Wir spielen mit eurem Leben - Charlotte Cordes - E-Book

Wir spielen mit eurem Leben E-Book

Charlotte Cordes

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Beschreibung

Was wäre, wenn …? Stellen Sie sich mal Folgendes vor: In 30 Jahren … Wir spielen das Ganze mal aus der Sicht von … Das klingt nach einem Lied! Das sind nur einige der Sätze, die während einer Coachingsitzung unter Verwendung der Provokativen Szenenarbeit erklingen können. Die Themen der Klientinnen und Klienten werden von den Coaches in den provokativen Sitzungen immer wieder auf unterschiedliche Weise szenisch überzeichnet und humorvoll bespielt. Das bringt festgefahrene Systeme in Bewegung und berührt emotional stark. Gleichzeitig entsteht große Leichtigkeit – eine Art emotionale Befreiung – die häufig noch lange nachwirkt. Basis ist der Provokative Ansatz und die große nonverbale Wertschätzung, die dabei essentiell ist (www.provokativ.com). Das Buch von Charlotte Cordes und Florian Schwartz beschäftigt sich mit den Schwerpunkten und Bausteinen der Provokativen Szenenarbeit. Neben theoretischen Überlegungen erhalten die Leserinnen und Leser auch praktische Übungseinheiten zum Ausprobieren. Zusätzlich wird in Fallbeispielen ein erster Eindruck über die provokative Arbeitsweise mit szenischen Interventionen vermittelt.

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WIR SPIELEN MIT EUREM LEBEN

Provokative Szenenarbeit in Coaching und Therapie

Charlotte Cordes, Florian Schwartz

IMPRESSUM

Wir spielen mit eurem Leben

Charlotte Cordes, Florian Schwartz

1. Auflage I Deutsche Erstausgabe I © 2022 Knoll und Patze Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

Autor: Dr. Charlotte Cordes, Florian Schwartz

Hofbrunnstraße 78 I 81477 München I [email protected]

Umschlaggestaltung und Satz: buxdesign München I Lisa Höfner, Karina Wimmer

ISBN: 978-3-985-10505-2 I www.knollundpatze.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Basis: Die Provokative Therapie von Frank Farrelly

Der Provokative Ansatz und die Verbindung zum Improvisationstheater

Das Life Game von Keith Johnstone

Provokative Szenenarbeit in Coaching und Therapie

Die Rahmenbedingungen

Der Gute Draht

Provokative Figurenarbeit

Die Bausteine

Scene Painting

Perspektivwechsel

Zeitsprünge

Was wäre, wenn …

Innere Dialoge und Monologe

Die Musik

Gruppensitzungen

Fazit

Literatur

Die Autoren

Anhang: Fallbeispiele

Fall 1: Ich bin eine Perfektionistin

Fall 2: Meine Ex-Frau stresst mich

Fall 3: Mein Selbstwert ist im Keller

Quellenangaben

Vorwort

Dieses Buch ist ein Herzensprojekt von uns beiden. Wir kennen uns seit ungefähr 20 Jahren und arbeiten fast genauso lange in Seminaren und auf der Bühne zusammen. Die Provokative Szenenarbeit in Coaching und Therapie hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr in unser Leben geschlichen. Anfangs war es eine für uns kaum greifbare Nebelbank, die wir intuitiv und wild in unsere Coachings einbauten und von der wir fasziniert waren. Wir sahen die positive Wirkung, die diese Arbeit auf Klientinnen und Klienten1 hatte und spürten unsere eigene Begeisterung dafür. Greifen konnten wir das alles jedoch damals noch nicht wirklich. Trotzdem machten wir weiter, und je mehr wir damit arbeiteten, desto stärker lichtete sich der Nebel. Dieser Prozess begann schon vor Covid. Doch in der Zeit der Pandemie bekamen wir noch mehr Klarheit über die einzelnen Elemente.

