Wir Töchter von Sparta - Claire Heywood - E-Book
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Wir Töchter von Sparta E-Book

Claire Heywood

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Beschreibung

Wer waren die Frauen, die hinter dem Trojanischen Krieg standen? Die moderne Neuerzählung des Trojanischen Kriegs jetzt im Taschenbuch! Die Schwestern Helena und Klytämnestra brechen in Claire Heywoods feministischem Roman endlich ihr Schweigen. Das Schicksal Trojas in diesem historischen Roman neu erzählt - zwei Frauen schreiben Weltgeschichte! Schon als junge Mädchen werden Helena und Klytämnestra – die für ihre Schönheit berühmten Prinzessinnen von Sparta, denen ganz Griechenland zu Füßen liegt – getrennt und an mächtige Männer verheiratet. Die Brüder Agamemnon und Menelaos machen ihre Frauen zu Königinnen, doch das hat einen hohen Preis: Sanft und sittsam sollen sie in Zukunft sein und möglichst bald einen Erben gebären. Als die Vernachlässigungen und Grausamkeiten ihrer Ehemänner unerträglich werden, gibt es für Helena und Klytämnestra nur noch einen Ausweg: Sie müssen gegen die Zwänge ihres Geschlechts aufbegehren, um sich selbst ein neues Leben zu ermöglichen – und damit die Geschichte für immer zu verändern. »Pflichtlektüre für Fans von Ich bin Circe und ein bemerkenswertes, hochspannendes Debüt.« Fiona Davis Mit »Wir Töchter von Sparta« hat Claire Heywood eine erhellende Neuinterpretation des Kriegs zwischen Sparta und Troja geschrieben, der den Frauen von Homers berühmtem Epos ihre Stimme zurückgibt und zeigt, wie Feminismus bereits im antiken Griechenland eine Rolle gespielt haben könnte.

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Seitenzahl: 547

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Claire Heywood

WirTöchtervonSparta

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die Schwestern Helena und Klytämnestra brechen in Claire Heywoods Neuerzählung des Trojanischen Kriegs Wir Töchter von Sparta endlich ihr Schweigen.

Helena und Klytämnestra sind durch ihre Schönheit und ihren Stand nichts als Überfluss gewohnt, ganz Griechenland liegt ihnen zu Füßen: Sie sind die Prinzessinnen von Sparta. Doch dieses Privileg hat seinen Preis. Noch als Mädchen werden die Schwestern getrennt und verheiratet – mit dem mächtigen Agamemnon und seinem Bruder Menelaos von Troja. Als Königinnen wird von ihnen nur zweierlei erwartet: die Geburt eines Erben und die Verkörperung der sanftmütigen, sittsamen Natur einer Frau. Bald wiegen die Vernachlässigung und die Grausamkeit ihrer Ehemänner schwer auf ihnen. Und somit finden sie sich an dem Punkt wieder, an dem sie gegen die Zwänge ihres Geschlechts aufbegehren müssen, um sich selbst ein neues Leben aufzubauen – und damit die Geschichte für immer zu verändern.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Karte

Prolog

TEIL1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

TEIL 2

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

TEIL 3

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

TEIL 4

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

Anmerkungen der Autorin

Danksagung

Für meine Schwester Lauren

»Nichts ist scheußlicher doch, nichts unverschämter auf Erden als ein Weib, entschlossen zu solcher entsetzlicher Schandtat …

… Hat ihr eignes Gedächtnis, und alle Weiber der Nachwelt ewig entehrt, wenn eine sich auch des Guten befleißigt!«

Homer, Odyssee

 

»Sie, der Niedergang von Troja und ihres eigenen Vaterlandes …« Virgil, Aeneis

Prolog

Sie saß erstarrt da, mit blutigen Händen. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie es dennoch sehen. Sie kniff die Lider fester zusammen, schickte ihren bebenden Atem in die Stille. Und immer noch konnte sie es sehen. Weiß, das zu Rot wurde. Tote Augen.

Sie tauchte die zitternden Hände in die Schüssel, sofort wuchsen blutige Ranken im Wasser. Jetzt ihre Unterarme, jetzt hoch zu den Ellenbogen, bis die Schüssel dunkel war, erneut mit klarem Wasser aufgefüllt und wieder dunkel wurde. Als ihre Arme wieder weiß waren, das dunkle Wasser fortgetragen war und das Zittern aufgehört hatte, blieb das Rot vor ihrem inneren Auge.

Wie war es dazu gekommen? Wie kam das Böse in die Welt? War es das Wirken der Götter? Ihre Strafe für eine begangene Untat? Oder saßen sie einfach nur tatenlos dort oben und sahen zu, wie ein Stein den anderen traf, noch einen und noch einen? Ausdruckslose Gesichter, die im Staub des Erdrutsches blinzelten.

TEIL1

1

KLYTÄMNESTRA

Klytämnestra! Sei vorsichtig, Mädchen! Deine Spindel wackelt ja!«

Klytämnestras Blick wurde wieder klar, als sie ihren Namen hörte. Die Spindel vor ihr hüpfte auf und nieder, ihr sorgsam gesponnener Faden wurde ganz ungleichmäßig. Sie hielt sie mit der Hand an.

»Sieht dir gar nicht ähnlich, Nestra«, murmelte Thekla missbilligend und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Die Falte zwischen den Brauen ihrer Amme blieb, aber immerhin nannte sie sie wieder Nestra. Klytämnestra hatte ihren vollen Namen nie so recht gemocht – er war zu groß, zu sperrig –, aber sie mochte ihn noch weniger, wenn er tadelnd gesagt wurde. Es war ihre Schwester Helena, die begonnen hatte, sie Nestra zu rufen, als sie noch zu klein gewesen war, um den ganzen Namen auszusprechen, und seitdem war ihr die Abkürzung geblieben.

Helena saß jetzt neben ihr. Sie hatten den ganzen Nachmittag schon Wolle gesponnen. Klytämnestra hatte die ganze Zeit den Spinnrocken gehalten, jetzt schmerzte ihr Arm. Ihre Schwester sang vor sich hin und sah zu, wie ihre Spindel wirbelte und den Faden aufwickelte, und obwohl Helena eine schöne Stimme hatte, kannte sie den Text nicht ganz und wiederholte immer wieder die eine Strophe. Klytämnestra wünschte, sie würde aufhören.

Im Frauengemach war es halbdunkel, die Wände waren kahl, die Luft stickig. Als einer der Räume, die ganz im Inneren des Palastes lagen, hatte es keine Fenster, durch die das Tageslicht oder eine frische Brise hätten dringen können, um die dicke Luft zu verjagen. Es war Sommer, und die stehende Hitze wurde von den vielen Frauen und den Lampen und Fackeln im Gemach noch erwärmt, die ihre dunklen Köpfe und ihre weißen, arbeitenden Hände aufscheinen ließen.

Klytämnestras wollenes Kleid klebte an ihrem schweißnassen Rücken. Sie schaute über die Schulter zum am hellsten erleuchteten Winkel des Raumes. Dort standen die Webstühle, drei große hölzerne Rahmen mit halb fertigem Stoff darin. Nur an zweien von ihnen arbeiteten zurzeit die beiden kunstfertigsten Haussklavinnen. Klytämnestra schaute voller Bewunderung und Neid zu, wie sie die Schiffchen hin und zurück bewegten und Faden für Faden ihre schwierigen Muster aufbauten. Es war, als verfolgte sie einen hypnotisierenden Tanz oder das Spiel eines komplizierten Instruments.

»Weißt du«, hörte sie Theklas Stimme, »wir könnten es bald mit dem Weben versuchen.«

»Wirklich?«, fragte Klytämnestra, die sich vom Anblick der tanzenden Hände der Sklavinnen losriss.

»Du bist jetzt elf. In ein paar Jahren bist du verheiratet, und was wärst du für eine Ehefrau, wenn du nicht weben könntest?«

»Darüber würde ich mich sehr freuen«, erwiderte sie mit einem dankbaren Nicken. Am Webstuhl zu arbeiten, erschien ihr weit interessanter als das Spinnen.

Helena unterbrach ihren Gesang. »Darf ich auch weben?«

Klytämnestra verdrehte die Augen. Helena wollte immer das tun, was sie tat, obwohl sie zwei Jahre jünger war. Dabei hatte sie bisher nicht das geringste Interesse für den Webstuhl gezeigt.

»Ich glaube, du bist noch ein bisschen zu jung, Helena. Du wirst deine Chance schon früh genug bekommen.«

Helena zog einen übertriebenen Schmollmund und wandte sich abrupt wieder ihrem Spinnrocken zu. Klytämnestra wusste, dass sie den Grund für ihr Schmollen bald schon wieder vergessen haben würde. Ihr Gesicht würde sich entspannen, sobald die Bewegung der Spindel sie wieder in ihren Bann zog.

Die drei Frauen arbeiteten weiter, bis Thekla sagte: »Ich glaube, wir haben für heute genug gearbeitet. Geht ruhig los, ihr Mädchen, und sucht euch etwas zu essen.«

Klytämnestra unterbrach ihre Arbeit. »Können wir vor dem Abendessen nicht ein wenig draußen spielen? Es ist noch nicht dunkel. Ich halte es drinnen nicht den ganzen Tag aus.«

»Oh, ja, können wir?«, ließ Helena vernehmen.

