Oper sinnlich - Nikolaus Harnoncourt - E-Book

Oper sinnlich E-Book

Nikolaus Harnoncourt

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Beschreibung

Das Musiktheater des Nikolaus Harnoncourt, von Monteverdi bis Strawinski: Ein Leben im Spiegel der Oper. Mehr als 400 Jahre ist die Oper nun alt, und wenn sie bis heute immer noch jung geblieben ist, dann liegt das an Künstlern wie Nikolaus Harnoncourt und seinem unermüdlichen Bemühen um die Erneuerung der Kunst und unseres Verständnisses von Kunst. Sein 80. Geburtstag ist eine gute Gelegenheit, seinen Weg durch die bunte Welt der Oper zu verfolgen und an zahlreichen Beispielen, von Monteverdis "L'Orfeo" über Mozarts "Figaro" bis zu Strawinskis "The Rake's Progress", zu erfahren, wie lebendig Oper sein kann. Oper ist ein Theater für alle Sinne, kein verstaubtes Relikt der Vergangenheit, keine leere Tradition und schon gar keine Spielwiese für elitäre Eitelkeiten. Text, Musik, Schauspiel und das Bild der Bühnenwelt verschmelzen in der Oper zu einem einzigartigen Kosmos, in dem sich die menschliche Natur spiegelt. Und darum ist Oper letztlich eine Notwendigkeit, wie jede Kunst. Das beweist Nikolaus Harnoncourt von Mal zu Mal, mit Leidenschaft, Intelligenz und Überzeugung. Dieses Buch legt dafür ein spannendes Zeugnis ab.

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Johanna FürstauerAnna Mika

Oper, sinnlich

Die Opernwelten desNikolaus Harnoncourt

Mit Fotos von Werner Kmetitsch

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2014 Residenz Verlag

im Niederösterreichischen Pressehaus

Druck- und Verlagsgesellschaft mbH

St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:

978-3-7017-4475-6

ISBN Printausgabe:

978-3-7017-3154-1

Vierhundert Jahre Oper und kein Ende

Die Oper ist die sinnlichste aller Kunstformen. Als Gesamtkunstwerk vereinigt sie in sich Sprache und Musik, Bild und Bewegung, akustische und optische Reize zu einer einprägsamen Darstellung der menschlichen Gefühlswelt und ihrer Konflikte. Ihr Ursprungsland ist nicht zufällig Italien, denn die Verbindung von Wort und Musik entspricht in besonderer Weise der Sprachmelodie des Italienischen. So ist es nicht verwunderlich, daß die Oper im italienischen Musikleben über die Jahrhunderte hinweg eine zentrale Stellung einnahm und nie durch andere Musikformen wie etwa die Symphonie abgelöst wurde.

Aus dem Versuch entstanden, die antike Tragödie wieder zu beleben, übernahm sie bald auch deren gesellschaftliche Funktionen. Die von Claudio Monteverdi gefundenen Möglichkeiten der unterschwelligen und mehrschichtigen Textauslegung durch die Musik führten zu einer Wahrhaftigkeit im Ausdruck der Emotionen, die nicht ohne tiefgreifende Wirkung auf den Zuhörer bleiben konnte.

So ist es verständlich, daß die Oper, wiewohl einem begrenzten höfischen Umfeld entstammend, doch binnen weniger Jahrzehnte eine breite Resonanz in allen Bevölkerungsschichten fand. Die kommerziellen Opernhäuser, die zunächst in den italienischen Stadtstaaten, doch bald auch im übrigen Europa entstanden, übten durch ihre sinnlich opulenten Darbietungen wie durch die dramatische Kraft der aufgeführten Werke eine fast magische Anziehungskraft auf ihr Publikum aus. Innerhalb weniger Dezennien stand die Oper in ganz Europa im Mittelpunkt des kulturellen Lebens.

Wie einst die antike Tragödie die Menschen zu einem Gemeinsamkeit stiftenden Erlebnis zusammengeschweißt hatte, in dem der Einzelne „Katharsis“ – eine innerlich läuternde Wandlung – erfuhr, übte nun die Oper eine ähnliche Wirkung auf ihre Besucher aus.

Dies umso mehr, als sie sich von ihren Inhalten her jahrhundertelang in einem durchaus zeit- und gesellschaftskonformen Rahmen bewegte. Sie griff immer, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln, die den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen entsprachen, die Probleme ihrer Gegenwart auf und führte den Menschen in einer Art Spiegel die Befindlichkeiten ihrer Zeit vor Augen. So wirkte sie, oft ohne explizite moralische Wertung, doch auf eine äußerst reizvolle, weil unterhaltsame Art erzieherisch auf ihre Besucher ein.

Die enorme Anziehungskraft, welche die Oper zumindest drei Jahrhunderte lang auf die Menschen hatte, lag nicht zuletzt in den Identifikationsmöglichkeiten, die sie bot. Sie erfüllte, was die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts forderten, nämlich die Illusion natürlicher Gefühle zu erzeugen und den Besucher glauben zu lassen, daß er die Ereignisse, die man ihm vor Augen stellte, tatsächlich miterlebe. Indem sich der Zuschauer mit den Protagonisten des Dramas identifiziere, werde er in die Lage versetzt, ihre dramatische Entwicklung mitzuvollziehen und so auch für sich selbst zu einer Lösung seiner Konflikte zu gelangen.

Bei der näheren Betrachtung musikdramatischer Formen stoßen wir immer wieder auf einen Zwiespalt zwischen der Wahrhaftigkeit des musikalischen Ausdrucks und einem Übermaß an sinnlicher Schönheit. In Epochen, in denen der Zauber kunstvollen Gesangs und die ästhetisierende Perfektion der Darbietung im Mittelpunkt des Publikumsinteresses stehen, findet sich der musikdramatische Kern der Oper in Gefahr, mißverstanden oder vernachlässigt zu werden. In Zeiten, in denen die Schönheit zugunsten einer realistischen Darstellung von emotionalen Extremsituationen geopfert wird, verfehlt das Werk seine unmittelbare Wirkung auf den Hörer.

Mozart, als der perfekte Musikdramatiker, der er war, wußte um diesen Zwiespalt und plädierte für das rechte Maß des Ausdrucks; die Musik dürfe auch in der „schauerlichsten Lage“ das Ohr niemals beleidigen, sondern müsse in allen Situationen immer noch Musik bleiben.

Das rechte Maß zwischen Wahrhaftigkeit des Ausdrucks und sinnlicher Schönheit zu finden, war in fast allen Epochen der Operngeschichte eine wesentliche Aufgabe des Komponisten, der in seinen Werken eine Brücke zwischen Zeitgeist und Zeitkunst schlug. Solange zwischen diesen beiden eine Art von Gleichmaß bestand, war die Oper unverzichtbarer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, ein Spiegel der emotionalen Befindlichkeiten ihrer Zeitgenossen.

Bis etwa um die Wende zum 20. Jahrhundert bildeten die Oper und ihr Publikum eine Einheit, die die meisten Volksschichten mit umfaßte. Oper war etwas, wofür sich jedermann, sofern er nur einigermaßen musikalisch war, interessierte. Verdis Arien waren zu ihrer Zeit so populär wie heute die Hits gefeierter Pop-Ikonen, ein Umstand, der bedenkliche Wandlungen des Geschmacks erkennen läßt. In den Pariser und Wiener Cafés wurde auf das heftigste über die Oper debattiert und gestritten, und die Uraufführungen der neuesten Werke warfen lange Schatten der Erwartung voraus. Nicht selten entschied sich das Schicksal einer Opernproduktion an den Beifallsstürmen oder Buh-Kaskaden aus dem dritten Rang. Kurz: Opernkritik war jedermanns Sache und ein Thema, das so heftig emotionalisierte wie heutzutage bestenfalls der Fußball.

Im Gefolge des Ersten Weltkriegs und des damit verbundenen Zusammenbruchs festgefügter Gesellschaftsstrukturen entfremdeten sich die Oper und ihr Publikum voneinander. Die gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen drifteten auseinander.

Die Werke, die neu entstanden, stellten der Gesellschaft ihrer Zeit zwar immer noch einen Spiegel vor Augen, doch die Gesellschaft wollte – nach zwei mörderischen Kriegen und dem, was an politischen und kulturellen Verwerfungen dabei zu beobachten war – diesen Blick in den Spiegel nicht mehr wahrhaben. Sie wandte sich von der Oper ab und neuen Identifikationsmöglichkeiten zu. Jener Teil des Publikums, der ihr treu blieb, hielt sich lieber an die „Ohrwürmer“ der jüngeren Vergangenheit, was dazu führte, daß die Spielpläne der Opernhäuser sich weitgehend auch heute noch an den Werken des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts orientieren. In der öffentlichen Wahrnehmung hat die Oper damit mehr oder weniger die Funktion eines Musikmuseums übernommen. Für Aufmerksamkeit und Interesse sorgen nicht so sehr die immer gleichen Werke, sondern eher das, was die Regisseure – deren Berufsstand erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts wesentlich in Erscheinung trat – aus diesen Werken machen.

Einen bedeutenden Anteil an dieser Entwicklung hat vor allem der Verlust der Sinnlichkeit, den die Oper mit der zunehmenden Abstraktion ihrer Erscheinungsformen erlitten hat. Ob es in näherer Zukunft zu einer neuerlichen Annäherung zwischen der Oper und dem Publikum auf breiter Basis kommen kann, wissen wir nicht. Sicher aber müssen neue Wege und Strategien gefunden werden, um der Oper – also dem Musikdrama – wieder den ihm gebührenden Platz in der Mitte des kulturellen Lebens zurückzugeben. Die Oper kleinzureden, sie als elitär, überteuert und antiquiert zu denunzieren, wie es in der öffentlichen Meinung heute noch vielfach geschieht, hieße, ihre Bedeutung und Wichtigkeit im Ganzen der menschlichen Gesellschaft zu ignorieren. Dem mit Entschiedenheit entgegenzuwirken, ist eine wichtige kulturelle Aufgabe.