Da wir ab März 2020 kaum noch Freunde treffen konnten und weder beruflich noch privat reisen durften, waren wir plötzlich viel zu Hause und hatten Zeit. Viel Zeit. Statt zu Jammern, beschlossen wir, diese Zeit zu nutzen, um Neues auszuprobieren. Als der erste Lockdown im März 2020 verkündet wurde, begannen wir als erstes damit, alle Coachings und Seminare in unserem Institut (www.provokativ.com) auf Onlineformate umzustellen und bemerkten, wie gut das funktionierte. Es entstand trotz körperlicher Distanz eine große emotionale Nähe zu unseren Teilnehmenden.2

Parallel zu dieser technischen Umstellung experimentierten wir auch inhaltlich mit neuen Themen. Unser Herzensthema nahm Fahrt auf, was uns unglaublich freute und immer noch freut. Durch diese Experimentierfreudigkeit und den regen Austausch mit Teilnehmerinnen und Klienten konnten wir herausfiltern, welche Bausteine in unserer Arbeit stecken und warum diese eine so starke emotionale Wirkung auf alle Beteiligten hat. Der Wunsch vieler Workshop- und Seminarteilnehmer, unsere Erfahrungen zu Papier zu bringen, gab den letzten Anstoß, dieses Buch zu schreiben. Das Ergebnis halten Sie in Ihren Händen.

Der Provokative Ansatz ist Säule Nummer eins für unsere Arbeit. Er ist die Basis in all unseren Coachings, weshalb wir zu Beginn des Buches einen kleinen Einstieg in diese Thematik geben. Wir halten es damit kurz, weil Noni Höfner und Charlotte Cordes darüber schon einige Bücher und zahlreiche Fachartikel geschrieben haben. Wenn Sie sich vertiefend mit dem Provokativen Ansatz beschäftigen möchten, lesen Sie gerne die weiterführende Literatur, hören Sie unsere Podcasts oder streamen Sie unsere Videos.3

Das Improvisationstheater ist Säule Nummer zwei. Bereits Anfang der 2000er Jahre stellten wir fest, dass die Haltung hinter dem Provokativen Ansatz und dem Improtheater sehr ähnlich ist. Seitdem integrieren wir Elemente aus dem klassischen Improvisationstheater in fast alle unsere Seminare.4 Das Impro-Bühnenformat ›Life Game‹ von Keith Johnstone diente uns als Inspiration, szenische Elemente noch stärker in unsere Coachings zu integrieren. Die Provokative Szenenarbeit war geboren.

In diesem Buch möchten wir Ihnen den Background dieser Arbeit nahebringen und unsere praktischen Erkenntnisse mit Ihnen teilen. Wir beschreiben Ihnen Bausteine, die für uns essentiell sind, immer ergänzt um konkrete praktische Beispiele aus unserer Coachingpraxis. Weiterhin bekommen Sie am Ende eines jeden Bausteins kleine Übungseinheiten, mit denen Sie die einzelnen Elemente für sich selbst ausprobieren können.

Für die Leserinnen und Leser, die einen Gesamteindruck einer ca. 30-minütigen Coaching-Session bekommen möchten, haben wir drei vollständige Coachingeinheiten mit unterschiedlichen Themen komplett transkribiert und in den Anhang dieses Buches gepackt. Wenn Sie weiteres Interesse an dieser Arbeit haben, können Sie diese und eine ganze Reihe weiterer vollständiger Coachings mit Bild und Ton bei therapie.tv käuflich erwerben.5

Wir möchten Sie anhand unserer Arbeit ermutigen, immer wieder Neues in Ihre Coachings und Therapiesitzungen zu integrieren. Nutzen Sie all Ihre Fähigkeiten und bauen Sie diese ein. Alleine oder mit Kollegen. Wenn es funktioniert, machen Sie weiter. Wenn nicht, probieren Sie etwas anderes aus.

An dieser Stelle soll eine Seminarteilnehmerin nicht unerwähnt bleiben, die uns gefragt hat, ob sie in ihren Therapie-Sitzungen eine Clownsnase aufsetzen darf. Unsere Antwort: ›Probieren Sie es aus! Wenn Sie sich wohlfühlen und es eine positive Wirkung auf die Klienten hat, machen Sie weiter. Sonst variieren Sie oder versuchen etwas Neues’. Denn wenn die Menschheit nicht immer wieder neue Dinge ausprobiert hätte, säßen wir heute alle noch auf Bäumen oder in Höhlen und könnten kein Feuer machen.