Thekla zögerte. »Ich glaube schon«, seufzte sie. »Aber ihr müsst eine Sklavin mitnehmen, damit ihr nicht allein seid.«

»Aber wir sind doch zu zweit!«, protestierte Klytämnestra. »Es macht keinen Spaß, wenn jemand zusieht.« Sie sah Thekla bittend an, aber das Gesicht der Amme blieb unbewegt. »Na gut«, sagte sie schließlich und schnaubte verärgert. »Wir nehmen Agatha mit.« Das Mädchen lag altersmäßig zwischen ihr und Helena und war eine weit bessere Spielkameradin als die sauertöpfischen Begleiterinnen, die Thekla für sie ausgewählt hätte.

Die Amme schien noch nicht restlos überzeugt, nickte aber.

»Agatha! Wir spielen draußen, komm mit uns«, rief Klytämnestra durch den Raum, bevor es sich Thekla anders überlegen konnte. Das Sklavenmädchen schlurfte mit gesenktem Kopf zu ihnen herüber. Klytämnestra nahm Helena bei der Hand und ging zur Tür. Die drei waren schon im Flur, als Thekla hinter ihnen herrief: »Bleibt in der Nähe des Palastes! Wenn ihr zu lange draußen bleibt, werdet ihr braun wie die Ziegenhirten! Und wer soll euch dann heiraten?«

 

Die drei Mädchen verließen den Palast und schlenderten den Hügel zur Weide hinunter. Klytämnestra ging voran. Das Gras stand hoch, die trockenen Samen blieben an ihrem Gewand hängen, als sie hindurchstapfte. Das Laub der wenigen Bäume rauschte über ihren Köpfen, und sie freute sich über die frische Luft an ihren Armen nach der langen Zeit im Frauengemach. Sobald sie weit genug vom Palast entfernt waren, dass sie niemand mehr beobachten konnte, blieb sie stehen.

»Was sollen wir spielen?«, fragte sie die anderen beiden Mädchen.

»Ich bin eine Prinzessin«, antwortete Helena ohne Zögern. »Und Agatha kann meine Zofe sein.«

Agatha nickte schüchtern.

»Aber du bist eine Prinzessin«, versetzte Klytämnestra gereizt. »Willst du nicht so tun, als wärst du jemand anderes? Eine Hexe vielleicht? Eine Piratin oder ein Ungeheuer?«

»Nein. Ich bin immer die Prinzessin.«

»Na gut. Dann bin ich der König«, seufzte Klytämnestra. Sie hatte gelernt, dass es am einfachsten war, wenn man Helena ihren Willen ließ. Sonst begann sie zu weinen.

Helena schnaubte. »Du kannst doch gar kein König sein, Nestra. Du bist doch ein Mädchen!« Helena warf Agatha einen Blick zu, damit sie über ihre Bemerkung lachte. Agatha kicherte leise, presste die Lippen aber sofort wieder aufeinander, als Klytämnestra ihr einen tadelnden Blick zuwarf, und senkte den Blick zu Boden.

»Na gut. Du kannst die Prinzessin sein, Helena. Agatha, du bist die Zofe. Und ich bin die Amme.« Sie dachte einen Augenblick lang nach. »Aber ich bin eine Amme, die Zaubertränke herstellen kann«, fügte sie hinzu.

»Was spielt ihr?«

Die Stimme kam von hinten. Eine Jungenstimme. Klytämnestra wirbelte herum, um zu sehen, zu wem sie gehörte.

Der Junge schlenderte durch das hohe Gras auf sie zu und war jetzt nur noch ein paar Schritte von ihnen entfernt. Er war ein wenig älter als sie – hochgewachsen, aber noch ohne Bartwuchs. Er hatte langes, dunkles Haar und ein Lächeln, das Klytämnestra plötzlich ganz befangen machte. Sie hatte den Jungen vor ein paar Tagen mit seinem Vater im Palast ankommen sehen. Irgendein diplomatischer Besuch, nahm sie an, oder vielleicht waren die beiden auch nur auf der Durchreise. Es kamen und gingen ständig Leute, die auf dem Weg über die Berge oder von der Küste waren. Das Herdfeuer ihres Vaters brannte stets, aber sie hatten selten so junge Gäste. Die einzigen Jungen von edler Geburt in ihrer Nähe waren ihre Brüder, die Zwillinge Kastor und Pollux, aber die waren zu alt, um noch mit Helena und ihr zu spielen. Und Thekla sagte, es sei unziemlich für Prinzessinnen, mit Sklavenjungen zu spielen. Aber mit diesem Jungen konnten sie doch spielen, oder? Er war ja ein Gast.

»Ha-hallo«, sagte Klytämnestra. Ihre Zunge kam ihr plötzlich ganz dick vor. »Wir wollten gerade ein Prinzessinnen-Spiel spielen.« Sie schämte sich, wie kindisch das klang, und fügte hastig hinzu: »Das ist natürlich ziemlich albern, aber Helena wollte das unbedingt spielen. Wir können auch etwas anderes tun, wenn du mitmachen willst.«

Wieder dieses Lächeln. »Nein, ein Prinzessinnen-Spiel ist schon in Ordnung.«

Klytämnestra befürchtete, dass er sich über sie lustig machte, aber immerhin wollte er mitspielen. »Wie heißt du denn?«, fragte sie.

»Theseus. Mein Vater und ich kommen aus Athen.«

»Theseus«, wiederholte sie. »Na gut. Also, Helena wollte die Prinzessin sein, und Agatha – sie ist nur unsere Sklavin – wollte ihre Zofe spielen. Und ich bin eine Amme, die Zaubertränke mischen kann. Was willst du sein?«

»Ich bin ein fremder König. Ein großer Krieger.«

Klytämnestra lächelte, es freute sie, dass er so auf ihr Spiel einging. »Also, wie wäre es denn, wenn du Schiffbruch erlitten hättest und an unser Ufer geschwemmt worden wärst, und dann finde ich dich und heile dich mit einem Trank, und …«

Aber Theseus schien gar nicht mehr zuzuhören. Er hatte sich abgewandt und sah stattdessen Helena an.

»Du siehst wirklich wie eine Prinzessin aus, meine Dame«, sagte er und verneigte sich übertrieben. »Du hast das hellste Haar, das ich je gesehen habe.« Er hob eine Hand, als wolle er es berühren. »Es ist wie Feuer. Und deine Haut ist so weiß – wie das einer echten Dame. Ich wette, du wirst einmal so schön wie Hera selbst, wenn du ganz erblüht bist.«

Helena kicherte, aber Klytämnestra ärgerte sich. Die Leute machten ständig Bemerkungen über Helenas Haare. Sie fand es gar nicht so besonders. Und ihre eigene Haut war immerhin genauso hell wie Helenas. Außerdem war sie näher am »Erblühen« als sie. Helenas Brust war so flach wie die eines Jungen.

Sie versuchte, seine Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel zu lenken. »Jedenfalls dachte ich, du könntest Schiffbruch erlitten haben …«

Theseus unterbrach sie. »Wie wäre es, wenn ich gerade aus einer Schlacht zurückgekehrt wäre und Wunden hätte, für deren Heilung man Kräuter braucht. Du musst losgehen und Kräuter suchen.«

»Ist gut.« Klytämnestra lächelte. Sie war froh, dass er ihr eine wichtige Rolle zuerkannt hatte. »Ich gehe dann mal los.«

Sie entfernte sich ein wenig von den anderen, in Richtung Fluss, stellte sich vor, wie sie in die Berge ging, immer auf der Suche nach seltenen Kräutern. Sie hörte noch, wie Helena Agatha herumkommandierte, bückte sich dann, um eine Pflanze mit kleinen weißen Blüten zu pflücken. Sie ging weiter, bis das Rauschen des Flusses Helenas Befehle und Kichern übertönte. Sie hockte sich hin, um ihre Hände im klaren Wasser zu waschen, aber das Wollfett klebte hartnäckig an ihrer Haut. Am Flussufer gab es nicht viele interessante Pflanzen, sie pflückte dennoch ein paar Wildblumen und Gräser. Sie fragte sich, ob sie so tun würde, als legte sie einen Umschlag auf Theseus’ Wunde. Der Gedanke machte sie unruhig, war aber gleichzeitig auch aufregend. Sie hatte noch nie einen Jungen berührt, abgesehen von ihren Brüdern, und die zählten nicht.

Als Klytämnestra genügend magische Kräuter gefunden hatte, legte sie sie zu einem Sträußchen zusammen und ging zurück zur Wiese. Aber als sie sich dem Ort näherte, an dem sie die anderen zurückgelassen hatte, kam ihr irgendetwas merkwürdig vor. Und dann begriff sie: Sie hörte Helenas Stimme nicht mehr. Jetzt ging sie schneller.

Sie konnte Helena nirgends sehen, auch Theseus nicht oder Agatha. Sie schaute über die Wiese und blinzelte im Licht Sonne, die ihren Zenit überschritten hatte.