Mit unserem Streifzug durch vierhundert Jahre Operngeschichte möchten wir versuchen, neues Interesse an dem alten Phänomen Oper zu erwecken. Wir haben uns dabei die Programmwahl des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt zu eigen gemacht, weil sie in sinnvoller Weise Bekanntes und Unbekanntes, Altes und Neues miteinander verbindet.

Sein Spektrum reicht von der Erfindung des Musikdramas durch Claudio Monteverdi über die Meister des Barock, Purcell, Händel und Rameau, hin zu den musikdramatischen Werken Mozarts und Haydns, und von da weiter zur bürgerlichen und romantischen Oper bis zu Werken des 20. Jahrhunderts. Für uns wird es so gleichsam zum Faden der Ariadne, an dem wir uns durch das Labyrinth vielfältiger Opernformen hindurchtasten.

Jenen Lesern, die, wie wir, die Aufführungen Harnoncourts persönlich kennengelernt haben, werden sich bei der Lektüre vielfältige Erinnerungen an ihre eigenen Opernbesuche auftun. Und für andere, die diese Aufführungen nicht kennen, mag sich aus der Beschäftigung mit ihnen vielleicht ein Anlaß bieten, sich mit der Oper als solcher intensiver auseinanderzusetzen. Glücklicherweise hat sich in letzter Zeit durch eine zunehmende Zahl von Forschergeistern unter den Interpreten das Repertoire mancher Opernhäuser immerhin um einiges an neuen oder bisher zu Unrecht vergessenen Werken erweitert, und auch die Tonträgerindustrie ermöglicht es einem größeren Kreis von Interessenten, wichtige, bisher unbekannte Werke kennenzulernen. Hoffnung scheint, zumindest in Ansätzen, angebracht. Dabei ist in besonderer Weise das Interesse und die Neugierde des Publikums auf der einen, der Wagemut der Opernintendanten auf der anderen Seite gefragt. Das Wichtigste aber ist, es muß einer nachwachsenden jungen Generation die Bedeutung der Oper wieder bewußt werden. Oper ist eine lebendige Kunst, die, wie alles Lebendige, den Veränderungen der Zeit unterworfen ist. Wir müssen heute, im 21. Jahrhundert, für uns erkennen, daß die Werke vergangener Jahrhunderte für die Menschen der jeweiligen Gegenwart ein immer wieder anderes Gesicht zeigen müssen, wenn sie in ihrem ursprünglichen Sinn wenigstens annähernd verstanden werden sollen. Und wir sollten wohl auch für das Neue unserer eigenen Zeit ein offenes Ohr bekommen. Das Opernhaus als Museum längst vergangener Kunst hätte wohl kaum eine Daseinsberechtigung; wohl aber hat es diese in seiner Funktion der Vermittlung unvergänglicher Werke, die wir heute wie ehedem zum Menschsein brauchen.

J. F.

Vier Fragen an Nikolaus Harnoncourt

Für die Festschrift zum 150jährigen Bestehen des Opernhauses Zürich beantwortete Nikolaus Harnoncourt vier Fragen zum Thema „Oper heute“.

1.Ist die Oper tot? Wenn nicht, welche Chancen und Perspektiven sehen Sie für das Musiktheater der Zukunft?

Die Oper – oder besser: das Musiktheater – soll nicht zugrunde gehen dürfen, solange unsere Kultur existiert. Die Verbindung von dramatischem Text und dramatischer Musik erreicht den Menschen viel tiefer als das gesprochene Wort allein.

2.In den letzten Jahrzehnten sind die sogenannte Ernste Musik und die Unterhaltungsmusik konträre Wege gegangen: Außerdem haben Rock und Pop ein riesiges Publikum gefunden. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um der E-Musik mehr Popularität zu verschaffen?

Eine neue Popularität würde eine peinliche Nivellierung voraussetzen. Das Interesse schwindet dort, wo die Kenntnis fehlt. Viele Menschen würden jede Art von guter Musik lieben und für ihr Leben brauchen, wenn sie interessiert und interessant mit ihr vertraut gemacht würden. Das wäre eine große und wichtige Bildungsaufgabe.

3.Das Phänomen Oper wird heute aus verschiedenen Gründen stark kritisiert – als zu elitär, zu teuer, zu sehr an der Vergangenheit orientiert, ohne die Fähigkeit zu Alternativen. Geben Sie solchen Argumenten recht?

Alles ist elitär, alles wendet sich an Gruppen mit bestimmten Kenntnissen und Interessen. Jeder muß sich den Zugang dazu erwerben können. Teuer ist Oper, weil sie kostbar ist, aber nur dann, wenn sie sich nicht in bloßem Ausstattungs- und Stimmenkult ergeht. In diesem Fall wäre es verschwendetes Geld. Wenn sie aber wichtige menschliche und kulturelle Werte vermittelt, ohne die wir nicht existieren können, ist sie nicht zu teuer. Oper hat Zukunft, weil der Mensch das Theater und die Musik, also das Musikdrama, braucht.

4.Welche Themen könnte die Oper von morgen behandeln?

Alle Themen, die uns unmittelbar berühren, und nur solche. Also Konflikte und ihre Lösungen, Sinnfragen; Irrationales von Liebe, Glück, Natur, Mystik, Religion; alle zwischenmenschlichen Probleme.

Claudio Monteverdi und die Erfindung der Oper

Claudio Monteverdi an seine Leser

Unter den Leidenschaften und Affekten, die uns bestimmen und unser „Inneres bewegen, muß man meiner Meinung nach als die wichtigsten unterscheiden: den Zorn, die besonnene Ruhe sowie die demütig bittende oder auch flehende Grundhaltung. Diese Dreiteilung finden wir bei den größten Philosophen, ja selbst in der Natur der menschlichen Stimme, die entweder hoch, tief oder mittel ist, und auch in den Charakterisierungen der Tonkunst mit concitato, molle und temperato. Nun habe ich in allen Werken früherer Komponisten zwar viele Beispiele des molle- oder temperato-Stils gefunden, jedoch kein einziges des concitato-Stils, obgleich doch Plato im dritten Buch der Rhetorik diesen Stil mit folgenden Worten beschreibt: „Benutze die Harmonie, welche auf angemessene Weise Ausdruck und Ton eines tapferen Mannes nachahmt, der in einen Kampf verwickelt ist.“ Und da ich überdies weiß, daß es mehr als alles andere die Gegensätze sind, die unser Inneres stark bewegen und die Wirkungtun, die gute Musik haben muß–, wie ja auch Boëthius bestätigt, wenn er sagt: „Die Musik ist uns eingeboren. Sie veredelt oder verdirbt unseren Charakter“ –, habe ich nicht wenig Mühe und Überlegung darauf verwendet, den concitato-Stil wieder zum Leben zu erwecken. Nachdem ich darüber nachgedacht hatte, daß gemäß den Aussagen der größten Philosophen für lebhafte und zum Krieg aufstachelnde Musik das rasche ‚tempo piricchio’1 Verwendung fand und für Musik gegenteiligen Inhalts das gemächliche ‚spondeische‘ Taktmaß, begann ich die Semibreve zu untersuchen und kam zu dem Schluß, daß eine einzelne ganze Note einem einzelnen ‚spondeischen‘ Taktmaß entsprechen solle, daß aber eine ganze Note, aufgelöst in Sechzehntelnoten, die rasch nacheinander angeschlagen werden, zusammen mit einem Text, der Zorn und Empörung ausdrückt, sehr wohl den Affekt ausdrücken würde, den ich suchte, selbst wenn das Versmaß des Textes mit der Schnelligkeit des Instruments nicht würde Schritt halten können. Um das, was ich meinte, an einem umfassenderen Beispiel darzutun, griff ich auf den göttlichen Tasso zurück, einen Dichter, dessen Sprache mit vollkommener Natürlichkeit genau die Leidenschaften auszudrücken vermag, die er beschreiben will, wie z.B. im Zweikampf zwischen Tankred und Clorinda. Diese Szene gab mir die Möglichkeit, die zwei gegensätzlichen Affekte der kriegerischen Handlung und des demütigen Flehens und Sterbens in Gesang umzusetzen. Im Jahre 1624 dann wurde dieses Werk den Besten und Edelsten der Stadt Venedig zu Gehör gebracht, im Hause meines Herrn und Gönners und höchst nachsichtigen Beschützers, Seiner allerhöchsten Exzellenz Signor Girolamo Mocenigo, einem herausragenden Würdenträger im Dienste der allerdurchlauchtigsten Republik. Das Werk wurde sehr gelobt und mit viel Applaus bedacht.

Nach diesem erfolgversprechenden Beginn mit der musikalischen Darstellung von Wut und Zorn setzte ich meine Untersuchungen fort und verfertigte nach diesem Prinzip verschiedene weitere Kompositionen für die Kirche wie auch für den Hof. Den anderen Komponisten war dieser Stil so willkommen, daß sie ihn nicht nur mit Worten lobten, sondern auch in der Praxis durch Nachahmung anwendeten, was mich sehr freute und ehrte. Doch scheint es mir in dieser Situation angezeigt, bekannt zu machen, daß ich der erste war, der diesen für die Tonkunst so wichtigen Stil wiederentdeckte und anwandte. Mit Recht darfman sagen, daß die Tonkunst nur mit den stili molle und temperato unvollkommen war. Ganz am Anfang erschien es manchem (vor allem jenen, die den basso continuo spielen mußten) eher lächerlich denn löblich, eine Saite pro Takt sechzehn mal anzuschlagen, und so begnügten sie sich mit einem Anschlag pro Takt, womit sie aber anstatt des piricchio einen Spondäus ertönen und damit die Ähnlichkeit mit der oratio concitata verschwinden ließen. Ich weise deshalb darauf hin, daß bei diesem Stil der basso continuo mit seinen Begleitstimmen genau in der Art und Weise gespielt werden muß, wie er geschrieben ist. Und auch alle anderen Vorschriften müssen bei diesem Stil genauso beachtet werden wie bei anderen Kompositionen in einem anderen Stil, denn es gibt bei der Wiedergabe von Musik drei Elemente: das oratorische, das harmonische und das rhythmische. Meine Wiederentdeckung des kriegerischen Stiles ermöglichte mir die Komposition einiger Madrigale, die ich Guerrieri betitelte; und da die für die großen Fürsten bestimmte Musik ihrem erlesenen Geschmack in ihren Gemächern auf drei verschiedene Arten vorgeführt wird, nämlich als Theatermusik, Kammermusik und getanzte Musik, beziehe ich mich in meinem vorliegenden Werk auf diese drei Vorführungsarten mit den Bezeichnungen guerriera, amorosa und rappresentativa. Ich weiß, daß dieses Werk unvollkommen sein wird in dem Maße, wie es mir noch an Fertigkeiten mangelt, vor allem im Umgang mit dem neuen Stil kriegerischen Ausdrucks, für welchen gilt, daß aller Anfang schwer ist. Deshalb bitte ich den gütigen Leser, meinen guten Willen anzuerkennen. Ich erwarte größere Vollkommenheit in diesem Stil aus seiner Feder, denn: „Es ist leicht, eine einmal gemachte Entdeckung weiterzuentwickeln.“ Leben Sie wohl.