Lassen Sie uns nun mit Ihrem Leben spielen!

Charlotte Cordes und Florian Schwartz

Die Basis: Die Provokative Therapie von Frank Farrelly

Der Erfinder der Provokativen Therapie ist der US-Amerikaner Frank Farrelly. Dr. Noni Höfner, die Mutter von Dr. Charlotte Cordes, lernte ihn Anfang der 1980er Jahre kennen und begeisterte sich für seine Arbeit. Noni Höfner stand kurz davor, ihren Beruf als Therapeutin aufzugeben, weil sie die Langwierigkeit und Schwere sowie die damit verbundenen sehr kleinen Fortschritte in klassischen Therapien unglaublich anstrengten und auslaugten. Dann traf sie Frank Farrelly und war fasziniert davon, wie er arbeitete. Er setzte sich über alle klassischen Regeln, die in der Therapie gang und gäbe waren, hinweg und erreichte mit viel Humor in kurzer Zeit lang anhaltende Verhaltensänderungen. Noni Höfner fing Feuer und wollte mehr davon. Also heftete sie sich an seine Fersen und fing an, Seminare für ihn zu organisieren und selbst provokativ mit Klientinnen und Klienten zu arbeiten. Außerdem gliederte sie diese komplexe Therapieform in Bausteine, um sie selbst besser zu begreifen und einer größeren Anzahl von Menschen zugänglich zu machen. Da Farrelly seine Arbeit in Workshops nie erklärte, sondern sie ausschließlich in Life-Therapien demonstrierte, waren Noni Höfners kognitive Aufschlüsselungen sehr hilfreich für die Teilnehmenden.

Farrelly hatte die Provokative Therapie bereits in den 1960er Jahren in der Psychiatrie entwickelt und damit dort fast zwei Jahrzehnte mit ›schwerstgestörten‹ Klienten gearbeitet.6 Es gelang ihm regelmäßig, hoffnungslose Fälle aus geschlossenen Abteilungen ›herauszuprovozieren‹ und ihnen wieder ein normales Leben zu ermöglichen. Nachdem Noni Höfner ihn 1985 kennengelernt hatte, gründete sie 1988 das Deutsche Institut für Provokative Therapie (DIP). Ihre Tochter Charlotte Cordes stieg Anfang der 2000er Jahre dort mit ein. Gemeinsam entwickelten sie die Provokative Therapie weiter zum Provokativen Ansatz, mit dem sie bis heute therapieren, beraten, coachen und supervidieren sowie ihn in Fortbildungen an interessierte Fachleute aus unterschiedlichsten Bereichen weitergeben.

Ein eingängiges Kürzel für den Provokativen Ansatz ist das LKW, das Liebevolle Karikieren des Weltbildes der Klienten. Noni Höfner erfand dieses Kürzel bereits in den 1980er Jahren, weil sie sich wie viele andere, die Frank Farrelly erlebten, am Anfang wie von einem Lastwagen überfahren fühlte. LKW bedeutet, dass man als Coach oder Therapeutin in das Weltbild der Klienten einsteigt (von Farrelly auch gerne als ›mentale Unterhose‹ bezeichnet) und sich gemeinsam mit ihnen über ihre Stolpersteine amüsiert. In der provokativen Beratung werden die Selbstschädigungen so lange karikiert und persifliert, bis die Klientinnen einen emotionalen Widerstand dagegen entwickeln und darüber lachen können. Wichtig dabei ist, dass die Coaches und Therapeuten nichts weglachen und auch niemanden auslachen, sondern schlimme Dinge, die den Klienten zugestoßen sind, sehr ernst nehmen. Sie amüsieren sich nicht über die Klientinnen, sondern ausschließlich über die Instrumentalisierung ihrer Themen, wenn diese beispielsweise als Entschuldigung dafür genutzt werden, kein glückliches und erfülltes Leben mehr führen zu dürfen.