Sie begann zu rennen. Panik stieg ihr in die Kehle. Dumm, so dumm! Sie hätte Helena niemals allein zurücklassen dürfen. Wenn ihr etwas passierte, wäre es ihre Schuld. Sie mussten aufeinander aufpassen. Was, wenn ein Wolf gekommen war? Oder ein Keiler? Normalerweise wagten diese Tiere sich nicht so nah an den Palast heran, aber es kam doch vor. Oder wenn sie entführt worden war? Von Sklavenhändlern oder einem fremden Wanderer, der einfach die Gelegenheit ergriffen hatte? Theseus war nicht alt genug, um ausgewachsene Männer abzuwehren.

Sie glaubte jetzt, wieder an dem Ort zu sein, an dem sie die anderen zurückgelassen hatte. Immer noch keine Spur von ihnen. Sie rannte weiter. Plötzlich stolperte sie über etwas und fiel ins Gras.

»Au«, machte eine leise Stimme.

Klytämnestra rappelte sich auf und sah, worüber sie gestolpert war.

»Agatha? Was machst du da im Gras? Wo ist Helena?«

Das Sklavenmädchen hielt sich den Bauch an der Stelle, wo Klytämnestra sie getreten hatte. Sie wand sich vor Schmerz und sagte: »Sie spielt mit Theseus. Er sagte, dass er sie entführt, und dann hat er mich erstochen – im Spiel, meine ich –, und er sagte, ich sei jetzt tot und und müsse liegen bleiben und still sein. Ich hörte noch, wie sie davonrannten, aber ich weiß nicht, wo sie hin sind. Ich war ja tot.«

Klytämnestra zog sich der Magen zusammen. »Du dumme Kuh! Du kannst doch Helena nicht mit einem Jungen alleine lassen!« Sie sprang auf. »Wir werden ja solchen Ärger bekommen«, stöhnte sie, mehr zu sich selbst.

Agatha hatte die Augen aufgerissen und sah sie voller Angst an. Tränen sammelten sich darin. »Es tut mir so leid, Herrin, es tut mir leid«, sagte sie, und ihre Stimme brach dabei. »Ich hatte Angst vor ihm.«

»Entschuldigungen helfen jetzt auch nichts mehr«, unterbrach Klytämnestra sie grob. »Wir müssen sie finden.« Sie formte mit den Händen einen Trichter um den Mund und rief: »Helena!« Sie atmete tief durch. »HELENAAAA!«

Sie schaute suchend über die Wiese und drehte sich dabei um die eigene Achse. Keine Spur von ihnen, keinerlei Hinweis darauf, wohin sie verschwunden waren. Sie begann zu rennen – es war besser, irgendwo zu suchen als nirgends –, blieb dann aber nach ein paar Schritten stehen.

»Es ist sinnlos, hinter ihnen herzurennen. Dann verirren wir uns noch, und keiner erfährt, was geschehen ist. Wir müssen es meinem Vater sagen.«

Jetzt strömten die Tränen über Agathas Wangen. »Aber dann bekommen wir Ärger!«, schluchzte sie.

»Dafür ist es jetzt zu spät. Komm!« Klytämnestra packte ihr Handgelenk, rannte zum Palast und zog Agatha hinter sich her.

 

Klytämnestra hatte das Gefühl, schon seit Stunden in ihrer Kammer eingeschlossen zu sein, obwohl sie am Licht erkennen konnte, dass die Sonne noch nicht untergegangen war. Viel Zeit konnte daher nicht vergangen sein. Sie wünschte, jemand würde ihr sagen, was passiert war. War Helena gefunden worden? Ging es ihr gut? Sie hatte nicht einmal Agatha bei sich, um ihre Angst mit ihr zu teilen. Ihre Schuldgefühle. Vater hatte das Sklavenmädchen bei sich behalten, als er sie einschloss. Er war so wütend, als sie ihm erzählte, was geschehen war. Nein, nicht wütend. Besorgt vielleicht. Sie hatte ihren Vater noch nie besorgt erlebt. Er hatte Kastor und Pollux auf ihren Pferden losgeschickt und dazu die halbe Palastwache zu Fuß, um nach Helena und dem Jungen zu suchen.

Die Zeit verging. Klytämnestra zog an ihrem Haar, verknotete es. Sie saß zusammengesunken auf der Bettkante und malte sich aus, was wohl geschehen war. Selbst wenn Helena und Theseus in Sicherheit waren, war Helena immer noch allein mit einem Jungen. Klytämnestra wusste, was Jungen Mädchen antaten. Was Männer Frauen antaten. Thekla hatte ihr alles erklärt, als sie fragte, warum die Schafe aufeinander kletterten. Und wenn das auch Helena passiert war … dann würde sie niemals gut verheiratet werden. Klytämnestra war übel. Sie hatte ihre Schwester im Stich gelassen. Sonst war sie so verantwortungsbewusst. Helena war jung und manchmal töricht, aber Klytämnestra war immer da gewesen, um auf sie aufzupassen. Aber heute war sie so dumm gewesen. Warum hatte sie so sehr gewollt, dass Theseus sie mochte? Er war nur ein dummer Junge. Helena bedeutete ihr so viel mehr als irgendein Junge. Mehr als alles auf der Welt.

Sie begann zu weinen. Stille, wütende Tränen. Wut auf Theseus. Wut auf die dumme, wunderschöne Helena. Wut auf sich selbst.

Dann hörte sie, wie der Türriegel angehoben wurde. Sie wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Sie hoffte aus ganzem Herzen, dass Helena eintreten würde.

Aber es war Agatha, die hereinstolperte, als sich die Tür öffnete, gestoßen von hinten. Sie gab ein mitleiderregendes Jaulen von sich, und dann schloss sich die Tür hinter ihr. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, ihre Augen rot und geschwollen. Sie stolperte ein paar Schritte in den Raum und blieb dann stehen, als könne sie nicht mehr weitergehen. Sie stand da wie erstarrt und stützte sich mit der ausgestreckten Hand an der Wand ab.

»Agatha?«, fragte Klytämnestra behutsam. Sie merkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Das Sklavenmädchen hatte geweint, als sie Klytämnestras Vater alles erzählt hatten. Lästige, angsterfüllte Tränen, für die Klytämnestra keine Zeit hatte. Aber die Angst in ihrem Blick war jetzt etwas Beunruhigenderem gewichen. Einer Leere. Klytämnestra tat einen Schritt auf sie zu. Dann noch einen. Erst als sie ganz nah vor ihr stand, sah sie es. Im flackernden Licht der Lampen erkannte sie, dass Agathas schmaler Rücken von klaffenden Wunden bedeckt war. Streifen übelkeiterregenden Rots leuchteten unter den Fetzen ihres zerrissenen Kleides hervor, unter ihrer zerfetzten weißen Haut. Sie war also geschlagen worden. Davor hatte sie solche Angst gehabt.

»Oh, Agatha«, keuchte Klytämnestra. Sie wollte Agatha umarmen, aber das Mädchen zuckte zusammen. »Es tut mir so leid. Ich hätte ihm sagen sollen, dass es auch meine Schuld war …«

»Er weiß, dass es deine Schuld war«, erwiderte Agatha tonlos. »Deshalb hat er mich hier hineingestoßen. Damit du es siehst.«

Klytämnestra sah sie verwirrt an.

»Er konnte dich nicht schlagen«, murmelte Agatha. »Du hättest Narben davongetragen.«

Plötzlich verstand Klytämnestra, und sie ließ den Kopf hängen. Ihr Vater bestrafte sie durch Agatha. Ihr Magen hob sich bei dem Gedanken. Er hatte sie vermutlich härter geschlagen als nötig, um seine Botschaft unmissverständlich zu machen. Sie sollte die Qual sehen. Er war kein grausamer Mann, ihr Vater, aber er konnte kalt sein, wenn es sein musste. Und die Sicherheit seiner Kinder war ihm außerordentlich wichtig.

Sie wollte Agatha umarmen, ihre Wunden baden, fürchtete aber, ihr nur noch mehr wehzutun.

»Weißt du etwas über Helena?«, fragte sie leise.

Agatha schüttelte den gesenkten Kopf.

Mehr Zeit verging. Hin und wieder wimmerte Agatha leise, aber ansonsten war es totenstill in der Kammer. Die beiden saßen auf Klytämnestras Bett und warteten. Agathas Blut tropfte auf die Bettlaken, besudelten sie, aber das war Klytämnestra egal. Sie nahm Agathas zitternde Hand in ihre.

Da war ein Geräusch im Flur. Klytämnestras Blick huschte zur Tür. Bitte, lass es gute Nachrichten sein. Bitte mach, dass sie in Sicherheit ist.

Als sich die Tür öffnete, stand ihr Vater im Licht, das durch sie hereinfiel.

»Wir haben sie gefunden«, sagte er, lächelte aber nicht. Seine Brauen waren zusammengezogen, das Gesicht müde. Sein Blick glitt zu Agatha und wieder fort. Er sah traurig aus. Dann trat er einen Schritt zur Seite, und da war Helena, mit strahlendem Blick wie immer, vielleicht ein wenig kleinlaut. Sie trottete ins Zimmer, ihr Vater zog sich zurück und schloss die Tür.

Sobald er fort war, sprang Klytämnestra auf und umarmte ihre Schwester.

»Was ist passiert? Wo bist du hingelaufen? Geht es dir gut?« Sie musterte Helena von Kopf bis Fuß und suchte nach Verletzungen.