Aus dem Vorwort zum 5. Madrigalbuch (1605)

Man möge sich nicht wundern, daß ich diese Madrigale veröffentlicht habe, ohne zuvor auf die Angriffe eingegangen zu sein, die Artusi gegen ein paar Stellen meiner Komposition gerichtet hat. Da ich im Dienst des Herzogs von Mantua bin, habe ich nicht die Zeit, die eine ausführliche Erwiderung erforderte. Nichtsdestoweniger habe ich eine Antwort geschrieben, um klarzumachen, daß ich meine Werke keineswegs willkürlich komponiere. Sobald ich mit dieser Erwiderung fertig bin, werde ich sie veröffentlichen – mit dem Titel ‚Seconda Prattica‘, die zweite Praxis, oder über die Vollkommenheit der modernen Musik. Diejenigen, die da meinen, es gäbe nur die eine erste Praxis, den einen Stil, den Zarlino gelehrt hat, werden sich vielleicht über diesen Titel wundern. Doch mögen sie versichert sein, daß im Hinblick auf den Gebrauch der Konsonanzen und Dissonanzen doch noch eine andere, vom Herkömmlichen grundverschiedene Möglichkeit zulässig ist. Das Urteil der Vernunft bietet durchaus eine Rechtfertigung der modernen Musik. Dies wollte ich nur sagen, um vor Mißbräuchen meines Ausdrucks ‚Seconda Prattica‘ zu warnen; auch sollten scharfsinnige Männer andere Formen der Harmonie zulassen und der Tatsache Glauben schenken, daß der moderne Komponist sein Werk auf dem Fundament der Wahrheit aufbaut.“

Auf dem Weg zum „dramma per musica“

Als sich kurz vor 1600 in Florenz eine Gruppe von aristokratischen Theaterliebhabern und Musikern, vor allem Sängern, zu einer Akademie zusammenfand, um zu erforschen, wie die antiken Bühnenwerke einst aufgeführt wurden, ahnten sie nicht, daß das unbeabsichtigte Resultat ihrer Bemühungen eine neue Kunstform sein würde, die mehr als zwei Jahrhunderte hindurch ganz Europa in Atem halten sollte. Ähnlich wie Kolumbus nie die Absicht gehabt hatte, einen neuen Erdteil zu entdecken, erging es auch den Mitgliedern der von den Grafen Giovanni Bardi und Jacopo Dorsi gegründeten Florentiner Camerata. Sie glaubten, der Aufführungspraxis des antiken Dramas auf der Spur zu sein, als sie ihre Regeln „wider den verderbten Zustand der gegenwärtigen Musik“ aufstellten.

Ihre Anregungen entnahmen sie den Schriften der griechischen Theoretiker wie Platon, Aristoteles und Boëthius. Es ging dabei vor allem darum, das gesprochene Wort, die Dichtung klar und verständlich in den Mittelpunkt zu stellen. „Man muß notwendigerweise Mittel finden, die Hauptmelodie so hervorzuheben, daß die Dichtung klar vernehmlich sei und die Verse nicht zerstückelt werden.“ Ziel war es, die Sprachmelodie mit Hilfe einer stützenden Harmonie zu verstärken, wobei der bedeutendste Theoretiker der Gruppe, der Sänger Giulio Caccini, drei Stadien des begleiteten Sologesangs unterschied: recitar cantando, cantar recitando und cantar, also singend sprechen, sprechend singen und singen im ursprünglichen Sinn.

Aus diesen Ansätzen sollten sich die drei wesentlichen Elemente der späteren Oper entwickeln: Rezitativ, Accompagnato und Arie. Caccini stellte in seinem theoretischen Werk Le nuove musiche die Regeln für den neuen Gesangsstil auf, wobei es ihm vor allem um die im Dialog enthaltene Sprachmelodie ging, die durch möglichst unauffällig stützende Akkorde verstärkt werden sollte. Für ihn war der bisher alles beherrschende Kontrapunkt „Teufelswerk“, durch das die Dichtung „zerfleischt“ würde. Der dramatische Dialog sollte vielmehr einstimmig vertont und der Sprachmelodie folgend „gesprochen“ werden. Nur emotional besonders hervortretende Stellen sollten darüber hinaus musikalisch intensiviert werden. Andere Musiker stimmten dem zu. „Die Musik sei mehr als gewöhnliche Sprache, aber weniger als Gesang und soll auf diese Weise eine mittlere Stellung zwischen Gesang und Sprache einnehmen“, forderte auch der Komponist Jacopo Peri.

Dem kam der natürliche Tonfall des Italienischen besonders entgegen, und so ist es kein Zufall, daß in den folgenden 200 Jahren die Opernbühnen Europas – mit Ausnahme Frankreichs – von der italienischen Oper in all ihren Spielarten beherrscht wurden. Die Forderungen an diesen neuartigen Musikstil, in dem der Anteil der Musik selbst zugunsten des Wortgehalts weitgehend zurückgedrängt wurde, gingen so weit, daß Vincenzo Galilei, der Vater des Astronomen, meinte, der Komponist solle sich mit dem Tonfall unterschiedlicher Volksschichten vertraut machen, um den dramatischen Dialog musikalisch möglichst realistisch zu gestalten. Später wurde in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Regeln der Rhetorik hingewiesen, die vom Komponisten in der musikalischen Gestaltung eines Dialogs befolgt werden sollten.

Die im Programm der Camerata enthaltenen Forderungen nach völliger Unterordnung der Musik unter die Dichtung – „Die Musik sei in erster Linie Sprache und Rhythmus und erst in zweiter Ton“ oder, noch radikaler: „Oratio harmoniae domina absolutissima est“ – stellten eine radikale Abkehr von der qualitativ hochwertigen polyphonen Musik der Madrigalisten dar. Die unmittelbaren Resultate waren, musikalisch gesehen, eher kümmerlich. Opernvorläufer wie Euridice von Peri oder Dafne von Gagliano erwiesen sich in der Praxis als wenig attraktiv. Ein Werk, das nahezu ausschließlich aus Rezitativen bestand und in dem nur wenige Fundamentinstrumente das Harmoniegerüst aufrecht erhielten, konnte auf die zeitgenössischen Zuhörer, die an den Reichtum polyphoner Harmonien gewöhnt waren, nur einen äußerst bescheidenen Eindruck machen.

Erst das musikdramatische Genie Claudio Monteverdi hauchte den allein nicht tragfähigen Ideen der Camerata dramatisches Leben ein, indem er, der bedeutendste Madrigalkomponist seiner Zeit, Altes und Neues – oder, wie er es nannte, „prima e seconda prattica“ – sinnvoll miteinander verband. Seine Favola in Musica, L’Orfeo, war der Paukenschlag, mit dem die Oper ihre Herrschaft im Reich der Musik antrat. In ihr vereinte sich der Klangreichtum des wegen der Vielzahl seiner Instrumente berühmten Intermedienorchesters mit den neuen Ideen der musikalischen Dialoggestaltung, wobei es Monteverdi in erster Linie um die möglichst wahrhaftige Darstellung menschlicher Emotionen ging.

Monteverdis L’Orfeo Entstehung und Uraufführung

Unter der Regierung des Herzogs Vincenzo Gonzaga präsentierte sich die Hofhaltung zu Mantua als wahrer Musenhof. Der Herzog war ein großer Kunstliebhaber und versammelte um sich, was er an Malern, Dichtern, Musikern und Schauspielern finden konnte. Da war es nur natürlich, daß er die Versuche der Florentiner Camerata, das antike Drama wieder zu beleben, aufmerksam verfolgte. Doch ahnte er wohl nicht, daß es einem seiner Musiker vorbehalten sein sollte, aus diesen ersten Versuchen eine völlig neue Kunstform zu entwickeln.

Claudio Monteverdi war 23jährig in den Dienst des Herzogs getreten und hatte zunächst die Position eines Sängers und Instrumentalisten inne. Vincenzo dürfte seine außergewöhnliche Begabung als Komponist bald bemerkt haben, ließ sich aber Zeit, ihn als Hofkomponist zu bestätigen. Während der gesamten Dienstzeit Monteverdis beklagte sich dieser immer wieder über die viele Arbeit, die ihm aufgebürdet wurde und oft nur kargen Lohn einbrachte. Tatsächlich scheint Vincenzo wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten seiner Musiker genommen zu haben, denn er bestand darauf, daß der jung verheiratete Monteverdi mit seinen Musikerkollegen ihn auf seinem Türkenfeldzug nach Ungarn begleitete. Spätere, friedlichere Reisen folgten, unter anderem in die Niederlande und nach Frankreich, von wo Monteverdi eine reiche Ernte an Eindrücken und Anregungen – vor allem aus der französischen Tanzmusik – einbrachte und in seinen Madrigalkompositionen sowie den Scherzi musicali verarbeitete.