Das einzige Ziel in diesem Prozess ist es, festgefahrene Systeme wieder in Bewegung zu bringen. Dass dynamische Prozesse in Gang gebracht werden, zeigen Aussagen der Klienten wie »Ich bin jetzt verwirrt« oder auch »Ich fühle mich jetzt leichter und befreiter«, die nach so gut wie jeder Sitzung fallen. Als provokative Coaches und Therapeuten lassen wir diese relativ unspezifischen emotionalen Rückmeldungen so stehen und rationalisieren sie nicht durch weitere Erklärungen. Dadurch bleiben die Klientinnen im akuten Gefühl und ›verkopfen‹ sich nicht wieder unnötig. Vertrauen Sie darauf, dass die Klienten sich aus der Coaching-Stunde das ziehen, was für sie am besten ist. Um Ihre eigene Coach-Neugier zu befriedigen, können Sie die Klientinnen darum bitten, Ihnen eine Mail zu schreiben, wenn ein bisschen Zeit vergangen ist. Ob und wie sich etwas durch die Sitzungen verändert hat, können Klienten ohnehin meist erst Stunden, Tage, Wochen oder sogar Monate danach in Worte fassen. Direkt nach der Sitzung ist das fast nie möglich. Denn: Die provokative Vorgehensweise hat eine Depotwirkung und entfaltet sich meist erst verzögert.

Essentiell in diesem ganzen Prozess ist die innere Einstellung der Coaches bzw. Therapeuten. Er oder sie sind voller Vertrauen, dass die Klienten aus ihren Sackgassen eigenständig herauskommen. Gelingt Ihnen als Berater diese vertrauensvolle Haltung nicht, dürfen Sie auf keinen Fall provokativ werden. Andernfalls werden die Provokationen schnell als zynisch, ätzend und aggressiv empfunden. Die Klientinnen entwickeln in diesem Fall einen Widerstand gegen die Therapeuten und Coaches (NICHT das Ziel) und nicht gegen ihre eigenen Stolpersteine (DAS Ziel).

Jetzt noch zwei kurze Beispiele aus Coachings von Charlotte Cordes und Florian Schwartz mit Erklärungen zur Vorgehensweise. Ohne diese Erläuterung können provokative Sitzungen oder Auszüge daraus manchmal etwas verstörend auf die Betrachter oder Leserinnen wirken, die den Ansatz noch nicht kennen.

Beispiel 1:

Es ist der Beginn der Stunde. Die Klientin (Kl) ist Ende 40 und schildert ihr Thema.

Kl: Also ich bewege mich zu wenig und ich habe ganz ganz viele Schweinehunde, die mich davon abhalten.

Charlotte Cordes (C): Du verfettest …

C lässt die Klientin gar nicht lange sprechen, sondern grätscht sofort rein. Typisch für die provokative Vorgehensweise. Der Hintergrund: Die Klienten haben ihr Thema meist schon tausendmal im Kopf gewälzt und wahrscheinlich ebenso vielen Personen bereits erzählt. Viel Emotion ist in diesen Schilderungen nicht mehr enthalten. Ziel der schnellen Unterbrechungen ist es, die Klientinnen aus dem Kopf wieder in die Emotion zu bekommen und von ihrer festgefahrenen Spur abzubringen. Gleichzeitig steigt C in das Weltbild der Klientin ein und formuliert die Gedanken, von denen sie glaubt, dass sie sie auch schon gehabt hat. Dabei benutzt C Worte, die nicht ›clean‹, geschönt oder gar politisch korrekt sind, sondern sie spricht so wie Klienten (und auch Coaches und Therapeuten) über ihre Probleme denken. Normalerweise denkt man nicht: ›Ich fühle mich ein bisschen zu rund‹, sondern: ›Ich bin zu fett‹. Basis ist die unabdingbare wohlwollende Grundhaltung und das Zutrauen, dass die Klientin selbst aus ihrer Sackgasse herauskommt.

Kl: Genau. Ich verfette … und ich weiß nicht … Herz verfettet auch … usw.

Die Klientin stimmt zu. Der Gute Draht ist da.