»Mir geht es gut. Theseus und ich haben nur gespielt. Ich weiß auch nicht, warum alle solche Angst hatten.« Sie warf ihr Haar zurück. »Er hat mich entführt. Wir haben eine Höhle am Fluss gefunden, in der wir uns versteckt haben.«

»Aber … hat er dich berührt, Helena?«, fragte Klytämnestra.

»Mich berührt? Das wollte Vater auch wissen. Er hat mich ganz fest geschüttelt, als er mich das gefragt hat. Das hat wehgetan.« Sie rieb sich den Oberarm und runzelte die Stirn.

»Aber hat er es getan, Helena? Hat er dich berührt?«

Helena verdrehte die Augen. »Ja, er hat mich berührt. Er hat meine Hand gehalten, als wir von Agatha weggelaufen sind. Und dann, als wir in der Höhle waren, hat er mir übers Haar gestrichen, und … und er hat mich geküsst«, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln. Sie wurde rot, aber da lag noch etwas anderes in ihrem Gesichtsausdruck. Klytämnestra fand, dass es aussah wie Stolz.

»Er hat dich geküsst?! Und … und das war’s? Sonst ist nichts passiert?«

Helena wirkte jetzt etwas betreten, weil sie die Sorge im Blick ihrer Schwester sah. »Na ja, er hat mich gebeten, für ihn zu singen, und ich habe auch getanzt, und dann hat uns Pollux gefunden.« Jetzt begann sie sich zu empören. »Das war alles. Er war nett. Er hat immer gesagt, wie hübsch er mich findet. Und jetzt hat ihn Vater weggeschickt. Ich wette, es wird ewig dauern, bis hier wieder ein neuer Junge vorbeikommt, mit dem wir spielen können.«

»Wirklich, Helena? Mehr ist nicht passiert?«, presste Klytämnestra hervor.

Helena nickte.

»Dann ist ja alles gut.« Sie seufzte erleichtert und erlaubte sich ein kleines Lächeln. »Dann ist ja doch nichts Schlimmes passiert.« Doch in diesem Moment fiel ihr Agatha wieder ein, die hinter ihr saß. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Helena sie wohl bemerkt hatte.

2

Helena

Es war ein langweiliger Tag gewesen. Eigentlich war es sogar ein langweiliger Monat gewesen. Seit Theseus und sein Vater wieder zurück nach Athen gereist waren, glich ein Tag dem anderen. So wie immer. Immer und immer nur Wolle spinnen, bis sie das Gefühl hatte, dass sich ihre Augen im Kopf ebenso drehten wie die Spindel. Und heute war es sogar noch schlimmer, weil Nestra ihr nicht hatte Gesellschaft leisten können. Ihre Schwester lernte endlich, mit dem Webstuhl umzugehen, und so hatte Helena den ganzen Tag mit Thekla verbringen müssen. Die Amme erzählte ihr Geschichten, aber die hatte sie alle schon mal gehört. Das waren Babygeschichten. Merkte Thekla denn nicht, dass sie jetzt groß war? Sie wollte Erwachsenengeschichten hören. Richtige Geschichten. Über Gefahren und Verrat und Rache und Liebe. Vor allem über Liebe. Nestra erzählte ihr manchmal solche Geschichten, aber sie dachte sie sich nur aus.

Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu – zumindest glaubte Helena das. Sie war schon seit Stunden im Frauengemach. Bestimmt ging bald die Sonne unter.

»Darf ich aufhören?«, fragte sie Thekla.

Die Amme zog die Brauen zusammen und warf einen Blick auf die wenigen Stränge gesponnener Wolle in Helenas Korb. »Ja, es ist wohl genug für heute.«

Helena schaute in die Ecke, in der ihre Schwester am Webstuhl saß. Eine Sklavin stand neben ihr und gab ihr Anweisungen. Helena öffnete den Mund.

»Deine Schwester hat zu tun«, sagte Thekla. »Lenke sie nicht ab.« Die alte Amme blickte zu dem Wächter, der an der Haupttür stand. Helenas Vater hatte dort seit Neuestem einen abgestellt. »Du kannst den Wächter fragen, ob er draußen auf dich aufpassen will. Du kannst ja Agatha mitnehmen, wenn du willst.«

Helena verzog das Gesicht. Agatha hatte überhaupt keinen Sinn mehr für Spaß. Sie war sogar noch stiller geworden als vorher und hatte immer nur Angst, Ärger zu bekommen.

»Ich will nicht mit Agatha spielen«, sagte Helena, aber nur ganz leise. Die Sklavin war am anderen Ende des Raumes, und sie wollte nicht, dass sie sie hörte.

»Und warum setzt du dich dann nicht zu deinen Eltern? Sie sind zu dieser Zeit vielleicht noch im Kaminsaal. Sie freuen sich sicher, dich zu sehen.«

Helena zögerte. Sie saß gern auf dem Schoß ihres Vaters. Er umarmte sie dann und brachte sie zum Lachen und erzählte ihr von allem, was im Palast vor sich ging. Aber wenn ihre Mutter dabei war … Helena fühlte sich in Gegenwart ihrer Mutter immer etwas unbehaglich. Es war nicht so, dass sie grausam zu ihr wäre. Das war sie nie. Und manchmal konnte sie sogar sehr liebevoll sein. Aber dann wieder war sie so kühl und distanziert. Sie tat dann so, als sähe sie Helena nicht, wenn sie im Palast an ihr vorbeiging, obwohl Helena genau bemerkte, dass sie hastig den Blick abwandte. Manchmal verließ sie sogar den Raum, wenn Helena hereinkam, und schützte Müdigkeit oder Unwohlsein vor. Vor ein paar Monaten hatte Helena ihre Mutter auf ihrem üblichen Platz an der Feuerstelle in der Kaminhalle angetroffen, dem zentralen Saal im Palast, Nestra hatte neben ihr gesessen. Die beiden hatten zusammen Wolle gesponnen, geplaudert und miteinander gelacht. Helena hätte sich ihnen so gern angeschlossen, aber als ihre Mutter sie erblickt hatte, legte sie hastig die Wolle zurück und entschuldigte sich. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Warum konnte ihre Mutter nicht bei ihr sitzen, wie sie es mit Nestra tat? Als hätte Helena etwas an sich, das ihre Mutter abstieß.

Sie beschloss, Theklas Angebot dennoch anzunehmen, um nicht noch eine Stunde mit ihren Geschichten verbringen zu müssen, legte ihren Spinnrocken hin und ging zur Tür, vor der der Wächter stand. Vielleicht war ihr Vater ja doch im Kaminsaal. Sie ging am Wächter vorbei und in den Flur, und der Wächter folgte ihr automatisch. Es war anfangs lästig gewesen, dass sie nicht mehr allein durch den Palast hatte spazieren dürfen wie früher, aber sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, einen Schatten zu haben.

Bald stand sie vor der Halle, die direkt im Herzen des Palastes lag, direkt am Hof. Sie blieb auf der Veranda stehen, bevor sie eintrat, und spähte durch die angelehnte Tür. Ganz hinten in der Halle stand der Thron ihres Vaters. Er war leer. Sie spürte, wie sie der Mut verließ. Neben dem Thronsessel saß ihre Mutter auf ihrem kunstvoll geschnitzten Sessel. Vor ihr, in der Mitte des Raumes, brannte hell das Kaminfeuer. Außer Helenas Mutter war nur noch eine ihrer Zofen da. Die beiden Frauen saßen schweigend da und spannen.

Helena mochte nicht umdrehen, weil sie vor dem Wächter nicht dumm aussehen wollte. Und vielleicht hatte ihre Mutter heute ja gute Laune. Man wusste es ja nie. Also atmete sie tief durch und trat ein.

Ihre Mutter schaute auf, als Helena um die runde Feuerstelle herumging und auf sie zukam. Und sie lächelte. Helena seufzte erleichtert, lächelte zurück und ging schneller.

»Helena, komm und setz dich doch zu mir ans Feuer«, sagte ihre Mutter. So eine einfache Bitte! Wie sehr sie sich freute. Das war doch alles, was sie wollte. Ihre Mutter war so wunderschön, so elegant. Helena wollte nur Zeit mit ihr verbringen, ihr gefallen, so sein wie sie.

Am Rand der Halle standen einige Schemel. Helena nahm sich einen niedrigen und stellte ihn neben ihre Mutter. Mit einigem Abstand, weil sie ihr Glück nicht herausfordern wollte.

Helena seufzte erneut leise. Ihre Schultern entspannten sich, und sie lächelte zufrieden. Der Kaminsaal war ihr Lieblingsraum im ganzen Palast. Das Feuer in ihrer Mitte sorgte dafür, dass es hier immer hell und warm war, sogar in der Nacht, und am Tage drangen die Sonnenstrahlen durch das quadratische Loch im Dach und erleuchtete die bunten Fresken an den Wänden. Jagdszenen, Festmähler, Frauen in üppigen Gewändern, alle in einem Wirbel aus Blau, Gelb und Rot zum Leben erweckt. Helena mochte die Tiere am liebsten, den Löwen und den Keiler und den eleganten Hirsch, wie sie sprangen und sich wanden, wild und wunderschön.

Ihre Mutter spann schweigend weiter. Sie führte die tief purpurne Wolle vom Rocken auf die Spindel, ließ sie durch ihre langen, blassen Finger gleiten. Die beruhigende Kühle dieser Hände, ihre Rauheit nach Jahren der Arbeit am Spinnrocken. Die Hände einer Frau blieben niemals ruhig. Sogar eine Königin musste spinnen und weben und sticken. Aber es war die Königin, die die feinste Wolle spann, die das wichtigste Tuch wob. Das Tuch des Königs.