Das Unterhaltungsbedürfnis des Herzogs und sein Verlangen nach prächtigen Festen muß groß gewesen sein, sodaß Monteverdi viel Mühe hatte, die Wünsche Seiner Hoheit zu erfüllen und zugleich seine künstlerischen Ambitionen durchzusetzen. Natürlich griff er, ein geborener Dramatiker, die Anregungen der Florentiner Camerata auf, vor allem soweit es die drei Formen der Textdeklamation – recitar cantando, cantar recitando und cantar – betraf, doch verband er diese Neuerungen mit allen schon bestehenden Formen der Musik.

Der Hofdichter Alessandro Striggio, mit dem er befreundet war, lieferte ihm für sein Werk die vollendete Vorlage: die Favola in musica L’Orfeo. Favola bezeichnete im Gegensatz zu dramma, daß es sich um ein Hirtenstück, eine Pastorale, handelte. In dieser ersten Oper Monteverdis finden sich schon alle Elemente dieser neuen Kunstform vereinigt: dramatische Rezitative und Accompagnati wechseln mit Chören, rondoartigen Formen, instrumentalen Ritornellen, madrigalesken Szenen und Strophenliedern. All das wurde von Monteverdi zu einer dramatischen Einheit geformt. In L’Orfeo zeigt Monteverdi in musikalisch eindringlichster Weise den Gegensatz zwischen äußerster Freude und tiefstem Schmerz.

Im Eingangsritornell, das dem Prolog der Musica vorangeht, wird zunächst die heitere Hirtenwelt beschworen. Dieses „Bild“ wird an mehreren Stellen wiederholt: am Ende des 2. Aktes als Erinnerung an das verlorene Glück, am Beginn des 5. Aktes als Symbol der von menschlichem Leid unbeeindruckbaren Natur. Die beiden ersten Akte sind zunächst dem Freudenfest zu Orfeos Hochzeit gewidmet. Hier setzte Monteverdi alle ihm zur Verfügung stehenden musikalischen Mittel ein, um den großen Soloauftritt Orfeos zu umrahmen, in dem er die Schönheit der Natur als Ausdruck seines Glücksgefühls besingt.

Dazu Nikolaus Harnoncourt:

„Das höchste Glück wird in diesem Lobpreis der Natur dargestellt. Das finden wir während der folgenden Jahrhunderte noch öfter. Der glückliche Zustand der Seele öffnet dem Menschen die Augen für die Schönheit der Natur. Wenn man leidet, hat man kein Auge für die Harmonie und Schönheit, die sich in der Natur manifestiert. Man kann diese erst wieder wahrnehmen, wenn man das Leid überwindet. Das ist psychologisch sehrfein beobachtet: Dem Unglücklichen sind die Augen für die Umwelt verschlossen.“

Mit dem Eintritt der Messaggera, die den Tod Euridices verkündet, kippt das Stück in die Traurigkeit; das Tempo verlangsamt sich. Monteverdi verwendet hier wie in der Totenklage des Orfeo härteste Dissonanzen zur musikalischen Darstellung tiefster Verzweiflung.

Am Beginn des 3. Aktes, der Orfeos Gang in die Unterwelt darstellt, heißt es:

„Hier beginnen die Posaunen, Zinken und das Regal zu spielen, die Violinen, die Orgel und das Cembalo schweigen. Die Szene ändert sich.“

Durch diesen geänderten Klang wird dem Hörer gleichsam ein „klingendes Bühnenbild“ suggeriert.

Die beiden Sphären sind streng voneinander getrennt. Nur an einer Stelle durchdringen sie einander: Bei Euridices Gang in die Oberwelt spielen zwei Geigen mit.

Dazu wieder Harnoncourt:

„Die Assoziation zu etwas Optischem ist von da an in der Musik sehr stark fixiert. Bei einem bestimmten Klang bekommt man eine Art von Vision. Die Vorstellungskraft des Zuhörers wird musikalisch mobilisiert. Mit Musik allein läßt sich schon ein ganzes Drama darstellen. Es ist möglich, einen Dialog durch Musik auch optisch darzustellen.“

Auch für die Sänger gibt Monteverdi immer genau an, welche Stimmen von Männern und welche von Frauen gesungen werden sollten. So ist Apollo, der seinen Sohn heimholt, ebenso ein Tenor wie dieser selbst, wodurch eine Art von Identifikation bewirkt wird. An einigen Stellen wird ausdrücklich ein bestimmtes Instrument zur Charakterisierung verlangt: so das Regal für Caronte. Im großen solistischen Bittgesang des Orfeo treten alle wichtigen Instrumente in obligat solistischen Partien zur Unterstützung des Sängers hervor. Proserpina schließt sich diesem Bittgesang an und bringt so einen Hauch menschlicher Wärme in die Schattenwelt, die dadurch gleichsam auftaut, um nach Orfeos Versagen in ihre frühere Fühllosigkeit zu versinken. Ein kommentierender Chor der Schattengeister umrahmt die beiden Unterweltakte mit seinen beklemmenden Klängen.

Der letzte Akt zeigt die Verzweiflung Orfeos inmitten der unverändert heiteren Hirtenwelt: Begleitet von Chitarrone und Orgel beklagt Orfeo in einem großen Solo sein Schicksal. Das Werk endet mit einem Kompromiß: Orfeo, der den Frauen abschwört, wird nicht wie in der Sage von den Mänaden zerrissen, sondern von seinem Vater Apollo zum Sternenhimmel erhoben.

Monteverdis Orchester, das in der Widmungsausgabe genau angeführt wird, entsprach noch der bunten Klangpalette des Intermedium-Orchesters der großen Renaissancefeste. Es war in Fundamentinstrumente – zur Ausführung der Harmonie – und in Ornamentinstrumente für die Melodie geteilt, letzteres zur Bereicherung und Ausschmückung der Musik.

Die trompetenbegleitete Toccata der Einleitung gehört nicht zum Stück selbst, sondern ist die Gonzaga-Fanfare, also das klingende Wappensignet der Gonzaga-Familie, die er auch im Widmungsexemplar der Marienvesper verwendete.

Während Monteverdi die Orchesterbesetzung als solche vorschreibt, überläßt er den Einsatz einzelner Instrumente doch weitgehend den aufführenden Musikern, sollte doch das Werk an verschiedenen Orten mit den jeweils vorhandenen Möglichkeiten aufgeführt werden können. Zudem gehörte es zu den Aufgaben der Musiker, bei ihren Aufführungen durch Verzierungen, Improvisationen und ähnlichem schöpferisch mitzuwirken und so das Werk immer wieder neu erscheinen zu lassen.

L’Orfeo wurde im Auftrag der Accademia degli Invaghiti am 24. Februar 1607 uraufgeführt. Der Saal war klein und faßte nur eine beschränkte Anzahl von Gästen, doch setzte der Herzog schon eine Woche später eine weitere Aufführung für die Damen der Stadt an. Das Libretto wurde noch vor der Aufführung gedruckt, „damit alle Zuschauer imstande seien, den Text zu lesen, während die Musik aufgeführt wird“.

Zwei Jahre später erschien die gedruckte Partitur in Venedig, 1615 kam es sogar zu einer Zweitauflage. Die Familie Gonzaga muß an den Vorbereitungen regen Anteil genommen haben, wie aus einigen Bemerkungen Francesco Gonzagas zu erfahren ist. So erwähnt er, daß der Herzog, sein Vater, nicht nur die Premiere, sondern auch mehrere Proben besucht habe. Der Mailänder Dichter Cherubino Ferrari schrieb begeistert:

„Dichter und Komponist haben die Affekte in so außergewöhnlicher Weise dargestellt, daß es daran nichts auszusetzen gibt. Die Dichtung ist schön in ihrer Erfindung, noch schöner in ihrer Anlage und am allerschönsten in ihrem Ausdruck. Und soweit es die Musik betrifft, muß man zugeben, daß sie der Dichtung in nichts nachsteht. Die Musik dient der Dichtung so vollkommen, daß sie durch keine bessere ersetzt werden könnte.“

„Er kam als letzter und wurde der erste“, schloß einer seiner Bewunderer seinen Lobpreis auf „il divino Claudio“, den „göttlichen“ Monteverdi.

Neuen Ufern entgegen

Im Jahr des Orfeo-Triumphs teilte Monteverdi das herbe Schicksal seines Helden: Er verlor seine junge Frau an den Tod. Wie jener trauerte er lang und nachdrücklich um sein verlorenes Glück, doch die Bedürfnisse des Hofes ließen ihm nur wenig Zeit dazu. Im Frühling des folgenden Jahres sollte sich der Thronerbe Francesco vermählen, ein Anlaß für ausgedehnte Festlichkeiten oder, wie es der Hofchronist Follino ausdrückte: „Die beste Gelegenheit, höchsten Ruhm zu erlangen.“

Der Dichter Rinuccini wurde beauftragt, eine neue Favola zu schreiben, für die Monteverdi die Musik liefern sollte. Es war dies Arianna, die in den späteren Kriegswirren bis auf das berühmte Lamento verloren ging. Marco Gagliano, selbst ein erfolgreicher Komponist, schrieb darüber:

„Claudio Monteverdi, der weltberühmte Komponist und Chef der Hofmusik Seiner Hoheit, komponierte die Arien darin in einer so ausgezeichneten Weise, daß man allen Ernstes behaupten kann, er habe die Macht der antiken Musik wiederhergestellt, denn alle Zuhörer waren zu Tränen gerührt.“

Offenbar war diese vermeintliche Wiederherstellung antiker Verhältnisse das höchste Lob, das die in „Antiquitäten“ vernarrten Zeitgenossen Monteverdis zu vergeben hatten.