C: Naja, aber dafür ist es gemütlich. Dafür hast du ein bequemes Couchleben. Ist doch wunderbar. Du wirst halt nicht so alt, aber DEN Tod musst du sterben, im wahrsten Sinne des Wortes. Naja, ich meine, du hast ja schon fast 50 Jahre geschafft. Dann wirst du halt nur 50, aber dafür hast du dich richtig vollgefressen und hast gelebt.

C begeistert sich für die Vorteile, die das Thema für die Klientin hat, d. h. sie begeistert sich für den sekundären Krankheitsgewinn, der in fast jedem Problem steckt (Welche Vorteile hat die Klientin von ihrer Faulheit? Es ist gemütlich, bequem, nicht anstrengend) und spielt die Nachteile herunter, die das schädigende Verhalten für sie hat (Du wirst halt nicht so alt. Egal.).

K: Ja, und auch lecker.

Noch ist wenig Widerstand gegen die Faulheit zu spüren. Die Klientin stimmt C noch zu. Also muss C noch mehr überzeichnen und karikieren, um herauszufinden, ob der Leidensdruck für Veränderung überhaupt vorhanden ist oder, ob die Klientin eigentlich ganz zufrieden ist und gar nichts ändern will (was auch vollkommen in Ordnung wäre).

C: In ein paar Jahren schwabbelt und schwabbelt es und dein Mann findet dich kaum noch in diesen ganzen Fettwülsten …

Kl (lachend): Oh Gott!

Die Klientin hält sich kurz die Augen zu.

Ein solches Zukunftsszenario ist eine Möglichkeit, die Übertreibung zu steigern. Die Klientin reagiert darauf. So will sie nicht enden.

Auf diese Weise geht die Sitzung weiter. Als provokativer Coach hangeln Sie sich von Satz zu Satz vorwärts, immer auf der Suche nach emotionalen Reaktionen. Wenn die Stunde vorbei ist, hören Sie einfach auf und haben das vollste Vertrauen, dass die Klienten sich selbst weiter sortieren und eine Lösung für sich finden.

Beispiel 2:

Die Klientin ist Mitte dreißig und genervt von ihrem Freund, mit dem sie seit acht Jahren zusammen ist. Sie beschwert sich, dass er sich zu wenig um sie und ihre Bedürfnisse kümmert.

Klientin (Kl): Ich bin im Moment unglaublich genervt von meinem Freund.

Charlotte Cordes (C): Er kümmert sich zu wenig um Dich. Der ist echt ein Arsch.

C steigt auch hier sofort mit einer Behauptung in das Weltbild der Klientin ein (›Der ist echt ein Arsch!‹). Durch solche pauschalen Behauptungen des Coaches oder Therapeuten fangen die Klienten in der Regel an, zu differenzieren. Wenn man als Coach im Gegensatz dazu sehr differenziert argumentiert – beispielsweise durch gutes Zureden oder in dem man viele Fragen stellt – werden die Klientinnen pauschaler. Als provokativer Coach dreht man den Spieß einfach um.

Kl: Genau.

Die Klientin stimmt zu. Sie hat wohl selbst schon ›Arsch!‹ über ihren Freund gedacht. Der Gute Draht ist da. Der Widerstand gegen die Selbstschädigung noch nicht. Also fängt C an, noch stärker zu übertreiben.

C: Schmeiß ihn doch raus. Ihr seid jetzt so lange zusammen. Jetzt habt ihr Euer Neunjähriges …

Kl: Achtjähriges …

C: … Achtjähriges gefeiert. Das reicht. Alle acht Jahre einen Neuen. Hau ihn raus und such dir was Besseres.

Die Klientin lacht.

C macht der Klientin einen idiotischen Vorschlag, um herauszufinden, ob sie ihren Freund behalten will oder nicht. Viele Klienten wollen immer gerne die Patentlösung von ihrem Coach hören. Die provokativen Lösungen und Vorschläge sind jedoch alles andere als geradlinig, sondern stark überzeichnet und regelrecht ›bekloppt‹. Dadurch wird vermieden, dass man als Coach oder Therapeut in der One-up-Position ist und mit erhobenem Zeigefinger auf die Klienten zeigt. Man ist stattdessen auf Augenhöhe und das Gegenüber merkt schnell und unmittelbar, was er oder sie eigentlich will oder auch nicht. Ganz selbstbestimmt.