»Was willst du damit denn machen?«, fragte Helena und schaute ihre Mutter schüchtern an.

»Einen Umhang für deinen Vater. Ein König braucht einen feinen Mantel, wenn er in den Krieg zieht.«

Krieg? Angst keimte in Helenas Brust auf.

Ihre Mutter musste ihr das angesehen haben, denn sie sagte: »Keine Sorge, Kind. Dein Vater muss nur einem seiner Freunde zur Seite stehen. Er wird nicht lange fort sein. Und die Götter werden ihn beschützen.« Sie lächelte Helena beruhigend zu, sah aber so aus, als glaubte sie ihren eigenen Worten nicht.

»Wann bricht er denn auf?«, fragte Helena.

»Sobald er seine Männer um sich versammelt hat. Und sobald ich diesen Mantel beendet habe«, fügte sie mit einem weiteren kleinen Lächeln hinzu.

»Dann musst du aufhören mit dem Weben!«, rief Helena. »Hör auf zu spinnen. Webe diesen Mantel nicht für ihn, dann kann er auch nicht gehen!«

Ihre Mutter lachte leise. »So geht das nicht, Helena. Er wird dennoch aufbrechen, ob er diesen Mantel trägt oder nicht. Aber wir wollen doch nicht, dass er auf seiner Reise friert, nicht wahr? Und dass er prächtig aussieht, damit jeder sagt: ›Seht, dort geht ein großer König.‹«

Helena nickte, aber sie hatte Angst. Sie war vielleicht noch jung, aber sie wusste, wie Kriege waren. Die Männer brachen auf und kamen nicht wieder.

»Sieh mal, Helena, dein Haar ist ja ganz zerzaust«, sagte ihre Mutter und schüttelte den Kopf. »Diejenige, die es dir heute Morgen frisiert hat, hat es nicht straff genug geflochten. Es löst sich ja hier oben alles.« Sie zeigte auf die Zofe hinter ihr, die aufsprang. »Wir können dich so doch nicht herumlaufen lassen. Lass Melissa es für dich frisieren.«

Helena wusste, dass ihre Mutter versuchte, das Thema zu wechseln, nickte aber gehorsam. Sie kannte die Zofe nicht; vermutlich war sie neu am Palast. Sie war jung und sah gewöhnlich aus, mit einem runden Gesicht und einem freundlichen Lächeln. Helena setzte sich gerade hin und spürte, wie die Finger der Zofe ihre Flechten lösten.

»Hallo, Herrin Helena«, hörte sie eine muntere Stimme sagen. »Wie schön, Euch endlich kennenzulernen. Ich heiße Melissa. Lasst mich wissen, wenn ich an Euren Haaren ziehe.«

Helena fand ihren Tonfall etwas zu vertraulich für eine Sklavin, aber sie mochte das. So viele von ihnen sagten niemals ein Wort und benahmen sich wie Geister.

Ihre Mutter saß immer noch zu Helenas Linken und spann. Sie konnte die mit purpurnem Garn gefüllte Spindel gerade noch aus dem Augenwinkel erkennen. Aber sie hielt den Blick gerade nach vorn gerichtet, damit die Zofe ihre Arbeit tun konnte. Trotz der Angst um ihren Vater war Helena glücklich. Sie spürte ihre Mutter neben sich, und sie saßen in angenehmer Stille beieinander.

Melissa hatte ihre Frisur jetzt gelöst und kämmte ihr Haar mit einem feinzinkigen Kamm. Es kribbelte, wenn er über ihre Kopfhaut strich.

»Oh, Ihr habt so wunderbares Haar, Herrin Helena«, seufzte sie. »Eure Mutter muss von Zeus selbst Besuch erhalten haben, dass sie ein Kind mit einem solchen Feuer in sich gebar.«

Links von sich sah sie eine plötzliche Bewegung, dann hörte sie ein Klatschen und ein Aufheulen hinter sich. Helena fuhr herum. Melissa wand sich auf dem Boden und hielt sich den Kopf, sie wirkte verwirrt und voller Angst. Helena sah, wie ihre Mutter über der Sklavin stand und sich zitternd die Hand rieb. Ihr Gesichtsausdruck war merkwürdig. Irgendetwas zwischen Wut und Schmerz.

»Raus.« Die Stimme ihrer Mutter klang leise und heiser. »Beide. Raus.«

Helena war starr vor Angst. Sie hatte ihre Mutter noch nie so erlebt. Sofort war sie auf den Beinen und rannte aus der Halle, bevor die Sklavin sich auch nur aufrappeln konnte. Sie sah Melissa niemals wieder.

 

In jener Nacht lag Helena wach im Bett. Sie hatte die Szene im Kaminsaal immer und immer wieder vor ihrem inneren Auge ablaufen lassen und versucht, sie zu verstehen. Aber das Einzige, was ihr dazu einfiel, war, dass es etwas mit ihrem Haar zu tun haben musste. Das hatte ihre Mutter aus der Fassung gebracht. Als Melissa gesagt hatte, wie wunderschön ihr Haar sei.

Vielleicht war Mutter eifersüchtig, dachte Helena. Das erschien ihr einleuchtend. Königin Leda war berühmt für ihre Schönheit, aber ihr Haar war nichts Besonderes. Es war tiefschwarz wie das ihres Vaters, ihrer Brüder, wie Nestras. Wie das Haar der meisten Palastbewohner. Aber Helenas Haar … es leuchtete. Wie Feuer. Wie Gold. Alle sagten das ständig. Es war etwas Besonderes, ein Geschenk der Götter. Wie Melissa es gesagt hatte, kurz bevor… Ja. Das war einleuchtend. Ihre Mutter war eifersüchtig. Vielleicht sollte Helena versuchen, ihr Haar zu bedecken. Vielleicht würde sie ihre Mutter dann so lieben, wie sie Nestra und die Zwillinge liebte. Aber warum sollte sie sich verstecken? Der Gedanke machte sie plötzlich wütend. Warum musste sie um die Liebe ihrer Mutter feilschen, während ihre Geschwister sie umsonst bekamen? Sie konnte auch nichts dafür, dass sie die Schönste von ihnen war.

Etwas anderes ging Helena im Kopf herum. Ihr Vater zog in den Krieg. Bei dem Gedanken fühlte sich ihr Magen an, als wäre er mit Blei gefüllt. Sie fragte sich, ob Nestra es wohl wusste. Ich muss es ihr sagen, dachte sie. Ihre Schwester musste es wissen. Außerdem wollte sie nicht allein darüber nachgrübeln müssen.

»Nestra?«, rief sie leise in die Dunkelheit. Das Bett ihrer Schwester stand nur ein paar Meter von ihrem entfernt. »Nestra, bist du wach?«

»Ja«, flüsterte ihre Schwester zurück.

»Ich habe heute etwas herausgefunden. Etwas Schlimmes.« Helena verstummte und fügte dann hinzu: »Vater zieht in den Krieg.«

»Ich weiß«, sagte Nestra.

»Du weißt es?«, fragte Helena und setzte sich auf.

»Sie bereiten sich schon seit Wochen darauf vor, hast du das nicht bemerkt?«

Helena war ein wenig verärgert. Sie hatte geglaubt, wenigstens dieses eine Mal mehr zu wissen als ihre Schwester.

»Mutter webt Vater einen purpurfarbenen Mantel«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass das nun kaum eine besonders geheime Information war. Sie wollte einfach zeigen, dass sie etwas wusste, was Nestra nicht wusste.

»Hmm«, machte ihre Schwester statt einer Antwort. Dann sagte sie: »Ich habe Thekla gefragt, und sie hat es bestätigt. Aber sie sagte, dass er vermutlich nicht länger als ein paar Monate fortbleibt.«

»Machst du dir keine Sorgen um ihn?«, fragte Helena.

»Natürlich mache ich mir Sorgen. Aber er ist stark und schlau. Und er war schon im Krieg. Ein guter König steht seinen Freunden immer zur Seite.« Aber ihre Stimme klang, als schwankte sie ein wenig. Sie fuhr fort: »Thekla … Thekla hat gesagt, dass er vielleicht nach Freiern sucht, wenn der Krieg gut ausgeht, wenn die Männer sich beweisen. Ich habe schon meine Blutung bekommen, aber sie sagt, Vater werde nicht wollen, dass ich sofort verheiratet werde. Er muss erst den richtigen Mann finden, er muss sichergehen, dass Sparta stark bleibt.«

Helena schwieg. Zu viel veränderte sich viel zu schnell. Vater, der in den Krieg zog. Nestra, die verheiratet werden sollte. Alle würden sie verlassen. Sie wünschte, ihre Mutter würde statt ihres Vaters fortziehen … Nein, es war schrecklich, so zu denken. Sie liebte ihre Mutter. Und Nestra würde ja nicht wirklich fortgehen. Sie würde immer noch da sein. Sie war die Erbin Spartas, daher würde ihr Mann hier leben müssen, bis sie König und Königin würden. Es war sie, Helena, die irgendwann würde gehen müssen. Sie begriff, dass es das war, wovor sie sich wirklich fürchtete. Wenn Nestra verheiratet war, würde bald ihre eigene Hochzeit folgen. Und dann würde sie wirklich allein sein.

