideale. Es ist die Aufgabe des Dirigenten, der ja heutzutage kein Orchestermitglied ist, seine Vorstellung der Werkgestaltung mit der Gesamtpersönlichkeit des Orchesterkollektivs in Einklang zu bringen. Manchmal gelingt dies, obwohl es nahezu unvorstellbar ist, daß 80 oder hundert Musikerpersönlichkeiten – von denen jede eine Idealvorstellung des Werkes hat – in eine gemeinsame Richtung gehen können.
In Wien gab es zu meiner Studienzeit zwei bedeutende Orchester: die Wiener Philharmoniker (im Hauptberuf das Orchester der Wiener Staatsoper) und die Wiener Symphoniker. Die Philharmoniker spielten in der Oper unter vielen Dirigenten, die von der Direktion ausgewählt wurden; auch der »Generalmusikdirektor« der Oper (in Wien hieß der natürlich nicht so, nur »Chef«) wurde vom Kulturminister bestellt. Um auch Konzerte spielen zu können, gründeten die Staatsopernmusiker ihren Privatverein »Wiener Philharmoniker«. Für ihre eigenen »Philharmonischen« Konzerte wählen sie die Dirigenten selbst.
Die Wiener Symphoniker hatten damals Herbert von Karajan als Chef. – Ich war oft in der Oper und in Konzerten und hörte und sah, wie die Orchester als Gesamtheit und die einzelnen Musiker die Probleme lösten und wie unterschiedlich die Dirigenten an ihre Aufgabe herangingen: großartig als Musiker und zugleich maßlos eitel mit geölten Mähnen, die kunstvoll geworfen wurden, oder bescheiden hinter dem Werk zurücktretend oder (besonders die Ungarn) auf geradezu peinlicher, ja ›eckiger‹ Präzision bestehend – und leider allzu viele: konzeptlos, bedeutungslos, routiniert.
Es waren selbstverständlich reine Männerorchester. Die Nazis hatten 1940 das »Frauensymphonieorchester« gegründet; da waren einige ältere Philharmonikerfrauen tätig und vazierende Solistinnen, die so zu einem Minimaleinkommen kamen. Die wollten natürlich nach Kriegsende weitermachen, nannten sich »Wiener Kammerorchester« und ließen sich vom Mann der Solocellistin, Franz Litschauer (er war Bankbeamter), dirigieren. Das war jetzt eigentlich ein Tourneeorchester der Marke »Wien« und spielte vorwiegend in Italien, Spanien, Schweden, aber auch in Marokko (Marrakesch) und Algier. Bald brauchten sie zusätzliche Musiker, notfalls auch Männer, vor allem Bläser, und gaben tollen Solisten wie zum Beispiel Alfred (Ali) Brendel ihre ersten Chancen. Alice und ich spielten da auch mit, wenn Bedarf war und wir Zeit hatten, wie auch Alfred Altenburger und Lutz Matzenauer. Echte Engagements gab’s dort nicht. Die Tourneen waren per Bus (!), damals meist auf Sandstraßen, ca. alle fünf Stunden blieb der Bus mitten in der Gegend stehen. Da hieß es: »Männer rechts – Frauen links.«
Die alten spanischen Städte wie Salamanca, Valladolid, Santiago de Compostela, León waren schon sehr eindrucksvoll und die Konzerte nicht schlecht. Danach hatten wir Autogramme zu geben – ich nur Blödsinn: Pepo Poblatsch und so. Ali entpuppte sich als Weincoach, und wir schwärmten für »Logroño Diamante«. – Diese ca. vierwöchigen Tourneen konnte man irgendwie ins Studium einschieben, und es gab ein bißchen Geld.