C: Warum willst du den behalten? Setz ihn vor die Tür und such dir einen, der ein bisschen mehr Interesse für dein Zeug hat.

Kl: Ich weiß nicht, ob es so einen gibt.

C: Das reicht jetzt auch wieder. Acht Jahre. Ich bitte dich. Es kann sein, dass beim Nächsten nach ein paar Jahren auch wieder diese Langeweile und dieses Genervtsein eintritt, aber dann suchst du dir halt wieder einen Neuen.

Man sieht der Klientin an, dass sie grübelt.

Kl: Ja, aber das will ich ja gar nicht.

C (erstaunt): Du willst DEN behalten, obwohl der so ein Depp ist?

Kl (lacht): Ja, er hat ja auch seine guten Seiten.

Die Klientin baut Widerstand auf und nimmt ihren Freund zum ersten Mal in Schutz. Wer kennt das nicht? Wenn wir von jemandem genervt sind, sehen wir zunehmend nur noch das, was negativ an dieser Person ist. Durch gezielte Provokationen und pauschale Abwertungen des Freundes (was natürlich nicht der inneren Haltung des Coaches oder Therapeuten entspricht, wir kennen den Freund ja gar nicht, wir sprechen nur die von uns vermuteten Gedanken der Klientin auf übertriebene Weise aus) sieht die Klientin hier wieder positive Seiten ihres Partners.

C setzt nochmal einen drauf, um die Erkenntnis zu festigen.

C (überrascht): Der hat gute Seiten???

Kl: Der ist nicht NUR scheiße.7

Der Provokative Ansatz und die Verbindung zum Improvisationstheater

Zum Zeitpunkt ihres Einstiegs ins DIP Anfang der 2000er Jahre spielte Charlotte Cordes schon eine Weile Improvisationstheater, und sowohl Noni Höfner als auch ihr wurde schnell Folgendes klar: Die Haltung, die hinter Impro und dem Provokativen Ansatz steckt, ist identisch.

Das Improvisationstheater ist eine Theaterform, bei der alles frei aus dem Stegreif erfunden, gespielt, behauptet und entwickelt wird. Dabei wird auf Bühnenbild, Maske und Kostüme weitgehend verzichtet. Wenn Accessoires und Requisiten zum Einsatz kommen, dann nur ganz dezent. Die Spieler wissen zu Beginn der jeweiligen Szenen nicht, wie diese sich inhaltlich entwickeln werden. Damit das Zusammenspiel gelingt, müssen sie vor allem folgende drei Regeln beachten:

Die Akteure dürfen nicht vorausplanen, sondern müssen in jedem Moment wachsam sein, sich zuhören und immer wieder aufeinander eingehen.

Sie sollten die szenischen Angebote der Mitspielerinnen annehmen und nicht ignorieren oder abblocken.

Es ist essentiell, dass die Spieler sich stets gegenseitig unterstützen und gut dastehen lassen. Mit Rampensäuen spielt auf Dauer niemand gerne.

Beim Provokativen Ansatz ist es ähnlich:

Auch dort wird sehr prozessorientiert gearbeitet und inhaltlich nichts geplant. Stattdessen stellen die provokativen Coaches und Therapeuten alle Antennen auf Empfang und lassen sich von jedem Satz und jeder Regung der Klienten immer wieder aufs Neue und über die ganze Sitzung hinweg inspirieren.

Die Berater nehmen alle Angebote an, die von den Klientinnen kommen (verbal wie nonverbal) und spielen damit, indem sie diese überzeichnen. Nichts wird ignoriert oder abgeblockt.

Die Coaches und Therapeuten lassen die Klientinnen nonverbal gut dastehen und versuchen, sie durch ihre wohlwollende Haltung zu stärken und zu inspirieren. Sie sind dabei auf Augenhöhe mit den Klienten.