»Was glaubst du, wen du heiratest?«, fragte Helena schließlich und legte sich wieder hin.

»Na ja … wahrscheinlich den, der die größten Geschenke macht, nehme ich an. Oder den besten Krieger. Vater wird entscheiden, welcher Mann es würdig ist zu herrschen.«

»Ja, aber wen willst du heiraten?«, hakte Helena nach. »Was glaubst du, wie wird dein Mann sein? Du musst doch schon darüber nachgedacht haben.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Klytämnestra antwortete. »Ich hoffe, er ist freundlich. Und weise. Und ein guter Vater.«

»Ich hoffe, mein Gemahl sieht gut aus«, sagte Helena und stellte sich vor, wie er wohl aussehen würde. Würden seine Augen dunkel oder grün wie ihre eigenen sein? »Hochgewachsen und gut im Laufen und Reiten und Ringen. Und nett natürlich. Er muss nett zu mir sein.«

»Mithilfe der Götter bekommen wir beide gute Ehemänner. Und ganz viele starke, gesunde Kinder«, sagte ihre Schwester.

»Ja«, stimmte Helena zu. Sie wollte wirklich heiraten. Sie wollte zur Frau werden. Sie wollte ihren eigenen Haushalt führen können und die Gefährtin eines mächtigen Mannes sein. Aber sie wollte ihr Zuhause nicht verlassen.

»Ich habe Angst, Nestra«, sagte sie leise. »Ich will nicht weggehen und irgendwo anders leben müssen.«

»Vielleicht musst du das gar nicht«, hörte sie die Stimme ihrer Schwester in der Dunkelheit. »Vater gibt dich vielleicht an einen Mann, der hier mit uns lebt. Dann können wir eine große Familie sein und unsere Kinder hier zusammen aufziehen. Wäre das nicht wunderbar?«

Helena antwortete nicht. Es stimmte, vielleicht würde ihr Vater das tun. Aber letztlich würde er so entscheiden müssen, wie es am besten war für Sparta. Und sie ebenfalls.

Weil Helena schwieg, fuhr ihre Schwester fort: »Mach dir keine Sorgen um die Zukunft, Helena. Du weißt nie, was passieren wird. Es wird schon alles gut mit uns. Vater wird dafür Sorge tragen. Alles wird gut.«

Du hast leicht reden, dachte Helena, du bist die Thronerbin. Damit fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

3

Klytämnestra

Drei Jahre später

Vater kam nach Hause. Er hatte seinen Boten vorausgeschickt, um die Ankunft der Armee in Lakonien anzukündigen, und er sollte an diesem Nachmittag in Sparta ankommen. Klytämnestra hatte das Gefühl, sich endlich entspannen zu können. Ihr Vater war in Sicherheit und unverletzt. Der Feldzug war ein Erfolg gewesen, sagte der Bote, ebenso wie derjenige davor und der davor. Und doch zog sich jedes Mal, wenn ihr Vater Sparta verließ, Klytämnestras Magen zu einem kleinen Ball zusammen, wurde härter und härter, je mehr Wochen vergingen. Jedes Mal wusste sie, dass er vielleicht nie wiederkommen würde. Sie konnte den Gedanken nicht verdrängen. Was sollte sie ohne ihn tun? Was würde aus Sparta werden? Ihre Mutter hatte den ganzen Sommer über den Göttern Opfer gebracht und für die sichere Rückkehr des Königs gebetet. Es schien, als hätten die Götter sie endlich einmal erhört.

Ein großes Festmahl wurde im Palast vorbereitet, um die Krieger zu Hause zu begrüßen. Der Duft von gebratenem Fleisch war auch in den Kaminsaal gedrungen, in dem Klytämnestra mit ihrer Mutter und ihrer Schwester saß und wartete. Kastor und Pollux waren ebenfalls dort und in einer Ecke des Raumes in ein Würfelspiel vertieft. Vater hatte entschieden, dass sie zu jung seien, um ihn bei seinem Feldzug zu begleiten, da sie erst achtzehn waren. Stattdessen hatten sie im Ernstfall den Palast verteidigen sollen.

Obwohl Klytämnestra sich, je länger der Krieg gedauert hatte, immer mehr Sorgen um den Vater gemacht hatte, war sie heimlich auch ein wenig erleichtert gewesen. Je länger ihr Vater im Krieg war, desto weiter wurde die Eheschließung verschoben. Es war nicht so, dass sie Angst vor einer Hochzeit gehabt hätte, aber sie wusste, dass sich danach alles verändern würde. Helena und sie würden nicht mehr all ihre Tage zusammen verbringen können, und ihre Freiheit, draußen herumzuspazieren, würde noch mehr eingeschränkt werden. Ihre Mutter verließ den Palast kaum noch. Und dann waren da noch andere Dinge, die die Ehe von ihr fordern würde … Dinge, von denen sie nicht genau wusste, ob sie dazu bereit war. Aber wenn ihre Zeit käme, würde sie alles tun, was man von ihr verlangte. Sie war entschlossen, die beste Ehefrau der Welt zu werden, Lob für ihre Treue, ihre Besonnenheit, ihre Keuschheit, ihre Folgsamkeit und, so die Götter es wollten, ihre vielen starken Kinder zu verdienen.

Hin und wieder war sie verärgert darüber, als Mädchen geboren zu sein. Sie wollte Freiheit. Sie wollte Macht. Sie wollte etwas anderes tun, als den ganzen Tag nur zu spinnen und zu weben. Sie wollte reiten und jagen und reisen und debattieren, so wie sie es bei ihren Brüdern sah. Sie wollte wetteifern und Preise gewinnen, Lieder dichten und nicht nur zu ihnen tanzen, sie wollte reden und wirklich gehört werden. Aber jedes Mal, wenn sie spürte, dass dieser Ärger in ihr aufstieg, schluckte sie ihn wieder hinunter. Sie musste ihren Frieden mit den Dingen machen, die sich nicht ändern ließen. Also biss sie sich auf die Zunge, arbeitete hart an ihrer Webkunst, nickte ergeben und lächelte hübsch. Wenn die Götter es so gewollt hatten, dass sie als Frau auf die Welt gekommen war, dann würde sie zumindest die allerbeste Frau sein, die sie sein konnte.

Und diese Zeit rückte unaufhaltsam näher. Sie war jetzt im heiratsfähigen Alter und die Erbin von Sparta, eine Tatsache, die den griechischen Junggesellen sicher nicht entgangen war. Sie war eine wertvolle Trophäe, und es würden viele Adelige um ihre Hand anhalten. Bald würde sie den Zweck erfüllen, auf den sie sich vorbereitet hatte, seit sie alt genug gewesen war, eine Spindel zu halten, den Zweck, auf den sie ihr Vater, ihre Mutter und Thekla vorbereitet hatten: das Haus ihrer Familie und die Linie ihres Vaters fortleben zu lassen, Spartas Zukunft zu sichern. Es war ein schweres Erbe, und doch spürte sie bei dem Gedanken daran ein freudiges Flattern in ihrer Brust.

Vom anderen Ende der Halle waren Geräusche zu hören. Schritte auf dem steinernen Pflaster, das tiefe Knarren der großen Holztüren. Klytämnestra hielt ihre Spindel fester. Der Bote ihres Vaters erschien in der Tür. Er atmete tief durch und rief: »König Tyndareos von Sparta ist angekommen.«

 

Das Festmahl ging schon ein paar Stunden, und im Kaminsaal erklangen Gelächter, Lieder und Geschichten von Mut und Tapferkeit. Die edelsten aller Krieger aßen hier zusammen mit dem König und seiner Familie, während die anderen und die Mitglieder des königlichen Haushalts draußen im Hof ihre Mahlzeit einnahmen. Es war ein warmer Sommerabend, und die untergehende Sonne färbte den Himmel bunt. Das Fleisch war bereits aufgegessen, aber der Wein floss noch in Strömen. Klytämnestra hatte einen Becher davon bekommen dürfen und nahm vorsichtige Schlückchen, atmete den süßen, würzigen Duft ein. Ihre Schwester saß neben ihr und kicherte, weil einer der Palasthunde ihr das Fett von den Fingern leckte.

Klytämnestra schaute sich in der Halle um. Gedanklich war sie nur mit einer Frage beschäftigt: Kann es sein, dass einer dieser Männer mein zukünftiger Gemahl ist? Es waren allesamt ausgezeichnete Krieger, und wohlhabend waren sie auch.

Vielleicht würde Vater einen Bewerber aus Lakonien wählen, einen, der ihn auf dem Feldzug beeindruckt hatte. Sie musterte jedes einzelne der Gesichter, die vom Kaminfeuer erleuchtet wurden. Einige waren faltig und müde, andere wach und ausdrucksvoll, und sie fragte sich, ob sie womöglich gerade in das Gesicht ihrer Zukunft blickte.

Ihre Gedanken wurden von einer Hand unterbrochen, die sich auf ihre Schulter legte. Sie zuckte leicht zusammen und schaute hoch. Ihr Vater stand neben ihr.