Meine ersten Erfahrungen im Wiener Orchesterleben waren nicht ermutigend: mein Lehrer, Emanuel Brabec, Solocellist der Wiener Philharmoniker, sagte eines Tages beim Unterricht: »Heute spielst du für mich Salome. Geh eine Stunde früher hin und schau dir die Noten an. Böhm dirigiert, der mag keine fremden Gesichter. Ich hab ihm gesagt, du bist mein bester Schüler und kennst das Stück in- und auswendig.« – Ich gehe also ins Theater an der Wien (die verbombte Staatsoper war ja noch nicht wieder aufgebaut) und versuche in der kleinen Orchestergarderobe meinen Part (5. Cello) zu spielen … es ist unmöglich! Um das zu üben, brauche ich mindestens zwei Wochen; ich weiß auch nicht, was wichtig ist und wo man sich drüberschwindeln kann, ich hatte diese Oper tatsächlich noch nie gehört; außerdem hatte ich noch nie in einem großen Orchester gespielt. – Angstschweiß. Kurz vor Beginn kommt der Cellist Rudolf Mayr, ein Freund meines Lehrers, hört und sieht mich: »Kinderl, was machen S’ denn da? Das ist doch alles unwichtig … Da hinten, schaun S’, da spielen S’ die leere C-Saite allein am 5. Cello. Stimmen Sie’s gut ein, da hörn alle zu.« Der Alptraum beginnt – es wird finster im Saal. Karl Böhm kommt und zuckt undefinierbar mit dem Oberkörper herum, ein paar Handbewegungen, auch eher hektisch zuckend, ich weiß nie, wo die Eins ist … schwimme irgendwie im Strom mit … das leere C gelingt – ich bin akzeptiert und spiele jetzt öfter: Zauberflöte, Tannhäuser etc. – Übrigens, ich bekam keinen Groschen für über hundertmal Einspringen für meinen Lehrer! – Also gut, die Zauberflöte (wird vom Orchester ungern gespielt) könnte ich wahrscheinlich tausendmal spielen, beim Tannhäuser denke ich schon beim sechsten Mal: »Es genügt eigentlich, da kann ich nichts Neues mehr erfahren, es wird mit jedem Mal banaler.« Ein ganzes Leben lang Oper zu spielen, manche Puccinis oder Rossinis vielleicht tausendmal – das kann nicht mein Lebenszweck sein. So beschließe ich, es im Symphonieorchester zu versuchen.
1948. Der Musikstudent ist wie jeder Konzertbesucher fasziniert von der Autorität des kleinen, drahtigen Dirigenten. Aber wieso nennt er sich »von«, wo doch der Adel in Österreich 1918 abgeschafft worden war? Man sagt, er habe, um den wohlklingenden Namen behalten und nutzen zu dürfen, die Staatsbürgerschaft von Tanger angenommen. »Herbert Karajan« klingt ja lächerlich! Tamda Tamda – unmöglich; »Herbert von Karajan« – das ist Musik! Da klingt ja schon der Name wie ein feierliches Gedicht: Tamdada Tamdadaa – alles andere ist unmöglich. – Später lerne ich den faszinierenden Mann näher kennen; er ist Chef der Wiener Symphoniker, und dort Cellist zu werden, ist jetzt mein Berufsziel, da ich, wie gesagt, kein Opernorchestermusiker werden will. Das Probespiel, öffentlich mit ca. 250 Zuhörern im Kammersaal des Musikvereins im Herbst 1952, war ein Gemetzel – 30 oder 40 wollten die Stelle haben. – Werde ich überhaupt spielen können? Werden sie meine Angst sehen oder gar hören? Brabec wollte nicht, daß ich hingehe: »Du bist noch nicht dran, vielleicht in zwei Jahren.« Ich wollte aber unbedingt, es war wohl eine prinzipielle Entscheidung für meine Zukunft: bin ich überhaupt geeignet für diesen Beruf, wenn es wirklich ernst wird? Kann ich das Lampenfieber in Schach halten, die Angst? In den Garderoberäumen wimmelt es, viele kommen von weiß Gott wo, fiedelten herum, ich auch mit kalten Händen, bis ich aufgerufen wurde. Ich sprang auf und ging, merkwürdig ruhig, mit meiner Pianistin (Alice begleitete mich: Dvořák-Konzert) aufs Podium, sah Herrn von Karajan und die Konzertmeister und Stimmführer am ›Gerichtstisch‹ sitzen. Als ich mich setzte, hörte ich ihn in seiner charakteristischen Murmelsprache: »Wie sich der schon hinsetzt, den nehm ich …« Sie ließen mich ungewöhnlich lang spielen, Karajan ließ mich einige Stellen wiederholen, »so laut als möglich«, und gleich darauf »so leise als möglich«. – Tatsächlich bekam ich die Stelle und ihn zum Chef. Ein Engel hat mich geführt.