Keith Johnstone, einer der Wegbereiter des Improvisationstheaters hielt über zehn Jahre lang zahlreiche Seminare am Deutschen Institut für Provokative Therapie. Charlotte Cordes gründete ihre erste Improgruppe kurz nach ihrem ersten Workshop, den sie bei Keith Johnstone in München besuchte. Das war 1998. Florian Schwartz kam 2003 als Musiker hinzu. So lernten sich die beiden Autoren kennen. Charlotte Cordes stand als Spielerin auf der Bühne und Florian Schwartz begleitete die Auftritte am Klavier. Die beiden hatten schnell einen Draht zueinander und begannen schon in den 2000er Jahren, erste Seminare gemeinsam zu entwickeln und zu halten, in denen Improtechniken und Musik eine große Rolle spielten. Florian Schwartz war immer häufiger auch bei anderen Seminaren im DIP als Musiker mit dabei. Er begleitete die Coachings musikalisch und fing an, selbst provokativ zu arbeiten. Er wuchs also ähnlich in diese Thematik hinein wie Charlotte Cordes. Sie kam von der Improbühne, geprägt durch den Provokativen Ansatz, er von der Musiker-Seite, geprägt durch improvisierte Musik.

Das Life Game von Keith Johnstone

Das Life Game ist ein Bühnenformat, das Keith Johnstone neben vielen weiteren Impro-Formaten in seinem langen Schaffensprozess entwickelte.8 Es legt den Fokus stark darauf, mit den Lebensgeschichten der Zuschauer zu improvisieren. Charlotte Cordes war von Anfang an fasziniert vom Life Game und gründete 2014 die Improgruppe Impro Goes Loose, die auf Basis des Life Games das Impro-Format der Life Stories entwickelte.

Beim ursprünglichen Life Game wird ein Gast aus dem Publikum auf die Bühne geholt und von einem Improspieler oder einer Improspielerin über Aspekte seines oder ihres Lebens interviewt. Weitere Improspielende hören aufmerksam zu. Ein Regisseur sitzt in der ersten Theaterreihe und gibt immer wieder szenische Anweisungen an die Spielenden, zu denen ihn oder sie das jeweilige Interview inspiriert – spontan und improvisiert. Die Improspielerinnen lassen sich wiederum von den Regieanweisungen des Regisseurs anregen und improvisieren daraus längere oder kürzere Szenen. Dabei geht es nicht darum, die Erzählungen des Gastes nachzuspielen, sondern Perspektivwechsel, Zeitsprünge, Monologe, Lieder, Best-$$$und Worst-Case-Szenarien etc. daraus entstehen zu lassen.

Wichtig ist: Der Gast ist König. Er oder sie muss gut dastehen und darf nicht vorgeführt werden. Die Gäste werden wohlwollend und humorvoll mit Aspekten ihrer Lebensgeschichte konfrontiert. Diese szenischen Elemente dürfen leicht oder schwer, lustig oder traurig, absurd oder leidenschaftlich sein. Sie haben meist einen emotionalen Effekt auf den Gast, aber auch auf die Zuschauerinnen. Keith Johnstone selbst hatte Respekt vor seinem eigenen Format. Er kam vom Theater und spürte die emotionale, fast therapeutische Wirkung, die diese szenischen Elemente auf die Gäste und das Publikum haben konnten.

Die Gruppe Impro Goes Loose experimentierte in der Anfangsphase viel mit dieser sehr intimen Form des Improvisationstheaters. In der ersten Zeit interviewten die Spieler viele verschiedene Personen pro Abend zu ihrem Leben und improvisierten daraus pro Person maximal ein bis zwei Szenen. Oft wurden die Personen nicht einmal auf die Bühne geholt, sondern von den Spielerinnen von der Bühne aus befragt oder die Spieler gingen ins Publikum und machten die Interviews dort. Aufgrund der häufigen Personen-$$$und Szenenwechsel blieben die Auftritte oft noch etwas beliebig. Die Truppe war vorsichtig und spielte mit angezogener Handbremse. Sie war noch ein Stück von ihrem eigentlichen Ziel entfernt: Mit den Lebensgeschichten des Publikums spielen und auf diese Weise den einzelnen Personen nahe kommen, sie emotional berühren und sie gleichzeitig zum Schmunzeln bringen. Eine Mischung aus Leichtigkeit und Tiefe also.