»Klytämnestra.« Er sprach ihren Namen mit ungewöhnlichem Ernst aus. »Ich muss mit dir reden.«

Ihr Herz begann zu rasen. Das ist es, dachte sie. Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen, erhob sich ruhig von ihrem Stuhl und glättete sich die Kleidung, um ihm dann aus der Halle zu folgen.

Er führte sie durch den Hof an den Tischen mit den Feiernden vorbei und in die Stille eines Flurs, der zu ihrem eigenen Gemach führte. Und dort blieb er stehen. Niemand war zu sehen; alle waren auf dem Festmahl.

»Jetzt sind wir wohl weit genug fort«, sagte ihr Vater. »Ich dachte, wir sollten ein wenig Privatsphäre haben. Ich halte dich nicht lange von den Feierlichkeiten fern.« Sein Gesichtsausdruck war seltsam, beinahe nervös. Das kannte sie nicht von ihm.

»Was ist es, Vater?«, fragte sie, als hätte sie keine Ahnung, was kommen würde.

»Du bist verlobt, meine Tochter.«

Er hat also bereits gewählt. Sie atmete tief durch, ein wenig enttäuscht, dass er sie nicht zu ihrer Meinung über die Freier gefragt hatte. Aber vielleicht hatte sie sich zu viel erhofft. Ihr Vater war weise und klug; sie musste darauf vertrauen, dass er den besten Mann ausgewählt hatte.

»Mit wem?«, fragte sie und versuchte, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. Sie glaubte, er müsse ihr Herz durch ihr Kleid hindurch hämmern sehen.

»Mit Agamemnon, dem König von Mykene. Er hat gerade den Thron bestiegen.« Seine Stimme klang angespannt, und er schien ihrem Blick auszuweichen.

»Mit einem König?«, fragte sie verwirrt. »Warum sollte ein König mich heiraten wollen? Er hat doch bereits ein Königreich. Warum sollte ich das eine für das andere aufgeben?« In ihrer Magengrube begann sich ein schlechtes Gefühl auszubreiten.

»Es tut mir leid, Nestra«, sagte er sehr leise. Noch immer schaute er sie nicht an.

»Vater?«, sagte sie, und ihre Stimme brach ein wenig. Sie bekam Angst.

»Verzeih, mein Kind. Es war notwendig.« Er sah müde und traurig aus. Er hob die Hand zum Gesicht, um es vor ihrem Blick zu schützen. »Du wirst König Agamemnon heiraten und nach Mykene gehen, um seine Königin zu sein. Es ist alles bereits besprochen. Sobald sein Königreich wieder geordnet ist, wird er dich holen. Ich … ich hoffe, dass du glücklich wirst.«

»Aber Vater … ich bin die Thronerbin. Ich muss hierbleiben. Um die Königin von Sparta zu werden.« Sie versuchte, seine Hände zu nehmen, aber er zog sie fort. »Warum? Warum hast du das getan?« Tränen traten ihr in die Augen. Sie konnte kaum sprechen, weil Schluchzer aus ihrer Kehle dringen wollten. »Bin ich nicht gut genug? Ich habe immer … Ich habe dir immer versucht zu beweisen, dass ich meines Erbes würdig bin. Bitte, Vater, bitte. Schick mich nicht fort.« Sie sank auf die Knie und packte den Saum seines Mantels, schluchzte an der Säule seines Beines. »Bitte, Vater.«

Er stand ganz steif da, legte aber seine Hand leicht auf ihren Scheitel. »Es ist beschlossen«, sagte er. »Deine Schwester …«, begann er, hielt dann aber inne.

»Helena?« Klytämnestra schaute auf, plötzlich war sie wütend. »Du hast Helena mir vorgezogen? Schickst du mich deshalb fort?«

Er antwortete nicht.

»Sie ist eine Närrin. Nur eine wunderschöne Närrin. Und du bist ein Narr, wenn du glaubst, sie würde eine bessere Königin als ich.«

»Genug«, fuhr sie ihr Vater an, und sie wusste, sie war zu weit gegangen. Er nahm seine Hand von ihrem Scheitel und riss seinen Mantel aus ihren Händen. »Ich habe dir gesagt, was deine Pflicht ist. Jetzt ehre deinen Vater und gehorche.«

Sie schaute sprachlos zu ihm hoch, und endlich schaute er ihr direkt in die Augen. Sein Blick war hart, und doch sah sie darin auch eine Entschuldigung. Wenn es ihm leidtat, warum tat er es dann? Warum bestrafte er sie, obwohl sie immer nur versucht hatte, die Tochter zu sein, die er sich wünschte – die Tochter, die Sparta brauchte?

»Wir müssen alle Dinge tun, die wir lieber nicht täten.« Er seufzte, und sein Blick wurde etwas weicher. »Jetzt beruhige dich und komm zurück zum Festmahl, oder geh zu Bett. Was du vorziehst.«

Und damit ging er fort, zurück zum Lärm im Hof. Sie kniete allein auf dem harten Boden, und ihre Brust bebte von den wütenden Schluchzern. Als sie endlich gefasst genug war, um aufzustehen, ging sie zum Gemach, das Helena und sie teilten.

Sie legte sich voll angezogen auf ihr Bett, den Rauch der Kaminhalle noch in der Nase und die Worte ihres Vaters noch in ihrem Kopf. Alles hatte sich geändert. Ihr ganzes Leben, das Leben, das sie sich für sich ausgemalt hatte, gab es nicht mehr. Sie würde ihre Kinder nicht in diesen Hallen aufziehen. Sie würde ihre Eltern nicht pflegen, wenn sie alt waren. Sie würde alle hinter sich lassen müssen, die sie je gekannt hatte. Auch die Landschaft, die Hügel, den Fluss, die Bäume – die Grenzmarken ihrer Welt. Je mehr sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie. Es war bitter, begreifen zu müssen, dass sie trotz all ihrer Bemühungen, trotz all der Male, in denen sie sich auf die Zunge gebissen hatte, trotz all der Grenzen, die sie akzeptiert hatte, all der Sehnsüchte, die sie unterdrückt hatte, nicht einmal die Zukunft haben konnte, der sie sich schon ergeben hatte. Nicht einmal sie gehörte ihr.

Tränen flossen über ihre Wangen in ihre Ohren. Sie wischte sie mit dem Ärmel ihres Gewandes fort und drehte sich auf die Seite. Dort, an der gegenüberliegenden Wand des Gemachs, stand Helenas leeres Bett. Sie stellte sich vor, wie ihre Schwester immer noch im Kaminsaal saß, so sorglos wie immer, wie sie mit ihrer hübschen kleinen Stimme lachte. In diesem Moment hasste sie Helena dafür, dass sie all das behalten durfte, was sie selbst verlieren würde. Und doch wusste sie, dass es ungerecht war, sie zu hassen. Eine von ihnen musste nun mal gehen. Sie hatte nur niemals geglaubt, dass sie es sein würde.

* * *

Eine Weile lag Klytämnestra so da, ihre Schluchzer kamen und gingen. Sie ließen nach, als sie sich beruhigte und sich sagte, dass Tränen nichts nützten, aber sie kamen erneut, wenn sie daran dachte, dass sie ihr Heim verlassen musste, wenn sie an die Menschen dachte, die sie niemals wiedersehen würde, wenn sie sich vorstellte, wie sie ganz allein in einem fremden Land leben musste, mit einem Mann, dessen Wesen sie nicht kannte.

Endlich schaffte sie es, die Beherrschung wiederzuerlangen. Tränen würden ihr nicht helfen, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht noch etwas unternehmen konnte. Sie würde ihr Geburtsrecht nicht so einfach aufgeben. Sie würde ihre Mutter anflehen. Sie war sich sicher, dass sie Vaters Entscheidung nicht gutheißen würde. Ihre Mutter hatte Klytämnestra als künftige Königin erzogen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, und oft davon gesprochen, dass sie eines Tages gemeinsam ihre Kinder großziehen würden, hier im Palast. Ihre Mutter würde sie unterstützen. Sie würde mit Vater sprechen, ihn zur Vernunft bringen. Das hier war nicht das Ende. Verlobungen konnten gelöst werden.

Mutter ist vermutlich in ihrem Gemach, dachte sie. Sie blieb nie lange auf Festen und zog sich zurück, sobald es die Etikette erlaubte. Klytämnestra wusste, dass sie jetzt zu ihr gehen musste, solange sie noch allein war. Je eher, desto besser. Agamemnon konnte sie jederzeit holen.

Sie stand auf und verließ ihr Gemach. Sie hörte immer noch den Lärm der Feiernden aus dem Herzen des Palastes, aber im Flur war es still. Die Gemächer ihrer Eltern lagen nicht weit von ihren entfernt. Sie ging ein Stück den Flur entlang, um dann in einen anderen einzubiegen. Auf halbem Weg erkannte sie einen Lichtstreifen unter der Tür des Gemachs ihrer Eltern im ansonsten dunklen Gang. Sie hatte recht gehabt; ihre Mutter war da. Klytämnestras Herz begann vor Hoffnung zu flattern, und sie ging auf das Licht zu.

Doch als sie näher kam, hörte sie Stimmen. Erhobene Stimmen. Die eine gehörte ihrer Mutter, sie klang wütend. Die andere Stimme war die ihres Vaters.