Kurz nach jenen Feierlichkeiten, zu denen Monteverdi noch mit seinem Ballo dell’ Ingrate beitrug, verschlechterte sich sein Verhältnis zur Familie Gonzaga. Monteverdi fühlte sich zutiefst verletzt durch die Knauserigkeit, die Seine Hoheit ihm gegenüber an den Tag legte, während er seine bevorzugten Sängerinnen mit Geschenken überhäufte. Noch einmal gelang es Monteverdis Vater, ihn zur Fortsetzung seines Dienstverhältnisses zu überreden; doch der Stern der Gonzagas war bereits im Sinken. 1612 folgte Herzog Vincenzo seiner kurz zuvor verstorbenen Gattin in den Tod nach – böse Zungen behaupteten, wegen seines ausschweifenden Lebenswandels. Bereits im Jahr danach fand sich Monteverdi als Kapellmeister von San Marco in Venedig wieder, was eine entscheidende Verbesserung seiner Lebenssituation bedeutete. Abgesehen von seinen kirchlichen Verpflichtungen übernahm er aber weiterhin Aufträge für Werke im stile rappresentativo, für den er sich besonders interessierte. So entstand für Francesco Gonzaga, den Nachfolger Vincenzos, das Ballett Tirsi e Clori und für den venezianischen Edelmann Girolamo Mocenigo Il combattimento di Tancredi e Clorinda, ein Werk, das in Monteverdis Schaffen offenbar eine besondere Bedeutung hatte: Ständig auf der Suche nach dem bestmöglichen musikalischen Ausdruck für jeden Affekt rühmte er sich, darin mit Hilfe der Lektüre Platos den bis dahin in der Musik unbekannten Ausdruck des Zorns und der heftigen Erregung gefunden zu haben; dies sei mittels Tonwiederholungen möglich, durch die eine ganze Note in schnelle Sechzehntel zerlegt werde. Monteverdi nennt diese, von den Musikern zunächst als „unmusikalisch“ angefeindete Methode stile concitato und beansprucht dessen Urheberschaft ausdrücklich für sich. Für die Dramatik der Oper sollte diese Erfindung Monteverdis von entscheidender Bedeutung bleiben; das Concitato hat sich, über mehrere Jahrhunderte hinweg, in seiner ursprünglichen Funktion erhalten. Nikolaus Harnoncourt, heute wohl einer der profundesten Kenner von Monteverdis Opernschaffen, weist darüber hinaus ausdrücklich darauf hin, daß Monteverdi, im Gegensatz zu anderen Barockkomponisten, in seinen Werken immer auch die Gestik mitkomponiert und dadurch erst die vollkommene dramatische Wirkung erzielt habe. Als Konsequenz daraus müsse das Regiekonzept als solches auch heute noch bereits in der Musik gesehen werden.

In den folgenden Jahren erreichte die junge Kunstform des dramma per musica auf dem Umweg über Rom auch die „Serenissima“, wo sich eine von ihren Anfängen her aristokratische Kunstform in eine „republikanische“ verwandelte. Dies bedeutete, daß die Werke nunmehr in öffentlichen Theatern gegen ein zumeist moderates Entgelt aufgeführt wurden und für jedermann zugänglich waren. Monteverdi nahm am Operngeschehen in Venedig vor allem in den letzten Jahren seines Lebens teil, 1639 mit einer verschollenen Oper Adone und seiner ebenfalls verlorenen Arianna. 1640 wurde neben einer weiteren verschollenen Oper Le nozze d’ Enea con Lavinia das glücklicherweise in Abschriften erhaltene Werk Il Ritorno d’ Ulisse in Patria im ältesten Theater Venedigs, San Cassiano, uraufgeführt. 1642 folgte mit L’Incoronazione di Poppea das erste dramma per musica, dessen Protagonisten nicht Götter und Heroen der Antike, sondern vielmehr Persönlichkeiten der römischen Geschichte waren.

In Monteverdis Spätopern hatte sich sein Stil weitgehend zugunsten der dramatischen Wortauslegung verändert. Der Anteil der madrigalesken Szenen wurde verringert, die Verstärkung und dramatische Interpretation der Dichtung durch die Musik stand nun im Mittelpunkt aller Bemühungen. Wie in allen seinen Werken griff der Komponist auch in Il Ritorno d’ Ulisse in Patria auf ein Thema mit stark kontrastierenden Affekten zurück. Er nannte es im Gegensatz zu L’Orfeo ein „dramma per musica“, hob also die dramatische Seite deutlich hervor. Giacomo Badoaros Dichtung greift eine der bekanntesten Szenen der antiken Mythologie, die Heimkehr des von Neptun verfolgten Odysseus auf. Im Prolog wird l’ humana fragilità, die menschliche Zerbrechlichkeit gegenüber den Schicksalsmächten Zeit, Zufall und Liebe, beklagt. Im ersten und letzten Akt streiten sich die Götter dann um das Schicksal des Helden: Nettuno will seine Heimkehr verhindern, doch im letzten Akt gelingt es den anderen Göttern und vor allem Minerva, ihn zu besänftigen. Der Mittelteil spielt am Hof der vereinsamten Penelope, die von den Freiern und deren Gefolge bedrängt wird. Sie erkennt den verkleideten Gatten nicht, selbst als er sich im Kampf mit den Freiern als siegreicher Bogenspanner erweist, und auch während des nachfolgenden Gemetzels bleiben ihre Zweifel bestehen.

Monteverdi verwendet an die Götterszenen einiges an Ironie und zeichnet sie eher als eine Art von unsterblichen Übermenschen, die auch ihrerseits den Schicksalsmächten unterworfen sind. Sie spielen sich, musikalisch gesehen, eher als Götter auf, statt tatsächlich solche zu sein.

Penelope ist die eigentliche dramatische Person, für sie treibt Monteverdi seine affektgeladene Sprache immer wieder zu psychologisch motivierten Höhepunkten. Ihre großen Monologe wie auch die ihres Gatten sind vorwiegend rezitativisch gehalten, mit affektbezogenen Wortwiederholungen und ariosen Stellen, wo es die Emotionslage der Protagonisten verlangt.

Infolge des hohen Bekanntheitsgrades der Geschichte konnten sich Textdichter und Komponist eng an Homers Vorgaben halten. So wurde etwa die Personencharakteristik der Freier minutiös übernommen. Im Vergleich zur späteren Poppea hat Ulisse eher einen episch-illustratorischen als einen dramatischen Gesamtcharakter. Monteverdi verwendet für die ernsten Personen weitgehend rezitativisches Material mit ariosen Einschüben, die Freier und die Dienerschaft bekommen vorwiegend tänzerisch ariose Stücke, die Götter werden durch virtuose Koloraturen und Trompetengeschmetter bzw. im Fall von Nettuno mit Posaunenbegleitung charakterisiert.

Anders als bei L’Orfeo ist weder das Libretto noch die Partitur in einem Druck erhalten. Die wichtigste Quelle ist eine zeitgenössische Abschrift der Partitur in der Österreichischen Nationalbibliothek. Sie ist wie beinahe alle Werke aus dieser Zeit zweizeilig notiert und bietet nur wenige Anhaltspunkte für die Ausführung von Ensembles und Instrumentalstücken. Offenbar stellte dieser Umstand schon kurz nach Monteverdis Tod eine Schwierigkeit für mögliche Aufführungen dar, findet sich doch in einem zeitgenössischen Bericht die Bemerkung, man könne Ulisse jetzt nicht mehr aufführen, weil die Hinweise des Komponisten fehlten.

Es scheint, daß die Komponisten jener Zeit ihre Aufführungsangaben mehr oder weniger geheim gehalten hatten; tatsächlich ist von keiner der erhaltenen Opern Monteverdis irgendeine Form von Aufführungsmaterial vorhanden.

In Il’ Ritorno d’ Ulisse in Patria begegnen wir einer Oper, in der sich epische, tableauartige Szenen mit hochdramatischen mischen. Das vermeintlich glückliche Ende der Wiedervereinigung des Paares findet sich in den Wortwiederholungen Penelopes im Schlußduett in Frage gestellt, denn: bleibt nicht letztlich die Zeit Siegerin über die menschlichen Gefühle?

In Ulisse ging es um die Gefährdung der Liebe durch die Einwirkungen von Zeit und Zufall. Anders in L’Incoronazione di Poppea. Der Textdichter, Giovanni Francesco Busenello, demonstriert hier an einem historischen Beispiel, der blinden Leidenschaft des römischen Kaisers Nero für die machthungrige Kurtisane Poppea, wie die Launen Amors den völligen Umsturz von scheinbar unumstößlichen gesellschaftlichen Normen bewirken können: ein absolutistischer Herrscher wird zum willenlosen Werkzeug einer Dirne, die Kaiserin entlarvt sich als skrupellose Anstifterin zum Mord an der Rivalin, der Philosoph präsentiert sich als eitler Schwätzer, Poppeas Gatte als zwiespältiger Schwächling, die ihm ergebene Geliebte Drusilla als willfähriges Werkzeug des geplanten Verbrechens. Einzig das „Volk“, die Dienerschaft, die Ammen und Schüler, die sich shakespearehaft um die „illustren Personen“ tummeln und deren Verhalten kommentieren, sind frei von Schuld und erfreuen sich der ungeteilten Sympathie des Komponisten.

Auf Monteverdi, der die möglichst genaue Nachahmung der menschlichen Natur als oberstes Gebot betrachtete, muß einerseits die Gegenüberstellung von gesellschaftlich so unterschiedlichen Schichten und andererseits die Zeichnung von derartig doppelbödigen Charakteren überaus reizvoll gewirkt haben, konnte er doch an ihnen die ganze Palette seiner musikalischen Möglichkeiten erproben, die er im Verlauf mehrerer Jahrzehnte zur Darstellung der Affekte gefunden hatte. In diesem Werk zeigt der Komponist also den ganzen Reichtum der von ihm entwickelten Formen. Auch seine Madrigalkunst, die sich in acht Büchern auf höchst unterschiedliche Weise präsentiert, erreicht darin einen neuen Höhepunkt. Für die „erhabenen“ Personen verwendet Monteverdi ein Maximum an Naturalismus, indem er stellenweise den Dialog so ineinander verquickt, daß die Personen einander ins Wort fallen. Aufgeregte Wortwiederholungen, aber auch unvermutete Pausen und Unterbrechungen markieren den affektbestimmten Verlauf der Dialoge. In den langen Monologen von Ottavia und Ottone wird der rezitativische Stil durch affektgeladene arienartige Passagen unterbrochen. Für das „Volk“ verwendet Monteverdi eine bodenständig natürliche Musiksprache mit deutlich madrigalesken Anklängen, durch die die beklemmende Handlung mit komischen Elementen aufgelockert wird. Die gesamte musikalische Auslegung galt in erster Linie der möglichst naturnahen Darstellung der Affekte und wurde so zum Vorbild auch der Instrumentalmusik: der dem Wort anhangende Affektgehalt verband sich mit der musikalischen Form zu einer Einheit, deren emotioneller Inhalt auch wortlos, nur durch die Musik, verstanden werden konnte.