Wie hart dieses Gemetzel war, kann man aus den Berufswegen der Enttäuschten erkennen – es war ja allen bewußt, daß in den nächsten 15 Jahren keine Cello-Stelle in Wien frei wird. So hatten die meisten, auch wir, Ausschau gehalten nach Alternativen: Johannesburg (war unser Plan B), aber auch Innsbruck oder Klagenfurt. Lutz Matzenauer ging auf zehn Jahre nach Bogotá, Ernst Knava, der praktisch schon im Orchester quasi angestellt war, wurde weggeschickt und ging auf drei Jahre nach Porto Alegre, er mußte Platz frei machen für Hermann Höbarth, dessen scharf und wie nebenher mit steinerner Miene gespielter Don Juan Karajan so beeindruckte, daß er ihn auch engagierte. Ich war überglücklich, in Wien bleiben zu können, und auch, den großen Karajan als Chef zu haben.
Die Jahre (ab September 1952) mit Karajan waren ein einziges großes Erlebnis – mit zwei gewaltigen Seiten: positiv und negativ. Schon das Probenritual war besonders: Minuten vorher ein Durcheinanderspielen, -üben, -herumdudeln … da erscheint lautlos, fast schleichend, Herr von Mattoni (Karajans Sekretär) im tadellosen Anzug, alles frisch gebügelt, und sagt leise, devot und autoritär aus einer Eaude-Cologne-Wolke: »Der Herr von Karajan.« Augenblicklich wird es still, und Karajan federt herein – seine Kleidung mitleiderregend: ungebügelte, zu enge Hosen, ungepflegter, oft ausgefranster, manchmal löchriger Pullover (ich bin ganz sicher, alles bewußt kalkuliert: der Betreuungsinstinkt der bewundernden Frauen sollte auf die Spitze getrieben werden) – aber andrerseits: die Haare! Jeden September mit Spannung erwartet: Wie ist es heuer?? Glatt nach hinten mit Pomade, senkrecht nach oben und leicht gebogen etc. etc., jedes Haar wußte, wo es hingehört, und natürlich das vorderste Schöpfchen halbkreisförmig nach vorne gebogen, toll. Und die Uhr auf der Innenseite des Armes, ein paar jovial gemurmelte Begrüßungsworte, ein scharfer, alles umfassender Blick aus (wie mir schien) gelben Augen, und die Probe begann: sehr gut vorbereitet, gezielt auf bestimmte Schlüsselstellen hin. Ich hatte das Glück, bei seinem ersten Beethovenzyklus mitwirken zu dürfen. Da erlebte ich diese bekannten Werke neu, als hätte ich sie nie gehört. Wild und dynamisch, viel ähnlicher der fabelhaften Interpretation Toscaninis als der des in Wien allgemein als Richtschnur betrachteten Furtwängler. Manches probte er überhaupt nicht, manches mit unendlicher Geduld noch und noch. Einmal schickte er das ganze Orchester nach Hause und probte nur mit uns Cellisten den Anfang des langsamen Satzes der 5. Symphonie. Ich war total begeistert. Seine Probenarbeit war äußerst wirksam, und dies für mich oft unerklärlich: er unterbrach, erklärte uns, wie er es haben wollte, aber niemand konnte seinem grummelnden, fast knurrenden Murmeln Worte entnehmen – trotzdem schien jeder verstanden zu haben. – Dieser Beethovenzyklus gehört für mich zu den größten und bleibenden Eindrücken, ebenso wie die wiederholten Aufführungen der Requiems von Mozart, Brahms und Verdi.
Karajan durfte damals wegen seiner Nazi-Vergangenheit nicht in der Staatsoper dirigieren. Um zu demonstrieren, wie unverzichtbar er als Operndirigent sei, machte er mit uns konzertante Aufführungen von Carmen und Fidelio im Musikverein. – Diese Fidelio-Aufführung, die wir auch in Zürich wiederholten, fand ich grandios. Karajan liebte damals leichte, junge Stimmen, die er oft dort einsetzte, wo schwere, ›heldische‹ Stimmen erwartet wurden – weil sie im Opernbetrieb üblich waren. So sang der junge Nicolai Gedda den Florestan und Elisabeth Schwarzkopf die Leonore. Eine sensationell untypische Besetzung; als ich ca. 30 Jahre später Elisabeth Schwarzkopf bewundernd darauf ansprach: »Sie haben die eindrucksvollste Leonore gesungen, die ich je gehört habe!«, antwortete sie: »Ich habe diese Partie nie gesungen.« Davon ging sie auch nicht ab, als ich erklärte, ich sei bei allen Aufführungen zwei Meter hinter ihr im Orchester gesessen. Es war eben nicht ihr ›Fach‹, basta.