Klytämnestra blieb stehen. Wenn ihre Eltern stritten, war es nicht der richtige Zeitpunkt, um über ihre Hochzeit zu sprechen. Und wenn sie sie hier erwischten, würden sie glauben, sie habe gelauscht. Sie wandte sich leise um und begann, den Weg zurückzugehen, den sie gekommen war.

Aber dann hörte sie ihren Namen. Sie sprachen über sie. Sie blieb erneut stehen. Sie wusste, dass sie in ihr Gemach zurückgehen sollte, aber wenn es in ihrem Streit um sie ging, hatte sie doch ein Recht, mehr zu erfahren, oder? Und wenn sie sich über ihre Verlobung stritten … die Versuchung war allzu groß. Sie schlich zurück zum Lichtstreifen.

Jetzt stand sie vor der Tür. Sie war verschlossen, aber in der Dunkelheit erkannte sie eine Lücke im Holz, ein kleines Astloch, so hell wie das Licht des Feuers, das im Zimmer prasselte. Sie presste das Auge darauf. Da saß ihre Mutter auf der Kante ihres Ehebettes, die Wangen vor Zorn gerötet. Vater saß neben ihr. Er wirkte müde und gleichzeitig besorgt. Die Hand hatte er leicht auf den Schenkel ihrer Mutter gelegt. Sie hatte den Blick von ihm abgewandt. Offenbar gab es gerade eine Streitpause.

»Es muss so sein, Leda«, sagte ihr Vater mit leiser und vorsichtiger Stimme.

»Aber es ergibt überhaupt keinen Sinn«, erwiderte ihre Mutter und schüttelte den Kopf. »Warum solltest du Helena zu deiner Erbin machen? Sie hat kein Anrecht darauf, das weißt du. Und Klytämnestra ist älter. Es ist ihr Geburtsrecht.« Sie verschränkte die Hände. »Und sie ist vielversprechender. Sie ist klug und maßvoll und gehorsam. Was hat sie getan, dass du sie von dir weist?«

Klytämnestra musste lächeln, als sie die Worte ihrer Mutter hörte. Wärme breitete sich in ihrer schmerzenden Brust aus. Es war genau so, wie sie gehofft hatte.

»Sie hat gar nichts getan.« Ihr Vater seufzte tief. »Ich habe während meiner Abwesenheit Dinge erfahren. Es gibt da … Gerüchte, was Helena angeht. Derlei Dinge verbreiten sich schnell – und weit, wie es scheint.«

Das Gesicht ihrer Mutter erstarrte, und die Röte wich aus ihren Wangen. »Was für Gerüchte?«

Klytämnestra presste sich enger an die Tür.

»Dieser Junge Theseus, der vor ein paar Jahren hier war, dieser …« Ihre Mutter nickte ungeduldig, und er fuhr fort. »Er hat Dinge behauptet. Dinge, die nicht wahr sind. Er prahlt damit vor jedem, der ihm zuhört, offenbar.«

Theseus? Der Name war wie ein Messer der Schuld in Klytämnestras Brust. Das alles nur deswegen? Sie hätte Helena niemals aus den Augen lassen dürfen.

Ihre Mutter jedenfalls schien sich zu entspannen. »Na ja, wenn das alles ist …«

»Ist es aber nicht, Leda.« Ihr Vater nahm die Hände ihrer Mutter in seine. Er schaute ihr in die Augen, und sie … sie sah verängstigt aus, als wüsste sie, was kommen würde. Ihre Unterlippe bebte. »Die Leute wissen es, Leda«, sagte er sanft. »Oder zumindest haben sie es sich ausrechnen können. Sie nennen sie Helena, den Bastard.«

Klytämnestra musste die Faust auf ihren Mund pressen, um nicht laut aufzukeuchen. Von all den Schimpfworten für einen Menschen … Sie hatte plötzlich das Gefühl, Helena beschützen zu wollen. Wer waren diese Leute, dass sie solche Lügen über ihre Schwester verbreiten durften?

Ihre Mutter atmete zittrig ein und schloss die Augen. Tränen rannen ihre Wangen hinab. Vater drückte ihre Hände ganz fest. Er sah aus, als würde er ebenfalls jeden Moment anfangen zu weinen. Aber Klytämnestra, die ihre traurigen Gesichter beobachtete, begriff, dass sie nicht wütend waren. Es sah eher so aus, als hätten sie es angenommen, als hätten sie nur darauf gewartet, dass es so würde.

»Es tut mir so leid, meine Liebe«, sagte er. »Es tut mir leid, dass wir darüber sprechen müssen. Ich hätte dich gern davor beschützt, wenn ich gekonnt hätte.« Er hob die Hand ans Gesicht ihrer Mutter und wischte zart eine Träne fort. »Aber verstehst du jetzt? Helena wird niemals gut verheiratet werden. Vielleicht wird sie niemals heiraten. Nicht, solange die Leute ihre Jungfernschaft anzweifeln und dazu noch ihre Herkunft. Nicht, wenn wir sie nicht zu einer attraktiveren Partie machen. Wenn wir sie zur Erbin Spartas machen, werden die Gerüchte verstummen. Dann werden sich die Freier um sie reißen.«

»Aber das sollte nicht auf Nestras Kosten gehen«, krächzte ihre Mutter. »Sie verdient das nicht. Sie verdient es, glücklich zu sein. Meine arme Tochter…«

»Und was ist mit Helena? Sie ist ebenfalls deine Tochter.«

»Was mit ihr ist?«, fuhr ihre Mutter auf. Klytämnestra erschrak beim Anblick der Verachtung in ihrem Gesicht. »Ich wünschte, sie wäre nie … Ich habe … Ich habe versucht … Ich habe Kräuter genommen.« Der Blick ihrer Mutter war schmerzerfüllt. Sie wandte das Gesicht von ihrem Mann ab und schaute blicklos zur Tür. »Klytämnestra ist meine wahre Tochter. Unsere Tochter. In Liebe geboren.«

Klytämnestra begriff langsam die Bedeutung der Worte ihrer Mutter, und doch war es zu viel für sie, als wären die Worte selbst zu groß, zu monumental, um durch das kleine Astloch zu passen.

Ihr Vater sah gequält aus. Sein Gesicht war von traurigen Linien zerfurcht, die im zuckenden Lampenlicht noch tiefer wirkten. Er legte zärtlich eine Hand an die Wange ihrer Mutter und drehte ihr Gesicht zu ihm. »Du bist keine grausame Frau, Leda. Denk darüber nach, was du gesagt hast. Welche Freude wird Helena in ihrem Leben finden, wenn sie nicht heiratet? Wenn sie keine Kinder hat?« Er senkte den Blick. »Ich weiß, dass sie dir wehgetan haben.« Ihre Mutter schluchzte auf. »Ich weiß es. Aber das war nicht Helena. Sie hat dir nicht wehgetan. Es ist nicht ihre Schuld.«

Ihre Mutter weinte jetzt ganz offen. Ihr Körper bebte in den Armen ihres starken Mannes. Schließlich gewann sie die Fassung wieder. Aber als sie sprach, war ihre Stimme kaum zu hören. Klytämnestra musste sich anstrengen, sie zu verstehen.

»Ich weiß. Ich weiß, dass es nicht Helenas Schuld ist. Es ist meine Schuld. Ich war unvorsichtig. Aber manchmal ertrage ich ihren Anblick nicht. Sie erinnert mich an … an sie, an das, was geschehen ist, welche Schande ich über dich gebracht habe. Wie ich immer noch Schande über dich bringe.« Ihre Stimme brach erneut, und sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir so leid. Ich habe an jenem Tag alles zerstört. Und jetzt wird der armen Nestra meinetwegen ihr Geburtsrecht gestohlen.«

Klytämnestra verstand nicht alles, was da gesagt wurde, aber die Qual ihrer Mutter war offensichtlich. Sie wünschte sich, hineinlaufen und sie umarmen zu können. Ihr sagen zu können, dass alles gut war, dass sie nicht ihr die Schuld gab.

»Bitte nicht, meine Liebe. Bitte sage so etwas nicht.« Er legte seine Stirn an ihre, seine Hand an ihrem dunklen Hinterkopf. »Es ist nicht wahr. Du weißt, dass ich dich nicht beschuldige.«

Ihre Mutter fuhr stockend fort: »Ich hatte gehofft, wenn Helena verheiratet, wenn sie fort wäre … Aber jetzt muss ich die Tochter verlieren, die ich liebe, und werde für immer von der verfolgt, die bleibt.«

Ihr Vater schaute betrübt auf. »Es tut mir leid. Das Letzte, was ich tun wollte, war, dir noch weiteres Leid zu bescheren. Aber ich muss tun, was das Beste ist – für meine beiden Töchter.«

Ihre Mutter sah ihn an, aber Klytämnestra konnte ihren Blick nicht deuten. Schließlich sagte sie: »Du bist ein guter Mann, Tyndareos«, und lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. Das Feuer, das in ihr gelodert hatte, schien erloschen zu sein und hatte einer plötzlichen Akzeptanz Platz gemacht. Ein kleiner, selbstsüchtiger Teil von Klytämnestras Herz zuckte zusammen, als sie sah, wie ihre Mutter nachgab. Ihr einziger Champion hatte den Kampf aufgegeben, und doch sah ihre Mutter so zerbrechlich, so gebrochen aus, dass sie wusste, sie konnte ihr keine Vorwürfe machen.