L’Incoronazione di Poppea ist in zwei Abschriften, einer venezianischen und einer neapolitanischen, erhalten. Das Autograph selbst ist verschollen. Die Abschriften weisen eine unterschiedliche Behandlung der Ritornelle auf; in der venezianischen sind sie drei-, in der neapolitanischen vierstimmig. –

Monteverdis Lebensweg neigte sich bald nach der glanzvollen Aufführung seiner letzten Oper dem Ende zu. Am 24. November 1643 starb er – nach all den Wechselfällen seines Lebens – als der gefeiertste Komponist des Jahrhunderts. Die Serenissima ehrte ihn durch ein Staatsbegräbnis, und ganz Venedig, ja ganz Italien trauerte um ihn, den seine Bewunderer das „Orakel der Musik“ nannten. Bedeutende Komponisten, wie sein Zeitgenosse und Schüler Francesco Cavalli, griffen seinen Stil auf. Der rein musikalische Anteil am Musikdrama wurde immer größer und führte schließlich zur Entstehung einer neuen Form, der Opera seria, die in der zweiten Hälfte des 17. und großen Teilen des 18. Jahrhunderts ganz Europa beherrschen sollte.

Die Auferweckung des Claudio Monteverdi

Il divino Claudio war tot – seine Begräbnisstätte in der Kirche S. Maria Gloriosa dei Frari von Venedig beinahe vergessen; sein Werk: in der Mehrzahl ein Opfer der kriegerischen Wirren, die die Stadtstaaten Italiens im Lauf der Zeit immer wieder verwüsteten. Was erhalten geblieben war, schlummerte – vielleicht mit Ausnahme der venezianischen Kirchenmusik – den staubigen Schlaf des Vergessens in den Bibliotheken Italiens. Gelegentlich wurde sein Name von einigen Musikhistorikern oder in einem Lexikon erwähnt. Im realen Musikleben kam der Begründer der Oper jedenfalls mehrere Jahrhunderte hindurch nicht mehr vor. Er teilte dieses Schicksal mit unzähligen zu ihrer Zeit berühmten Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie alle wurden, wie seinerzeit Ulisse, als Wesen von „menschlicher Zerbrechlichkeit“, ein Opfer der Zeit und des Zufalls, in diesem Fall der Moden, die über sie hinwegschritten.

Es gehört offenbar zur Charakteristik des Menschen, daß er immer wieder nach Neuem strebt. Jede Generation will ihre eigenen Gedankengänge, darin ihre eigene Ästhetik zu begründen, will sich nicht mit der Welt der Väter abfinden, sondern ihre eigene, noch nie zuvor dagewesene gestalten. Das gilt für die Künste im allgemeinen, wie für die Musik im besonderen. Sie ist ja von allen Künsten am meisten der „humana fragilità“ ausgesetzt, bedarf sie doch, anders als Malerei und Dichtung, der immer neuen Vermittlung durch den Musiker, also des lebenden Menschen in einer sich unaufhörlich verändernden Zeit.

Der Hunger weiter Publikumsschichten nach immer neuen Werken stagnierte allmählich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Es schien, als könne der Komponist mit seinen Klangvorstellungen und Ausdrucksmöglichkeiten sein Publikum nicht mehr wirklich erreichen. Die gesellschaftlichen und politischen Folgen des ersten Weltkriegs ließen zweifellos in vielen Menschen ein Gefühl der Unsicherheit und der unbestimmten Sehnsucht nach einer „guten alten Zeit“ entstehen. Auch die Künstler waren nicht frei von solchen Vorstellungen, und wenn sich auch viele von ihnen durchaus als Avantgardisten, als Wegweiser zu immer neuen Ausdrucksmöglichkeiten sahen, so war doch andererseits für viele auch die Beschäftigung mit den Schätzen der Vergangenheit ein reizvolles Thema. So war es nur eine Frage der Zeit, bis sich der eine oder andere Komponist die erhaltenen Werke Monteverdis vornahm, um sie, in ein zeitgemäßes Instrumentalgewand gekleidet, einem modernen Publikum vorzustellen. Es finden sich illustre Namen unter den Bearbeitern, wie z.B. Vincent d’ Indy2, der schon 1904 in Paris seine Bearbeitung des Orfeo dirigierte und im Jahr darauf publizierte. Grundsätzlich ging es zunächst um eine mehr oder weniger freie Neugestaltung, wie etwa die von Carl Orff, der 1925 den Orfeo neu für die Bühne bearbeitete. Das Werk muß ihn sehr beschäftigt haben, denn er kam mehrmals mit Überarbeitungen darauf zurück. Noch in den fünfziger Jahren, mehrere Jahrzehnte und eine Nachkriegszeit später, schuf er sein trittico teatrale, die „Lamenti“, in denen er Orfeo mit dem Lamento d’ Arianna und dem Ballo dell’ Ingrate verband. Das Werk wurde 1958 bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt; als Bühnengestalter mit dabei: ein junger französischer Maler, Jean-Pierre Ponnelle.

Allmählich war es unruhig geworden um den jahrhundertelangen „Bühnenschlaf“ des oracolo della musica. Einen wesentlichen Beitrag zur Monteverdi-Renaissance leistete Malipiero3 durch die von ihm editierte Gesamtausgabe. Unterdessen hatten sich vor allem nördlich der Alpen, in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden und England, bereits musikalisch interessierte Gruppen zur Erforschung der „Alten Musik“ zusammengefunden. Schon 1933 hatte Paul Sacher die Schola cantorum Basiliensis gegründet. Der dort wirkende August Wenzinger brachte 1955 die allererste Aufnahme des Orfeo heraus, mit alten Instrumenten und einer allerdings eher akademischen als dramatischen Auffassung. In England war es vor allem Raymond Leppard, der eine spezifisch angelsächsische Version der Monteverdi-Opern zur Diskussion stellte.

In den sechziger Jahren erschien L’Orfeo in einer getanzten Version, den Sängern war darin nur ein Platz am Rand der Szene zugewiesen. Monteverdis aufregende Musik fand sich in einem neobarocken Instrumentalkostüm von Erich Kraak wieder. Musica und Orfeo als Randfiguren eines tänzerischen Spektakels? Konnten das die Voraussetzungen für eine Wiedererweckung der Werke Monteverdis sein? Die Bearbeitung von Erich Kraak führte zu einem seltsamen Monteverdi-Verschnitt. Es gab eine Aufnahme der Poppea, die von Karajan an der Wiener Staatsoper dirigiert worden war, bei der man sich fragen konnte, in welcher Zeit das Stück spiele. Man konnte sich des unbestimmten Gefühls nicht erwehren, unter einer dicken Schicht von undefinierbaren Klängen sei eine Kostbarkeit zu finden, ohne daß man dahin durchdringen konnte.

Das Jahr 1954 brachte in Wien eine weitere Begegnung mit L’Orfeo, diesmal unter Paul Hindemith: Gemeinsam mit dem Regisseur Leopold Lindtberg sollte auf der Bühne des Wiener Konzerthauses das Werk in einer möglichst originalgetreuen Version gezeigt werden. Hindemith gehörte zu jenen Komponisten, die sich im besonderen Maß für alte Klänge interessierten. Die Vorstellung, das Werk mit dem von Monteverdi vorgeschriebenen Instrumentarium zu besetzen, muß für ihn durchaus reizvoll gewesen sein. Er hatte Glück: seine instrumentale Wunschliste konnte weitgehend realisiert werden, dank der Bestrebungen eines jungen Cellisten bei den Wiener Symphonikern, Nikolaus Harnoncourt, der eben dabei war, mit seiner Frau Alice und mehreren ambitionierten Musikerkollegen ein Ensemble für Alte Musik zu gründen, und der über eine stattliche Anzahl von – zum Teil auf recht abenteuerliche Weise erworbenen – historischen Instrumenten verfügte. So konnte er für die geplante Aufführung außer Harfen, Tasteninstrumenten und Zinken so gut wie alles einschließlich der Spieler beisteuern. Selbst die Zinken und das Regal für Caronte wurden schließlich noch aufgetrieben – doch Hindemith entschied sich, trotz des Enthusiasmus der Spieler, für das problemlosere Englischhorn statt der Zinken. Immerhin, für Harnoncourt – und wohl auch für Monteverdi – wurde diese Aufführung zu einer Schicksalsstunde. Dazu Harnoncourt wörtlich:

„Ich kann mich nicht erinnern, daß ich von irgendeiner Musik dermaßen überwältigt war, und es war mir vollkommen klar, daß Monteverdi ab diesem Moment eine wichtige Rolle für mich spielen würde.“

Doch sollten noch viele Jahre vergehen, bis es soweit war. 1968 entstand die erste Aufnahme von Monteverdis L’Orfeo durch den Concentus Musicus. Zwei Jahre zuvor war schon ein geistliches Werk des Komponisten, die Marienvesper aus dem Jahr 1610, aufgenommen worden.