Neben diesen künstlerischen Erlebnissen konnten wir auch viele persönliche Eigenheiten beobachten, witzige, komische und beängstigende. Technisches Spielzeug konnte Karajan faszinieren, und wenn etwa der Bratschist Karl Trötzmüller ihm vor der Probe ein Spielzeugauto aufs Pult legte, konnte es passieren, daß er die ersten 20 Minuten damit lustvoll und selbstvergessen am Boden hockend spielte, vor schweigend grinsenden Musikern; dies war umso bemerkenswerter, als es bei ihm keine Zufälle zu geben schien, alles war genauestens kalkuliert und notfalls geprobt. Er war der einzige Dirigent, der die gefürchtete Treppe im Amsterdamer Concertgebouw ›übte‹: links – rechts – zwei – eins – Wechselschritt.
Auch sein Dirigieren war kalkuliert und auf höchst professionelle Wirksamkeit hin eingeübt. Es verlangt eine irgendwie tänzerische Bewegung, und die studierte Karajan – sagte man – in Privatstunden beim damals berühmtesten Tanzsolisten Harald Kreutzberg. Selbst die Bewältigung von ›Schmissen‹ war – genial – konzipiert (oder sollte das wirklich spontan gewesen sein?): tieftraurig, mit kaum sichtbaren Bewegungen der Beginn des Mozart-Requiems, die Seufzer der Streicher, dann das 1. Fagott, das 2. Bassetthorn, dann das 1. … irgendwie klang’s jetzt fremd, der hatte um zwei Viertel zu spät eingesetzt, man fühlt, gleich wird’s richtig falsch, irreparabel. Karajan winkt ab, sein Gesicht wird hart, er macht eine halbe, herrische Drehung zum Publikum, das erschauert – waren wir nicht still genug? Unwürdig? So konnte er nochmals beginnen für ein schuldbewußt-devotes Publikum.
Ein besonderes Kapitel waren die Konzertreisen. Oft per Bahn, da hatte er ein Coupé mit seiner damaligen Gattin Anita und ließ sich gelegentlich den oben erwähnten Trötzmüller kommen, um dessen Kartenkunststücke zu sehen und zu durchschauen – da er dies nicht konnte, gab’s jedes Mal leichten Ärger. Oder dann die »Europareise« mit der VW-Bus-Kolonne (sechs Musiker pro Bus), Karajan mit einem Sportwagen von Mercedes. Einer durfte mitfahren, der saß dann abends bleich und grün im Orchester, wir lachten – und zum lautesten Lacher: »Sie fahren morgen mit mir.« Er hatte etwas von einem Rennfahrer. – Natürlich wird bei diesen langen Reisen der Ton lockerer, fast freundschaftlich, es gibt Sportgespräche, der Abstand wird geringer, die Disziplin lockert sich. »Sie, spielen Sie mal diese Stelle, ja, Sie, jetzt.« Den Geiger am 3. Pult hat es erwischt. Davor fürchten sich alle Tuttisten ständig: Wer ist der nächste? – Angst. Er kann nicht richtig spielen. Karajan murmelt: »Ist das Ihr Ernst?« … Stille … »Gehen Sie … Ich muß den Direktor sprechen.« … Stille, Angst … Der Direktor kommt … »Ich will den Mann nicht mehr sehen.« – Der Abstand und die Disziplin sind wieder da – und bei mir eine große Traurigkeit: ich hatte ihn wirklich bewundert, fast geliebt. – Auf diese Weise kam es im Orchester geradezu zu einer Spaltung: die Karajan-Spieler und die anderen. Ehrlicherweise muß man hier einfügen, daß damals (in den 50er Jahren) alle so arbeiteten, Angst war ein ständiger Begleiter.
Dann gab’s wieder einmal eine große Bruckner-Symphonie, ergreifend, erschütternd von einem großen Interpreten aufgebaut. – Und dazwischen die für mich lächerlichen Bach-Erlebnisse; das war wohl Karajans unglückliche Liebe. Herbert, Wolfgang und Hedy von Karajan spielten im Bach-Jahr die Kunst der Fuge, das vierstimmige Riesenwerk, witzigerweise auf drei Orgeln. Warum nicht auf vier? Weil’s ja nur drei Geschwister gab. – Bei der Matthäuspassion wollte er das Gambensolo (»Komm, süßes Kreuz«) zu viert gespielt haben; ich weigerte mich, da mitzumachen. Er war einer der ›Großen‹ – aber nicht der einzige. Es gab auch noch Wilhelm Furtwängler und Erich Kleiber.