Wer sich je die gedruckte Partitur des Orfeo angeschaut hat, kann vermutlich ahnen, welche ungeheure Pionierarbeit mit dieser Aufnahme verbunden war. Es gab ja keine wirklichen Anhaltspunkte, wie eine Oper dieser Art aufgeführt werden konnte. Für L’Orfeo hatte man eine Liste der erwünschten Instrumente; an welchen Stellen und wie sie verwendet werden sollten, war ziemlich klar. Die beiden Spätopern existieren nur in Abschriften, doch die Autographen hätten genauso ausgesehen, weil sich ja das Prinzip geändert hatte. Dazu erklärt Nikolaus Harnoncourt:

„Zwischen L’Orfeo (1607) und den beiden Spätwerken Il ritorno d’Ulisse und L’Incoronazione di Poppea liegt eine radikale Stilwende – man könnte sagen, von der Renaissance zum Barock. Die ‚Renaissanceoper‘ war weitgehend madrigalistisch, in der Art der Florentiner Intermedien geschrieben: das Instrumentarium war genau vorgeschrieben, und seine Anwendung konnte leicht aus dem komplett komponierten Tonsatz geschlossen werden. Anders bei den Spätopern, die grundsätzlich in zwei Zeilen komponiert waren (mit Ausnahme einiger mehrstimmiger Ritornelle). Hier stellte sich bereits die Frage, ob überhaupt ‚Melodie-Instrumente‘ einzusetzen waren, und vor allem, wie. Selbst der harmonische Ablauf war nicht eindeutig erkennbar. Wir entschieden uns dafür, die als arios und als rezitativisch erkannten Teile unterschiedlich zu behandeln: die ersteren zu orchestrieren, wobei die Symbolik der gewählten Instrumente mit der dramatischen Aussage übereinstimmen musste, und die anderen mit einfachen Akkorden der Continuo-Instrumente auszufüllen. Danach mußte die entscheidende Frage beantwortet werden, ob diese harmonischen Bässe lediglich mit Fundamentinstrumenten (etwa Laute, Cembalo, Orgel etc.) oder durch eine Art Orchester ausgeführt werden sollten, wobei noch viele Detailfragen zu klären waren.“

Zunächst mußte also eine für die Aufführung tragfähige Partitur (und das entsprechende Aufführungsmaterial) erstellt werden. Alles, was bei heutigen Aufführungen beinahe als oft geübte Routine erscheint, mußte damals neu erarbeitet werden. Für Harnoncourt stand jedenfalls fest, daß „eine angemessene Aufführung, angesichts der Gewalt dieser Werke, auch ein heutiges Publikum ergreifen mußte“.

Der erste Schritt in diese Richtung war mit der Schallplattenaufnahme der drei Opern Monteverdis getan. Sie trugen seinen neu erwachten Ruhm in alle Welt, wie überhaupt das Medium Schallplatte ganz wesentlich zur Erschließung des historischen Musikrepertoires vor 1800 beitrug. Durch diese Aufnahmen wurde wohl auch die Neugierde geweckt, Monteverdis Werke nicht nur von der musikalischen Seite, sondern auch szenisch kennen zu lernen. Bei den Wiener Festwochen 1971 war es dann soweit: Il Ritorno d’ Ulisse in Patria wurde im Theater an der Wien szenisch aufgeführt. Die Regie führte Harnoncourts Jugendfreund Federik Mirdita, der Jahre zuvor als Namensgeber des „Concentus Musicus Wien“ aufgetreten und durch seinen Zuspruch die ersten öffentlichen Konzerte im Palais Schwarzenberg auf den Weg gebracht hatte. Der Wiener Ulisse, bei dem die Musiker auf mehreren Ebenen der Bühne voll in die Szene integriert waren, erwies sich als neuer Erfolg des Harnoncourt’schen Monteverdi-Projektes, das neben dem groß angelegten Kantatenwerk Bachs in diesen Jahren mehr und mehr zum Mittelpunkt seiner Arbeit wurde. 1972 folgte – als eher ungewöhnliches Dirigenten-Debüt – eine neuerliche Aufführung des Ulisse, diesmal an der Piccola Scala in Mailand, mit dem „normalen“ Opernorchester und Sängern, die zum Großteil zwar nichts von „alter“ Aufführungspraxis wußten, dafür aber immerhin, als geborene Italiener, keine Probleme mit „recitar cantando“, dem singenden Sprechen, hatten.

Die Entstehung des Monteverdi-Zyklus Zürich

Jahrelang, berichtet der damalige Direktor des Opernhauses Zürich, Claus Helmut Drese, sei er auf der Suche nach einer Möglichkeit gewesen, Monteverdis Opern in Zürich aufzuführen; die passende Partnerschaft zwischen Musik und Szene herzustellen, habe sich aber als schwierig erwiesen. Besuche mehrerer Aufführungen wie der von Jean-Claude Malgoire geleiteten Poppea im alten Schloßtheater von Drottningholm hätten sich als ebenso ergebnislos erwiesen wie die in London, wo dasselbe Werk in der Version von Raymond Leppard und mit vorwiegend „modernem“ Instrumentarium aufgeführt wurde. Schließlich verschlug es den umtriebigen Theatermann nach Amsterdam, wo eben L’Orfeo von Nikolaus Harnoncourt mit seinem Concentus Musicus in einer sehr statuarischen Inszenierung von Filippo Sanjust aufgeführt wurde.

Drese äußerte sich noch nach Jahrzehnten voller Begeisterung:

„Da war einer, der genau wußte, welche Klangeffekte an welcher Stelle richtig waren, um den Sinn des Textes zu untermalen. Er lebte diese Musik mit, mitsprechend, grimassierend, schwankend und stampfend. Das war der neue orphische Klang, den ich suchte.“

Eine der wichtigsten Aufgaben eines Opernintendanten ist es, die richtigen Leute für ein Projekt zusammenzubringen. Drese zögerte nicht. Den für Monteverdi passenden Regisseur hatte er schon seit langem im Auge: Jean-Pierre Ponnelle, der sich mittlerweile einen bedeutenden Ruf als Opernregisseur erworben hatte und es so wie kein zweiter verstand, feinsten psychologischen Verästelungen nachzugehen und gleichzeitig eine optisch opulente Szene auf die Bühne zu stellen. Nun war auch der geeignete Dirigent für das Projekt gefunden: Nikolaus Harnoncourt. Drese betrachtete es als seine wichtigste Aufgabe, die beiden zu einer fruchtbaren Symbiose zusammenzubringen.

„Ich bin also zu Nikolaus Harnoncourt gegangen und habe ihn gefragt, ob er sich vorstellen könnte, das in Zürich mit Ponnelle zu machen. Er war sofort aufgeschlossen dafür. Ich erklärte ihm, ich müsse zuerst Ponnelle für den Plan gewinnen, denn dieser war ursprünglich kein Anhänger von Originalinstrumenten. Ich habe die beiden dann in Köln zusammengebracht, sie haben eine Stunde lang geredet, und ich bin ums Haus herumgegangen und dachte: Wenn das nur gut geht! Als ich zurückkam, waren die beiden ein Herz und eine Seele. Es ging wunderbar. Sie haben dann ihre Bedingungen gestellt: die Musiker sollten auf alten Instrumenten spielen. Man müsse ein Spezialorchester zusammenstellen. Wir brauchten einen Orfeo, der imstande war, die Oper zu tragen. Dutzende haben da vorgesungen, und dann kam Philippe Huttenlocher, und wir hatten unseren Orpheus. Auch im Orchester gab es einige Leute, die sich damals schon mit alten Instrumenten beschäftigt hatten. Die haben wir aus unseren eigenen Reihen genommen, und die übrigen haben wir von überallher zusammen engagiert …“

Im Mittelpunkt dieses neuen „Monteverdi-Orchesters“ des Opernhauses Zürich: Alice Harnoncourt als Konzert- und Lehrmeisterin, die die Musiker auf die Geheimnisse des historischen Aufführungsstils und das Spiel mit den alten Instrumenten einschwor. Erich Zimmermann, von. Beruf Fagottist des Orchesters, im Orfeo Dulzianspieler, erinnert sich an die Anfänge:

„Vor der Spielzeit 1975 wurde bekannt, daß Monteverdi kommen sollte. Das war um diese Zeit etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Und dann noch mit Originalinstrumenten! Im Orchesterraum hing eine Liste aus, da konnte man sich eintragen, wenn man dabeisein wollte. Ich trug mich sofort ein, weil ich schon Erfahrungen mit dem Barockfagott hatte. Mein Name war ein halbes Jahr lang der einzige auf der Liste. Kollegen haben mich gefragt: Willst du wirklich Teil eines Mißerfolgs werden? Statt dessen wurde ich Teil eines Riesenerfolgs!“

Endlich war es dann am 20. Dezember 1975 so weit: Mit dem dreimaligen Klang der Gonzaga-Fanfare, die die Oper als Toccata einleitete, verwandelte sich das Opernhaus Zürich gleichsam in die Accademia degli Invaghiti. Die Türen wurden geöffnet, die Besucher fanden sich zunächst in Augenhöhe mit den Musikern in schwarzen Kostümen, die an die Livree einer Hofmusik erinnern. Auf der Bühne selbst eine kleine höfische Gesellschaft. Wieder ertönt die Fanfare, und der „Herzog“ selbst erscheint und stellt eine prächtig gekleidete Dame vor: La Musica, die durch süße Klänge alle Herzen zu rühren weiß. Danach: das Spiel der Hirten, die Orfeos Glück feiern, das schon im zweiten Akt durch den Bericht von Euridices Tod in bittere Klage umschlägt, Orfeos Gang in die Unterwelt, die Überwindung der Totengötter und der Liebenden Weg zurück, in das heitere Land der Lebenden, Orfeos Verzweiflung über den abermaligen Verlust der Geliebten – zuletzt die Apotheose durch Apoll in einem bewegenden Schlußduett.

Drese in seinen Erinnerungen:

„Philippe Huttenlocher sang und war Orfeo. In Gestalt und Aussehen hatte er etwas Schwebendes, Übersinnliches. Harnoncourt verlieh dem Orchester, das sichtbar vor der Bühne aufgestellt und in das Spiel integriert war, den großen Atem, mit dem Monteverdi Götter und Unterwelt umspannt (…) Der Jubel war grenzenlos, und keiner der noch so avantgardistisch engagierten Kritiker beanstandete historischen Faltenwurf oder artifiziellen Klang des Orchesters. Monteverdi hatte alle überzeugt. Gespannt wartete man auf die Fortsetzung des Zyklus.“

Die ließ auf sich warten.

Als nächste Station des Zürcher Monteverdi-Zyklus hatte L’Incoronazione di Poppea am 8. Januar 1977 Premiere.

Monteverdis letzte Oper verlangt viele Bühnenfiguren, die auf drei sozialen Schichten angesiedelt sind: Nero, Ottavia und Poppea auf der höchsten, gefolgt von Seneca, Ottone und Drusilla, und schließlich die Unterschicht mit den Ammen, den Schülern des Seneca, den Soldaten und der sonstigen Dienerschaft. Für sie alle hat Monteverdi das jeweils passende musikalische Idiom gefunden, das seinen Ausdruck in der Aufführung finden mußte. Anstelle der Götter greifen nunmehr allegorische Figuren, Fortuna, Virtù und Amore, in das Geschehen ein; die reale Welt der antiken Römer, in der sich die reale zeitgenössische Gesellschaft spiegelt, ist nur noch den Schicksalsmächten, nicht aber den antiken Gottheiten ausgeliefert.

Das raffiniert abgestimmte Psychogramm um die machtgierige Kurtisane und ihren liebestollen Verehrer fand sich in Zürich in der Entstehungszeit des Werkes angesiedelt, in einem Bühnenraum, der sich kaum von jenem des Orfeo unterschied, aber mit opulenter Kostümpracht und antiken Bühnenprospekten ausgestattet war. In faszinierender Lebendigkeit präsentierte sich die Musiksprache Monteverdis, in der sich dramatische Rezitative mit lyrisch-elegischen Passagen und heftigen Concitato-Ausbrüchen mischten. Dieser Abwechslungsreichtum wurde durch die Vielzahl unterschiedlich kolorierter Stimmen noch verdeutlicht. Im Gegensatz zur Concentus-Aufnahme wurde Nerone in Zürich von einem Tenor, Eric Tappy, gesungen, hier siegte die männliche Bühnenausstrahlung über den akustischen Reiz der ineinander verschmelzenden hohen Stimmen des Schlußduetts.

Was der glanzvollen Aufführungsserie voranging, waren sechs- bis siebenwöchige Proben, über die der Ottone der Aufführung, der Countertenor Paul Esswood, zu berichten weiß:

„Ich erinnere mich an eine Szene mit Ottavia, in der sie mir ein Schwert reicht und sagt: Ich will, daß du sie tötest – die Poppea! Sie läßt das Schwert fallen, und ich fange es gerade noch auf, ehe es den Boden berührt. Das war 40, 50 mal so, überall in Europa, und ich ließ das Schwert nie fallen, weil das so gut geprobt war. Die Entfernung zwischen uns war von unserem Auftritt her genau berechnet, wir wußten exakt, wo wir uns befanden. Dadurch fühlten wir uns vollkommen sicher. Und von der musikalischen Seite her war Harnoncourt immer dabei, bei allen Proben, und nicht nur er, sondern die ganze Continuo-Gruppe. Ich erinnere mich an diese erste Erfahrung mit Poppea. Wir hatten sechs oder sieben Wochen Proben, weil es eine sehr lange Oper ist, mit all diesen kleinen Solopartien eine Besetzung von beinahe 20 Personen. Es ist eine lange Oper, aber faszinierend, sehr konzentriert. Bei den Aufführungen bin ich nach meinem ersten Solo immer in den Kulissen gestanden und habe die vier, fünf nächsten Szenen verfolgt. Ich liebte es, das zu beobachten, es war so wundervoll, die Musik und die Szene waren vollkommen eins. Sie waren wie miteinander verheiratet, weil der eine die Sprache des anderen verstand. Ponnelle verstand, was Harnoncourt musikalisch sagen wollte; er verstand den musikalischen Ausdruck. Harnoncourt überlagerte nichts mit irgendwelchen romantischen Vorstellungen, obwohl er seine eigene Instrumentierung, seine eigene Interpretation eines Werkes spielte, dessen Manuskript nur als Skelett vorhanden war. Er überlegte, was könnten sie gespielt haben damals, obwohl die Partituren sozusagen verloren waren. So bereicherte er die eher emotionellen Momente mit obligaten Violinen oder einer Blockflöte oder einer Harfe. Ponnelle paßte sich dieser irgendwie leichteren Lesart an, die nicht dem normalen Klang entspricht, wie er in einer romantischen Oper zu hören ist.

Ich erinnere mich, daß Harnoncourt einmal wegen eines Flugs zu spät kam. Ponnelle sagte: Ich kann nicht anfangen, ich mache nichts, ehe ich die Musik nicht gehört habe. Ich muß Harnoncourts Vorstellung von dieser Musik haben, sonst kann ich nichts machen. Wenn ein so sehr bedeutender Regisseur, einer der wichtigsten Opernregisseure überhaupt, sagt, er könne nicht zu proben beginnen, ehe er die Interpretation des Dirigenten kenne … Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, wie es im normalen Opernbetrieb ausschaut: Da kommt der Dirigent erst eine Woche vor der Premiere, und da ist ein Mensch, der macht bang-bang am Klavier, alle singen ihre Arien und werden vom Regisseur herumgeschubst … und hier? Nichts von alledem. Es war eine wirkliche Ehe von Klang und Szene. Es war genau das, was es seinerzeit gewesen sein mag: ein musikalisches Drama. Das Drama war ganz wesentlich für die Musik, und umgekehrt, die Musik ein Teil des Dramas.“

Monteverdi zum Dritten: Am 12. November 1977 folgte die Premiere von Il Ritorno d’ Ulisse in Patria. Die Götter kehren in dem bunten Kaleidoskop der Homerischen Sagenwelt zurück auf die Bühne – doch auch sie werden beherrscht von den hier als Allegorien auftretenden Schicksalsmächten: Zeit, Zufall und Liebe, als deren Spielball L’ humana fragilità, der Mensch in seiner Gebrechlichkeit, sich ausgeliefert weiß. Ist Ulisse, der endlich heimkehren darf, hier ein Symbol für seinen musikalischen Schöpfer – zerbrechlich, armselig und trübsinnig? Wir wissen nicht, welches Bild seiner selbst dem alternden Monteverdi vor Augen stand, sein Werk aber atmet die pralle Lebendigkeit des antiken Mythos.

Harnoncourt verwendete für die rasch wechselnden Szenen mit ihren unterschiedlichen Affekten ein ganzes Arsenal von Streich-, Zupfund Blasinstrumenten, um Monteverdis stilistischer Vielfalt und dem Abwechslungsreichtum der Szene gerecht zu werden. Und wieder finden sich Ponnelles starke Bilder in einer glücklichen Einheit mit der Musik.

Von Paul Esswood, dem Anfinomo unter den Freiern, ist weiteres über den nunmehr vollendeten Monteverdi-Zyklus zu erfahren:

„Es war wirklich aufregend: Harnoncourt verwendete auch zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Instrumente in unterschiedlichen Kombinationen, um in der Musik das darzustellen, was auf der Bühne gerade geschah – sei es Ärger, Trauer oder Glück. Er drückte das immer in seiner eigenen Instrumentation aus …

Er hatte sozusagen sein eigenes Orchester, nicht den Concentus, sondern das Zürcher Opernorchester, aber nur solche Instrumentalisten, die tatsächlich mitspielen wollten. Sie hatten dann im Harnoncourt’schen Stil zu spielen. Nun würde man in einem normalen Orchester vielleicht sagen, ich bin nicht interessiert. Aber diejenigen, die an einem ‚informierten‘ Barockspiel interessiert waren, konnten kommen und mitspielen. Harnoncourt brachte dann auch noch andere Leute mit, und das Ganze hieß dann: Monteverdi-Orchester des Opernhauses Zürich.

Er bearbeitete die gesamte Partitur; Puristen würden sagen, es soll nur das Cembalo sein … bang-bang! Ich habe gehört, daß ein Regisseur zu einem Dirigenten sagte: Es heißt: alle Instrumente! Der darauf: Oh, also zwei Cembali? Harnoncourt hingegen verwendet u.a. Streichinstrumente, Blockflöten und Harfe, um einen möglichst großen Farbkontrast zu bekommen. Aber nie versuchte er, Monteverdis Grundlinien zu verändern, nie ging er von dessen Stil ab. Ich habe beim Salzburger Monteverdi4mitgewirkt (in der Fassung von Henze), da gab es Balalaikas und Posaunen an Stellen, wo die Rezitative 1-2-3-4 geschlagen wurden; das schränkt den Sänger ein, wo er sich an den Sprachduktus halten soll. Wum! Ein Cembalo genügt da, wenn z.B. noch zwei Oboen mitlaufen, verlangsamt sich die Musik und man zerstört damit die Sprachqualität. Das Rezitativ muß ganz und gar gesprochen sein. Es war phantastisch, wie Ponnelle und Harnoncourt da zusammenarbeiteten. Als Sänger konnte man sich da total sicher fühlen, weil man genau wußte, was man sowohl physisch als auch stimmlich auf der Bühne zu tun hatte.“

Auch Ponnelle selbst hatte sich seinerseits Gedanken zu den Ursachen des begeisterten Erfolgs des Monteverdi-Zyklus gemacht:

„Ich glaube, ein Teil unseres Erfolgs in Zürich lag darin, daß wir, Harnoncourt und ich, in Monteverdi das Shakespearehafte wieder hergestellt haben. Es scheint, als ob den Theaterleuten, die sich um die Wiederbelebung dieser Meisterwerke bemüht haben, nicht bewußt geworden ist, daß Monteverdi ein Zeitgenosse von Shakespeare war. Man hat fälschlicherweise diese Art von Oper aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit den Opern vom Ende des 17. und aus dem 18. Jahrhundert verwechselt. Die Widersprüchlichkeit und die an Shakespeare gemahnende Betrachtungsweise machen Monteverdis Opern für uns so aktuell. Er benützt zwar die Geschichte der Poppea und den Mythos von Orfeo und Ulisse, aber er behandelt die agierenden Figuren – seien es selbst Götter – als Menschen. In Monteverdis Stücken erkennt man die Hofgesellschaft der damaligen Zeit wieder, und ebenso, was das Volk sich dazu gedacht hat. Er zeigt einen Querschnitt durch alle Volksschichten. Die permanente Ambivalenz darin bewirkt, daß die Menschen sich nicht verständigen, sondern nur Mutmaßungen über den jeweils anderen anstellen können. Diese Mutmaßungen über das Verhältnis der Figuren zueinander sind das Leben …“

Claudio Monteverdi Zu Il combattimento di Tancredi e Clorinda